Moderne Sklaven sind zum Schuften in der Schweiz

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  • Arbeit ohne Ende, Drohungen, soziale Isolation und das alles für einen Hungerlohn – moderne Sklaven gibt es auch in der Schweiz

    Opfer von Menschenhandel werden in der Schweiz nicht nur als Prostituierte ausgebeutet. Sie arbeiten auch als Gipser, Küchenhilfen oder Pflegende. Doch ihr Leid wird kaum entdeckt.

    Er hauste in der Vorratskammer, kochte und putzte bis zu 14 Stunden am Tag – ein Jahr lang. Dann wurde die Berner Fremdenpolizei per Zufall auf den jungen Chinesen aufmerksam. Er war in die Schweiz gekommen, um an einer Hotelfachschule zu studieren. Dort fing er aber nie an. Stattdessen musste er in einem asiatischen Restaurant arbeiten. Er war völlig isoliert und bekam einen Hungerlohn.

    Moderne Sklaverei nimmt viele Formen an. Bekannt sind vor allem Fälle, bei denen Frauen unter Drohungen in die Schweiz gebracht und zur Prostitution gezwungen werden. Die wenigsten wissen, dass Menschenhandel auch auf dem Bau, in Haushalten oder in Restaurants existiert. «Was, das passiert hier bei uns? Das kann doch nicht sein!» Sätze wie diese bekommt Alexander Ott, der Chef der Berner Fremdenpolizei oft zu hören. Das habe auch damit zu tun, dass falsche Vorstellungen kursierten, wie ein Opfer von Menschenhandel aussehe, sagt er. «Die meisten Leute erwarten eine ausgemergelte Frau mit lauter blauen Flecken.» In Wirklichkeit sieht man den Opfern oft nicht an, was sie durchmachen müssen.
    Kaum Opferberatungen für Männer

    Der Bundesrat bezeichnet den Menschenhandel zwecks Arbeitsausbeutung als «wenig bekanntes und vermutlich unterschätztes Phänomen». Wie viele Opfer es in der Schweiz gibt, ist nicht bekannt. Das Gleiche gilt auch für die Opfer sexueller Ausbeutung, obwohl sie häufiger entdeckt werden. Die kantonalen Opferberatungsstellen und die Fachstelle für Frauenhandel und Frauenmigration (FIZ) haben letztes Jahr zusammen rund 360 Personen im Zusammenhang mit Menschenhandel beraten. Die Dunkelziffer dürfte deutlich höher sein.

    Opfer von Menschenhandel suchen selten selbst Hilfe. Ohne gezielte Kontrollen durch Polizei und andere Behörden kommen die Fälle daher kaum ans Licht. Während die Polizei im Milieu seit Jahren gezielt nach Opfern sexueller Ausbeutung sucht, hat sie die Arbeitsausbeutung noch zu wenig auf dem Radar. «Wir haben erst vor kurzem angefangen, Schwarzarbeiter auch als potenzielle Opfer von Menschenhandel zu sehen», erklärt Ott.

    Bisher waren die meisten Opfer, die entdeckt wurden, Frauen. Doch nun zeigt sich, dass auch viele Männer ausgebeutet werden. Während es für Frauen die Opferfachstelle FIZ gibt, fehlen Beratungsangebote und Unterbringungsmöglichkeiten für Männer. «Das ist ein Riesenproblem», sagt Ott. Beratungsstellen sind zentral, weil die Opfer ihre Situation zu Beginn oft schlecht einordnen können. Sie brauchen Bedenkzeit, bis sie sich entscheiden, vor Gericht auszusagen. Viele vertrauen den Behörden nicht, manche schämen sich für ihre Situation. Ohne ihre Aussage kommt es jedoch oft zu keinem Urteil gegen die Täter, denn Sachbeweise reichen meist nicht. «Ohne Opferschutz kein Prozess gegen die Täter», fasst Ott zusammen.
    Schläge, kein Lohn und 24 Stunden Bereitschaft

    Die FIZ nimmt vereinzelt auch Männer auf. Doch eigentlich ist ihr Angebot spezifisch auf Frauen ausgerichtet. Die meisten sind Opfer von Menschenhandel zwecks sexueller Ausbeutung. Mittlerweile kommen laut Eva Andonie von der FIZ aber auch immer mehr Fälle von Arbeitsausbeutung ans Licht. Meist handle es sich um Frauen, die in Privathaushalten ausgebeutet werden: «Sie müssen rund um die Uhr verfügbar sein, um sich um Kinder oder ältere Leute zu kümmern oder zu putzen.»

    Das hat auch Elena* erlebt. Die 20-Jährige lebte mit ihrer Tochter in armen Verhältnissen in einem Land in Osteuropa. Ihre Mutter stellte den Kontakt zu einer Familie in der Schweiz her, wo Elena im Haushalt arbeiten und sich um die Kinder kümmern sollte. Ihr wurden nicht nur Kost und Logis, sondern auch viel Geld versprochen. Als sie in der Schweiz ankam, nahm ihr die Familie den Pass ab und zwang sie, fast rund um die Uhr zu arbeiten. Lohn erhielt sie keinen, sie wurde regelmässig geschlagen. Als einem Nachbarn auffiel, dass Elena Spuren von Misshandlungen aufwies, brachte er sie zur Polizei. Diese ermittelte anfangs nur wegen Körperverletzung, verwies Elena aber an die FIZ. In den Gesprächen mit der Fachstelle erzählte die junge Frau, was sie durchmachen musste. Es kam zu einer Gerichtsverhandlung, und das Täterpaar wurde wegen Menschenhandels verurteilt.
    Nicht überall wird Opfern gleich gut geholfen

    Anfang Oktober hat eine Expertengruppe des Europarats die Schweiz in einem Bericht kritisiert. Sie hatte untersucht, wie Menschenhandel hierzulande geahndet wird und welche Möglichkeiten den Opfern geboten werden. Die Experten stellen zwar fest, dass es in den letzten Jahren Fortschritte gab. Trotzdem bemängeln sie, die Schweiz tue noch immer nicht genug, um Opfer zu identifizieren, insbesondere bei der Arbeitsausbeutung. Und es gebe grosse kantonale Unterschiede: Nicht überall werde gleich viel getan, um Betroffenen zu helfen.

    Der Bund setzt derzeit den zweiten Aktionsplan gegen Menschenhandel um. Die Zusammenarbeit verschiedener Stellen wurde intensiviert, medizinisches Personal und Arbeitsinspektoren wurden geschult. Ott und seine Kollegen bei der Fremdenpolizei ziehen mittlerweile immer andere Stellen mit ein, wenn sie einen Betrieb kontrollieren – beispielsweise Arbeitsinspektoren oder die Kantonspolizei. «Jede Behörde achtet auf andere Faktoren. Die müssen wir kombinieren, damit wir Opfer von Menschenhandel identifizieren können.»

    Es kann sein, dass Papiere und Lohn eines Betroffenen auf den ersten Blick stimmen, er aber alles Geld an seinen Arbeitgeber abtreten muss. Das sei nicht leicht zu entdecken. Die Zusammenarbeit sei auch deshalb wichtig, weil das föderale System der Schweiz von den Tätern leicht ausgenutzt werden könne: «Sie gehen einfach in einen anderen Kanton oder wechseln die Branche – so verschwinden sie leicht vom Radar.»
    Opfer aus Osteuropa, Asien oder Südamerika

    2016 hat die Universität Neuenburg in einer ersten Studie untersucht, in welchen Branchen Arbeitsausbeutung häufig vorkommt und woher die Opfer stammen. Dabei stellten die Forscher klare Muster fest: Im Baugewerbe sind fast nur Männer aus Osteuropa oder dem Balkan betroffen. Ähnlich ist es in der Landwirtschaft. In der Gastronomie sind es Frauen und Männer, viele stammen aus Asien. Frauen, die im Haushalt ausgebeutet werden, stammen derweil oft aus Südamerika oder Afrika.

    Gerade im Pflegebereich müsse in Zukunft stärker kontrolliert werden, findet Polizeichef Ott. Das sei jedoch schwierig, weil illegal in Haushalten Arbeitende schwer zu entdecken seien. Wichtig sei es auch, sich nicht nur auf die bekannten Problembranchen zu fokussieren. So gebe es beispielsweise zunehmend Hinweise auf Ausbeutung bei Paketzustellern.

    Hinter Menschenhandel müssen keine internationalen Verbrechernetzwerke stehen. Es gibt auch Einzelpersonen, die Menschen mit Inseraten in die Schweiz locken, um sie auszubeuten. Oft kommen die Täter aus demselben Land wie ihre Opfer. Ott weiss aber auch von einem Fall, in dem ein Schweizer Bauer seinen Saisonarbeitern nur einen Hungerlohn bezahlte. Sie schliefen im Auto neben dem Feld. Die Polizei wurde auf sie aufmerksam, doch ein Prozess kam nicht zustande.
    Manche willigen zuerst ein, für einen Hungerlohn zu schuften

    Viele Opfer haben einen ungesicherten Aufenthaltsstatus und sind in einer prekären finanziellen Situation. Dadurch werden sie vom Ausbeuter abhängig. Andonie und Ott sagen beide, es gebe einen grossen Graubereich. Nicht immer ist klar, ob die Täter oder Täterinnen ihre Opfer gezwungen haben. «Manche Opfer willigen zu Beginn auch ein, für einen schlechten Lohn zu arbeiten, weil sie keine Alternative sehen.» Erst später werde dann psychischer Druck auf sie ausgeübt, womit die Ausbeutung offensichtlich werde. Ott ergänzt, oft hätten die Betroffenen in ihrer Heimat kaum Perspektiven. Da nähmen sie jede noch so schlechte Arbeit an. Gleichzeitig sähen sich gerade Männer oft selbst nicht als Opfer. «Das macht es für die Täter einfacher und für uns umso schwieriger».

    In der Schweiz gibt es nur wenige Verurteilungen wegen Menschenhandels. Oft ist die Beweislage schwierig – gerade, wenn keine sexuelle Ausbeutung vorliegt. Laut einer Studie des Kompetenzzentrums für Menschenrechte, die im Mai erschienen ist, kam es in der Schweiz bisher nur in sechs Fällen zu einer Verurteilung wegen Menschenhandels zwecks Arbeitsausbeutung. Die Autoren kamen zum Schluss, dass die mangelnde juristische Definition des Begriffs «Arbeitsausbeutung» problematisch ist. Dies führe dazu, dass ähnliche Fälle unterschiedlich beurteilt würden.
    Fehlt ein Straftatbestand?

    Runa Meier ist Staatsanwältin in Zürich und spezialisiert auf Menschenhandel. Sie sagt: «Weil es in diesem Bereich bis heute so wenige Urteile gibt, fehlt es an der Rechtsprechung, an der sich die Strafverfolgungsbehörden orientieren könnten.» Derzeit sind bei der Staatsanwaltschaft Zürich mehrere Fälle hängig, in denen einem Verdacht auf Arbeitsausbeutung nachgegangen wird.

    Für ein Urteil wegen Menschenhandels muss man beweisen können, dass der Täter einen Menschen angeworben hat, um dessen Arbeitskraft auszubeuten. «Das ist extrem schwierig», erklärt Meier. Bei der sexuellen Ausbeutung gibt es zusätzlich den Straftatbestand der Förderung der Prostitution. «So kann ein Täter trotzdem bestraft werden, wenn für Menschenhandel die Beweise fehlen», sagt Meier. Bei der Arbeitsausbeutung fehlt eine vergleichbare gesetzliche Regelung. Es kann höchstens auf Wucher plädiert werden. Darum wird derzeit diskutiert, ob ein neuer Tatbestand geschaffen werden soll. Doch selbst damit wären nicht alle Probleme gelöst: «Am Ende sind wir auf die Aussagen des Opfers angewiesen, um eine Verurteilung zu erreichen.» Diese zu bekommen, bleibt die zentrale Herausforderung.

    https://www.nzz.ch/schweiz/menschenhandel-moderne-sklaven-sind-zum-schuften-in-der-schweiz-ld.1516008?mktci

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