• Zwerchfellerweiterung für Frühschoppler - WELT
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    07.12.1999 von Josef Engels - Immer wieder sonntags - Dr. Seltsam feiert in der Kalkscheune sein 10-jähriges Jubiläum

    Diesen Artikel sollten Sie ausnahmsweise mal nicht lesen. Bitte. Nur noch diesen Satz, und dann ist aber Schluss! Die letzten zehn Jahre haben nämlich erwiesen, dass Textstrecken, die sich mit den Umtrieben des Dr. Seltsam befassen, zu Katastrophen führen. Je mehr über die sonntägliche Institution in der Kalkscheune namens „Dr. Seltsams Frühschoppen“ an die Öffentlichkeit dringt, desto weniger Platz gibt es in dem hinter dem Friedrichstadtpalast gelegenen Club. Eingefleischte Frühschoppler beklagen schon seit einiger Zeit den Umstand, dass sie zur Erhaschung eines Tisches bereits gegen 12 Uhr am Sonntag erscheinen müssten. Eine durchaus unchristliche Zeit.

    Und deshalb luden Dr. Seltsam (alias Polit-Ulk-Aktionist und Ex-Schuldirektor Wolfgang Kröske) und seine lesenden Arzthelfer Hans Duschke, Horst Evers, Hinark Husen, Andreas Scheffler, Sarah Schmidt und Jürgen Witte anlässlich des „9,9“-jährigen Bestehens der Wortvarieté-Reihe jetzt endlich mal zu einer Abendveranstaltung in die Kalkscheune ein. Das entspricht durchaus dem Gehalt der „Frühschoppen“-Literatur (die man übrigens im Magazin „Salbader“ nachlesen kann): Hier geht es vordringlich um die Entdeckung des eigenen Körpers in der Stadt. Wie viel Alkohol verträgt der Mensch? Wie viel Arbeit? Sind Bonner vernunftbegabte Wesen? Funktionieren Mischehen zwischen Ossis und Wessis? Was ist von Hunden zu halten, die den Koitus an Menschenbeinen proben? Hört das Unterbewusste im Homo Sapiens auf den Namen „Triebi“ und ist ein vierschrötiger, krakeelender Kerl? Das sind Fragen, die die Frühschoppler mittels tief schürfender Erfahrungsberichte stellen und an deren Beantwortung sie sprachlich höchst elegant scheitern. So auch im Rahmen des rettungslos ausverkauften Jubiläumsabends, der als „Best of“-Veranstaltung bewies, dass Dr. Seltsams Sprechstunde wohl zu Recht als bestes „Off“-Programm in der Berliner Literaturszene gilt.

    Diese Mischung aus Poetry-Slam für Erwachsene, Fast-Kabarett mit Gesang und Improvisationstheater (als legendär gilt die Fortsetzungs-Schmonzette „Doktor Werner Petermann - Urologe aus Leidenschaft“) - die ist so sympathisch zwerchfellerweiternd, dass man sie alle herzen möchte: Hinark Husen, den unerschrockenen Statisten bei Götz Friedrichs Operninszenierungen, Andreas Scheffler, den Kneipen-Homer, Horst Evers, den Redseligen und Dr. Seltsam, den Conferencier mit seiner anarchistischen Liebenswürdigkeit. Aber halt!

    #Berlin #cabaret #Doktor_Seltsam