• Der schlimmste Feind
    http://www.zeno.org/Literatur/M/Tucholsky,+Kurt/Werke/1926/Der+schlimmste+Feind?hl=der+schlimmste+feind

    Für Ernst Toller

    Der schlimmste Feind, den der Arbeiter hat,
    das sind nicht die Soldaten;
    es ist auch nicht der Rat der Stadt,
    nicht Bergherrn, nicht Prälaten.
    Sein schlimmster Feind steht schlau und klein
    in seinen eignen Reihn.

    Wer etwas diskutieren kann,
    wer einmal Marx gelesen,
    der hält sich schon für einen Mann
    und für ein höheres Wesen.
    Der ragt um einen Daumen klein
    aus seinen eignen Reihn.

    Der weiß nichts mehr von Klassenkampf
    und nichts von Revolutionen;
    der hat vor Streiken allen Dampf
    und Furcht vor blauen Bohnen.
    Der will nur in den Reichstag hinein
    aus seinen eignen Reihn.

    Klopft dem noch ein Regierungsrat
    auf die Schulter: »Na, mein Lieber . . . «,
    dann vergißt er das ganze Proletariat –
    das ist das schlimmste Kaliber.
    Kein Gutsbesitzer ist so gemein
    wie der aus den eignen Reihn.

    Paßt Obacht!

    Da steht euer Feind,
    der euch hundertmal verraten.
    Den Bonzen loben gern vereint
    Nationale und Demokraten.
    Freiheit? Erlösung? Gute Nacht.
    Ihr seid um die Frucht eures Leidens gebracht.
    Das macht: Ihr konntet euch nicht befrein
    von dem Feind aus den eignen Reihn.

    · Theobald Tiger
    Die Weltbühne, 28.12.1926, Nr. 52, S. 998, wieder in: Mona Lisa.

    #mouvement_ouvrier #fonctionnaires #parlamentarisme #lutte_des_classes #poésie #chanson #Allemagne #histoire #social-démocrates #communistes

  • Die Ackerstraße als Loch
    http://www.zeno.org/Literatur/M/Tucholsky,+Kurt/Werke/1931/Zur+soziologischen+Psychologie+der+L%C3%B6cher Meyers Hof


    https://de.m.wikipedia.org/wiki/Meyers_Hof

    Das Loch ist der Grundpfeiler dieser Gesellschaftsordnung, und so ist sie auch. Die Arbeiter wohnen in einem finstern, stecken immer eins zurück, und wenn sie aufmucken, zeigt man ihnen, wo der Zimmermann es gelassen hat, sie werden hineingesteckt, und zum Schluß überblicken sie die Reihe dieser Löcher und pfeifen auf dem letzten. In der Ackerstraße ist Geburt Fluch; warum sind diese Kinder auch grade aus diesem gekommen? Ein paar Löcher weiter, und das Assessorexamen wäre ihnen sicher gewesen.
    ...
    Manche Gegenstände werden durch ein einziges Löchlein entwertet; weil an einer Stelle von ihnen etwas nicht ist, gilt nun das ganze übrige nichts mehr. Beispiele: ein Fahrschein, eine Jungfrau und ein Luftballon.

    Aus: Kaspar Hauser, Zur soziologischen Psychologie der Löcher, Die Weltbühne, 17.03.1931, Nr. 11, S. 389, in: Lerne Lachen.

    Quelle: Kurt Tucholsky: Gesammelte Werke in zehn Bänden. Band 9, Reinbek bei Hamburg 1975, S. 152-154.
    Permalink:
    http://www.zeno.org/nid/20005819199

    Bernauer Straße (Abschnitt Mietshäuser und Meyers Hof)
    https://de.m.wikipedia.org/wiki/Bernauer_Stra%C3%9Fe#Mietsh%C3%A4user_und_Meyers_Hof

    Entlang der Bernauer Straße wurden eine Reihe gründerzeitlicher Wohnhäuser errichtet. Direkt hinter dem Lazarus-Krankenhaus entstand ab den 1870er Jahren eine der bekanntesten Berliner Mietskasernen, der sogenannte Meyers Hof, ein hochverdichteter Wohn- und Arbeitskomplex mit 257 Wohnungen und 13 Gewerbebetrieben mit Eingang an der Ackerstraße. Bis zu 2000 Menschen lebten in dem fünfgeschossigen Bau mit sechs Hinterhöfen. Meyers Hof gilt als extremes Beispiel für die damals mitunter sehr engen und einfachen Lebensumstände des Proletariats rund um die Bernauer Straße und in ganz Berlin.

    1904: Kindermord in der Ackerstaße
    https://www.berlin-chronik.de/3995

    Die Ackerstraße im Wedding (heute: Gesundbrunnen) war Anfang des vergangenen Jahrhunderts eine berühmte und berüchtigte Gegend. Vor allem arme Arbeiter, Tagelöhner, Arbeitslose und Prostituierte wohnten in den Mietskasernen, die bis zu sechs Hinterhöfe hatten. Oft mussten ganz Familien in einem Zimmer leben, Wasser und Toiletten gab es oft nur auf dem Hof. In einem dieser Häuser wohnte auch die 8‑jährige Lucie Berlin mit ihren Geschwistern. Ihre Eltern lebten davon, in der Stube Zigarren zusammenzurollen.

    Am 9. Juni 1904 verschwand das Mädchen im Treppenhaus spurlos. Zwei Tage später fanden Fischer in der Spree den Rumpf des Mädchens. Bei der Befragung der Nachbarn kam schnell Theodor Berger, der vorbestrafte Zuhälter einer Frau ins Visier der Polizei, der gesehen wurde, wie er mit einem Mädchen an der Hand das Haus verlassen hatte. Die Frau wohnte im gleichen Haus, wie die Familie.

    In den folgenden Tagen fanden sich auch der Kopf und die restlichen Körperteile des Mädchens in der Spree. Der verdächtige Mann machte mehrmals sich widersprechende Aussagen, zahlreiche Indizien sprachen für ihn als Mörder. In der Presse, die jeden Schritt der Polizei sowie den Prozess teilweise seitenweise dokumentierte, wurden Forderungen nach der Todesstrafe gestellt. Am 23. Dezember 1904 wurde Berger wegen Vergewaltigung und Totschlags zu 15 Jahren Zuchthaus verurteilt.

    Lucie Berlin wurde auf dem St. Elisabeth-Friedhof beerdigt, ebenfalls in der Ackerstraße, nicht weit entfernt von ihrer Wohnung. Der Trauerzug mit offenem Leichenwagen und einer voranschreitenden Musikkapelle zog vom Gerichtsmedizinischen Institut in der Hannoverschen Straße zum Friedhof, rund 1.000 Menschen nahmen daran teil.

    Der Mordfall der kleinen Lucie ist nicht nur bemerkenswert, weil er viele Menschen und Medien in Berlin sehr beschäftigte. Im Prozess wurde auch das erste Mal in einem Kriminalfall in Berlin die Bestimmung von gefundenem Blut berücksichtigt. Zwar konnte noch nicht die Blutgruppe bestimmt werden, aber es wurde festgestellt, dass es sich um menschliches Blut handelt. Der Täter hatte behauptet, es wäre Blut von einem Tier.

    #Berlin #Mitte #Wedding #Ackerstraße

  • Bei uns in Europa
    http://www.zeno.org/Literatur/M/Tucholsky,+Kurt/Werke/1927/Bei+uns+in+Europa

    Il y a 97 ans déjà notre Kurt préféré nous a pondu un petit poème plein d’anti-américanisme et de bon sens. Les choses n’ont pas vraiment changé depuis sinon pour le pire .

    Ihr schickt uns aus dem Lande von Ford
    einen ziemlich miesen Menschenexport:
    überschwemmt sind Paris und Griechenland
    von euerm mäßigen Mittelstand.

    Diese Reisenden, laut und prahlerisch,
    legen geistig die Füße auf den Tisch,
    fallen lästig an allen Orten;
    und jeder zweite Satz beginnt mit den Worten:
    »Bei uns in Amerika . . . «

    Bei euch in Amerika gibts zweierlei Rechte
    (für Arme und Reiche) – gibt es Gute und Schlechte;
    gibt es solche und solche: Lewis und Mencken,
    und Dollardiener, die in Dollars denken.
    Bei euch in Amerika gibt es Republikaner
    und richtende blutige Puritaner.
    Ihr habt Kraft, Jugend und Silberlinge –
    aber ihr seid nicht das Maß aller Dinge,
    bei euch in Amerika.

    Bei uns in Europa ist das Weib
    keine Haremsfrau ohne Unterleib –
    bei uns in Europa ist die schwarze Haut
    kein Aussatz, dem man Extra-Bahnwagen baut;
    bei uns in Europa kann wer ohne Geld sein
    und dennoch, dennoch auf der Welt sein –
    bei uns in Europa kann man bestehn,
    ohne in die Sonntags-Schule zu gehn,
    weil fast keiner so am Altare steht:
    eine plärrende nüchterne Realität –
    wie bei euch in Amerika.

    Das wissen natürlich bei euch die Guten
    ganz genau. Der Rest hat von Blasen und Tuten
    keine Ahnung. Hört nur den Schmeichelchor
    seiner news-papers; kommt sich so erstklassig vor . . .
    Hör nicht hin, Arbeitsmann. Laß sie ziehn,
    die Eitelkeiten der Bourgeoisien.
    Pässe, Fahnen und Paraden
    das sind lächerliche Zementfassaden . . .
    Denn die wahre Grenze, zwischen Drohnen und Fronen,
    läuft quer hindurch durch alle Nationen –
    bei euch in Amerika.
    Wie bei uns in Europa.

    Theobald Tiger, Die Weltbühne, 04.10.1927, Nr. 40, S. 530, wieder in: Deutschland, Deutschland.

    Quelle :
    Kurt Tucholsky : Gesammelte Werke in zehn Bänden. Band 5, Reinbek bei Hamburg 1975, S. 335-336.
    Permalink :
    http://www.zeno.org/nid/2000581393X

  • Theobald Tiger (Kurt Tucholsky), Gebet nach dem Schlachten,
    Die Weltbühne, 07.08.1924, Nr. 32, S. 233
    http://www.zeno.org/Literatur/M/Tucholsky,+Kurt/Werke/1924/Gebet+nach+dem+Schlachten

    Kopf ab zum Gebet!

    Herrgott! Wir alten vermoderten Knochen

    sind aus den Kalkgräbern noch einmal hervorgekrochen.

    Wir treten zum Beten vor dich und bleiben nicht stumm.

    Und fragen dich, Gott:

    Warum –?

    Warum haben wir unser rotes Herzblut dahingegeben?

    Bei unserm Kaiser blieben alle sechs am Leben.

    Wir haben einmal geglaubt . . . Wir waren schön dumm . . . !

    Uns haben sie besoffen gemacht . . .

    Warum –?

    Einer hat noch sechs Monate im Lazarett geschrien.

    Erst das Dörrgemüse und zwei Stabsärzte erledigten ihn.

    Einer wurde blind und nahm heimlich Opium.

    Drei von uns haben zusammen nur einen Arm . . .

    Warum –?

    Wir haben Glauben, Krieg, Leben und alles verloren.

    Uns trieben sie hinein wie im Kino die Gladiatoren.

    Wir hatten das allerbeste Publikum.

    Das starb aber nicht mit . . .

    Warum –? Warum –?

    Herrgott!

    Wenn du wirklich der bist, als den wir dich lernten:

    Steig herunter von deinem Himmel, dem besternten!

    Fahr hernieder oder schick deinen Sohn!

    Reiß ab die Fahnen, die Helme, die Ordensdekoration!

    Verkünde den Staaten der Erde, wie wir gelitten,

    wie uns Hunger, Läuse, Schrapnells und Lügen den Leib zerschnitten!

    Feldprediger haben uns in deinem Namen zu Grabe getragen.

    Erkläre, daß sie gelogen haben! Läßt du dir das sagen?

    Jag uns zurück in unsre Gräber, aber antworte zuvor!

    Soweit wir das noch können, knien wir vor dir – aber leih uns dein Ohr!

    Wenn unser Sterben nicht völlig sinnlos war,

    verhüte wie 1914 ein Jahr!

    Sag es den Menschen! Treib sie zur Desertion![437]

    Wir stehen vor dir: ein Totenbataillon.

    Dies blieb uns: zu dir kommen und beten!

    Weggetreten!

    #première_guerre_mondiale #boucherie #poésie #1924

  • Ignaz Wrobel (Kurt Tucholsky), Les Abattoirs, Die Weltbühne, 08.09.1925, Nr. 36, S. 367
    http://www.zeno.org/Literatur/M/Tucholsky,+Kurt/Werke/1925/Les+Abattoirs

    Ein grüngrauer, stumpfer Himmel liegt über La Villette, dem Arbeiterviertel im Nordosten der Stadt. Ein Stückchen Kanal durchschneidet quer die Straßen, von hier fahren die Kähne mit dem Fleisch durch rußige Wiesen. Es ist sieben Uhr früh.

    Gegenüber dem begitterten Eingang zu den dunkeln Gebäuden des Schlachthofes hocken, sitzen, bummeln vor den Caféhäusern merkwürdige Männer und Frauen. Viele haben blutbespritzte Hosen, blutgetränkte Stiefel, ein grauer Mantel bedeckt das ein wenig. Einer ist nur in Jacke und Hose, unten ist er rot, als habe er in Blut gewatet, auf dem Kopf trägt’ er eine kleine, runde, rote Mütze – er sieht genau aus wie ein Gehilfe von Samson. Er raucht. Eine Uhr schlägt.

    Die Massen strömen durch die große Pforte, hinten sieht man eine Hammelherde durch eine schattige Allee trappeln, mit raschen Schritten rücken die Mörder an. Ich mit.

    Über den großen Vorhof, flankiert von Wärter- und Bürohäuschen, an einer Uhrsäule vorüber, hinein in die ›carrés‹. Das sind lange Hallen, nach beiden zugigen Seiten hin offen, hoch, mit Stall-Löchern an den Seiten. Hier wird geschlachtet. Als ich in die erste Halle trete, ist alles schon in vollem Gange. Blut rieselt mir entgegen.

    Da liegt ein riesiger Ochs, gefesselt an allen vieren, er hat eine schwarze Binde vor den Augen. Der Schlächter holt aus und jagt[205] ihm einen Dorn in den Kopf. Der Ochse zappelt. Der Dorn wird herausgezogen, ein neuer, längerer wird eingeführt, nun beginnt das Hinterteil des Tieres wild zu schlagen, als wehre es sich gegen diesen letzten, entsetzlichen Schmerz.

    Eine Viertelminute später ist die Kehle durchschnitten, das Blut kocht heraus. Man sieht in eine dunkle, rote Höhle, in den Ochsen hinein, aus dem Hohlen kommt das Blut herausgeschossen, es kollert wie ein Strudel, der Kopf des Ochsen sieht von der Seite her zu. Dann wird er gehäutet. Der nächste.

    Der nächste hat an der Stalltür angebunden gestanden mit seiner Binde. Die ist ihm jetzt abgenommen, er schnüffelt und wittert, mit geducktem Hals sieht er sich den Vorgänger an, der da hängt, und beriecht eine riesige weiße Sache: einen Magen, der, einer Meeresqualle gleich, vor ihm auf dem Steinboden umherschwimmt.

    Auf einem Bock liegen drei Kälbchen mit durchschnittenen Kehlen, noch lange zucken die Körper, werfen sich immer wieder. Rasch fließt das Blut mit Wasser durchmischt in den Rinnsalen ab. Dort hinten schlachten sie die Hammel.

    Zu acht und zehn liegen sie auf langen Böcken, auf dem Rücken liegen sie, den Kopf nach unten, die Beine nach oben. Und alle diese vierzig Beine schlagen ununterbrochen die Luft, wie eine einzige Maschine sieht das aus, als arbeiteten diese braunen und grauen Glieder geschäftig an etwas. Sie nähen an ihrem Tod. In der Ecke stehen die nächsten, sie sind schon gebunden, schnell nimmt der Schlächter eins nach dem andern hoch und legt es vor sich auf den Bock. Kein Schrei.

    Drüben in der nächsten Halle wird à la juive geschlachtet. Der Mann, der schachtet, ist aus dem Bilderbuch, ein Jude: ein langes, vergrämtes Gesicht mit einem Käppchen, in der Hand hat er einen riesigen Stahl, scharf wie ein Rasiermesser. Er probt die Schneide auf dem Nagel, er nimmt irgendeine religiöse Förmlichkeit mit ihr vor, seine Lippen bewegen sich. Die süddeutschen Gassenjungen übersetzten sich dies Gebet so: I schneid di nit, i metz di nit, i will di bloß mal schächte!

    Hier wird das Tier nicht vorher getötet und dann zum Ausbluten gebracht, sondern durch einen Schnitt getötet, so daß es sich im Todeskampf ausblutet. Ich bin auf den Schnitt gespannt.

    Der Ochse ist an den Vorderbeinen gefesselt, durch den Raum laufen über Rollen die Stricke, und zwei Kerls ziehen langsam an. Der Ochse strauchelt, schlägt mit den Beinen um sich, legt sich. Der Kopf hängt jetzt nach unten, die Gurgel strammt sich nach oben . . . Der Jude ist langsam nähergekommen, den Stahl in der Hand. Aber wann hat er den Schnitt getan –? Er ist schon wieder zwei Meter fort, und dem Ochsen hängt der Kopf nur noch an einem[206] fingerbreiten Streifen, das Blut brodelt heraus wie aus einer Wasserleitung. Das Tier bleibt so länger am Leben, unter der Rückenmuskulatur arbeitet es noch lange, fast zwei und eine halbe Minute. Ob es bei diesem System, wie behauptet wird, länger leidet, kann ich nicht beurteilen. Das Blut strömt. Erst dunkelrotes, später scharlachrotes, ein schreiendes Rot bildet seine Seen auf dem glitschrigen Boden. Nun ist das Tier still, der Augenausdruck hat sich kaum verändert. Neben ihm hat sich jetzt ein Mann auf den Boden gekniet, der das Fell mit einer Maschine ablöst. Sauber trennt der Apparat die Haut vom Fleisch, die Maschine schreit, es hört sich etwa an, wie wenn ein Metall gesägt wird, es kreischt. Dann wird dem riesigen Leib ein Schlauch ins Fleisch gestoßen, langsam schwillt er an: es wird komprimierte Luft eingepumpt. Das geschieht, wird gesagt, um die Haut leichter zu lösen. Es hat aber den Nachteil, daß diese Luft nicht rein ist, und das Fleisch scheint so schneller dem Verderben ausgesetzt zu sein. Und es hat den Vorteil, daß sich die Ware, da die Luft nicht so schnell entweicht, im Schaufenster besser präsentiert.

    Karrees und wieder Karrees – der Auftrieb auf dem benachbarten Viehmarkt, der zweimal wöchentlich stattfindet, ist stark genug: gestern waren es 13000 Tiere. Paris ist eine große Stadt, und es gibt nur noch kleinere Abattoirs, wie das an der Porte de Vaugirard, und eines nur für Pferde in Aubervilliers. Jetzt ist das Pferdefleisch annähernd so teuer wie das reguläre – der Verbrauch hat wohl etwas nachgelassen. La Villette hat das größte Abattoir – keineswegs das modernste –, mit dem in Nancy und den großen Musterschlachthöfen in Amerika und Deutschland nicht zu vergleichen.

    Stallungen und Stallungen. Viele Tiere sind unruhig, viele gleichgültig. An einer Stalltür ist ein Kalb angebunden, das bewegt unablässig die Nüstern, etwas gefällt ihm hier nicht. Zehn Uhr zwanzig, da ist nichts zu machen. Ein Ochse will nicht, er wird furchtbar auf die Beine geschlagen. Sonst geht alles glatt und sauber und sachlich vor sich. An einer Tür stehen zwanzig kurz abgeschnittene Rinderfüße, pars pro toto, eine kleine Herde. Hier liegt ein Schafbock und kaut zufrieden Heu. Es ist ein gewerkschaftlicher Gelber.

    Der wird an die Spitze der kleinen Hammelherden gesetzt, die da einpassieren, er führt sie in den Tod; kurz vorher verkrümelt er sich und weiß von nichts mehr, der Anreißer. Er ist ganz zahm und kommt immer wieder zu seinem Futterplatz zurück. Dafür schenkt man ihm das Leben. Das soll in den letzten Jahren schon mal vorgekommen sein.

    Hier im großen Stall ist ein Pferch ganz voll von Schafen. Sie werden wohl gleich abgeholt, sie stehen so eng aufeinander, daß sie sich überhaupt nicht bewegen können, und sie stehen ganz still. Sie sehen stumm auf, kein Laut, hundertzwanzig feuchte Augen sehen dich an. Sie warten.

    [207] Durch Stallstraßen, an Eisfabriken und Konservenfabriken vorüber, zu den Schweinen. Eine idyllische Hölle, eine höllische Idylle.

    In dem riesigen, runden Raum brennen in den einzelnen Kojen, die durch Bretterwände abgeteilt sind, große Strohfeuer. Die Rotunde hat Oberlicht, und die Schlächter, die Männer und Frauen, die die Kadaver sengen, sehen aus wie Angestellte der Firma Hephästos & Co. Die Schweine rummeln in den Kojen, durchsuchen das Stroh – der Schlächter mit einem großen Krockethammer tritt näher, holt, heiliger Hodler! weit aus und schlägt das Tier vor den Kopf. Meist fällt es sofort lautlos um. Zappelt es noch, gibt er einen zweiten Schlag, dann liegt es still. Keine Panik unter den Mitschweinen, kein Laut, kein Schrecken. Draußen, in den Ställen drumherum, schreien sie, wie wenn sie abgestochen werden sollen – hier drinnen kein Laut. Dem toten Schwein werden von Frauen die Borsten ausgerupft, mit denen du dich später rasierst, dann wird es ans Feuer getragen und abgesengt. Die schwarzen Kadaver, auf kleinen Wägelchen hochaufgeschichtet, fahren sie in den Nebensaal, wo man sie weiterverarbeitet. Hier, wie bei den Rindern, stehen Leute mit Gefäßen, die fangen das Blut auf. Das Blut raucht, es ist ganz schaumig, sie rühren ununterbrochen darin, damit es nicht gerinnt.

    Die Schlächter stehen sich nicht schlecht: sie verdienen etwa zweihundert Franken die Woche. (Eine Umrechnung ergäbe bei den verschiedenen Lebensbedingungen ein falsches Bild; der Reallohn ist für deutsche Verhältnisse hoch: der französische Arbeiter wohnt schlechter als sein deutscher Genosse, ißt bedeutend besser, kleidet sich fast ebenso gut.)

    Da an der Ecke stehen vor großen Trögen Männer und Frauen und kochen die Kalbsköpfe aus. Blutig kommen sie hinein, weiß kommen sie heraus. Auf dem Boden rollen die abgeschnittenen Köpfe mit den noch geöffneten Augen – ein Mann ergreift sie und pumpt sie gleichfalls mit der Luftpumpe auf. Jedesmal bläht sich der Kopf, jedesmal schließt das tote Kalb langsam und wie nun erst verlöschend die Augen . . . dann werden sie gekocht.

    Das einseitige Stiergefecht dauert noch an, bis elf wirds so weitergehen. An der Uhr, vorn am Eingang, hängen die Marktnotizen.

    Da ist zunächst eine große erzene Tafel, den Toten des Krieges als Erinnerung gewidmet, aufgehängt von den vereinigten Großschlächtereien der Stadt Paris. Namen, eine Jahreszahl . . . Ich studiere die Markttafeln. Und beim Aufsehen bleiben mir Worte haften, ein paar Worte von der Inschrift, die die Gefallenen ehren soll. So:

    La Boucherie en gros

    1914–1918

    Die Parallele ist vollständig.

    Abattoirs de la Villette : histoire
    https://fr.m.wikipedia.org/wiki/Abattoirs_de_la_Villette

    #Paris #La_Villette #1925 #boucherie #abattoir #guerre #première_guerre_mondiale #reportage

  • Bauern, Bonzen und Bomben, Kurt Tucholsky, 1931
    http://www.zeno.org/Literatur/M/Tucholsky,+Kurt/Werke/1931/Bauern,+Bonzen+und+Bomben

    Wer, um sich oder einem Dritten einen rechtswidrigen Vermögensvorteil zu verschaffen, einen andern durch Gewalt oder Drohung zu einer Handlung, Duldung oder Unterlassung nötigt . . .

    § 253 StGB

    Ein politisches Lehrbuch der Fauna Germanica, wie man es sich nicht besser wünschen kann:

    ›Bauern, Bonzen und Bomben‹ von Hans Fallada (erschienen bei Ernst Rowohlt in Berlin). Bevor wir ins Thema steigen: das Buch hat ein gotteslästerlich schlechtes Satzbild. Wie sieht denn nur die Seite aus? Ich habe immer gelernt, der weiße Rand müsse sich nach der Innenseite des Buches hin verbreitern – dies Satzbild ist aber gar nicht schön. Rowohlt, Sie sind doch sonst nicht so? Jetzt gehts los.

    Falladas Buch ist die beste Schilderung der deutschen Kleinstadt, die mir in den letzten Jahren bekannt geworden ist. Der Verfasser hat einen Bauernroman schreiben wollen – wohl anknüpfend an die Vorgänge in Neumünster in Holstein, wo Bauernführer im Sinne Klaus Heims und, unabhängig von ihm, die Nationalsozialisten die vorhandene Unzufriedenheit der Bauern benutzten, um gegen das, was sie die Republik nennen, vorzugehen. »Die Gestalten des Romans«, steht im Vorwort, »sind keine Fotografien, sie sind Versuche, Menschengesichter unter Verzicht auf billige Ähnlichkeit sichtbar zu machen. Bei der Wiedergabe der Atmosphäre, des Parteihaders, des Kampfes aller gegen alle ist höchste Naturtreue erstrebt. Meine kleine Stadt steht für tausend andere und für jede große auch.«

    Die Bauern nun sind in diesem Roman eine dunkle, anonyme Masse – die paar Typen, die herausgegriffen werden, sind viel blasser als die Bewohner der kleinen Stadt Altholm; und von den wirtschaftlichen Gründen bäurischer Notlage wird so gut wie nichts gesagt. Einmal ist das heikle Thema, daß die Bauern vielleicht intensiver wirtschaften sollten, um sich gegen die ausländische Konkurrenz anders als mit Schutzzöllen zu behaupten, leise angeschlagen; kein Wort davon, daß die Verdienste, die der Bauernschaft durch die Inflation in den Schoß gefallen sind, sie damals für lange Zeit hätten schuldenfrei[168] machen können, es war jene Zeit, wo die Ledersessel und die Klaviere in die Bauernhäuser transportiert wurden. Und wo stehn die Bauern heute . . . also davon ist in dem Buch wenig zu spüren. Den Bauern gehts eben schlecht – und nun revoltieren sie.

    Das tun sie auf eine recht merkwürdige Weise.

    Die dem Altdeutschen entlehnten romantischen Formen des armen Konrad wirken wie aufgeklebt. »Bauern Pommerns, habt ihr darüber hinaus schuldig gefunden die ganze Stadt Altholm mit allem, was darin lebt, so sprecht: sie ist schuldig! – Ankläger, welche Strafe beantragst du gegen die Stadt Altholm?« Das ist tragische Oper, Film und neuruppiner Bilderbogen. Sicherlich wird auf diesen Things so gesprochen; es ist die gehobene Sprache von Ackerbürgern, die das Feierliche solcher Handlungen durch einen Stil bekunden, der leise Erinnerungen an die Bibel und an alte verschollene Zeiten aufweist, da der Bauer einmal wirklich revolutionär gewesen ist. Aber warum, warum das alles so ist – davon bekommen wir in diesem Buch wenig zu hören. Gut gesehn und gut geschildert ist das Dumpfe am Bauern, seine Schlauheit, seine ungeheure Aktivität im passiven Erdulden, woran sich jeder Gegner mit der Zeit totläuft . . . aber der Bauer: der ist nicht in diesem Buch. Das hat kein Bauer geschrieben. Dieser Autor hat die Bauernbewegung schildern wollen, und unter der Hand ist ganz etwas andres herausgekommen: ein wundervoller Kleinstadtroman.

    George Grosz, der du das Titelbild hättest zeichnen sollen, das lies du! Es ist dein Buch.

    Die Technik ist simpel; es ist der brave, gute, alte Naturalismus, das Dichterische ist schwach, aber der Verfasser prätendiert auch gar nicht, ein großes Dichtwerk gegeben zu haben. Ein paar Stellen sind darin, an denen schlägt ein Herz. Nein, ein großes Kunstwerk ist das nicht. Aber es ist echt . . . es ist so unheimlich echt, daß es einem graut.

    Gezeigt wird das politische Leben einer kleinen Provinzstadt; ihre Intrigen und ihre Interessenten; ihre Stammtische und ihre Weiberkneipen; ihr Rathaus und ihre Polizeiwache . . . es ist schmerzhaft echt. Das hat einer geschrieben, der diese Umwelt wie seine Tasche kennt, einer, der sich aber doch so viel Distanz dazu bewahrt hat, sie schildern zu können. Er hat genau die richtige Entfernung, deren ein Schriftsteller bedarf: nah, aber nicht zu nah. Es scheint mir ungemein bezeichnend, daß wir keinen solchen Arztroman haben; keinen solchen Börsianerroman; keinen solchen Großstadtroman: es ist, als hätten die Angehörigen dieser gehobenen Bürgerschichten keine Augen im Kopf, um das zu sehen, was rings um sie vorgeht. Es ist ihnen wohl zu selbstverständlich. Fallada hat gesehn.

    Es ist eine Atmosphäre der ungewaschenen Füße. Es ist der Mief der Kleinstadt, jener Brodem aus Klatsch, Geldgier, Ehrgeiz und politischen Interessen; es ist jene Luft, wo die kleine Glocke an der Tür des Posamentierwarenladens[169] scheppert und eine alte Jungfer nach vorn gestolpert kommt . . . Augen tauchen hinter Fensterladen auf und sehen in den ›Spion‹ . . . und wenn das nun noch ein Dichter geschrieben hätte, der nicht nur theoretisch im Vorwort sagt, daß dieses Altholm für tausend andre Städte stehe, sondern wenn er uns das nun auch noch im Buch selbst gezeigt hätte –: dann wäre dies ein Meisterwerk.

    So ist es nur ein politisch hochinteressanter Roman geworden. Ich kann mir nicht denken, daß ich dieses Buch zu Ende gelesen hätte, wenn es etwa eine bretonische Kleinstadt schilderte; das kann für den Fremden nur ein Künstler wie Maupassant schmackhaft machen. Dieses Werk hier habe ich in zwei Nächten gefressen, weil es uns politisch angeht, nur deswegen. Beinah nur deswegen.

    Im Gegensatz zu diesen dummen Büchern gegen die ›Bonzen‹, wo der Sozialdemokrat nichts als dick, dumm und gefräßig ist und die andern rein und herrlich; wo die Arbeiter abwechselnd als verhetzt und unschuldig oder als blöde Masse geschildert werden, und wo sich die ganze Wut nicht zu Worte gekommener Zahlabendmitglieder entlädt – im Gegensatz dazu sind hier Menschen gezeichnet, wie sie wirklich sind: nicht besonders bösartig, aber doch ziemlich übel, mutig aus Feigheit, klein, geduckt alle zusammen – und niemand ist in diesem Betrieb eigentlich recht glücklich.

    Die Bauern demonstrieren in der Stadt mit der schwarzen Fahne gegen die zu hohen Steuern. Der Bürgermeister verbietet die Demonstration nicht, der Regierungspräsident will sie verboten haben; beides sind Sozialdemokraten. Der Regierungspräsident entsendet an die Grenze des städtischen Machtbereichs Schupo; sowie einen ›Vertrauensmann‹. Der Vertrauensmann bringt die städtische Polizei und die Bauern ein bißchen aufeinander; hier ist ausgezeichnet geschildert, wie so etwas verläuft: wie guter böser Wille, Tücke, Schlauheit und Gerissenheit des Beamten ineinander übergehn – Amtsmißbrauch? Das weisen Sie mal nach! Und wie sich dann vor allem die Ereignisse selbständig machen; wie es eben nicht mehr in der Macht der Menschen liegt, ihnen zu gebieten – das ›es‹ ist stärker als sie. Die Herren Führer stehen nachher als Opfer da – wie ist das gewesen? Ein Telefonanruf, die Ungeschicklichkeit eines Polizeiinspektors . . . du lieber Gott, es sind lauter Kleinigkeiten, und zum Schluß ist es ernste Politik. Fallada hat das gut aufgebröselt; er begnügt sich an keiner Stelle mit diesen schrecklichen Rednerphrasen, wie wir sie sonst in jedem politischen Roman finden: er trennt das Gewebe auf und zeigt uns das Futter. Riecht nicht gut, diese Einlage.

    Hießen alle diese Leute: Kowalski, Pruniczlawski, Krczynakowski und spielte dieser Roman in Polen –: die deutsche Rechtspresse würde ihn mit Freudengeheul begrüßen. Was? Diese Tücke! diese Falschheit – denn ein Grundzug geht durch das ganze Buch, und der ist wahr:

    Fast alles, was hier geschieht, beruht auf Nötigung oder Erpressung.

    Der Bürgermeister drückt auf die Zeitungsleute; die Zeitungsleute drücken auf das Rathaus; die Bauern auf die Kaufleute; jeder weiß etwas über wen, und jeder nutzt diese Kenntnis auf das raffinierteste aus. Nun wollen wir uns nicht vormachen, es käme solches nur in deutschen Kleinstädten vor; diese Leute sind immer noch Waisenknaben gegen die Franzosen, die aus Personalkenntnissen gradezu meisterhaft Kapital zu schlagen verstehn – die gute Hälfte ihrer Politik besteht aus solchen Dingen, und es ist sehr lustig, daß der Name ihrer einschlägigen Institution in wörtlicher Übersetzung »allgemeine Sicherheit« bedeutet. Also das ist überall so. Gestaltet ist es in diesem Buche meisterhaft.

    Was vor allem auffällt, ist die Echtheit des Jargons. Das kann man nicht erfinden, das ist gehört. Und bis auf das letzte Komma richtig wiedergegeben: es gibt eine Echtheit, die sich sofort überträgt: man fühlt, daß die Leute so gesprochen haben und nicht anders.

    Diese Aktschlüsse, wenn sie auseinandergehn, mit »Na, denn . . . « und »Also nicht wahr, Herr Bürgermeister . . . «; der schönste Gesprächsschluß ist auf der Seite 517 . . . die grammophongetreue Wiedergabe dessen, was so in einer Konferenz gesprochen wird: wie da die Bürger aller Schattierungen eine Nummer reden, halb Stammtisch und halb Volksversammlung; wie sie unter Freunden sprechen und wie sie sprechen, wenn jemand dabei ist, gegen den sie etwas haben; wie sie schweinigeln . . .

    Ja, da lesen wir nun so viel über die Sittenverderbnis am Kurfürstendamm. Aber auf keinem berliner Kostümfest der Inflationsjahre kann es böser zugegangen sein als es heute noch in jeder Kleinstadt in gewissen Ecken zuzugehen pflegt, wenn die Ehemänner, fern von Muttern, in das Reich der Aktfotografien und der Weiberkneipen hinuntertauchen. Jeder hat was auf dem Kerbholz. »Ich sage bloß: Stettin . . . « sagt einer zum Bürgermeister. Ich sage bloß: Altholm – und hierin steht dieses erfundene Altholm, das gar nicht erfunden sein kann, für jede Stadt. Dieses Laster ist unsagbar unappetitlich.

    Wenn sie aber festgestellt haben, daß Betty, die Sau, heute keine Hosen trägt, dann reißen sie sich am nächsten Vormittag zusammen und werden ›dienstlich‹. Und das ist nun allerdings ganz und gar deutsch. »Ich komme dienstlich«, sagt einer zu einem Duzfreund. Und dann spielen sie sich eine Komödie vor: jeder weiß, daß der andre weiß, daß er weiß – sie grinsen aber nicht, sondern sie wechseln vorschriftsmäßig Rede und Gegenrede, damit sie nachher in den Bericht setzen und beschwören können: »Herr Stuff sagte mir, daß er von dem Verbleib des Inseratenzettels nichts wüßte. So wahr mir Gott helfe.«

    O welsche Tücke, o polnische Niedertracht, o deutsche Dienstlichkeit.

    Und eine Gerichtsverhandlung: wie da die unbequemen Zeugen zu Angeklagten werden; wie es gedreht wird; wie dieses ganze Theater gar nichts mehr mit Rechtspflege, dagegen alles mit Politik zu tun hat –: das ist ein Meisterstück forensischer Schilderung. Nur zu lang.

    Und wenn man das alles gelesen hat, voller Spannung, Bewegung und ununterbrochen einander widerstreitender Gefühle: dann sieht man die immense Schuld jener Republik, die wir einmal gehabt haben und die heute zerbrochen ist an der Schlappheit, an der maßlosen Feigheit, an der Instinktlosigkeit ihres mittlern Bürgertums, zu dem in erster Linie die Panzerkreuzer bewilligenden Führer der Sozialdemokratie zu rechnen sind. Der Lebenswille der andern war stärker; und wer stärker ist, hat das Anrecht auf einen Sieg. Beklagt euch nicht.

    Hier, in diese kleinen Städte, ist der demokratische, der republikanische Gedanke niemals eingezogen. Man hat – großer Sieg! – auf manchen Regierungsgebäuden Schwarz-Rot-Gold geflaggt; die Denkungsart der breiten Masse hat die Republik nie erfaßt. Nicht nur, weil sie maßlos ungeschickt, ewig zögernd und energielos zu Werke gegangen ist; nicht nur, weil sie 1918 und nach dem Kapp-Putsch, nach den feigen Mordtaten gegen Erzberger und Rathenau alles, aber auch alles versäumt hat – nein, weil der wirkliche Gehalt dieses Volkes, seine anonyme Energie, seine Liebe und sein Herz nicht auf solcher Seite sein können. Die Sozialdemokratie ist geistig nie auf ihre Aufgabe vorbereitet gewesen; diese hochmütigen Marxisten-Spießer hatten es alles schriftlich, ihre Theorien hatten sich selbständig gemacht, und in der Praxis war es gar nichts. Das Volk versteht das meiste falsch; aber es fühlt das meiste richtig. Daß nun dieses richtige Grundgefühl heute von den Schreihälsen der Nazis mißbraucht wird, ist eine andre Sache.

    Hier ist eine Blutschuld der nicht mehr bestehenden Republik. Aus keinem Buch wird das deutlicher als aus diesem, der Verfasser hat es uns vielleicht gar nicht zeigen wollen – die These springt aber dem Leser in die Augen. Was war hier zu machen –! Und was hat man alles nicht gemacht –! Zu spät, zu spät.

    Ich empfehle diesen Roman jedem, der über Deutschland Bescheid wissen will. Wie weit ist das von dem Rapprochement-Geschwätz der braven Leute aus den großen Städten entfernt. Hier ist Deutschland – hier ist es.

    Es wäre anzumerken, daß der Künstler in Fallada nur an einigen wenigen Stellen triumphiert. Manchmal sagt er kluge Sachen; wie sich zwei bei einer Unterredung vorsichtig abtasten: »Ein Anfang ist gemacht, ein günstiger Anfang. Die beiden Herren haben sich in ihren Antipathien getroffen, was meistens wichtiger ist, als daß die Sympathien übereinstimmen.« Und einmal steht da einer dieser Sätze, an denen das frühere Werk Gerhart Hauptmanns so reich ist. Einem[172] Bauern geht alles, aber auch alles schief. »Welche sind, die haben kein Glück, sagt Banz und meint sich.«

    Ja, das ist ein Buch! So ist die Stadt; so ist das Land, vor allem das niederdeutsche, und so ist die Politik. Man sieht hier einmal deutlich, wie eben diese Politik nicht allein in wirtschaftliche Erklärungen aufzulösen ist; wie sich diese Menschen umeinanderdrehen, sich bekämpfen und sich verbünden, sich anziehen und abstoßen, sich befehden und verbrüdern . . . als seien sie von blinden und anonymen Leidenschaften getrieben, denen sie erst nachher, wenn alles vorbei ist, ein rationalistisches Etikett aufkleben; das Etikett zeigt den Flascheninhalt nicht richtig an. Sie drücken aufeinander und »lassen den andern hochgehn«; sie spielen einander die Komödie des Dienstlichen vor – und es sind arme Luder, alle miteinander. Und man bekommt einen kleinen Begriff davon, wie es wohl einem zumute sein mag, der in diesen mittlern und kleinen Städten auf republikanischem Posten steht. Fällt er wegen seiner Gesinnung? Natürlich. Fällt er durch seine Gesinnung? Nie. Sie »machen ihn kaputt«, wie der schöne Fachausdruck heißt, aber so: »Herr Schulrat P. hat gegen den § 18 der Bestimmung verstoßen, nach der er . . . « Immer ist da so ein § 18, und immer funktioniert dieser Paragraph prompt, wenn sie ihn grade brauchen. Und niemals hilft die Republik ihren Leuten; sie wird so gehaßt und hat dabei gar nich veel tau seggn. Sie sieht sich das alles mit an . . . sie läßt diese unsäglichen Richter machen, die die Hauptschuld an den blutigen Opfern der letzten Zeit tragen. Rechtsschutz gibt es nicht. Gleichheit vor dem Strafgesetz gibt es nicht. Kommunist sein bedeutet: Angeklagter sein, und wenn die Nazis ganze Kleinstädte terrorisieren, so bleibt der Landgerichtsrat milde und hackt auf den Belastungszeugen herum. Und wenn es gar nicht anders geht, wenn sonst nichts da ist, einen verhaßten Republikaner tot zu machen, dann hilft irgend ein § 18. Noch niemals aber ist ein Mitglied der herrschenden Rechtskaste über solch einen Paragraphen gestolpert, falls er sich nicht bei seiner Klasse mißliebig gemacht hat. Da gilt dann der Paragraph nicht. Man fällt nicht über seine Fehler. Man fällt immer über seine Feinde, die diese Fehler ausnutzen.

    So einen Arztroman möchten wir lesen. So einen Journalistenroman. So einen berliner Roman. Dazu wäre allerdings der besondere Glücksfall nötig, daß ein schriftstellerisch begabter Mann in diesem Milieu lebt und es so genau kennt, wie Fallada das seinige.

    Er hat es kaschiert. Seine Helden heißen nicht Knut, sondern Tunk. Wird diese Tarnkappe genügen? Begeistert wird die kleine Stadt von seiner Schilderung grade nicht sein – nicht davon, wie er sie entblößt; wie er aufzeigt, daß weit und breit keine Juden da sind, die man für alles verantwortlich machen könnte; weit und breit keine Kommunisten,[ die etwas bewirken. Fallada, sieh dich vor. Es gibt ein altes Grimmsches Märchen von der Gänsemagd, die eine Prinzessin war und die nun als Magd dienen muß. Den Kopf ihres treuen Rosses haben sie ans Stadttor genagelt, und jeden Morgen, wenn sie ihre Gänse da vorübertreiben muß, sieht sie es an und spricht:

    »O Fallada – daß du hangest!«

    Wenn sie dich kriegen, Hans Fallada, wenn sie dich kriegen: sieh dich vor, daß du nicht hangest! Es kann aber auch sein, daß sie in ihrer Dummheit glauben, du habest mit dem Buch den Sozis ordentlich eins auswischen wollen, und dann bekommst du einen Redakteurposten bei einem jener verängstigten Druckereibesitzer, die in Wahrheit die deutsche Presse repräsentieren.

    Obgleich und weil du den besten deutschen Kleinstadtroman geschrieben hast.

    · Ignaz Wrobel
    Die Weltbühne, 07.03.1931, Nr. 14, S. 496.

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