LUFTPIRATEN : „Das wäre unseriös, verehrter Gast“

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  • LUFTPIRATEN : „Das wäre unseriös, verehrter Gast“ - DER SPIEGEL 38/1979
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    En 1979 on discutait avec les terroristes.

    Zweieinhalb Stunden sprach Kanzleramtsminister Hans-Jürgen Wischnewski, 57, am Mittwoch letzter Woche vom Tower des Kölner Flughafens über Funk mit dem Luftpiraten Raphael Keppel, 30, an Bord der Lufthansa-Boeing „Münster“. Mit jovialer Höflichkeit, vagen Zusagen und erschöpfenden Einzelinformationen gelang es ihm, den Entführer zum Aufgeben zu bewegen. Die Verhandlungskunst von „Pfarrer Wischnewski“ (Helmut Schmidt) verfing gegenüber einem Täter mit bislang einzigartigen Motiven: Der erfolglose Schriftsteller Keppel ("Entführung zur Menschlichkeit") hatte die Veröffentlichung allerlei politischer Forderungen und einen Termin beim Kanzler erzwingen wollen. Der SPIEGEL druckt Auszüge aus dem Funk-Dialog mit Keppel:

    Nachdem Wischnewski zugesagt hat, Keppels Forderungskatalog dem Fernsehen zuzuleiten, läßt der Luftpirat Passagiere und Steward essen frei; die Cockpit-Besatzung bleibt in seiner Gewalt. Der Staatsminister beginnt, mit Keppel zu diskutieren.

    WISCHNEWSKI: Also, ich muß Ihnen sagen, Sie haben sich mit sehr, sehr unterschiedlichen Fragenkreisen beschäftigt. Das begann, wenn ich es noch ganz richtig in Erinnerung habe, mit dem Mutterschutz und ging über Umweltschutz, Einsetzen von Expertengruppen, Heranziehen ganz bestimmter Leute bis zur Kernenergie. Also ein unwahrscheinlich umfangreiches Programm ... Ich kann Ihnen nur eines sagen, Sie haben es hier mit einem ganz seriösen Gesprächspartner zu tun, und wir sind im Augenblick schon darum bemüht zu prüfen ...
    KEPPEL: Ja, das glaube ich Ihnen ...
    WISCHNEWSKI: Also wenn ich mein Gewissen prüfe, dann sehe ich an und für sich keinen einzigen Punkt, wo ich nicht sagen kann, ich werde mich dafür verwenden, daß wir die Dinge voranbringen. Bei einer ganzen Reihe von Fragen sehe ich überhaupt auch gar keine Differenzen, daß man überlegt, wie man sie mit mehr und größerer Intensität betreiben kann.
    KEPPEL: Das heißt also, die Bundesregierung will sich für alle Punkte einsetzen.
    WISCHNEWSKI: Sie haben mich mißverstanden ... Ich wäre ein unredlicher Mensch Ihnen gegenüber, wenn ich jetzt sagen würde, alle Ihre Forderungen sind innerhalb kürzester Zeit erledigt.
    Wischnewski unterrichtet ausgiebig über die „MBFR-Verhandlungen in Wien“ und das Bonner Ziel, „zu einer ausgewogenen Truppenreduzierung zu kommen“, und wendet sich der Keppel-Forderung nach Ablösung der Atomkraft durch alternative Energien zu.
    WISCHNEWSKI: Keiner, ich kenne niemanden, liebt die Kernenergie. Aber auf der anderen Seite müssen wir auch darum bemüht sein, für die notwendige Energieversorgung in unserem Lande Sorge zu tragen. Und deswegen Punkt 1: Sparen, Punkt 2: Kohle, Punkt 3: Darum bemüht sein, neue Energiequellen aus der Sonne, vom Wind, Erdwärme, alles, was uns zur Verfügung steht, zu nutzen.
    KEPPEL: Ja, was Sie mir jetzt erzählt haben, das ist für mich kaum etwas Neues. Ich weiß das. Daß ich da im Endeffekt keine Zusage kriege, war mir klar. Wie sieht es mit einer Expertengruppe aus, Naturforscher, Psychologen und vor allen Dingen Philosophen?
    WISCHNEWSKI: Ich möchte Ihnen hier ausdrücklich in diesem Punkt zusagen, daß die Bundesregierung bereit ist, eine solche Expertengruppe zu berufen. Hier in dieser Frage keine lange Diskussion, klare Aussage, Zusage.
    KEPPEL: Recht schönen Dank, da bin ich sehr mit zufrieden. Ich mache gleich weiter. Wie sieht es mit mehr Geld aus für Krankenhäuser, Spielplätze, Kindergärten, Ausbildungs- und Fortbildungsstätten und so weiter? Ich weiß, daß da schon viel getan wird, aber anhand der vielen arbeitslosen Jugendlichen bin ich der Meinung, daß noch zuwenig geschieht ...
    WISCHNEWSKI: Es wäre unsauber, wenn ich Ihnen nicht sagen würde. daß Sie damit Fragen ansprechen, für die zum Teil nur der Bund zuständig ist, für einen Teil die Länder zuständig sind, für einen anderen Teil sogar die Kommunen. Unser Gespräch, verehrter Gast, wäre ganz unseriös, wenn ich hier leichtfertig sagen würde, jawohl, das machen wir, sondern ich muß ausgehen von der Zuständigkeit ...
    Aber ich würde bitten, daß Sie auch respektieren, und ich wäre sogar dankbar, wenn Sie mir das sagen würden, daß wir große Anstrengungen gemacht haben in bezug auf die Bekämpfung der Jugendarbeitslosigkeit, daß wir gute Ergebnisse erzielt haben.
    KEPPEL: Ja, ich bin der Meinung, daß die Regierung viel getan hat, aber wie gesagt, ich bin auch der Meinung, es könnte viel mehr getan werden.
    Keppel fordert, an den Schulen die Fächer „Menschenkunde“ und „Umweltschutz“ einzuführen.
    WISCHNEWSKI: Auch hier muß ich Ihnen eine Enttäuschung bereiten. Sie müssen wissen, daß der Bund für Schulen überhaupt gar nicht zuständig ist ... Aber ich glaube, daß auch Ihr Appell, Ihr doch sehr dramatischer Appell dazu beitragen wird, daß die Länder ihre Anstrengungen auf diesem Gebiet noch vergrößern werden.
    KEPPEL: Gut, ist in Ordnung. Wir machen weiter. Wie sieht es aus mit dem Abschaffen von Akkordarbeit, Verringerung von Nachtschicht auf das Allernotwendigste, größerem Jahresurlaub und vor allen Dingen Herabsetzung des Rentenalters?
    WISCHNEWSKI: Also fangen wir hier einmal bei einer Grundsatzfrage an. Ich glaube, Sie müssen bitte davon ausgehen, daß bestimmte Fragen, die Sie angesprochen haben, nicht gesetzlich geregelt werden, sondern daß hier Tarifvertragsparteien gegeben sind ...
    Was die Akkordarbeit anbetrifft, so würde ich sagen, dieses Problem ist zu eng gesehen. Ich glaube zum Beispiel, daß ein Mann, der keine Akkordarbeit hat, aber der am Fließband arbeitet, sehr viel härter getroffen ist als der, der eine vernünftige Akkordregelung hat mit Ruhezeiten ... Wenn ich sehe, wie Männer oder Frauen heute in bestimmten Betrieben am Band arbeiten müssen, wo sie auf die Arbeitsleistung praktisch gar keinen Einfluß haben, sondern wo die Geschwindigkeit des Bandes diese Frage bestimmt und wo es sogar Leute gibt, sogenannte Springer — ich weiß nicht, ob Sie sich mit der Frage beschäftigt haben: Wenn einer mal pinkeln gehn muß, was ja unvermeidbar ist, steht jemand da, der so lange einspringt, damit das Band weiterläuft.
    Wischnewski monologisiert ausführlich „regionale oder auch Gruppenunterschiede“ bei der Arbeitslosigkeit, „Strukturveränderungen“ ("Niemand hat vorher gewußt, daß es Quarzuhren gibt") und Förderprogramme der Länder.
    WISCHNEWSKI: Wir haben in der vergangenen Woche festgestellt, daß mehr als 120 000 Menschen im Laufe des letzten Jahres einen neuen Arbeitsplatz gefunden haben. Ich wäre Ihnen dankbar, wenn Sie auch einmal sagen würden, dieses ist schon etwas, was auch seinen Wert hat . . . Ich wäre Ihnen dankbar, wenn Sie mir auch mal ein freundliches Wort sagen könnten.
    KEPPEL: Ja, ich kann Ihnen dazu ein freundliches Wort sagen, das ist auch wirklich gut ... Na ja, ich weiß auch, daß ich nicht einfach dahingehen kann und sagen, das muß von heute auf morgen ... Das geht eben nicht. Und Sie haben auch sehr gute Beispiele aufgeführt, eben die strukturell bedingt sind, die ich vorher nicht mit einberechnet habe. Das muß ich ehrlich zugeben, das ist ein klarer Fehler von mir.
    WISCHNEWSKI: Ich freue mich, ich habe den Eindruck, daß Sie ein Mann sind, der auch zur Objektivität in der Lage ist.
    KEPPEL: Da wär? für mich auch ein sehr großes Problem, nämlich die alten und behinderten Menschen. Wenn sie sich nicht mehr selber helfen können, werden sie in Altersheime abgeschoben ... Was gedenkt die Regierung dagegen zu tun?
    WISCHNEWSKI: Also zuerst einmal möchte ich Ihnen gerne sagen, daß ich selbst problembewußt bin, anhand eines Beispiels. Ich habe Anfang dieses Jahres meine Mutter verloren, und ich muß hier ganz offen und ehrlich sagen, sie war während des letzten dreiviertel Jahres in einem Pflegeheim. Dies hängt damit zusammen, daß wir eben die Gefahr gesehen haben, daß wir ihr zu Hause vor allen Dingen die fachliche Pflege, sie hatte einen Schlaganfall, nicht in dem notwendigen Maße gewähren hätten können ... Ich hab? meine Mutter sehr, sehr gerne gehabt . . Wofür wir dann Sorge getragen haben, allerdings ist, daß sie mindestens in der Woche vier-, fünf-, manchmal sechsmal besucht worden ist. .
    Wischnewski spricht über die Notwendigkeit, Altenklubs einzurichten, und verlangt von jungen Menschen mehr Einfühlungsvermögen" gegenüber Älteren.
    KEPPEL: Ja, also da sind wir uns ziemlich einig, habe ich festgestellt. Komme ich gleich zum nächsten, damit das langsam zum Ende kommt hier: Wie sieht es mit den Kriminellen aus? Ich bin also fest davon überzeugt, sie sind ein Opfer dieser Gesellschaft. Die Erziehung überhaupt und die Psychiatrie kann helfen ...
    WISCHNEWSKI: Also zuerst einmal höre ich von einem Fachmann, den ich hier in der Nähe habe, daß es heute in jeder Justizanstalt einen ausgebildeten Psychologen gibt ... Und ich glaube, die Anstrengungen, die auf diesem Gebiet gemacht werden, sind unwahrscheinlich groß ...
    KEPPEL: Damit bin ich auch sehr zufrieden, was Sie mir gesagt haben. Ich komme also dann zu dem Punkt, daß das Gesamteinkommen besser verteilt werden müßte ... Demokratie heißt, daß die Macht vom Volk ausgeübt wird, aber da scheint es ja so, daß das ein paar wenige Reiche machen.
    WISCHNEWSKI: Also ich glaube, daß wir hier eine gerechtere Verteilung haben als in anderen vergleichbaren Ländern. Aber ich gebe Ihnen recht, wir haben die Gerechtigkeit in dieser Frage bei weitem, bei weitem noch nicht erreicht ...
    KEPPEL: Gerechte Verteilung des Gesamteinkommens — gut, das mag Auffassungssache sein. Ich habe also die Auffassung, das Geld, das ich nicht für meine Familie und für mich persönlich haben muß, das gehe ich auch für soziale Zwecke her. Ich kenne Rentner, die leben von 200 und ein paar Mark im Monat, haben davon über 100 Mark Miete, und die haben gerade was zu essen und müssen zur Wohlfahrt gehen. Das kann ich einfach nicht akzeptieren. Ich finde das so ungerecht, das dürfte es in unserem Staat nicht geben.
    WISCHNEWSKI: Ich kann leider nicht bestreiten, daß es bei den Renten noch Härtefälle gibt. Sie wissen, daß wir ja hier ein Beitragssystem haben, daß die Renten gewährt werden aufgrund der Leistungen, die im Laufe seines Arbeitslebens jemand erbracht hat. Da gibt es Härtefälle ... Ich gebe zu, daß eine Gesellschaft, die verhältnismäßig wohlhabend ist, noch größere Anstrengungen machen muß, um insbesondere denen zu helfen, die aus eigener Kraft nicht mehr dazu in der Lage sind.
    KEPPEL: Gut, damit bin ich auch zufrieden. Ich gehe auch gleich weiter, damit wir endlich Schluß kriegen. Wie sieht das aus mit der Wehrpflicht? Es gibt doch keinen Zweifel, daß den Menschen da beigebracht wird, sich mit Gewalt gegen Gewalt zu wehren.
    Wischnewski legt erst einmal die Grundzüge der sozialliberalen Entspannungspolitik dar, spricht über die „Gewaltverzichtsregelung in dem Grundlagenvertrag mit der DDR“ und die Abrüstungsverhandlungen.
    WISCHNEWSKI: Ich wäre unredlich, wenn ich sage, ich verspreche Ihnen, morgen wird die allgemeine Wehrpflicht in der Bundesrepublik abgeschafft. Ich hoffe, daß wir bei den Abrüstungsverhandlungen so weit kommen, daß wir erfolgreich sind bei Senkung des militärischen Potentials auf beiden Seiten und uns dann darauf zubewegen, was Sie hier ansprechen.
    KEPPEL: Ja, ich finde ihre Vorschläge ganz gut, das muß ich also ehrlich zugeben.
    WISCHNEWSKI: Ich wäre Ihnen auch dankbar, wenn Sie mir sagen würden, die Hauptaufgabe der Bundeswehr ist, im Rahmen dessen, was ich gesagt habe, einen Beitrag zu leisten, um den Frieden zu erhalten.
    KEPPEL: Ja. Da wäre dann ja nur noch ein einziger Punkt, nämlich die Politiker im Parlament. Da wird der Bevölkerung etwas erzählt was nicht richtig ist.
    WISCHNEWSKI: Also, jetzt komme ich natürlich in ein schwieriges Fahrwasser. Ich sage Ihnen ganz offen, unter Politikern finden Sie so viele gute und schlechte Menschen wie in unserem Lande.
    KEPPEL: Ich hin der Meinung, es gibt keine schlechten Menschen, sondern jeder Mensch ist so, wie er erzogen wird.
    WISCHNEWSKI: Ich bitte um Entschuldigung, ich hab? mich verkehrt ausgedrückt. Ich wollte nur sagen, Politiker sind nicht besser und schlechter als die Gesellschaft, in der sie leben. Sie sind ein Spiegelbild dieser Gesellschaft. Ich muß zugeben, daß meine Formulierung nicht gut gewesen ist. Ich bitte dafür um Entschuldigung.
    KEPPEL: Ja, da möchte ich aber gleich dazu sagen, daß die Politiker die Gesellschaft sehr mitbestimmen ... Ich würde nur in einer total humanen Gesellschaft Politiker sein wollen, sonst ums Verrecken nicht.
    WISCHNEWSKI: Sie haben mir vorhin ein Wort ein wenig vorgeworfen, und ich habe darüber nachgedacht und habe festgestellt, daß dies kein gutes Wort war, und ich habe mich revidiert. Und ich muß Ihnen sagen, das Wort vom Verrecken hat mir auch nicht gefallen. So, damit Sie es einfach wissen.
    KEPPEL: Da haben Sie auch recht, das ist auch kein schönes Wort. Mir fiel nur nichts Besseres ein. So, jetzt wollen wir aber auch wirklich Schluß machen. Wie soll das denn jetzt weitergehen?
    WISCHNEWSKI: Ich mache Ihnen folgenden Vorschlag. Ich bitte Sie herzlich, die Crew jetzt freizulassen. Ich möchte, daß Sie auch wissen, wie das mit Ihnen weitergeht ...
    KEPPEL: Ich habe von vornherein einkalkuliert, daß das ein paar Jahre Gefängnis gibt, aber das habe ich gerne einkalkuliert.
    WISCHNEWSKI: Mein Vorschlag ist, Sie lassen die Crew sofort frei, bitte denken Sie daran, wann die Leute heute früh in Paris ihre Arbeitszeit begonnen haben. Wenn dieser Punkt erledigt ist, komme ich selbst hin und hole Sie ab, weil ich glaube, daß wir in dem Gespräch ein wenig Kontakt miteinander gewonnen haben. Und dann müssen wir natürlich in ganz humaner Weise, ganz humaner Behandlung den Weg gehen, der unvermeidbar ist ...
    KEPPEL: Also gut, ich bin damit einverstanden. Ich überliefere auch meine Pistole, es ist im übrigen nur eine Spielzeugpistole. Ich würde niemals jemandem etwas antun. Das gäbe es für mich nicht. Und sonst bin ich mit dem einverstanden, was Sie gesagt haben. Also, die Leute können jetzt gehen.
    WISCHNEWSKI: Ich bedanke mich.

    #Allemagne #terrorisme #histoire