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  • Rede von Alterspräsident Gregor Gysi : Für eine faire und solidarische Politik
    https://www.freitag.de/autoren/gregor-gysi/rede-von-alterspraesident-gregor-gysi-plaedoyer-fuer-faire-und-gerechte-poli

    Voilà ce qui reste du parti du socialisme démocratique (PDS) et du parti Wahlalternative für soziale Gerechtigkeit (WASG) qui ont fusionné en 2007 sous l’appellation Die Linke / parti de gauche.

    Gregor Gysi a gagné. Avec sa bande composée d’anciens trotzkystes et de fonctionnaires d’état qui ont fait leur preuve en ruinant l’état socialiste allemand, il a transformé le parti de gauche dans un projet de marketing progressiste à la mode à des années lumière des aspirations marxistes ou socialistes et dépourvu de la moindre conviction de gauche.

    Le parlement de l"Allemagne capitaliste l’a remercié en le nommant président doyen honorifique . Ce poste l’autorise à tenir un discour inaugural sans limite de temps. Gysi en a profité pour évoquer le doux souvenir du bourreau des acquis sociaux des ouvriers est-allemands et de l’état grec Wolfgang Schäuble.

    Voici le texte complet du discours de Gregor Gysi, ancien membre du parti SED connu pour avoir exercé le pouvoir dictatorial sur l’état socialiste allemand et sa classe prolétaire.

    25.3.2025 vin Gregor Gysi - Der Alterspräsident Gregor Gysi eröffnet die erste Sitzung des 21. Deutschen Bundestags. Seine Rede im Wortlaut

    Es gilt das gesprochene Wort

    Liebe Kolleginnen und Kollegen, verehrte Gäste,

    als ich 1990 das erste Mal für den Bundestag kandidierte, trugen junge Mitglieder meiner Partei ein Plakat, auf dem stand, dass ich noch Alterspräsident werde. Das hielt ich für einen netten Scherz, habe aber niemals daran geglaubt. Sie sollten Recht behalten, nicht ich. Nun bin ich zwar nicht der älteste Abgeordnete, aber der Dienstälteste. Die Bürgerinnen und Bürger der alten Bundesrepublik Deutschland konnten schon seit August 1949 zu den Wahlen antreten, ich erst seit Ende 1990. Alle aus den alten Ländern zu überholen, war nicht einfach, aber ich habe es geschafft.

    Wenn Sie Prof. Dr. Lammert vorher gefragt hätten, hätte er Sie wahrscheinlich gewarnt, mir eine Rede ohne Redezeitbegrenzung im Bundestag zuzubilligen. Aber ich werde das Recht nicht missbrauchen.

    Wenn ich an Alterspräsidentinnen und -präsidenten denke, fallen mir Linke wie Clara Zetkin, Willy Brandt, Stefan Heym, Fred Gebhardt und andere ein. Ich denke aber auch an bedeutende Konservative wie Helmuth Graf von Moltke, von den Nazis hingerichtet, oder Wolfgang Schäuble.

    Ich möchte im Namen aller Anwesenden der Präsidentin des 20. Deutschen Bundestages, Frau Bärbel Bas, herzlich für Ihre faire und kluge Leitung unseres Parlaments danken.

    Ich begrüße auch alle ehemaligen Abgeordneten des 20. Bundestages auf den Besucherrängen und danke Ihnen für die von Ihnen geleistete Arbeit.

    Der neu gewählte Bundestag, der sich heute konstituiert, muss in einer schweren Zeit agieren. Es gibt immer mehr bewaffnete Konflikte auf unserem Planeten. Wir haben einen Krieg in Europa, kriegerische Auseinandersetzungen im Nahen Osten und viele bewaffnete Konflikte in Afrika. Das Völkerrecht wird von vielen Seiten immer wieder verletzt.
    Völkerrechtswidriger Krieg gegen die Ukraine

    Wir sind uns hoffentlich alle einig, dass Russland gegen die Ukraine einen völkerrechtswidrigen Krieg führt. Das müssen wir verurteilen. Wir brauchen eine neue Sicherheitsstruktur, eine neue Friedensordnung für Europa. Das geht nicht ohne Russland, ist aber eine schwere Aufgabe.

    Die Mehrheit der Mitglieder des Bundestages geht davon aus, dass man durch die Bundeswehr und deren Waffen ein hohes Abschreckungspotential benötigt, so dass kein Land sich wagte, uns anzugreifen. Sie meinen, dass nur auf dieser Basis auf Augenhöhe Verhandlungen geführt werden können. Diejenigen, die das anders sehen, zum Beispiel ich, dürfen diejenigen, die diesen Standpunkt vertreten, nicht als Kriegstreiber bezeichnen. Denn sie wollen ja auf ihrem Weg Frieden sichern.

    Die Minderheit im Haus, zu der ich gehöre, vertritt eine andere Auffassung. Die Regierungen von Finnland und Schweden begründeten ihren Beitritt zur NATO damit, dass Russland sie dann nicht mehr angreifen könne, weil ein Angriff auf sie den Bündnisfall auslöste, es zum dritten Weltkrieg käme, so dass auch von Russland so gut wie nichts übrigbliebe. Da Deutschland schon Mitglied der NATO ist, muss das auch für Deutschland gelten. Nun wird zurecht bezweifelt, dass die USA noch zu ihrer Verpflichtung stehen.

    Trotzdem, wenn alle anderen Mitglieder zu ihrer Verpflichtung stünden, kann sich Russland auf einen solchen Krieg nicht einlassen. Diese Minderheit im Bundestag setzt deshalb auf Deeskalation, Interessenausgleich, viel mehr Diplomatie, gegenseitige Abrüstung und die strikte Wahrung des Völkerrechts durch alle Seiten. Das ist ihr Weg zum Frieden. Die anderen sollten solche Menschen nicht Putin-Knechte nennen. Denn es geht ihnen auch um nichts anderes als um Frieden.
    Bundeswehr und Rüstungsindustrie

    Die Bundeswehr muss selbstverständlich verteidigungsfähig sein. Niemand bestreitet, dass die französischen Streitkräfte in der Lage sind, Frankreich zu verteidigen. Im Jahre 2023 gab der französische Staat laut Statistischem Bundesamt für seine Armee und Rüstung insgesamt 61,3 Milliarden US-Dollar aus. Wir gaben im selben Jahr für Armee und Rüstung 66,8 Milliarden US-Dollar aus. Liegt es wirklich an der Menge des Geldes oder könnte es nicht sein, dass das Geld auch falsch eingesetzt wird? Wenn die französischen Streitkräfte die Verteidigungsfähigkeit mit weniger Geld herstellen können, warum nicht wir. Zumindest lohnte es sich, auch mal in dieser Richtung nachzudenken und die Strukturen zu untersuchen.

    Und ein Problem ist und bleibt weltweit, dass die Rüstungsindustrie überwiegend privat ist und deshalb sehr viel an Rüstung und damit an Kriegen verdient wird. Wenn es uns gelänge, dass niemand mehr an Kriegen verdiente, wären wir dem weltweiten Friedensziel wesentlich näher.

    Es gibt also unterschiedliche Auffassungen, wie man zum Frieden gelangt. Wir müssen einfach lernen zu respektieren, dass es diese Unterschiede gibt. Wenn wir mehr Glaubwürdigkeit bei der Bevölkerung erreichen wollen, sollten wir in unserer Sprache das Maß wahren, nicht immer bei Menschen mit anderer Auffassung das Übelste unterstellen.

    Unsere Sprache muss auch allgemeinverständlich werden. Die Bürgerinnen und Bürger müssen verstehen, worüber wir hier diskutieren. Wir sollten den gehobenen Stil überwinden. Ferner müssen wir alle ehrlicher werden. Man muss die wahren politischen Beweggründe für Entscheidungen angeben und nicht falsche, von denen man meint, dass sie eine Mehrheit trägt. Es ist auch überhaupt nicht nötig, im Wahlkampf Forderungen zu stellen, Bedingungen zu nennen und dann das Gegenteil zu betreiben. Man sollte mit Wahrheiten gewählt werden. Sonst baut man die Glaubwürdigkeit der Politik ab und hilft genau jenen, denen man überhaupt nicht helfen will.

    Wie wäre es mit einer breiteren politischen Kultur bei uns – so wie in Frankreich. Könnten einige Linke nicht aufhören, sich gegen die Benennung einer Straße nach Otto von Bismarck zu wenden? Kritik an ihm ist selbstverständlich erlaubt, aber er bleibt eine bedeutende historische Persönlichkeit. Und könnten sich nicht Konservative einen Ruck geben und unterstützen, eine Straße nach Clara Zetkin zu benennen. Eine Frau, die mutig gegen Armut und Elend und für eine Gleichstellung der Geschlechter kämpfte. Und übrigens, Karl Marx ist weltweit einer der bekanntesten Deutschen. Selbstverständlich darf auch er kritisiert werden. Aber er ist und bleibt ein großer Sohn unseres Volkes und man sollte wenigstens eine Universität nach ihm benennen, vielleicht die, die sich in seiner Geburtsstadt in Trier befindet. Das verpflichtet niemanden an der Universität, marxistisch zu werden, zumal Karl Marx, als der Begriff des Marxismus aufkam, erklärte, kein Marxist zu sein.
    Verantwortung im Nahen Osten

    Zum Konflikt im Nahen Osten möchte ich hier folgendes erklären. Die Jüdinnen und Juden wurden Tausende Jahre lang in vielen Ländern diskriminiert, benachteiligt, sahen sich Verboten ausgesetzt. Bestimmte Berufe zum Beispiel wurden ihnen untersagt, so dass sie andere ergreifen sollten und mussten, was ihnen später wieder vorgeworfen wurde. Aber es blieb nicht dabei. Aus dem Antijudaismus im Christentum wurde ein schlimmer Antisemitismus. Er ging letztlich so weit, dass Jüdinnen und Juden auch geschlagen und ermordet wurden.

    Am schlimmsten haben wir Deutschen es während der Nazizeit getrieben, indem 6 Millionen Jüdinnen und Juden industriell ermordet wurden. Das ist einzigartig in der Geschichte der Menschheit. Die Jüdinnen und Juden müssen weltweit endlich das Recht haben, dort wo sie wohnen, gleichberechtigt wie alle anderen Bürgerinnen und Bürger zu leben und behandelt zu werden. Sie haben entsprechend dem Beschluss der UNO von 1947 auch ein Recht auf einen jüdischen Staat, auf ein sicheres Zuhause. Israel muss souverän, unabhängig und sicher sein und werden. Wir haben aufgrund unserer Geschichte dafür eine besondere Verantwortung.

    Mit Mitgliedern des Hohen Hauses und einer Partei, die die deutsche Verantwortung für das schlimmste Menschheitsverbrechen als Schuldkult verunglimpfen und marginalisieren wollen, sind Freiheit, Demokratie und Rechtsstaatlichkeit nicht zu verteidigen. Es braucht dafür keine Brandmauer, sondern schlicht und einfach Anstand und Respekt vor dem Grundgesetz. Dessen Artikel 1 ist die zentrale Lehre aus dem dunkelsten Kapitel unserer Geschichte. Nie wieder dürfen wir die Würde eines Menschen antasten. Ich sage dies auch im Wissen darum, dass meine Großmutter die Nazi-Barbarei nur überleben konnte, weil sie im nichtbesetzten Teil von Frankreich Aufnahme fand. Ihre Mutter und ihr Bruder wurden im Vernichtungslager Auschwitz ermordet.

    Ich sprach über die Jüdinnen und Juden, aber wir müssen auch an die Palästinenserinnen und Palästinenser denken. Sie haben auch ein Recht auf ein Zuhause. Der genannte UNO-Beschluss sieht auch für sie einen Staat vor. Sie sind aber weder israelische Staatsbürgerinnen und Staatsbürger noch Staatsbürgerinnen und Staatsbürger eines anderen Staates. Und ihre eigene Staatsbürgerschaft wird vielfach nicht anerkannt. Es gibt für sie zur Zeit keine Aussicht auf eine zivile Zukunft, für die es sich lohnte, sich einzusetzen.

    Nur wenn es eine solche Aussicht gäbe, und das kann nur ein souveräner, unabhängiger, eigener Staat sein, wäre man auch in der Lage, Terrororganisationen wie die Hamas und die Hisbollah zu überwinden. Es ist bedauerlich, dass die gegenwärtige Regierung in Israel und die gegenwärtige Mehrheit in der Knesset einen solchen Weg für die Palästinenserinnen und Palästinenser ausschließen und glauben, alles militärisch unter Inkaufnahme ziviler Toter lösen zu können. Wir müssen deshalb verstärkt international für die Zweistaatenlösung werben. Und wir stehen aufgrund unserer Geschichte auch den Palästinenserinnen und Palästinensern gegenüber in einer besonderen Verantwortung.

    Deutschland war und ist durch verschiedene Krisen erschüttert.
    Klimakrise und junge Generation

    Die ökologische Nachhaltigkeit ist für die jüngere Generation besonders wichtig, weil sie im Unterschied zu mir noch viele Jahrzehnte Leben vor sich hat. Das Klima müssen wir nicht als Selbstzweck, sondern für die Menschen retten. Allerdings bitte ich die jungen Leute, Protestformen zu finden, mit der sie eine Mehrheit der Bevölkerung gewinnen, statt das Gegenteil zu erreichen.

    Ich erinnere auch an die Pandemie und die Notwendigkeit, über eine Enquetekommission aufzuarbeiten, was richtig und was falsch gemacht wurde. Ich selbst habe mich umfangreich impfen lassen, andere aber hatten Angst, lehnten es ab, wollten es nicht. Ich habe nicht verstanden, weshalb fast nur über sie, aber nicht mit ihnen geredet wurde. Das galt für die Politik und die Medien. Die vollzogenen Einschränkungen an Freiheiten bedürfen einer besonderen Untersuchung, um festzustellen, welche falsch und überflüssig waren und nie wiederholt werden dürfen, und welche als unerlässlich angesehen werden müssen.

    Wir sind ein rohstoffarmes Land. Es gibt nur einen Rohstoff, den wir reichlich haben, das sind Bäume. Aber die haben wir vornehmlich zu schützen. Ergo sind die Bildung und Ausbildung ein zentrales Anliegen in unserer Gesellschaft. Wir haben aber sehr viele Schulabbrecherinnen und Schulabbrecher. Wir haben zu viele junge Leute, die keinen Beruf erlernen. Die Zeugnisse aus dem einen Bundesland sind mit denen aus einem anderen nicht gleichzusetzen. Wir als Staat und Gesellschaft sind verpflichtet, allen Kindern und Jugendlichen einen chancengleichen Zugang zu Bildung und Ausbildung, Kunst und Kultur und Sport zu ermöglichen. Davon sind wir leider weit entfernt. Ich weiß, dass die Schulbildung Angelegenheit der Länder ist.

    Trotzdem dürfen wir uns nicht mit dieser Begründung aus der Verantwortung ziehen und ich plädiere dafür, im Grundgesetz das Kooperationsverbot durch ein Kooperationsgebot zu ersetzen, auch damit Schulzeugnisse in ganz Deutschland gleichwertig werden. In Anbetracht der neuen Situation müssen sich auch die Bundesländer überlegen, wie wir Kinder und Jugendliche so bilden, dass für sie Freiheit, Demokratie und Rechtstaatlichkeit erstrebenswerte Ziele werden.

    Ich bin auch der Auffassung, dass dann, wenn man Kinder zu früh trennt, eine soziale Ausgrenzung stattfindet. In Berlin und Brandenburg werden die Kinder in der Regel erst nach der sechsten Klasse getrennt, in vielen Bundesländern nach der vierten. Es ist interessant, dass allein diese zwei Jahre Unterschied dazu führen, dass hier prozentual deutlich mehr Kinder von Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmern das Abitur machen als in anderen Bundesländern. Ich denke, eine Trennung erst nach der achten Klasse wäre noch besser. Vielleicht könnten wir auch einen Blick nach Frankreich oder Finnland werfen, wo es andere – vielleicht bessere – Schulbedingungen gibt als bei uns.
    Inflation und Lebensmittelpreise

    Wir hatten und haben eine Energiekrise und eine Inflation. Die Lebensmittelpreise sind im Laufe von drei Jahren um über 35 Prozent gestiegen. Viele Bürgerinnen und Bürger leben von Sozialleistungen, haben eine niedrige Rente oder verdienen zu wenig. Für sie ist das eine ungeheure Belastung und sie verlieren das Vertrauen in die etablierte Politik, wenn keine ernsthaften Maßnahmen dagegen unternommen werden. In Deutschland kennen wir die belgische und luxemburgische Regelung nicht, nach der sämtliche Löhne, Gehälter, Renten, Pensionen und Sozialleistungen jährlich um die Inflationsrate des Vorjahres kraft Gesetzes erhöht werden, so dass die Kaufkraft – auch im Interesse der Wirtschaft – nie sinkt.

    Ich finde den Wettbewerb, wer am meisten bei den Ärmsten kürzt, unwürdig für den Deutschen Bundestag. Bitte denken Sie an die Höhe unseres Einkommens. Auf bestimmten Gebieten darf meines Erachtens nie gespart werden. Das gilt für Gesundheit, Bildung und Ausbildung, Kunst und Kultur und weitgehend auch für Wissenschaft und Forschung. Hinsichtlich des Zugangs zum Internet und Onlinediensten haben wir den Anschluss verpasst. Viele afrikanische Staaten sind weiter als wir. Das darf uns bei der Künstlichen Intelligenz nicht wieder passieren. Sowohl hinsichtlich der Chancen als auch bei der Abwehr von Gefahren.

    Viele Menschen machen sich Sorgen wegen der Globalisierung und der Geflüchteten. Aber allein, wenn ich an Frieden, die Überwindung von Hunger und Elend, die ökologische Nachhaltigkeit denke, kommen wir an globalen Lösungen nicht vorbei. Deutschland braucht jährlich 400.000 Fachkräfte aus dem Ausland. Es muss auch eine wesentlich bessere Integration für Menschen aus anderen Ländern geben. Das Wichtigste ist, dass es sofort eine Arbeitserlaubnis gibt. Auch wenn dann ein Asylantrag abgelehnt wird, schadet es überhaupt nichts, wenn die betreffende Person bis dahin schon arbeiten konnte. Übrigens können sie dann auch etwas für unsere Gesellschaft leisten.
    Rente und Steuern

    Nun möchte ich Ihnen gerne überparteiliche Gremien für den Bundestag vorschlagen, in denen wir offen, ehrlich und ohne Öffentlichkeit bestimmte Fragen erörtern und im Falle von Ergebnissen diese dann der Öffentlichkeit vorstellen.

    Erstens brauchten wir ein solches Gremium für eine sichere künftige Rente. Es gibt Ideen, das Renteneintrittsalter zu erhöhen oder an den Aktienmarkt mit der Rente zu gehen. Ich habe – wie Sie wissen – mehr als Bedenken, trotzdem kann und muss darüber gesprochen werden. Auf der anderen Seite gibt es aber auch Vorschläge, dass alle Bürgerinnen und Bürger mit Erwerbseinkommen in die gesetzliche Rentenversicherung einzahlen sollen, d. h. auch Bundestagsabgeordnete, dass eine deutliche Erhöhung der Beitragsbemessungsgrenze eingeführt und der Rentenanstieg für Bestverdienende abgeflacht wird. Über Steuern auf Renten müssen wir auch sprechen. Über all diese Wege soll in einem solchen Gremium geredet werden.

    Ein zweites Gremium sollte sich mit der Frage der Steuergerechtigkeit beschäftigen. Sie wissen, dass die Höchststeuer bei Lohn und Gehalt bei 45 Prozent liegt. Sie wissen auch, dass die Höchststeuer bei Einkünften aus der Kapitalverwertung, also von Zinsen, Erträgen aus Fonds und Gewinnen aus Aktien, bei 25 Prozent liegt. Natürlich müssen die Kapitalgesellschaften vorher schon Steuern zahlen, was die Gewinne reduziert. Aber Unternehmen, die Menschen beschäftigen, müssen auch Steuern bezahlen, was ihre Gewinne und auch ihren Spielraum für Löhne und Gehälter ebenfalls reduziert. Das alles müsste einmal geprüft werden.

    Wenn es die gleichen Freibeträge und Steuern für Löhne, Gehälter und Einkünfte aus der Kapitalverwertung gäbe, hätten wir die Chance, endlich die Mitte zu entlasten. Es gibt den Steuerbauch für die mittleren Einkommen. Dieser muss überwunden werden. Die Mitte der Gesellschaft bezahlt bei uns den größten Anteil der staatlichen Einnahmen. Eine Studie des Netzwerks Steuergerechtigkeit stellte fest, dass eine Mittelstandsfamilie bei uns 43 Prozent Steuern und Abgaben auf ihre Einnahmen zahlen muss, während eine Milliardärsfamilie nur 26 Prozent der Einnahmen abführt. Wenn wir die Mitte kaputt machen, können wir denen unten nicht mehr helfen und die oben können dann auch nicht mehr existieren. Der Bundestag sollte also mehr Mut entwickeln, die besonders Reichen und die Konzerne angemessen und gerechter heranzuziehen.

    Und ich möchte noch ein nettes Beispiel für unseren Steuerwirrwarr nennen. Es gibt fünf verschiedene Umsatzsteuern für Weihnachtsbäume. Der künstliche Weihnachtsbaum zieht eine Umsatzsteuer von 19 Prozent nach sich. Der gezüchtete Weihnachtsbaum aus dem Bau- und Gartencenter zieht eine solche von 10,7 Prozent nach sich. Der selbst geschlagene, gezüchtete Weihnachtsbaum zieht eine Umsatzsteuer von 7 Prozent nach sich. Erwirbt man direkt von der Forstwirtschaft einen natürlich geschlagenen Weihnachtsbaum, zieht das eine Umsatzsteuer von 5,5 Prozent nach sich. Und dann gibt es noch eine Möglichkeit, dass man rechtswidrig sich selbst einen Baum im Wald schlägt und der zieht gar keine Umsatzsteuer nach sich. Aber in den anderen vier Fällen müsste es doch möglich sein, zu einer einheitlichen Regelung zu gelangen.
    Krankenkasse und Bürokratie

    In einer dritten überparteilichen Gruppe könnten wir uns mit unserem gesamten Krankenkassensystem auseinandersetzen. Die Kosten im Gesundheitswesen steigen. Meines Erachtens gehören Gesundheit und Pflege zur öffentlichen Daseinsvorsorge. Ein Krankenhaus muss sich nicht in erster Linie rechnen, sondern für Gesundheit sorgen. Brauchen wir wirklich so viele gesetzliche Krankenkassen, wie es sie gegenwärtig gibt? Ist es wirklich richtig, dass privat Versicherte deutlich bessergestellt sind als gesetzlich Versicherte? Geht es nicht bei jedem Menschen um die möglichst zügige und beste Behandlung und Befreiung von Krankheiten – egal, ob er mehr oder weniger verdient?

    Es gibt auch die Vorstellung, dass nicht nur von Löhnen und Gehältern Beiträge in die Krankenkasse und Pflegeversicherung eingezahlt werden sollen, sondern auch von den genannten Einkünften aus der Kapitalverwertung. All diese Fragen sollten in diesem überparteilichen Gremium diskutiert und untersucht werden. Vielleicht kommen wir dann zu besseren Lösungen als gegenwärtig.

    Mein letzter Vorschlag für ein überparteiliches Gremium betrifft die Bürokratie. Jede Regierung nimmt es sich vor und scheitert in aller Regel. Das liegt daran, dass es immer einen Grund für irgendeine Regelung gibt. Wenn wir uns nicht an eine generelle Reform herantrauen, wird sich an der Bürokratie so gut wie nichts ändern. In diesem überparteilichen Gremium könnten wir darüber diskutieren, ob wir nicht in den meisten Fällen das Recht drehen sollten.

    Gegenwärtig ist es so, dass Bürgerinnen und Bürger, Unternehmen und andere Einrichtungen Anträge bei der zuständigen Behörde stellen und warten und warten und warten. Nach sechs Monaten können sie eine Untätigkeitsklage beim Verwaltungsgericht erheben. Das ist schon deshalb besonders nützlich, weil sie nach über einem Jahr den ersten Termin zur mündlichen Verhandlung beim Gericht bekommen. Mit anderen Worten, so kommen wir nicht weiter. Was halten Sie von der Idee, in vielen Fällen – selbstverständlich muss es Ausnahmen geben – das Recht dergestalt zu verändern, dass die Antragstellerin oder der Antragsteller nachweisen muss, dass und wann er bei der zuständigen Behörde einen Antrag gestellt hat. Wenn er nicht innerhalb von sechs Wochen einen schriftlich begründeten Widerspruch durch die Behörde erhält, gilt der Antrag als genehmigt.

    Es geht nicht um eine Postkarte, die man automatisch versenden kann, sondern um einen schriftlich begründeten Widerspruch. Die Behörde muss nachweisen, dass die Antragstellerin oder der Antragsteller einen solchen Widerspruch erhalten hat. Was glauben Sie, wie genehmigungsfreundlich unser Staat plötzlich werden würde. In dem Gremium könnten wir diskutieren, in welchen Fällen diese Umkehrung möglich ist und in welchen nicht. Welche personellen Konsequenzen es hätte.

    Mit weiteren Vorschlägen zu überparteilichen Gremien möchte ich Sie heute nicht belästigen.
    Gleichstellung und sexuelle Orientierung

    Ich finde es gut, dass es gesetzliche Vorschriften über die Beschäftigung von Menschen mit Behinderung gibt. Wenn Unternehmen ab einer bestimmten Größenordnung die Quote nicht einhalten, müssen sie eine Ausgleichsabgabe bezahlen. Diese können sie aber von der Steuer absetzen. So ist die Wirkung gleich null. Außerdem klingt es auch etwas daneben, dass der Staat eine Abgabe anordnet und derjenige, der sie bezahlen muss, sie wiederum von seinen Zahlungen an den Staat absetzen kann. Wir müssen bei der Gleichstellung von Menschen weiterkommen.

    Weder die Hautfarbe noch die Nationalität noch die Religion noch die sexuelle Orientierung dürfen eine Rolle spielen. Ich bin dafür, die Diversen ins Grundgesetz aufzunehmen, damit sie in ihren Grundrechten geschützt werden. Wichtig ist, was Menschen tun und unterlassen, welchen Charakter sie haben. Nur danach dürfen sie beurteilt und bewertet werden. Hinsichtlich der Nationalität begrüße ich, dass ein Vertreter der dänischen Minderheit wieder Mitglied unseres Bundestags geworden ist.

    Ich muss darauf eingehen, dass wir immer noch keine vollständige innere Einheit in Deutschland hergestellt haben. Die Demonstrierenden in der DDR bewiesen Mut. Sie haben auf friedliche Art und Weise ihren Beitrag im Interesse einer Demokratisierung der Gesellschaft geleistet. Sie verdienen hohen Respekt. Auf der anderen Seite muss man aber auch zur Kenntnis nehmen, dass damals von den bewaffneten Kräften der DDR kein einziger Schuss abgegeben wurde.
    Deutsche Einheit

    Aber es wird in Ost und West auch heute noch unterschiedlich gedacht, Sachverhalte werden unterschiedlich beurteilt und es wird auch unterschiedlich gewählt. Ich glaube, das hat auch damit zu tun, dass bei der Herstellung der Deutschen Einheit zumindest ein schwerer Fehler begangen wurde. Selbstverständlich haben die Menschen im Osten an Demokratie, Freiheit und Rechtsstaatlichkeit gewonnen. Sie haben seitdem eine Währung, die sie weltweit tauschen können. Es sind viele Schlösser und Kirchen, Stadtzentren und Wohnungen saniert worden. An all das muss man erinnern.

    Auf der anderen Seite wurde aber die DDR auf Staatssicherheit und Mauertote reduziert. Beides muss aufgearbeitet werden. Aber für das Leben in der DDR hat sich die Bundesregierung bei der Herstellung der Einheit nicht interessiert. Hätte es dieses Interesse gegeben, wäre festgestellt worden, dass die DDR bei der Gleichstellung der Geschlechter noch nicht am Ziel, aber deutlich weiter war als die damalige Bundesrepublik Deutschland.

    Alleinerziehende Mütter und auch die selteneren alleinerziehenden Väter hatten immer die Möglichkeit zu verkürzter, aber auch zu voller Berufstätigkeit. Das lag daran, dass extrem kostengünstige und gut ausgestattete Kindereinrichtungen existierten, was heute auch von der Wissenschaft anerkannt wird. Es war auch ein Fehler, 2623 Kilometer Bahnstrecke stillzulegen und 300.000 Wohnungen abzureißen. Heute vermissen wir beides. Und dann war die DDR schon zu diesem Zeitpunkt eine Behalte- und keine Wegwerfgesellschaft wie die Bundesrepublik. Sie war das zwar nicht aus ökologischen, sondern aus ökonomischen Gründen, aber sie war es halt.

    Übernommen hat man aus der DDR nur das Sandmännchen, das Ampelmännchen und den grünen Abbiegepfeil. Damit sagte man aber den Ostdeutschen, dass sie außer diesen drei Punkten nichts geleistet hätten. Wäre das andere übernommen worden, hätte die ostdeutsche Bevölkerung nicht ein solches Gefühl der Demütigung entwickelt. Man wäre davon ausgegangen, dass man zwar im falschen System lebte, aber solche Leistungen vollbracht hatte, die es Wert waren, für ganz Deutschland übernommen zu werden. Die Menschen in den alten Bundesländern hätten erlebt, dass durch das Hinzukommen des Ostens sich in einigen Punkten ihre Lebensqualität erhöhte. Beides hätte zu deutlich mehr innerer Einheit geführt.

    Ich finde, dass die neu zu wählende Kanzlerin oder der neu zu wählende Kanzler in seiner ersten Regierungserklärung diesen Fehler einräumen und sich dafür entschuldigen sollte. Das gäbe einen wirklichen Ruck bei der Herstellung der inneren Einheit. Außerdem brauchen wir natürlich endlich eine Gleichstellung von Ost und West. Es muss Schluss sein mit unterschiedlichen Tarifverträgen. Alle Menschen in Deutschland haben das Recht für gleiche Arbeit in gleicher Arbeitszeit auch gleich entlohnt zu werden. Sie haben auch Anspruch darauf, für die gleiche Arbeit die gleiche Rente zu beziehen.

    Wenn wir hier keine Gerechtigkeitszuschläge einführen, hieße das, dass Menschen aus dem Osten noch in 30 Jahren für die gleiche Arbeit bei längerer Arbeitszeit eine geringere Rente bezögen, weil ja geringere Beiträge von ihnen und für sie bezahlt wurden. Und ich darf daran erinnern, dass nach Artikel 36 des Grundgesetzes alle Länder angemessen bei der Vertretung von Führungspositionen zu berücksichtigen sind. Ich bitte die neu zu wählende Kanzlerin bzw. den neu zu wählenden Kanzler bei der Berufung von Bundesministerinnen und Bundesministern daran zu denken, wie ich die Ministerinnen und Minister bitte, bei der Berufung von Staatssekretärinnen und Staatssekretären daran zu denken, wie ich auch andere Gremien bitte, bei der Berufung von Richterinnen und Richtern an oberste Gerichte Ostdeutsche nicht zu meiden.

    Übrigens kommen mehr als die Hälfte der Staatssekretärinnen und Staatssekretäre im Osten aus den alten Bundesländern. Stellen Sie sich bitte einmal vor, dass mehr als die Hälfte der Staatssekretärinnen und Staatssekretäre im Freistaat Bayern aus dem Osten käme. Was wäre da los?
    USA und Donald Trump

    Lassen Sie mich noch zur extrem schwierigen internationalen Situation Stellung nehmen.

    Die Mehrheit der US-Amerikanerinnen und -Amerikaner hat Donald Trump zum Präsidenten gewählt. Das haben wir zu respektieren.

    Historisch muss ich daran erinnern, dass die Sowjetunion, die USA und Großbritannien in Jalta während des Zweiten Weltkrieges unterschiedliche Einflusssphären einmal für die Sowjetunion und zum anderen für die USA und Großbritannien, später noch für Frankreich, festlegten. Diese Einflusssphären galten selbstverständlich nicht mehr, als die Sowjetunion zusammenbrach. Die meisten sozialistischen Länder Europas bekamen einen völlig neuen Charakter, entschieden sich für kapitalistische Strukturen, führten aber auch Freiheit, Demokratie und Rechtsstaatlichkeit ein. Das westliche Bündnis wurde erweitert.

    35 Jahre nach diesem Vorgang ist US-Präsident Trump dabei, seine wirtschaftlichen und militärischen Bündnispflichten aufzukündigen. Er sieht nicht mehr ein, für die Sicherheit Deutschlands zu haften. Er meint es ernst, wenn er davon spricht, sich völkerrechtswidrig den Panamakanal einzuverleiben. Zu seiner Absicht, Kanada zu einem Bundesstaat der USA zu machen, kann ich nur hoffen, dass er sie nicht ernst meint. Wenn er aber tatsächlich Grönland und damit einen Teil Dänemarks angriffe, könnten wir uns, im Unterschied zu den anderen genannten Fällen, nicht neutral verhalten. Wir müssten Dänemark unterstützen. Dann aber wäre die NATO tot.

    Ich war immer für eine europäische Initiative für einen Waffenstillstand und einen Frieden zwischen Russland und der Ukraine, auch weil ich befürchtete, dass Trump zum Präsidenten gewählt wird. Und jetzt wird es wohl einen Waffenstillstand und einen Frieden geben, der aber mehr zum Nachteil der Ukraine gereichen wird als der, den wir hätten erreichen können.

    Der Teil der Eliten in den USA, der Präsident Trump unterstützt, sieht nicht in Russland die Herausforderung, sondern in China. Er fürchtet, dass China Weltmacht Nummer 1 werden könnte. Das eigentlich Gefährliche ist aber, dass sie glauben, dass China schneller und effizienter ist, weil es autoritäre Strukturen besitzt. Deshalb versuchen sie, die Demokratie in den USA abzubauen. Präsident Trump möchte weder von Parlamenten noch von Gerichten belästigt werden. Wir müssen beweisen, dass Demokratie, Freiheit und Rechtstaatlichkeit auch zu Effizienz fähig sind.
    Demokratie, Freiheit und Rechtstaatlichkeit

    Selbst wenn dies nicht gelänge, sind diese Grundlagen unserer Gesellschaft wesentlich menschenwürdiger als jede autoritäre Struktur. Wir haben also die Weltmacht Nummer 1 USA, die Weltmacht Nummer 2 China und mit Abstand folgt dann auch Russland. Wenn die Europäische Union wirklich funktionierte, könnte sie eine Art 4. Weltmacht werden. Ich habe aber meine Zweifel, dass sich alle Mitgliedsländer darauf einlassen werden. Trotzdem müssen wir daran arbeiten, vielleicht müssen einige Staaten voranschreiten.

    Demokratie, Freiheit und Rechtstaatlichkeit waren ein gewichtiges Argument der führenden westlichen kapitalistischen Staaten gegenüber den sozialistischen Ländern. Da es aber letztere nicht mehr gibt, hat das Gewicht dieses Arguments abgenommen. Wir haben auch bei uns im Inneren eine Bewegung, die Demokratie, Freiheit und Rechtstaatlichkeit anzweifelt. D. h. wir stehen von Außen und von Innen unter Druck. Die große Mehrheit der Mitglieder des Bundestages muss deshalb gemeinsam Anstrengungen unternehmen, um die genannten Grundlagen zu schützen und zu verteidigen.

    Im Interesse der Demokratie sind Anfragen zu NGOs, die sich gegen die Ausbreitung von Rechtsextremismus, Rassismus und Antisemitismus wenden, kein richtiger Schritt. So wird demokratisches Engagement infrage gestellt, statt es zu unterstützen. Auf europäischer, Landes- und Kommunalebene kennen wir Volksentscheide, nur im Bund nicht. Im Interesse der Nähe zu unserer Bevölkerung sollten wir über eine Einführung nachdenken.

    Ich bitte Sie, Herr Bundespräsident Dr. Steinmeier, ein Gremium einzusetzen, das sich mit der Frage der Sicherung von Demokratie, Freiheit und Rechtsstaatlichkeit auseinandersetzt. In dieses Gremium könnten Sie eine Auswahl von demokratischen Vertreterinnen und Vertretern zum Beispiel aus dem Europaparlament, dem Bundestag, den Landes- und Kommunalparlamenten und ebenso aus den Gewerkschaften, den Unternehmerverbänden, den christlichen Kirchen und anderen Religionsgemeinschaften, aus der Justiz, den Medien, der Kunst und Kultur, der Wissenschaft und Forschung benennen. Es muss uns gelingen, trotz des genannten gewaltigen Drucks im Interesse der Bürgerinnen und Bürger unseres Landes die Grundfesten unseres Grundgesetzes für alle Zeiten zu sichern.

    Liebe Kolleginnen und Kollegen, verehrte Gäste,

    in diesem Jahr begehen wir den 80. Jahrestag der Befreiung von der Hitlerdiktatur und der Beendigung des Zweiten Weltkrieges. Richard von Weizsäcker hat als Bundespräsident als erster im Bundestag erklärt, dass es sich um eine Befreiung auch des deutschen Volkes handelte. Jetzt sieht es die übergroße Mehrheit unserer Bevölkerung so. Deshalb schlage ich vor, den 8. Mai – zumindest in diesem Jahr – aber eigentlich generell, zu einem bundesweiten gesetzlichen Feiertag zu erklären.

    Und der Frauentag, der 8. März, der bisher nur in Berlin und Mecklenburg-Vorpommern ein gesetzlicher Feiertag ist, sollte auch zu einem bundesweiten werden. Wir Männer würden an diesem Tag immer daran erinnert werden, dass auch wir verpflichtet sind, uns für die Gleichstellung der Frauen einzusetzen, zumal der Frauenanteil im neuen Bundestag im Vergleich zum vorhergehenden noch einmal prozentual gesunken ist.

    Für diejenigen, die erstmalig einen Zweitwohnsitz in Berlin, d. h. in unserer Bundeshauptstadt, beziehen, möchte ich nur eins sagen. Ich weiß, wir Berlinerinnen und Berliner sind oft etwas brummelig, aber im Kern praktisch und im Herzen immer solidarisch. Wir freuten uns übrigens, wenn die gesamte Regierung in Berlin säße.

    Ich wünsche unserer Bevölkerung und uns einen lebendigen Bundestag, in dem ohne Beleidigungen, ohne Beschimpfungen, ohne Unfairness durchaus hart gestritten, diskutiert und entschieden wird und ich wünsche uns einen Bundestag, der noch näher an die Menschen herantritt, die wir hier vertreten.

    Ich danke für Ihre Aufmerksamkeit.

    #Allemagne #politique #gauche #opportunisme

  • Selfies und Surfsimulatoren : Junge Kreuzfahrer erobern das Meer
    https://www.freitag.de/autoren/the-guardian/kreuzfahrt-tourismus-junge-seefahrer-erobern-das-meer

    Le marché des vieux égoistes ne suffit pas pour remplir les bateaux de crosière, alors on recrute de jeunes igniorants pour inonder Venise et Santorin. Leur grand tour n’est composé que de selfies pour Instagram et de banalités anodines. Leurs voyages polluent autant que ceux des vieux.

    2.12.2024 von Lisa Bachelor, Clea Skopeliti - Junge Menschen sorgen für einen Urlaubsboom auf See, trotz anhaltender Umweltbedenken. Für die neue Zielgruppe der Branche gibt es auch eine neue Generation von Schiffen

    In diesem Sommer war es das erste Mal, dass die 31-jährige Daisie Morrison eine Kreuzfahrt unternahm, als sie mit zwei Freundinnen, die ebenfalls Anfang 30 sind, eine zweiwöchige Reise antrat.

    „Eine meiner Freundinnen hat es vorgeschlagen“, sagt sie. „Sie hatte verschiedene Influencer auf Instagram gesehen, die Kreuzfahrten machten. Man fährt so viele Orte an, die wir besuchen wollten, also waren wir alle ziemlich interessiert.“ Im vergangenen Sommer, sagt Morrison, war sie mit einer Gruppe in Italien unterwegs, was im Gegensatz dazu „viel Zeit, Geld und Stress“ beim Reisen mit sich brachte. Mit der Kreuzfahrt „wacht man einfach jeden Tag an einem neuen Ort auf.“

    Weit davon entfernt, ungewöhnlich zu sein, ist Morrison Teil einer Generation von Urlaubern, die im Zentrum des Wachstums einer Branche stehen, die einst als exklusiv für wohlhabende Rentnerpaare galt. Die Zahl der Passagiere, die Kreuzfahrten unternehmen, hat sich von 13 Millionen im Jahr 2004 auf fast 32 Millionen mehr als verdoppelt – und das trotz der Zerstörung der Branche während der Corona-Pandemie.

    Die Cruise Lines International Association (Clia), die die Branche vertritt, erwartet, dass diese Zahl 2027 fast 40 Millionen erreichen wird, und sagt, dass der Schlüssel für dieses Wachstum darin liegt, Millionen neuer Kreuzfahrt-Neulinge zu gewinnen. Millennials sind laut dem neuesten Bericht „die begeistertsten Kreuzfahrturlauber der Zukunft.“

    Es ist nicht verwunderlich, dass die Branche einen neuen Zielmarkt benötigt, wenn viele Kreuzfahrtschiffe „sich ein bisschen wie Pflegeheime auf See anfühlen können“, sagt Xavier Font, Professor an der Universität Surrey, der die Kreuzfahrtindustrie untersucht hat. „Also müssen die Kreuzfahrtgesellschaften eine völlig neue Art von Schiff haben. Sie verwandeln diese dann entweder in Party-Kreuzfahrtschiffe oder Familien-Kreuzfahrtschiffe.“
    Umweltbewusstsein und Kreuzfahrten: Ein Widerspruch?

    Mit der Expansion der Branche und der Zunahme der Schiffe und deren Sichtbarkeit wachsen auch die Bedenken hinsichtlich der Umweltauswirkungen dieser Urlaubsform. Aber Font glaubt, dass dies die Beliebtheit von Kreuzfahrten kaum beeinträchtigt. „Der Denkprozess ist: ‚Ich mache jetzt einfach eine Pause, lass mich in Ruhe‘“, sagt er. „Der Slogan ‚Was in Vegas passiert, bleibt in Vegas‘ war genial, oder? Weil diese Vorstellung, dass ich die ganze Zeit ein guter Mensch sein kann, aber dass ich diese eine Woche einfach anders bin, scheint mir überall auf der Welt zu gelten, nicht nur in Vegas.“

    Emma Otter, eine Kreuzfahrtexpertin, die Reisen über das Reiseunternehmen Travel Counsellors verkauft, liefert weitere Belege für dieses Gefühl. Sie sagt, dass das Unternehmen kürzlich 2.000 Reisende befragt hat und 45 Prozent von ihnen angaben, dass die Klimakrise ein Faktor bei der Wahl des Urlaubs war. Bei den 25- bis 34-Jährigen stieg dieser Wert auf 65 Prozent. Aber fragen ihre Kunden sie jemals nach Nachhaltigkeit, wenn sie Kreuzfahrten buchen? „Es kommt selten vor“, sagt sie. Morrison wiederum sagt, dass ihr bewusst war, dass Kreuzfahrten die am wenigsten nachhaltige Art zu reisen sind, „deshalb fühlte ich mich ziemlich schuldig deswegen.“

    Für Tom und Abby, ein verheiratetes Paar in ihren frühen 30ern, war eine Kreuzfahrt nicht die sofort naheliegende Urlaubswahl. „Es war das erste Mal für uns beide“, sagt Tom. Tatsächlich hatte er Kreuzfahrten früher hauptsächlich als etwas für „Rentner und ältere Menschen“ angesehen. Als sie sich entschlossen, im Mai eine einwöchige Tour zu den norwegischen Fjorden zu machen, anstatt eine Autofahrt zu unternehmen oder ins Ausland zu fliegen, war dies teilweise aus praktischen Gründen: Sie hatten ein sechs Monate altes Baby. „Wenn man ein Baby hat, verschiebt sich die Perspektive ein wenig … Man schätzt Dinge mehr nach ihrem Komfort als nach Abenteuer“, sagt Tom, ein Baukonsultant aus Manchester, der bevorzugt, dass nur sein Vorname verwendet wird. „Eine Kreuzfahrt schien das Beste aus beiden Welten zu bieten.“

    Jeder Tag bot ihnen die Möglichkeit, einen neuen Ort zu erkunden, einschließlich historischer Dörfer und natürlicher Sehenswürdigkeiten wie Wasserfälle, sagt Tom. „Du ziehst die Vorhänge auf und hast jeden Morgen einen anderen Ausblick aus dem Fenster.“ Tom schaute sich den CO₂-Fußabdruck seiner Reise nach seiner Rückkehr an und war überrascht. „Man wird immer gesagt, dass Fliegen schlecht für die Umwelt ist und dass es nicht so schlimm ist, auf ein Schiff zu gehen“, sagt er. „Aber die CO₂-Emissionen von Kreuzfahrtschiffen sind viel höher, was Sinn macht, da man das Hotel mit sich führt.“
    Wie Instagram & Co. die junge Zielgruppe ansprechen

    Otter, die in den letzten 30 Jahren „immer wieder betont hat, dass Kreuzfahrten nicht nur für alte Leute sind“, sagt, dass soziale Medien eine große Rolle dabei gespielt haben, die Zahl der jüngeren Menschen, die Kreuzfahrten unternehmen, in die Höhe zu treiben. „Kreuzfahrten sind jetzt ganz nah an dir dran. Sie sind in deinem Wohnzimmer, auf deinen Handys, auf TikTok … Täglich siehst du jemanden, der auf einer Kreuzfahrt ist.“

    Kreuzfahrtgesellschaften seien auch sehr gut darin, etwas für jeden an Bord zu bieten, sagt sie, und das zu einem Preis, den Otter für konkurrenzfähig im Vergleich zu Landurlauben hält. „Es gibt Orte, die sehr instagrammable sind, wie Santorini. Die Kosten, dorthin zu reisen, können für jemanden mit einer Familie erheblich sein, aber wenn sie es auf einer Kreuzfahrt besuchen, können sie sagen: ‚Ja, wir haben das gesehen.‘ Und die Teenager sind glücklich, weil sie ihre Instagram Reels gemacht haben, mit einem Bild von ihnen vor dem Santorini-Sonnenuntergang – Aufgabe erledigt.“

    Für die jüngere Zielgruppe der Branche gibt es eine neue Generation von Schiffen, die manchmal als „Kreuzfahrtriesen“ bezeichnet werden, wobei die größten Schiffe in den letzten 25 Jahren in ihrer Größe verdoppelt wurden. Das größte Schiff, „Icon of the Seas“, wurde Anfang dieses Jahres mit 20 Decks und einer Kapazität von mehr als 7.000 Passagieren ins Leben gerufen. Die Muttergesellschaft Royal Caribbean hat zwei noch größere Schiffe in Auftrag gegeben, die in den nächsten zwei Jahren in See stechen sollen.

    Ein Ziel des Unternehmens ist es, ein generationsübergreifendes Publikum anzusprechen, weshalb die Schiffe Bereiche bieten, die speziell auf Teenager oder Kleinkinder ausgerichtet sind. Die „Thrill Island“ von Icon umfasst beispielsweise den Flow Rider, einen 12 Meter langen Surfsimulator, der so gebaut wurde, dass er vom Meer wegzeigt „damit deine Selfies besser werden und deine Freunde dich vor dem tatsächlichen Ozean sehen“, sagt Tim Klauda, ein Vizepräsident von Royal Caribbean International, in einem Werbevideo für das Schiff.

    Gleichzeitig zielt die Marke Virgin Voyages, die 2021 ihr erstes Schiff auf den Markt brachte, unverblümt auf Kunden in ihren 20ern und 30ern wie Daisie Morrison und ihre Freunde ab. Die Virgin-Schiffe sind ausschließlich für Erwachsene und bieten, ungewöhnlich für Kreuzfahrtrouten, Übernachtungsstopps auf Inseln wie Ibiza.
    Komfort schlägt ökologischen Fußabdruck

    Während die Kreuzfahrtindustrie die wachsende Zahl und Vielfalt ihrer Reisenden feiert, erweist sich dieses schnelle Wachstum bereits als abschreckend für einige. Als Nick Webb, ein 32-jähriger Designingenieur aus Monmouthshire, vor einigen Sommern eine 11-tägige Tour durch Venedig, Dubrovnik und eine Handvoll griechischer Inseln unternahm, hatte er sich eine stressfreie Möglichkeit erhofft, die Sehenswürdigkeiten zu sehen. Doch als Kreuzfahrtschiffe wie seines die Zahl der Touristen in jedem Hafen erhöhten, stellte er schnell fest, dass diese Reisemethode ihre eigenen Belastungen mit sich brachte.

    „Kennst du diese Videos, in denen Menschen um 6 Uhr morgens hinausrennen, um Sonnenliegen zu ergattern? Genau so war es“, erinnert er sich. Sein Reisebüro hatte die Reise als etwas für Erwachsene beworben, aber es gab trotzdem viele Kinder an Bord, sagt er. „Sie waren alle im Hauptpool, der nicht sehr groß war … Es war nicht entspannend, wenn man es schaffte, einen Platz auf dem obersten Deck zu bekommen.“

    Webb würde eine weitere Kreuzfahrt nicht völlig ausschließen, sagt er, aber nur zu einer Nebenreisezeit. Während er die Bequemlichkeit schätzte, jeden Morgen an einem neuen Ort aufzuwachen, war er ein wenig schockiert von dem, was er sah. „Als ich von Santorini aus nach unten blickte, sah ich vier oder fünf Kreuzfahrtschiffe, die alle Smog in die Luft bliesen. Es war so voll – es war schrecklich.“

    Otter fährt seit sechs Jahren mit ihren beiden Kindern, die neun und elf Jahre alt sind, auf Kreuzfahrt. „In diesem Jahr sagte meine Tochter: ‚Mama, weißt du, ich glaube, ich würde mich bei einem Landurlaub langweilen‘“, sagt sie. Es sind Kinder wie ihre Tochter, die dazu beitragen, die Branche „zukunftssicher“ zu machen, fügt sie hinzu. „Wenn sie 15 ist, wenn sie 20 ist, wenn sie 30 ist, wird sie mit ihren Freunden in den Urlaub fahren und zu ihnen sagen: ‚Lass uns eine Kreuzfahrt machen.‘“

    Lisa Bachelor ist Herausgeberin von Seascape, einer Serie über den Zustand unserer Ozeane, Clea Skopeliti ist Community-Journalistin beim Guardian

  • Der rasante Aufstieg von Russlands mächtiger Darknet-Drogenindustrie
    https://www.freitag.de/autoren/the-guardian/der-rasante-aufstieg-von-russlands-maechtiger-darknet-drogenindustrie

    La Russie comme enfer sur terre ?Je ne le sais pas mais cet article explique en partie led nombreuses vidéos d’accidents de voiture sur les plateformes vidéo.

    14.11.2024 von Max Daly - Breaking Bad auf Mephedron: Der rasante Aufstieg von Russlands Darknet-Drogenindustrie

    Versteckte Drogen-Briefkästen mit digitalen Codes: In Russland breitet sich ein Milliardengeschäft mit einer neuen, technologisch hochversierten Form des Drogenhandels aus. Auch in den besetzten Gebieten der Ukraine boomt das Geschäft

    In ganz Russland liegen derzeit Tausende von Drogenpaketen im Boden vergraben, mit Magneten an Laternenpfählen befestigt oder unter Fensterbänken festgeklebt und warten darauf, von ihren Abnehmern abgeholt zu werden. Von den Straßen Moskaus bis zu abgelegenen Städten in Sibirien werden illegale Drogen nicht mehr von Hand zu Hand gekauft, wie es in den meisten Teilen der Welt üblich ist. Stattdessen werden Tüten mit Drogen in Verkaufsgröße von einer Armee junger Kladmen (Drogen-Verstecker) mit Hilfe von Spionagetechniken verteilt, die versteckte Briefkästen digital versperren und dann freigeschaltet werden, wenn Kunden einen Online-Kauf tätigen.

    „Jeder über 14 Jahren in Russland weiß über Kladmen und die toten Briefkästen Bescheid“, sagt ein russischer Anwalt, der sich auf die Drogenwelt spezialisiert hat. Es gibt sogar einen Leitfaden, die Kladman-Bibel, in der Kuriere lernen, wie sie Drogen verpacken und verstecken und dabei der Polizei und den „Möwen“ aus dem Weg gehen können – spezialisierten Dieben, die Jagd auf versteckte Drogen machen. Die neuen Dealer werden in den Anleitungen dazu angehalten, das russische Winterwetter zu berücksichtigen (Achtung, gefrorene Böden!) und verräterische Fußabdrücke im Schnee zu verwischen.

    Aber es geht um weit mehr als um dead drops, die versteckten Briefkästen. Laut einem Bericht der Globalen Initiative gegen die grenzüberschreitende organisierte Kriminalität (GI-TOC) steckt hinter dieser Art des Drogenkaufs eine neuartige Generation von technisch versierten Gruppen der organisierten Kriminalität, die sich durch Eigenwerbung und Gewalt auszeichnen. Vor dem Hintergrund des strengen russischen Anti-Drogen-Regimes und der geopolitischen Isolation hat sich eine mächtige Darknet-Drogenindustrie entwickelt. Mit aufwendigen Websites, Werbevideos in Hollywood-Qualität und waghalsigen PR-Stunts auf Moskaus Straßen beherrscht sie heute den Handel von der Produktion bis zum Verkauf – und schlägt auch außerhalb Russlands Wurzeln, von den Schlachtfeldern der Ukraine bis zu den Straßen von Tiflis und Seoul.

    Am unteren Ende befindet sich ein Transportsystem von schlecht bezahlten Russen, die bei geringen Zukunftsaussichten und hoher Inflation nach einer finanziellen Überbrückung suchen. Die russischen Gefängnisse sind voll von jungen Kladmen, von denen einigezum Sterben an die Front in der Ukraine geschickt wurden. Diejenigen unteren Dealer, die schlechte Kritiken haben, werden inzwischen mit Prügel bestraft – aufgenommen auf Videos, die auf Telegram gepostet werden.
    Mephedron ist die neue Religion in Russland: ein billiger Ersatz für Kokain und MDMA

    Das Schlüsselprodukt ist Mephedron, ein stimulierendes Pulver, das in Russland als „Salz“ bekannt ist und in den späten 2000er Jahren im Vereinigten Königreich kurzzeitig als billiger Ersatz für Kokain und MDMA beliebt war. Ein Besitzer eines Online-Drogenshops sagte, es sei für junge Russen wie eine „neue Religion“ – seine Popularität wird nicht nur von der Nachfrage, sondern auch vom Design bestimmt.

    Für diejenigen, die von diesem Handel profitieren, etwa die Darknet-Plattformen im Stil von Amazon und die Tausenden von Geschäften, die dafür bezahlen, auf ihnen vertreten zu sein, ist es die ideale Ware. Es wird mit leicht erhältlichen chemischen Grundstoffen aus China hergestellt, was bedeutet, dass die Produktion in der Nähe des Marktes erfolgen kann – ein wichtiger Faktor, wenn man illegale Drogen im flächenmäßig größten Land der Welt anbietet und weniger auf den teuren und riskanten Import von im Ausland produziertem Kokain, MDMA und Heroin angewiesen ist.

    Die Darknet-Märkte fungieren auch als Knotenpunkte für den Austausch von chemischen Grundstoffen, Laborausrüstungen und Videoanleitungen, die ein riesiges Netz von Hobbychemikern geschaffen haben, die landesweit Mephedron herstellen.
    Russlands starke Überwachung führte zum kontaktlosen Drogendeal

    Es ist ein einzigartiges Modell, ein Mix aus wirtschaftlicher Notlage und einer relativ fortschrittlichen digitalen Welt. Das hohe Risiko des Drogenkaufs und -verkaufs in Russland, sowohl auf der Straße als auch über das unzuverlässige, stark überwachte Postsystem, führte zu einem neuen System, das durch eine gewisse Anonymität geschützt ist. In weniger als einem Jahrzehnt hat es sich zu einer milliardenschweren Industrie entwickelt, die weitaus wertvoller ist als die westlichen Darknet-Märkte.

    „Es war, als ob der russische Markt auf eine kontaktlose Methode der Medikamentenabgabe gewartet hätte“, so ein russischer Arzneimittelexperte gegenüber dem GI-TOC-Bericht. „Bevor dieses System der toten Briefkästen aufkam, musste man manchmal stundenlang auf einen Dealer warten, Angst vor den Ganoven haben, die einen buchstäblich ausrauben konnten, und man war für die Polizei sichtbar, da jeder wusste, wo sich der Dealer aufhielt.“ So schuf dieses System der toten Punkte zunächst ein Gefühl der Sicherheit.

    Dieses Modell hat sich auch in den von Russland besetzten Gebieten der Ukraine durchgesetzt, wo russische Soldaten über Telegram-Kanäle und tote Briefkästen Drogen kaufen. Einen Monat nach dem Fall von Mariupol suchte ein Shop namens CaifCoin in Mariupol nach Kladmen, und ein anderer namens Republic begann im besetzten Cherson mit der Verteilung von Gratisproben über tote Briefkästen. Geschäfte, die in den besetzten Teilen der Ukraine tätig sind, boten Abonnenten rund 18.000 Rubel (170 Euro) an, um fehlgeleitete Kuriere zu verprügeln.
    Mega, Kraken, OMG! OMG! und Blacksprut: Vier Darknet-Plattformen konkurrieren

    Die Verbreitung des russischen Modells ist in den Nachbarländern am stärksten ausgeprägt, aber im Juni 2023 erklärte der südkoreanische Präsident Yoon Suk Yeol nach Hunderten von Verhaftungen und dem Auffinden eines 14-jährigen Mädchens, das in einer öffentlichen Toilette zusammengesackt war, nachdem es angeblich mit Kryptowährung Crystal Meth gekauft hatte, den „totalen Krieg“ gegen Online-Drogenhändler, die Dead Drops verwenden.

    Die am längsten betriebene Darknet-Plattform, Hydra, erwirtschaftete 2021 mit 17 Millionen Kunden 1,7 Milliarden Dollar. Als Monopolist war sie auch eine internationale Drehscheibe für Geldwäsche und Hacker, bis die deutsche Polizei ihre 55 Server in der Nähe von Frankfurt am Main entdeckte und sie abschaltete. Vier neue Darknet-Plattformen – Mega, Kraken, OMG! OMG! und Blacksprut – kämpfen nun weit außerhalb der Schatten um Kunden. Im März stand ein Bus auf einer der belebtesten Straßen Moskaus, aus ihm dröhnte elektronische Musik, auf ihm prangte das Logo von Kraken und ein QR-Code zum Kauf von Drogen. Ein Jahr zuvor zeigte eine riesige elektronische Werbetafel für Blacksprut eine Frau mit einer futuristischen Maske und den Worten: „Komm zu mir, wenn du das Beste suchst.“

    „Moriarty“, das maskierte Aushängeschild des größten Darknet-Marktes Mega, verspottet regelmäßig die russischen Behörden, denen es nicht gelungen ist, die Drahtzieher zu verhaften, während er seine 2,8 Millionen Follower mit Videos im Stil der roten Pille auf dem Laufenden hält, in denen es um Männlichkeit geht und darum, wie man im Drogenhandel reich werden kann.
    Dealer mit schlechten Bewertungen werden öffentlich verprügelt, gepostet auf Telegram

    Wie die meisten Drogenunterwelten ist auch diese Branche von Brutalität durchzogen. Viele Online-Shops beschäftigen Vollstrecker, so genannte „Sportsmänner“, die Kladmen mit schlechten Bewertungen von Käufern, die ihre Drogen nicht finden konnten, oder solche, die des Diebstahls verdächtigt werden, aufspüren und bestrafen. Die ärmeren Kuriere können leicht ausfindig gemacht werden, da diejenigen, die sich die für einen Auftrag erforderliche Kaution nicht leisten konnten, einen Ausweis vorlegen müssen.

    Diese brutalen Angriffe werden oft gefilmt und in die sozialen Medien hochgeladen – einige Telegram-Gruppen haben bis zu 2.000 Clips gepostet –, da die Opfer gezwungen sind, um Vergebung zu bitten. Es ist Routine, dass Menschen bewusstlos geschlagen werden, während in den extremsten Videos gebrochene oder abgetrennte Finger, sexuelle Übergriffe und in mindestens einem Fall sogar Mord zu sehen sind.

    „Diejenigen, die Russlands Drogenhandel, die großen Darknet-Märkte, betreiben, haben jetzt eine einzigartige Kontrolle über den Drogenhandel und jene Drogen, die die Menschen am ehesten kaufen“, heißt es in dem Bericht. „Die Darknet-Märkte sollten nicht einfach als Online-Märkte verstanden werden, sondern als ein kriminelles Ökosystem, das den Drogenkonsum, die Verteilung und die Produktion von Drogen in ganz Russland und in einer wachsenden Zahl von Ländern an der Grenze zu Russland beeinflusst.“

  • US-Wahlkampf : Neuer Bericht erklärt, warum Kamala Harris noch verlieren könnte
    https://www.freitag.de/autoren/the-guardian/us-wahlkampf-neuer-bericht-erklaert-warum-kamala-harris-noch-verlieren-koenn

    Dans le monde « occidental » c’est partout pareil : la droite modérée trahit le peuple au profit des grandes fortunes, la gauche n’ose pas défendre ses intérêts avec succès, alors tout le momde choisit l’extrême droite. C’est con ? Oui, mais c’est comme ca.

    10.10. von Aditya Chakrabortty - Die Demokraten haben Billionen ausgegeben, um die Wirtschaft anzukurbeln. Ist das nicht in den Köpfen angekommen? Oder warum tendieren viele Amerikaner zu Donald Trump? Neue Daten erklären, warum der US-Wahlkampf ein Kopf-an-Kopf-Rennen ist

    Auf den Monat genau vor 44 Jahren wurde die entscheidende Frage der US-Politik gestellt. Eine Woche vor den Präsidentschaftswahlen 1980 traten Ronald Reagan und Jimmy Carter zu einer Fernsehdebatte gegeneinander an. Reagan, ein ehemaliger Hollywood-Schauspieler, erwies sich auch als brillanter Wortakrobat. Am Ende der Debatte sprach er in die Kamera: „Nächsten Dienstag werden Sie alle zur Wahl gehen. Sie werden dort im Wahllokal stehen und eine Entscheidung treffen.“ Mehr als 80 Millionen Amerikaner schauten an den Fernsehgeräten zu, als er die entscheidende Frage stellte: „Wenn Sie diese Entscheidung treffen, fragen Sie sich: Geht es Ihnen besser als vor vier Jahren?“

    Ein paar Tage später gaben die Wähler ihre Antwort und bescherten Reagan einen Erdrutschsieg in 44 Staaten. Seitdem wurde jeder Präsidentschaftswahlkampf zu einem großen Teil von seiner einfachen, aber wirkungsvollen Frage bestimmt: Geht es den Amerikanern besser als noch vor vier Jahren?

    So ziemlich jeder Mainstream-Ökonom würde sagen: Darauf können Sie wetten! Viele gehen sogar noch weiter. „Ich habe gezögert, dies zu sagen, um nicht zu übertreiben“, schrieb Mark Zandi, der angesehene Chefökonom von Moodys, vor ein paar Tagen. „Aber es lässt sich nicht leugnen: Dies ist eine der leistungsfähigsten Volkswirtschaften in meiner über 35-jährigen Tätigkeit als Wirtschaftswissenschaftler.“ Wachstum: steigend. Arbeitsplätze: steigend. Löhne: steigend. Der Wert der Häuser: steigend. Aktienkurse: im Aufschwung. Inflation: sinkend. Kreditzinsen: sinkend.

    Im Jahr 2020 warnte Donald Trump, dass seine Niederlage „eine Depression“ auslösen würde. Heute, während Deutschland und Japan mit einer Rezession konfrontiert sind, rühmen Zeitschriften den „Superstar-Status“ der US-Wirtschaft. Doch fragt man die Amerikaner, ob es ihnen besser geht, antworten viele: nein.
    Kamala Harris hat nicht nur ein PR-Problem

    Nach dem „Reagan’schen Gesetz“ sollte Kamala Harris diese Wahl in der Tasche haben. Als Joe Bidens Nummer zwei kann sie für sich in Anspruch nehmen, für diesen Boom mitverantwortlich zu sein. Stattdessen liegt sie Kopf an Kopf mit einem verurteilten Kriminellen (vergessen Sie nicht: drei Wochen nach dem Wahltag wird ein Richter entscheiden, ob Donald Trump wegen der Schweigegeldzahlungen an Stormy Daniels ins Gefängnis muss). Was die Wirtschaft betrifft, so liegt Trump in den Umfragen regelmäßig vor Harris. Das Thema, bei dem sie eigentlich gewinnen müsste, verliert sie stattdessen.

    Wie kommt das?

    So sehr sich Washingtons Spitzenpolitiker auch den Kopf zerbrechen, sie können keine gute Antwort darauf geben. Viele in der linken Mitte halten es für ein PR-Problem: Biden habe es versäumt, die Lorbeeren einzufordern, oder die Wähler seien zu dumm, um zu erkennen, wie gut die Dinge laufen. In einem neuen Bericht eines progressiven Thinktanks, der Democracy Collaborative, wird jedoch ein anderer Vorschlag unterbreitet.

    Die Autoren untersuchen die gleichen wirtschaftlichen Indikatoren wie alle anderen: Wachstum, Arbeitsplätze, Löhne. Aber sie haben einen viel längeren Zeitraum im Blick als andere. Hinter jedem Diagramm steht die implizite Frage: Geht es Ihnen, Ihrer Familie, Ihrer Gemeinschaft besser als vor zwei, drei, vier Jahrzehnten? Und für viele Menschen lautet die Antwort auf diese Frage: nein.

    Nehmen wir das größte Problem: die Löhne. Die Löhne von Lehrern, Büroangestellten, Verkäufern und der großen Masse der US-Beschäftigten, ob Angestellte oder Arbeiter, stagnieren – nicht seit vier oder gar 20 Jahren, sondern seit fast einem halben Jahrhundert. Zieht man die Inflation ab, so sind die durchschnittlichen Stundenlöhne für sieben von zehn US-Beschäftigten kaum gestiegen, seit Richard Nixon im Weißen Haus saß.

    Für den durchschnittlichen US-Beschäftigten, seine Familie und seine Stadt ging es mit der Wirtschaft immer weiter bergab, unabhängig davon, wer das Weiße Haus gewann, welche Richter es an den Obersten Gerichtshof schafften und ob die Analysten einen Boom oder eine Pleite verkündeten.

    Biden hat Billionen ausgegeben, um die Wirtschaft anzukurbeln und sich an die Klimakrise anzupassen. Er hat die Gewerkschaften gestärkt und bei Streiks interveniert. Die Diagramme zeigen, dass das etwas bewirkt hat – aber es ist nur ein winziger Anstieg am Ende einer Linie, die ansonsten lange unerbittlich nach unten zeigt. Den Amerikanern geht es besser als vor vier Jahren, nur dass viele im Jahr 2020 in Not waren.

    Wie man Trump und Co. endgültig besiegt

    Reagan zerstörte ihre Gewerkschaften, Bill Clinton öffnete die Handelsschranken, George W. Bush Jr. schickte ihre Kinder ins Ausland, um dort zu kämpfen und zu sterben, Barack Obama rettete die Wall Street und Trump startete ein gigantisches Protektionismusprogramm. Erst im Jahr 2020 stiegen die Reallöhne für Arbeitnehmer über den Stand von 1973. Das lag nicht daran, dass sie unproduktiv gewesen wären. Es ist nur so, dass die meisten Gewinne an die Spitzenverdiener geflossen sind.

    „Selbst wenn Trump verliert, bleibt Amerika sehr anfällig dafür, dass beim nächsten Mal eine viel bösere Kopie von ihm gewinnt“, sagt Joe Guinan, Präsident der Democracy Collaborative. Die einzige Möglichkeit, Trump, J.D. Vance und die „Pluto-Populisten“ zu besiegen, bestünde darin, die Wirtschaft gerechter zu gestalten und die Arbeitnehmer stärker an dem von ihnen produzierten Reichtum zu beteiligen.

    Um zu sehen, wie sich das auswirkt, habe ich mich mit Mike Stout unterhalten. Unser erstes Gespräch fand 2012 in einem Restaurant in Pittsburgh statt, in dem Jahr, in dem Obama wiedergewählt wurde. Mike und seine Frau Steffi hatten in der Stahlindustrie von Pennsylvania gearbeitet, mit guten Gewerkschaftslöhnen und Renten. Sie waren zur ersten Amtseinführung Obamas nach Washington gereist und standen in der eisigen Januarkälte. Sie hatten Hoffnungen.

    Die Stouts haben alles richtig gemacht. Sie arbeiteten hart, sparten und gaben 50.000 Dollar aus, um ihren Kindern ein Studium zu ermöglichen. Im Jahr 2012 arbeitete ihre Tochter Maura in einem Hotel in der Innenstadt für 14 Dollar pro Stunde (genauso viel wie ihr Vater 1978 verdient hatte). Schon damals bezweifelte sie, dass sie und ihr Mann jemals den gleichen Lebensstandard wie ihre Eltern erreichen würden.

    Während der Pandemie habe die Tochter ihren Job im Hotel verloren, erzählt Mike, sie arbeite nun in ihrer Einzimmerwohnung. Mit 18 Dollar pro Stunde könne sie sich gerade so über Wasser halten. Die 30-Jährige hat sich mittlerweile von ihrem Mann getrennt. Mike ist überzeugt, dass die Geldprobleme einen großen Anteil an der Scheidung haben. Mike selbst ist krankenversichert, was in den USA als Glücksfall gilt, aber die Zusatzbeiträge sind horrend. Er hat jetzt zwei Jobs.

    Das Leben der Stouts ist schon seit Jahren festgefahren. Die Grundlage des demokratischen Kapitalismus ist ein altes Versprechen: Morgen wird es besser sein als heute. Aber dieses Versprechen wurde für Mikes Familie und die Haushalte vieler seiner Freunde schon vor langer Zeit gebrochen. Er kennt viele ehemalige Stahlarbeiter in diesem Swing State, die im nächsten Monat Trump wählen werden. Sicherlich sei er ein Lügner, „aber zumindest lügt er ihnen ins Gesicht, anstatt sie zu ignorieren“.

    Und was ist mit Mike? „Trump oder Harris: Es ist eine einzige große Einheitspartei“, sagt er. „Es ist die Wall Street, die dieses Land regiert“.

    Aditya Chakrabortty ist leitender Wirtschaftskommentator des Guardian.

  • Didier Eribon liegt falsch : Le Pen punktet nicht bei Ex-Linken
    https://www.freitag.de/autoren/der-freitag/die-didier-eribon-geschichte-ist-falsch-le-pen-punktet-nicht-bei-ex-kommunis

    Suivant.Alexander Neumann Eribon a tort - la nouvelle droite n’est pas composée d’anciens prolétaires de gauche.

    28.6.2024 von Alexander Neumann - Frankreich Frustrierte Arbeiter machen in Frankreich den Rechtsradikalismus stark? Mit dieser Erzählung wurde Didier Eribon zum internationalen Star der Linken. Doch die Statistik gibt das gar nicht her. Die Geschichte eines Missverständnisses

    Didier Eribon feiert derzeit ein Comeback – mit einem neuen Buch über das Leben seiner Mutter, Eine Arbeiterin. Es handelt sich dabei gewissermaßen um eine Fortsetzung seines internationalen Bestsellers Rückkehr nach Reims, mit dem er nach dem Erscheinen der deutschen Übersetzung im Jahre 2016 auch in der Bundesrepublik zum Star der Linken wurde. So scheint es nur logisch, dass ihn auch die hiesige Partei Die Linke jüngst im Europawahlkampf präsentierte, während der Spiegel zugleich betont, Eribon sei eine gemeinsame Springquelle so verschiedener Leute wie Olaf Scholz, Gregor Gysi und Sahra Wagenknecht. Und nun, vor den vorgezogenen Parlamentswahlen in Frankreich, hat seine Erzählung wieder Saison.

    Was hier entspringt, sind in Wirklichkeit freilich gegenseitige Abgrenzungen, Spaltungen und Konfusionen. Der jüngste Europa-Wahlkampf zeigte, wie Eribons Erzählung aus Rückkehr nach Reims als Projektionsfläche, als politische Inszenierung funktioniert – in einer postmodernen Form, die bereits als Theaterstück an der Berliner Schaubühne aufgeführt wurde und schon auch als Kinofilm flimmerte.

    Bereits der Titel seines ersten prominenten Buchs war eine geglückte Selbstinszenierung. Denn genau betrachtet handelt es sich nicht um eine Rückkehr nach Reims, die Stadt der französischen Könige und Champagnerfabrikanten, sondern um eine verhinderte Heimkehr in die arme Kleinstadt Muizon, aus der der Autor tatsächlich stammt. Dieser Stil einer Autofiktion prägt auch seine politische Interpretation der Arbeiterschaft, im Sinne einer literarischen Fiktion, die sich unabhängig von faktischen Wahlergebnissen und Befunden entwickelt.
    Eine gefühlte Analyse

    Eribon hat den persönlichen Eindruck, die männlichen Arbeiter (so sein Vater) und weiblichen Angestellten (seine Mutter) hätten sich, ausgehend von kulturkonservativen und teils homophoben Mustern, kollektiv nach rechts gewandt, was sich scheinbar manifestiert im Aufstieg der rechtsradikalen Parteien und im Fall der Kommunistischen Partei Frankreichs (KPF). Beispielhaft für diese Master-These ist die Einleitung eines Interviews mit Eribon in der Tageszeitung Mediapart: „Der Philosoph und Soziologe analysiert, auf Grundlage seiner intimen Familiengeschichte, das Abdriften im Wahlverhalten der Arbeiterschaft, ausgehend vom Kommunismus hin zum Front National (FN) bzw. heute
    Rassemblement National (RN)“.

    Kommunizierende Vasen also? Genau diese Vermutung wurde in der französischen Soziologie stets widerlegt. Auch der Einspruch von Eribons Mutter, einer früheren Putzfrau, den der Autor kurz erwähnt, ohne ihr wirklich eine Stimme zu verleihen, ficht diese Darstellung nicht an. Im kleinen Departement Marne, in dem Eribons Heimatkommune Muizon liegt, hat sich das Wahlverhalten tatsächlich ganz anders entwickelt als von Didier Eribon gedacht. Das zeigt der Blick in die entsprechende Dokumentation des Ministère de l’Intérieur.

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    Die KPF holte hier bei den Präsidentschaftswahlen von 1981 nämlich 15 Prozent der Stimmen. 2012, also nur drei Jahre nach dem Erscheinen der Rückkehr nach Reims in Frankreich, war das Ergebnis des – auch – von der KPF unterstützten Kandidaten Jean-Luc Mélenchon zwar tatsächlich etwas schwächer, aber mit zehn Prozent noch immer beträchtlich. Und bei der Präsidentschaftswahl von 2022 erreichte der Stimmenanteil des linken Lagers inklusive KPF wieder die 15 Prozent von 1981. Die rechtsradikale Partei von Jean-Marie beziehungsweise später Marine Le Pen trat 1981 nicht an. 2012 erreichte sie zehn Prozent und 2022 lag sie bei 20 Prozent. Ein Erdrutsch von weit links nach rechtsaußen sieht anders aus. Wer tatsächlich abstürzte, war die traditionelle bürgerliche Rechte. 1981 lag sie bei 48 Prozent, 2012 noch bei 39 – doch 2022 bekam sie nur noch 3,3 Prozent, die 24 Prozent für Präsident Emmanuel Macron nicht eingerechnet.
    Le Pen lebt nicht von ex-linken Arbeitern

    Tatsächlich stürzte in Eribons Heimatort also nicht etwa die radikale Linke ab, sondern die traditionelle Rechte. Es zeigt sich hier nichts anderes als eine Stimmenwanderung innerhalb des rechten Lagers zugunsten Marine Le Pens und ihres Rassemblement National (RN). Noch eindeutiger ist das Beispiel von Fréjus, der einzigen Stadt mit über fünfzigtausend Einwohnern, in der RN den Bürgermeister stellt, wobei diese Stadt gerade dadurch auffällt, dass sie einen unterdurchschnittlichen Arbeiteranteil aufweist. Hier lag die KPF 1981 bei nur einem Prozent, während sie 2022 im Bunde mit Mélenchon 15,4 Prozent erreichte. Die Le Pens waren 1981 in Fréjus nicht angetreten, 2022 holten sie 35,5 Prozent – während die bürgerlichen Rechten von 45 Prozent anno 1981 auf 2022 nur noch 4,5 Prozent fielen, für Macron stimmten 22,5 Prozent. Auch hier wanderten die Wähler nicht von den Links- zu den Rechtsradikalen, sondern wandten sich traditionelle Rechtswähler noch weiter nach rechts. Die Fachliteratur unterstreicht diesen Effekt immer wieder.

    Und die beiden Kleinstädte sind keine Einzelfälle. Landesweite Untersuchungen bekannter Forscher wie etwa des Demographen Hervé Le Bras oder des Soziologen Gérard Mauger kommen zu ähnlichen Ergebnissen. Jüngst haben auch die Ökonomen Julia Cagé und Thomas Piketty diese These bestätigt, wobei ihre Statistikauswertungen bis ins 19. Jahrhundert zurückreichen. Die Eltern Eribons, die ungewollt als Erklärungsmodell herangezogen werden, gehören zu einer Generation, die vor dem Weltkrieg geboren wurde, bereits vor dem massiven Erstarken von Le Pen in Rente ging und seitdem logischerweise nicht mehr unter die Gruppe der Arbeiter und Angestellten fällt.
    Verschiebungen im rechten Lager

    Zahlreiche, einst linksorientierte Arbeiter sind seit 1968 in die Arbeitslosigkeit abgerutscht und später teils zu Nichtwählern geworden. Damals gab es laut offizieller Statistik vier Millionen Arbeiter, heute sind es sogar fünf Millionen – allerdings haben sich im Zuge der Deindustrialisierung die Menschen und Berufe gewandelt. Kurz nach dem Generalstreik von 1968 erhielt der konservative General Charles de Gaulle 50 Prozent der Stimmen und der kommunistische Kandidat nur 20 Prozent – dass es eine breite „konservative Arbeiterschaft“ gibt, ist also kein neues Phänomen. Ein Teil genau dieser Wählerschaft hat sich im Alter dann zu rechteren Positionen hinbewegt.
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    Und heute? Nach Wahlschätzungen des Institutes Ipsos hat sich bei den Wahlen von 2022 ein Drittel der Arbeiterschaft enthalten. Die abgegebenen Arbeiter-Stimmen fielen zu einem Drittel auf Le Pen, zu einem zweiten Drittel auf die parlamentarische Linke, während wiederum ein Drittel Macron wählte. Dies entspricht in etwa den Durchschnittswerten und der allgemeinen Parteienlandschaft. Ironischerweise hat der Präsidentschaftskandidat Mélenchon, für den sich Eribon 2022 ausgesprochen hat, diese Art der Wahlauswertung dann öffentlich präsentiert, im direkten Widerspruch zur These seines Unterstützers.

    Interessant ist nun weniger, dass Eribons Meinung unfundiert oder falsch ist – sondern wie stark sein Storytelling in Politik, Kultur und Medien zündet. Eribon ist ein talentierter Schriftsteller, Journalist und Autobiograf, der oft als Soziologe vorgestellt wird, wie wohl er in diesem Fach gar nicht profiliert ist. Die Qualifizierung der Literatur als Soziologie autorisiert die Verallgemeinerung einer Weltsicht, die somit zum Politikum wird – weit über Frankreichs Grenzen hinaus. Auch die der deutschen Partei Die Linke nahestehende Rosa-Luxemburg-Stiftung nutzte Eribon im Mai 2024 als eine Vorzeigefigur, mit der man vom Proletenimage wegkommen kann, um als postmarxistischer Anziehungspunkt für Akademiker zu reüssieren.
    Eribons wohlfeile Entlastungserzählung

    Was also finden so verschiedene Kräfte wie die Gysi-­Partei, Sahra Wagenknechts Bündnis oder SPD-Kanzler Olaf Scholz an dieser Erzählung – abgesehen davon, dass sie in den Medien gut läuft? Vielleicht ist es der Versuch, im Buch Eribons nach Verzeihung dafür zu suchen, dass man den Marxismus – ob à la SED oder Jusos – nach und nach entsorgt hat, während man die real existierende Arbeiterschaft verlor. Wenn die Arbeiter und Armen von sich aus scheinbar keine demokratischen Entwicklungen einfordern, dann kann getrost ein pragmatisches und nach allen Seiten hin offenes Krisenmanagement betrieben werden, ohne dass die eigene Parteibasis viel meckern darf. Dialektik geht so: Es haben nicht, wie Rosa Luxemburg klassisch sagte, die Sozialdemokraten die Arbeiter verraten, sondern umgekehrt die Arbeiter die linken Parteien.

    Das Vorzeigemodell Didier Eribon, der vom armen Kind zum Bestsellerautor aufstieg, verkörpert zudem individuell sozialdemokratische Erzählungen à la Willy Brandts – Aufstieg durch Bildung. Es spiegeln sich in seiner Person auch Gerhard Schröders Vita und Träume von neuen Eliten. Eribons großer schriftstellerischer Erfolg besteht also ehrlicherweise darin, den politischen Fehden aufseiten der Linken einen postmodernen Resonanzboden zu eröffnen, der sich nicht an sozialen Realitäten messen lassen muss.

    Ob sich die Gewerkschaften auch damit anfreunden werden, die doch gestressten ArbeitnehmerInnen und Niedriglöhnern Antworten schulden, ist eine andere Frage, die nicht in der Vergangenheit, sondern in der Zukunft liegt.

    Alexander Neumann ist Universitätsprofessor, Soziologe und Philosoph (Universität Paris VIII)

  • Ukraine: Die von der EU subventionierte Ökonomie wird zum Problem für Polen
    https://www.freitag.de/autoren/jan-opielka/ukraine-die-von-der-eu-subventionierte-oekonomie-wird-zum-problem-fuer-polen

    Die Fehlfarben waren eine visionäre Band der 1980er. Keine Atempause, Geschichte wird gemacht, es geht voran. So lautete die erste Trophe des Sings Ein Jahr (Es geht voran) und so läuft es. Die Ukraine hat einen historischen Auftrag zu erlefigen. Dahinter müssen alle anderen zurückstehen.

    Die Ironie der Geschichte besteht darin, dass nun die polnischen, slowakischen und anderen Lohndumping-Ausbeuter im Fuhrgewerbe kaputtbemacht werden, nachdem die selbst aus stolzen deutschen LKW-Fahrern Hungerlöhner gemacht haben. Dazu hatten sie bereits Fahrer von den Philippinen geholt, um noch weniger zshlen zu können, als ein Angestellter aus dem eigenen Land zum Überleben braucht.

    Das ähnelt den Uber-Methoden zur Zerschlagung des Taxigewerbes.

    Von Jan Opielka - Konkurrenz: Ukrainische Spediteure müssen nicht mehr – wie noch vor dem Krieg – Transportgenehmigungen einholen, um den EU-Markt zu bedienen. Dadurch könnten sie polnischen Transportfirmen Konkurrenz machen und die Preise stutzen

    Als sich im Frühjahr die Proteste polnischer Bauern gegen ukrainische Getreideexporte zu einem handfesten Konflikt zwischen der EU und Warschau auswuchsen, wirkte das wie ein Vorspiel für künftige, gravierendere Differenzen. Die sind nun da und lassen an Vehemenz nichts zu wünschen übrig. Brüssel und damit letztlich auch Polen räumen der Ukraine auf vielen Feldern Vorteile ein, um das Land zu entlasten. Folglich müssen ukrainische Spediteure nicht mehr – wie noch vor dem Krieg – Transportgenehmigungen einholen, um den EU-Markt zu bedienen. Dadurch können diese Unternehmen polnischen Transportfirmen Konkurrenz machen, indem sie etwa die Preise stutzen.
    Blockaden an der Grenze zur Ukraine

    Laut Infrastrukturministerium in Warschau beliefen sich die Fahrten aus der Ukraine 2023 auf bisher gut 800.000 und wären damit auf das Vierfache gestiegen. Polen verliert demnach Marktanteile in Größenordnungen. Es fällt leicht, polnischen Spediteuren, Fahrern von Trucks und inzwischen auch wieder Landwirten vorzuhalten, sie würden aus Wut die Grenze zur Ukraine blockieren. Doch ist dieser Vorwurf deplatziert, da humanitäre Güter passieren dürfen, obwohl polnische Spediteure beim Verlassen der Ukraine auf massive Meldeprobleme stoßen, die oft zu tagelangem Warten führen.

    Angebrachter wäre es, den Blick auf Brüssel zu richten. Von der EU-Zentrale aus gesehen ist Kiew trotz aller Beistandsrhetorik recht fern, für Polen aber nachbarschaftlich nah. Das Land hat seit Februar 2022 nicht nur die meisten ukrainischen Flüchtenden aufgenommen, es ist in seinem Wirtschaftsgeschehen zugleich am stärksten einer international großzügig subventionierten ukrainischen Ökonomie ausgesetzt. Dass deren Wettbewerber Marktanteile erobern und halten wollen, ist nachvollziehbar.

    Polens Regierung hat dem lange nur wenig Aufmerksamkeit geschenkt, weil der überbordende Wille das Denken beherrschte, weltweit die Speerspitze unter den Alliierten Kiews zu sein. Aus den vor Monaten aufgeflammten Protesten der eigenen Bauern wurden daher keine Lehren gezogen. Auch jetzt musste die Blockade der Trucker erst eskalieren, damit man sich bewegte oder zumindest so tat: Noch-Regierungschef Mateusz Morawiecki schickte bislang nur den zuständigen Minister an den Ort des Geschehens – und das nach drei Wochen Protest.
    Was das für die nächste Regierung Polens heißt

    Brüssel vermittelt den Eindruck, dass Polens Umgang mit dem Verdrängungskampf der Spediteure nur unverständlicher Kleinkram und Erbsenzählerei sei angesichts der Mammutaufgabe, die Ukraine in die EU zu lotsen und über Russland triumphieren zu lassen. Das Ganze ist auf die Spitze getrieben, wenn Warschau Kompensationsmittel angeboten werden, die aus polnischen Töpfen kommen. Wer so agiert, bürdet der bei den jüngsten Sejm-Wahlen siegreichen pro-europäischen Opposition eine schwere Last auf. Diese kann angesichts der Situation gar nicht anders, als bei der Frage nach der Aufnahme von EU-Beitrittsverhandlungen mit Kiew strikt die nationale Flagge zu hissen, auf die Bremse zu treten und den Brüssler Solidaritätskurs auf den Prüfstand zu stellen.

    Denn unverkennbar sinkt dank einer wenig reflektierten EU-Politik in der polnischen Bevölkerung die Akzeptanz für die Ukraine-Hilfen. Auch slowakische Spediteure haben bereits angedroht, ihrerseits an der Grenze zur Ukraine aktiv zu werden. Die EU, tief im Westen, sollte dringend ihren Blick auf den Osten schärfen.

    #Arbeit #Lohndumping #Subventionen #Polen #Ukraine #Europäische_Union

  • Trust Barometer von Edelman: Wie PR-Firma Autokraten fördert
    https://www.freitag.de/autoren/the-guardian/trust-barometer-von-edelman-wie-pr-firma-autokraten-foerdert

    Von Adam Lowenstein - Aufgedeckt Edelman, das weltweit größte Unternehmen für Öffentlichkeitsarbeit, erhielt Millionen US-Dollar aus Verträgen mit Saudi-Arabien, den Vereinigten Arabischen Emiraten und anderen Unterdrückungsregimen

    Das Vertrauen der Öffentlichkeit in einige der repressivsten Regierungen der Welt steigt an. So lautet der Befund der weltweit größten Public-Relations-Agentur Edelman, dessen Flaggschiff „Edelman Trust Barometer“, seinen Ruf als Autorität für Vertrauen weltweit begründet hat. Seit Jahren berichtet Edelman, dass die Bürger:innen in autoritären Ländern, darunter Saudi-Arabien, Singapur, die Vereinigten Arabischen Emirate und China, tendenziell ihren Regierungen mehr vertrauen als solche, die in Demokratien leben.

    Weniger mitteilsam ging Edelman mit der Tatsache um, dass einige dieser autoritären Regierungen auch Kunden des Unternehmens waren. Edelmans Arbeit für einen dieser Kunden – die Regierung der Vereinigten Arabischen Emirate – wird im Mittelpunkt stehen, wenn die Staats- und Regierungschefs am 30. November in Dubai zum UN-Klimagipfel Cop28 zusammenkommen.

    Der Guardian und das gemeinnützige Forschungsinstitut Aria analysierten Edelman Trust Barometer sowie vom US-Justizministerium veröffentlichte Akten des Foreign Agent Registration Act (Fara), die bis ins Jahr 2001 zurückreichen, als Edelman seine erste Studie zum Thema Vertrauen veröffentlichte. Das Gesetz verpflichtet US-Unternehmen dazu, bestimmte Informationen zu ihrer Lobby- und Advocacy work für ausländische Regierungen zu veröffentlichen. Während dieser Zeit zahlten autokratische Regierungen an Edelmann und seine Tochterfirmen Millionen US-Dollar dafür, dass sie die von ihnen gewünschten Bilder und Erzählungen entwickelten und verbreiteten.
    Edelman hat einen kommerziellen Hintergrund

    Meinungsforschungsexperten zufolge führen die Ergebnisse von Meinungsumfragen tendenziell zu einer Überschätzung der Zustimmung zu autoritären Regimen, weil viele der Befragten Repressalien der Regierung fürchten. Das hielt dieselben Regierungen nicht davon ab, Edelmans Befunde auszunutzen, um ihren Ruf aufzupolieren und ihren Machterhalt zu legitimieren.

    Edelmans Trust Barometer wird „überall zitiert, als handele es sich um glaubhafte, objektive Forschung einer Denkfabrik. Dabei hat sie einen relativ offensichtlichen kommerziellen Hintergrund und ist ziemlich offensichtlich ein Verkaufsinstrument“, erklärte Alison Taylor, Professorin an der New York University’s Business School. „Als Minimum sollte die Agentur diese finanziellen Beziehungen als Teil der Studie offenlegen. Aber das tut sie nicht.“

    In einem E-Mail-Statement der Agentur an den Guardian heißt es: „Als globales Unternehmen glauben wir, dass es wichtig ist, mit Kunden und in Märkten auf der ganzen Welt zu arbeiten, die sich in der Unwandlung befinden – ökonomisch, politisch, ökologisch und kulturell.“ Und weiter: „Wir glauben, dass unsere Präsenz im Nahen Osten dazu beitragen kann, den Wandel voranzutreiben, indem wir einflussreiche Organisationen beraten, über die Erwartungen an Unternehmen und Marken in der heutigen Zeit aufklären und neue Beziehungen zu Interessengruppen aufbauen.“
    Vereinigte Arabische Emirate wollen ihren Ruf verbessern

    Die Regierung der Vereinigten Arabischen Emirate wurde 2007 Edelman-Kunde. Laut einem Bericht der auf Recherchen zu Klima-Fehlinformationen spezialisierten Non-Profit-Website DeSmog erhielt Edelmann in den beiden folgenden Jahren mehr als sechs Millionen US-Dollar für seine Arbeit zur Verbesserung des Nachhaltigkeitsrufs der VAE und der Abu Dhabi National Oil Company oder Adnoc, eines staatlich geführten Ölgiganten. Diese Bemühungen kulminierten darin, dass die VAE zum diesjährigen Gastgeber der UN-Klimakonferenz ausgewählt wurden.

    2010 unterzeichneten Edelman und eine Tochtergesellschaft zwei weitere Verträge mit der Regierung der Emirate, unter anderem über die Erstellung einer Beltway-Barometer-Unfrage, die die öffentliche Meinung „unter den politischen Entscheidungsträgern und Einflussnehmern in Washington DC“ misst. Im Folgejahr tauchten die VAE erstmals im Edelman Trust Barometer auf.

    Edelman antwortete nicht auf Fragen, ob die Entscheidung der VEA, die Agentur zu beauftragen, etwas damit zu tun hatte, dass das Land im folgenden Jahr in den Trust Barometer aufgenommen wurde, oder ob Edelman potenziellen oder aktuellen Kunden die Möglichkeit der Aufnahme in das Barometer als Vorteil davon anbietet, Edelman zu beauftragen.

    Seit die VAE im Jahr 2011 erstmals dabei waren, ergaben Edelmans Umfragen regelmäßig, dass die Bürger des Landes ihrer Regierung stark vertrauen – ein Ergebnis, das Edelman und die Medien in den Emiraten gerne bestätigen. „Laut der Agentur Edelman mit Sitz in New York trugen die Planungen und Strategien der VAE zum Vertrauen auf ihre Leistungen bei, die es sich in dem Jahr erwarb“, twitterte Sheikh Muhammad bin Raschid Al Maktum, der Premierminister und Vizepräsident der VAE und Herrscher von Dubai nach der Veröffentlichung des Trust Barometers 2014. „Das Vertrauen der Menschen in die Regierung ist das Ergebnis der Nähe der Führung zu den Menschen und der Berücksichtigung ihrer Bedürfnisse und Anliegen.“

    2018 benutzte der damalige Verantwortliche für Edelmans VAE-Geschäfte Tod Donhauser in einem Blogpost auf der Agentur-Homepage eine ähnliche Sprache. „Die diesjährigen Edelman Trust Barometer-Ergebnisse legen nahe, dass die Anstrengungen der Regierung, die Öffentlichkeit vor Fake News zu schützen, Dividenden bringt“, schrieb Donhauser.

    Drei Monate nachdem Donhauser die Regierung dafür gelobt hatte, „Fake News zu bekämpfen“ und „das Land hinter einem gemeinsamen Ziel zu vereinen und das Vertrauen zu steigern“, verurteilte ein VAE-Gericht den Aktivisten Ahmed Mansur zu zehn Jahren Gefängnis. Mansur wurde laut Amnesty International unter anderem vorgeworfen, auf Twitter und Facebook „falsche Informationen, Gerüchte und Lügen über die VAE veröffentlicht zu haben“, die „die gesellschaftliche Harmonie und Einigkeit der VEA beschädigen würden“.

    Ein Jahr zuvor war Mansur wegen der „Verbreitung von Sektiererei und Hass in den sozialen Medien“ verhaftet worden. Er befindet sich weiter im Gefängnis.

    Donhauser arbeitet nicht mehr für Edelman. Auf die Anfrage, einen Kommentar abzugeben, reagierte er nicht. Die Agentur antwortete nicht auf Fragen zu dem Blogpost.

    Bei einer von der Washingtoner Denkfabrik Atlantic Council im Februar veranstalteten Diskussion wurde der Edelman-Geschäftsführer Richard Edelman gefragt, warum seiner Meinung nach autoritäre Regime im Vertrauensbarometer so gut abschneiden. „Eine Hypothese ist, dass sich in diesen Ländern die Informationen, die Regierung und Medien herausgeben, nur sehr gering unterscheiden, während die Medien hier in den USA ihre Arbeit machen. Sie sagen, ,Was die da auf dem Kapitol-Hügel sagen, stimmt nicht‘“, antwortete Edelman. „Das Vertrauen in die Medien ist in den Ländern mit nur einer Partei viel höher als in Demokratien, vielleicht weil es nur eine Linie gibt.“ Weiter sagte Edelman: „Ich bin kein Fan von autoritärer Regierung. Ich bin davon geprägt, in Demokratien aufgewachsen zu sein. Aber was Vertrauen angeht, funktioniert das System. Das ist alles, was ich Ihnen sagen kann.“

    Im Statement der Agentur schreibt ein Sprecher: „Das Vertrauensbarometer soll Unternehmen, Organisationen und Institutionen dabei helfen, zu verstehen, wie persönliche Einstellungen zusammenwirken, um breitere gesellschaftliche Kräfte zu prägen.“ Außerdem heißt es: „Aus einer Reihe von Gründen, einschließlich der starken Wirtschaftsleistung über ein Jahrzehnt, weisen Entwicklungsländer in der ganzen Welt ein hohes Maß an Vertrauen bei den inländischen Befragten auf.“

    Zum Zeitpunkt der Atlantic Council-Veranstaltung hatte Edelman mindestens vier Verträge zur Vertretung der Interessen der Regierungen von VAE und Saudi-Arabiens am Laufen, repressiven Regimen, in denen die Menschenrechte regelmäßig bedroht sind, zivile und politische Freiheit fast nicht existiert, Dissidenten routinemäßig schikaniert und inhaftiert werden. Seither hat Edelman weitere Aufträge seitens der Regierungen der Emirate und Saudi-Arabiens angenommen.

    Auch als er auf der Bühne über Vertrauen sprach, war Richard Edelman bei der US-Regierung als ausländischer Agent registriert, der persönlich die Interessen des saudischen Kulturministeriums vertritt, und ist es weiter. Politico bezeichnete Richard Edelmans Entscheidung, sich registrieren zu lassen, als „einen seltenen Schritt für eine so hochrangige Führungskraft eines so großen Unternehmens“.

    „Wir haben mehr als 2.000 Kunden weltweit, die den öffentlichen und privaten Sektor verschiedener Industrien umfassen“, so der Edelmann-Sprecher. „Wir veröffentlichen die Aufträge, die Fara unterliegen, in Übereinstimmung mit den Vorschriften. Wenn Einzelpersonen Dienstleistungen erbracht haben, die eine Registrierung nach Fara erfordern, setzt sich Edelman dafür ein, dass eine Registrierung für diese Personen vorgenommen wird.“
    Richard Edelman empfängt Vertreter des saudischen Kulturministeriums

    Im Juni übermittelte das Unternehmen dem Justizministerium eine geschwärzte E-Mail einer Führungskraft des Unternehmens, in der ein Empfänger in New York City zu einem Kaffee mit dem stellvertretenden Kulturminister Saudi-Arabiens Hamed bin Mohammed Fayez eingeladen wurde. „Der Ehrgeiz des Königreichs Saudi-Arabien ist beeindruckend“, schrieb der Absender.

    Einige Monate später lud Richard Edelman zu einem „kleinen Abendessen“ für Fayez ein. Es war eine von mindestens drei Networking-Veranstaltungen, bei denen er in den vergangenen eineinhalb Jahren persönlich Gastgeber für offizielle Vertreter Saudi-Arabiens war.

    Die Agentur antwortete nicht auf die Frage, ob Richard Edelman regelmäßig an der Kundenarbeit für ausländische Regierungen beteiligt ist.

    Früher in diesem Jahr sagte Richard Edelman dem Fachblatt der Öffentlichkeitsarbeitsbranche PR Week, er sei kürzlich „mit dem Kulturminister herumgereist“ und „habe sechs Kultureinrichtungen besucht. Eine davon erwägt jetzt, eine Schule in Saudi-Arabien zu gründen“. Laut Richard Edelman ist das „die Art von Engagement, die ich haben möchte, weil sich Saudi-Arabien auf einem Kontinuum des Wandels befindet. Das ist die Art Arbeit, die wir machen wollen: Uns engagieren in den wichtigen Fragen und Herausforderungen unserer Zeit“.

    Die New York Times bezeichnete den Kulturminister als „Freund und Verbündeten“ des saudischen Kronprinzen Mohammed bin Salman. Unter dessen Herrschaft „erlebte Saudi-Arabien eine der schlimmsten Zeiten in Bezug auf die Menschenrechte in der modernen Geschichte des Landes“, sagte Joey Shea von der Menschenrechtsorganisation Human Rights Watch im September vor einem Ausschuss des US-Senats.

    Auf die Frage, ob Richard Edelman über die enge Beziehung des saudischen Kulturministeriums mit dem Kronprinzen besorgt sei, antwortete die Agentur nicht; auch nicht darauf, ob er meint, dass die Arbeit seiner Agentur für die Regierungen von Saudi-Arabien und der VAE die Gefahr birgt, die Bilanz der Länder in Bezug auf Menschenrechte und gesellschaftliche und politische Freiheit zu beschönigen oder die Aufmerksamkeit der Öffentlichkeit davon wegzulenken.
    Einflüsse auf Umfrageergebnisse in Saudi-Arabien

    In den vergangenen Jahren wurden Edelmans Geschäfte im Nahen Osten lukrativer, da die Agentur engere Beziehungen zu Saudi-Arabien knüpfte. Edelman arbeitet seit 2013 für die saudi-arabische Regierung, aber bis 2019 tauchte das Land nicht im Trust Barometer auf. Das war weniger als drei Monate, nachdem der Kronprinz die Ermordung des saudi-arabischen Journalisten und Washington Post-Kolumnisten Jamal Khashoggi gebilligt hatte. Khashoggi war ein prominenter Kritiker des Regimes und der Regierung mit harter Hand im Land.

    Edelmans Vertrauensstudien veröffentlichen auch die Daten, an denen die Agentur ihre „Feldarbeit“ durchführt: die Online- und Telefonumfragen, die die Grundlage ihrer Ergebnisse sind. Laut Edelman fand die Feldarbeit für die Umfrage 2019 zwischen dem 19. Oktober und dem 16. November des Vorjahres statt. Das bedeutet, dass das Unternehmen die saudischen Bürger zu ihrem Vertrauen in eine Regierung befragt hat, die weniger als drei Wochen zuvor in den Mord an einem prominenten Kritiker verwickelt war.

    Auch Fragen des Guardians dazu, warum entschieden wurde, Saudi-Arabien im Trust Barometer zu belassen und Umfrageergebnisse zu veröffentlichen, die nur wenige Monate nach Khashoggis Tod angeblich ein hohes Maß an öffentlichem Vertrauen in die saudische Regierung zeigen, beantwortete die Agentur nicht.

    In der Vergangenheit gibt es Fälle, in denen Edelman nach geopolitischen Ereignissen Länder aus dem Vertrauensbarometer strich. Zwischen 2007 und 2022 veröffentlichte die Agentur Angaben zu Russland, beschloss aber 2023, nach der russischen Invasion der Ukraine das Land nicht mehr ins Barometer zu nehmen. „Wenn Wirtschaftsführer sich entscheiden, zu diesen Themen zu schweigen, werden sie jetzt als Mitschuldige angesehen“, schrieb ein Edelman-Manager in einem Blogpost.
    Saudi-Arabien feiert Umfrage als Beweis für erfolgreiche Regierung

    Saudi-arabische Medien nutzen häufig die Ergebnisse der Edelman-Umfragen als Beweis für die Unterstützung der Regierung in der Bevölkerung. Nachdem es im Vertrauensbarometer 2021 hieß, dass 82 Prozent der Saudis ihrer Regierung vertrauten – zusammen mit China der höchste Wert weltweit – veröffentlichte eine saudi-arabische Presseagentur einen Artikel, in dem dieses Ergebnis hervorgehoben wurde. (Laut der internationalen NRO Reporter ohne Grenzen „arbeiten praktisch alle saudischen Medien unter direkter offizieller Kontrolle“, und Journalisten, „die nicht der offiziellen Linie des Lobgesangs auf Kronprinz Mohammed bin Salman folgen, werden de facto zu Verdächtigen“).

    Im darauffolgenden Jahr betonte ein Artikel in Arab Weekly ein ähnlich hohes Vertrauensergebnis als Beweis dafür, dass die „Reformen“ des Königreichs effektiv und populär seien. In dem Artikel hieß es, „Beobachter sind davon überzeugt, dass dieses Vertrauen nach einem 2016 von der saudi-arabischen Führung angestoßenen Rerformprozess zugenommen hat“. 2016 begann der Kronprinz, den Ruf des Landes als „globales Powerhouse für Investitionen“ neu zu beleben.

    „In den vergangenen Jahren versuchten einige Leute, die Fähigkeit der derzeitigen Führung in Frage zu stellen, ihre Reformziele zu erreichen“, heißt es in der Arab Weekly. „Die bisherigen Ergebnisse zeigen jedoch, dass die Behörden ihre Ziele erreichen konnten, was das Vertrauen der Bürger in die Regierung gestärkt hat.“
    Edelman-Umfragen unterliegen „autokratischer Vertrauensverzerrung“

    Richard Edelman bezeichnete das Edelman Trust Barometer als „Daten, nicht Meinung“. Doch Umfrage-Experten kamen zu dem Ergebnis, dass die Messung der öffentlichen Unterstützung für die Regierung in autoritären Staaten tendenziell größer wirkt als sie eigentlich ist. Das macht es schwierig, Demokratien direkt mit Ländern zu vergleichen, die keine Demokratien sind.

    Edelman lehnte es ab, Fragen dazu zu beantworten, ob sie diese Tatsache bei der Erstellung des Vertrauensbarometers berücksichtigt und ob sie glaubt, dass die Umfrageergebnisse in Demokratien und Autokratien direkt vergleichbar sind. Im Statement der PR-Agentur heißt es: „Wir verpflichten uns zu Transparenz, was den Methodenansatz unseres Trust Barometers betrifft. Wir halten uns an die branchen- und länderspezifischen Vorschriften und Standards, einschließlich des Kodex der Insights Association for Standards and Ethics sowie den Kodex und die Richtlinien von ESOMAR.“

    ESOMAR ist die Abkürzung der Non-Profit-Organisation European Society for Opinion and Marketing Research. Sie wird laut eigenen Angaben „primär finanziert“ durch ihre Mitglieder, von denen rund zwei Drittel Unternehmen sind.

    Staffan I Lindberg, Gründungsdirektor der Non-Profit-Organisation Varieties of Democracy (V-Dem) Institute, die Forschung zu Demokratie auf der ganzen Welt betreibt, formuliert es so: „Es gibt tonnenweise Beweise dafür, dass die Befragung zu autoritären Ländern ein irreführendes Bild ergibt. Die Zufriedenheit mit autoritären Regierungen, das Vertrauen in und die Unterstützung für sie wird zu hoch eingeschätzt.“

    In einer Studie analysierte Marcus Tannenberg von der schwedischen Universität Göteborg rund 80.000 Umfrageergebnisse aus mehr als 30 afrikanischen Ländern. Dabei kam er zu dem Schluss, dass „Angst vor der Regierung“ die Befragten in autokratischen Staaten dazu veranlasst, ihr Vertrauen in die Regierung deutlich höher einzuschätzen – ein Trend, den Tannenberg als „autokratische Vertrauensverzerrung“ bezeichnet.

    Solche Ängste sind in manchen der Länder, mit denen Edelman im Geschäft ist, wohlbegründet.
    Saudi-Arabien will „Soft-Power“ stärken

    Im August beispielsweise berichtete Human Rights Watch, dass der frühere Lehrer Muhammad al-Ghamdi für seine „Twitternachrichten, Twitter-Weiterleitungen und YouTube-Aktivitäten“ zum Tode verurteilt wurde. Laut Gerichtsdokumenten, die Human Rights Watch vorlagen, erklärte ein saudi-arabisches Gericht, „das Ausmaß seiner Taten wurde noch durch die Tatsache verstärkt, dass sie auf einer globalen Medienplattform geschahen, was strenge Bestrafung erfordert“. Laut Human Rights Watch hatten die beiden von dem Gericht zitierten Twitter-Accounts Ghamdis zusammen genommen zehn Follower. Andere saudi-arabische Bürger erhielten für ihre Twitter-Aktivität jahrzehntelange Gefängnisstrafen.

    Dass die saudischen Behörden globale Medienplattformen wie Twitter, jetzt X, genau beobachten, könnte erklären, warum die Regierung so viel Geld in die Aufpolierung des Regierungsimages in den sozialen Medien investierte.

    Anfang Februar schloss Edelman einen Dreijahresvertrag zur Verbesserung der „Social-Media-Präsenz“ der Führungskräfte von Neom ab, einer futuristischen Stadt, die eine persönliche Priorität von Prinz Mohammed ist und dem staatlichen Vermögensfonds des Landes gehört, den der Kronprinz kontrolliert. Weiterhin unterzeichnete Edelman einen separaten Vertrag, um an einigen der anderen Soziale-Medien-Accounts von Neom zu arbeiten. Diese Projekte kamen zur harten Soziale-Medien-Arbeit hinzu, die Edelman für die Regierung der Emirate im Vorlauf zum UN-Klimagipfel Ende November leistete.

    „Es geht um Soft Power“, erklärte Richard Edelman der Publikation PRWeek über die Arbeit seiner Firma mit dem Ziel, den Ruf der saudi-arabischen Regierung in den USA zu verbessern. „Es geht darum, der Welt die Kultur Saudi-Arabiens zu präsentieren, und die Menschen in Saudi-Arabien mit westlicher Kultur bekannt zu machen.“

    Benjamin Freeman vom Quincy Institute for Responsible Statecraft erklärte: „Die amerikanische Bevölkerung soll Saudi-Arabien nicht mit dem Anschlag von 9/11 verbinden oder mit dem brutalen Mord an dem saudi-arabischen Journalisten Jamal Khashoggi. Stattdessen wollen sie, dass wir an Golf denken. Sie wollen, dass wir an die Kunstwelt denken. Sie wollen, dass wir an Hollywood denken.“ Weiter sagte er: „Alles, was sie tun können, um die Jalousien vor unseren Augen herunter zu ziehen, werden sie tun. Und Leuten wie Edelman, solchen PR-Leuten, fehlt es nicht an Ideen, wie sich das genau bewerkstelligen lässt.“

  • Die Bürgergeld-Armutsspirale : Dispo gekündigt, Handy kaputt, Hungertage
    https://www.freitag.de/autoren/janina-luett/die-buergergeld-armutsspirale-dispo-gekuendigt-handy-kaputt-hungertage

    La vie de pauvre en Allemagne te ronge. Voilà comment ça se passe. Après une certaine durée de la vie comme bénéficiare de Bürgergeld tu n’a pas seulement des dettes que tu ne pourras jamais rembourser, en sus tu te coltines des troubles anxieux sans remède.

    La politique de la terreur contre les pauvres n’est pas une exclusivité allemande. Ailleurs on crève sur les trottoirs de sa ville ou sous le soleil du paysage transformé en désert. Il y a plus qu’assez de raisons pour s’engager dans la lutte solidaire contre les responsables de la pauvreté dans le monde.

    Von Janina Lütt - Sie überlegen, ob Sie mit dem Bürgergeld ganz gut hinkommen würden? Unsere Kolumnistin Janina Lütt erklärt, wie das Geld erst ausreicht – aber dann ein kaputtes Handy und ein übersehenes Abo langsam, aber sicher in die Armut ziehen

    Und wieder geht sie los, die Hetze gegen Bürgergeld-Beziehende. 3,25 Milliarden Euro mehr braucht der Sozialminister Hubertus Heil aus dem Etat, und schon hetzt die CDU wieder gegen Armutsbetroffene und will Bürgergeldempfänger dazu zwingen, zu arbeiten. Sonst, so lautet der Tenor, kündigen ja alle ihre Jobs, um sich das Leben mit Bürgergeld einfacher zu machen! Da sich nicht-armutsbetroffene Menschen kaum vorstellen können, wie man mit Bürgergeldbezug in die Armutsspirale gerät, schreibe ich es mal auf. Damit Hubertus Heil das nicht ganz alleine erklären muss.

    Das vorweg: Es gibt durchaus Beispiele von Menschen, die eine Weile gut mit Bürgergeld leben können – temporär. Dabei kommt es darauf an, wie die Ausgangssituation aussieht: Mussten Sie noch nie Sozialleistungen beantragen? Haben Sie Rücklagen? Dann ist die Situation vorerst nicht schlimm. Aber je länger Sie von Bürgergeld leben müssen, desto schlimmer wird es. Wenn Sie armutsbetroffen sind, leben Sie ein Leben auf Verschleiß.

    Die erste Zeit kommen sie noch ganz gut mit ihrem Geld aus: Ihre Wohnung ist ja bereits eingerichtet, mit etwas Glück haben Sie schon ein Auto und sogar ein bisschen angespart, als Sie gearbeitet haben. Das monatliche Bürgergeld ist knapp, aber die Einkäufe können Sie damit bestreiten (wenn Sie den Bio-Laden meiden), und wenn der Toaster kaputtgeht, gibt es ja Kleinanzeigen. Dann geht Ihre Waschmaschine kaputt. Sie lesen nach: Ah, Sie können beim Amt ein Darlehen bekommen! Prima, das machen Sie. Sie diskutieren ein wenig über den Preis, aber Sie haben Glück: Das Darlehen wird bewilligt. In den kommenden Monaten spüren Sie die monatlichen Abzüge, denn das Darlehen zahlen Sie nun zurück. Es wird enger. Natürlich, denn sie bekommen nun faktisch weniger Geld, als Sie für das Existenzminimum brauchen.
    Bei Bürgergeld kündigt Ihnen die Bank den Dispo

    Vielleicht kriegen Sie das noch kompensiert, die Rücklagen sind zwar kleiner, aber okay, zur Not, denken Sie sich, gibt es ja noch den Dispo. Dann springt Ihr Auto nicht mehr an. Oder Ihnen fällt im Stress das Handy runter und zersplittert, der Touchscreen funktioniert nicht mehr. Sie bekommen einen Brief von Ihrer Bank: Da diese inzwischen mitbekommen hat, dass Sie Bürgergeld beziehen, wird Ihnen der Dispo aufgekündigt.

    Jetzt schauen Sie schon panischer auf die Kontoauszüge. Sie sehen, dass da monatlich noch Zahlungen abgehen, die Sie nicht bedacht haben: Ein Online-Abo für eine Zeitung, und Spotify, oder die Bahncard, was haben Sie sich dabei gedacht? Schnell kündigen Sie, aber: Die Kündigung gilt erst in drei Monaten. Ihre Rücklagen schmelzen dahin.

    Die Darlehensabzüge von Ihrem Bürgergeldsatz wegen Ihres finanziellen Super-Gaus – Sie erinnern sich: die Waschmaschine – werden nun immer höher, Sie haben immer weniger Geld zur Verfügung. Jetzt steigen die Lebensmittelpreise, auch die ganz normalen Einkäufe werden Ende des Monats zu teuer. Ihr Konto geht gen Null. Sie bekommen einen Schweißausbruch, Ihnen wird klar: Sie müssen Ihren Bruder um etwas Geld bitten, oder Ihre Eltern, oder Freunde – wenn Sie welche haben. Sehr unangenehm, wenn Sie an den letzten Streit denken, stimmt’s? Aber Sie bekommen 100 Euro, und die Situation entspannt sich.
    Dann ist die Wohnung zu groß: Sie zahlen einen Teil der Miete selbst

    Dann steigen die Energiekosten. Nun gut, die meisten Heizkosten werden ja übernommen! Da finden Sie einen Brief im Briefkasten, vom Jobcenter: Ihre Wohnung ist nicht angemessen. Sie wohnen auf 60 Quadratmetern allein, damit ist die Wohnung zehn Quadratmeter zu groß, und die Heizkostenrechnung wird nicht komplett übernommen. Dann kommt die Stromrechnung. Auch sie übersteigt den Anteil im Bürgergeld von 42,55 Euro bei Weitem.

    Sie bekommen eine E-Mail von Ihrem Vermieter: Die Mietzahlungen von dem Jobcenter sind nicht ausreichend, Sie müssen bitte die Restmiete für die vergangenen drei Monate überweisen. Wie, dafür haben Sie nichts zur Seite gelegt, als der Brief vom Jobcenter kam? Nicht gut. Natürlich wird ihnen nahegelegt, eine kleinere Wohnung zu suchen, und vor allem eine günstigere. Ich muss Ihnen nicht sagen, wie die Verhältnisse auf dem Wohnungsmarkt sind, oder? Sie haben kaum eine Chance.

    Sie gehen zum Termin mit Ihrem Sachbearbeiter. Sie überzeugen ihn, in der Wohnung wohnen bleiben zu dürfen, wenn Sie die Differenz selbst zahlen. 50 bis 70 Euro, die Ihnen nun monatlich fehlen.
    Manche Bürgergeldempfänger legen Hungertage ein

    Die Armutsspirale dreht sich nun: kaputte Schuhe, kaputte Kleidung, kaputter Wasserkocher, teure Medikamente, Zuzahlungen, Cranberry-Saft gegen Blasenentzündung. Hoffentlich sind Sie nicht chronisch krank, das ist teuer.

    Ihrer Familie schulden Sie inzwischen Hunderte Euro, und allen wird langsam klar, dass Sie es nie zurückzahlen können, solange sie weiter von Bürgergeld leben. Was tun Sie? Verzichten Sie auf bestimmte Lebensmittel? Ich kenne Bürgergeldempfänger, die „Hungertage“ einlegen, oder die so lange schlafen, wie sie können, damit Sie auf eine Mahlzeit am Tag verzichten können.

    Und nun wird Ihnen gesagt: Sparen Sie! Ich hatte eine Phase, da trug ich löchrige Unterhemden und hatte Plastiktüten in den Schuhen, weil die Sohle unten Löcher hatte und der Regen reinlief. Damals war meine bis jetzt schlimmste Zeit als Armutsbetroffene.

    Es ist schwer, sich ein Leben als Arme vorzustellen, wenn man nie arm war, daher versuche ich so gut es geht, Ihnen diese Situation nahezubringen. Als Armutsbetroffene haben Sie immer Stress, weil der ständige Mangel Ängste schürt: Kann ich meine Wohnung behalten? Kann ich nächsten Monat genug zu Essen kaufen? Kann ich meine Rechnungen bezahlen? Kann ich meine Medikamente bezahlen? Zahlt das Amt diesen Monat?

    Ich habe immer noch Angst davor, dass ich am Anfang des Monats kein Geld bekomme, weil in früheren Jahren das Amt nicht regelmäßig gezahlt hatte, dabei ist das Jahre her. Armut prägt einen Menschen für das Leben.

    #IchbinArmutsbetroffen

    Janina Lütt lebt mit ihrem Kind in Elmshorn. Auf freitag.de schreibt sie eine regelmäßige Kolumne über den Kampf mit und gegen Armut

    #Allemagne #Bürgergeld #Hartz_IV #pauvres

  • Algenfarmen gegen den Klimawandel : „Wir können die Erde retten“ – Wirklich ?
    https://www.freitag.de/autoren/svenja-beller-bnd/marine-permakultur-algenfarmen-sollen-erde-vor-klimawandel-retten
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    Sauver le monde en se remplissant les poches d’argent - l’exploitation agricole des mers est le pays de cocagne des investisseurs verts. Les conséquences imprévisibles ... on verra bien.

    16.11.2023 von Svenja Beller
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    Kurz bevor wir uns verabschieden erzählt Tubal dann aber fast beiläufig, dass die Climate Foundation in der Region auch mehrere Artificial-Upwelling-Projekte plant. Sie wolle sie nah an der Küste entlang von Riffen installieren, erzählt er. Auf erneutes Nachhaken räumen das dann auch Donohue und von Herzen ein. Artificial Upwelling lässt sich zu „Künstlicher Auftrieb“ übersetzen, von Herzen findet aber schon die Bezeichnung falsch: „Es ist nichts Künstliches daran, einen natürlichen Prozess auf regionaler Ebene wiederherzustellen.“ Das würden sie tun, indem sie mit hunderte Meter langen Rohren Wasser an die Oberfläche pumpen. Nur könnten sie damit mehr Schaden anrichten als helfen.

    Es sei falsch, die Komplexität natürlicher Auftriebsereignisse mit künstlichen gleichzusetzen, mahnt die Heinrich-Böll-Stiftung in einer Analyse. Tut man das, können die Folgen verheerend sein. „Der Ozean ist stark geschichtet und das ist gut so, weil er in der Tiefe unheimlich viel CO₂ speichert“, erklärt mir Andreas Oschlies, Leiter der Forschungseinheit Biogeochemische Modellierung des GEOMAR Helmholtz-Zentrums für Ozeanforschung Kiel, auch er hat im Videocall einen Meereshintergrund, nur ohne Algen. „Dieses CO₂ wollen wir eigentlich gar nicht nach oben bringen. Wenn wir in die Klimamodelle Artificial Upwelling reinbringen, zeigt sich aber, dass zusammen mit den Nährstoffen ganz viel CO₂ hochgepumpt wird.“

    Dieses gelangt dann an der Oberfläche zurück in die Atmosphäre und könnte den Gewinn an neu gespeichertem CO₂ zunichte machen. „Und alle Nährstoffe, die diese Algen aufnehmen, fehlen woanders“, fährt Oschlies fort. „Also hat man dann irgendwo einen Algenfarmer, der verdient prächtig Geld, aber nebenan oder vielleicht einen halben Kontinent weiter weg, fangen die Fischer plötzlich weniger, weil da wegen weniger Nährstoffen weniger Algen wachsen und dadurch weniger Fische da sind.“

    Bei allen Vorteilen könnte die Climate Foundation mit dem umstrittenen Artificial Upwelling mehr Schaden anrichten, als sie hilft.

    Die Liste der Probleme ist noch länger: Das Tiefenwasser kühle zwar sogar die Atmosphäre, verdränge gleichzeitig aber auch das warme Oberflächenwasser nach unten, das dort lebenden Pflanzen und Tieren schaden könne. Der Eingriff kann die Blüte unerwünschter giftiger Algen begünstigen, zu Sauerstoffarmut im Wasser führen und Meeresströmungen verändern, was wiederum Wettermuster beeinflussen kann. Und ein positiver Effekt kann den Algenwäldern auch zum Verhängnis werden: Weil sich Meerestiere in ihnen wohlfühlen, vermehren sie sich in ihrer Umgebung, das haben mehrere Studien bestätigt. Einige dieser Tiere bilden Kalziumkarbonatschalen, ein Prozess, bei dem CO₂ freigesetzt wird. „Das kann zehn bis dreißig Prozent der CO₂-Aufnahme der Algen wieder zunichte machen“, sagt Oschlies. Als Mitglied einer internationalen Expertengruppe, die die Vereinten Nationen berät, kam er zu dem Schluss: „Diese Methode hat [...] nur ein sehr begrenztes Potential zur Kohlenstoffbindung und das Risiko erheblicher Nebenwirkungen.“

    https://www.climatefoundation.org

    Permaculture marine
    https://fr.m.wikipedia.org/wiki/Permaculture_marine

    #Philippines #climat #écologie #vie_marine #permaculture_marine #captalisme #startup #Anthropocène #Capitalocène

  • Es gibt keine gute Seite in diesem Krieg !
    https://www.freitag.de/autoren/slavoj-zizek/slavoj-zizek-nach-buchmesse-rede-es-gibt-keine-gute-seite-in-diesem-krieg

    Slavoj Žižek vient de me faire découvrir le sionisme antisemite. Je me demande pourquoi je ne l’ai pas identifié tout seul, tellement c’est évident.

    Anders Breivik, Reinhardt Heydrich, les Proud Boys de Trump et le parti AfD font partie de la bande. Le terme explique comment on peut être amtisemite et sioniste dans un même instant.

    Ces personnages ignobles veulent se débarasser des juifs. Ils sont d’abord antisemites. Leur solution est d’envoyer les juifs en Palestine..

    Reinhardt Heydrich en a donné l’exemple. L’holocauste est la conséquence de l’échec de son approche initiale du « problème juif ».

    Les sionistes antisemites partagent le dédain des arabes avec les sionistes juifs et se soucient peu de leur sort. Ils sont proches de la droite génocidaire israëlienne et font partie de la majorité au sein de la politique allemande qui soutient l’état d’Israël sans condition.

    Les juifs d"Israel et les sionistes juifs ont des amis dangereux.

    Les faits qui composent la réalité sont chaotiques et contradictoires. On a tendance à l’oublier parce que c’est troublant et inquiétant. On préfère les idées et positions auxquelles on est habitué et passe à côtre de bien de choses essentielles. Merci Slavoj Žižek de me l’avoir fait remarquer.

    26.10.2023 von Slavoj Žižek - Essay: Die Rede von Slavoj Žižek auf der Frankfurter Buchmesse sorgt für Diskussion: Muss der Terror der Hamas im Kontext der Unterdrückung der Palästinenser gesehen werden? Der Philosoph hält daran fest: Wir müssen den Kontext des Bösen verstehen

    Meine Rede auf der Eröffnungsfeier der Frankfurter Buchmesse wurde zweimal harsch von dem Antisemitismusbeauftragten des Landes Hessen Uwe Becker unterbrochen – und löste dann eine Lawine von Angriffen auf mich aus. Warum?

    Zunächst einige Fakten zu meiner Rede. Ich hatte zunächst eine ganz andere Rede geschrieben, aber kurz nach dem Hamas-Anschlag wurde ich von Jürgen Boos kontaktiert, dem Direktor der Frankfurter Buchmesse, der mich bat, in meinem Vortrag auch den Krieg zu erwähnen. Wahrscheinlich erwartete man von mir, mich einfach in den Chor all derer einzureihen, die das, was die Regierung Israels tut, nun bedingungslos zu unterstützen. Meine neue Rede habe ich im Voraus an die slowenischen Organisatoren und an die Buchmesse in Frankfurt, einschließlich an Jürgen Boos, geschickt, sie enthielt keine Überraschung: Die Organisatoren kannten sie.

    Warum also die Angriffe auf mich? Es hat einige Zeit gedauert, bis ich es begriffen habe: Nicht weil ich in meiner Rede zu extrem war, sondern gerade weil ich sehr ausgewogen und gemäßigt war, wurde ich angegriffen. Es ist leicht, jemanden zu verurteilen, der „Tod für Israel“ skandiert – viel leichter als jemanden, der den Hamas-Anschlag bedingungslos verurteilt und gleichzeitig auf dessen Hintergründe aufmerksam macht.

    Schließlich könnte ein solcher Ansatz einige dazu verleiten, auch das palästinensische Leid zu sehen. Dass ich dabei einige jüdische Personen zitiert habe, auf die ich mich positiv bezog, darunter Moshe Dayan, Simon Wiesenthal oder Marek Edelman, hat einige Kritiker wohl zusätzlich verärgert. Ich habe aber auch einige wütende Nachrichten von Palästinensern aus dem Westjordanland erhalten. Sie sind wütend, weil ich nicht ausdrücklich gesagt habe, dass sie angesichts dessen, was jetzt mit den Palästinensern geschieht, nicht im Opferdasein verharren können: Haben die Menschen im Westjordanland nicht auch ein Recht auf Wut?

    Meine eigene Wut richtet sich im Moment eher auf Antisemitismusbeauftragte, die im Namen Deutschlands eine schlimme Strategie fahren: Diejenigen aus dem Land, das den Holocaust begangen hat, versuchen nun, sich von ihrer Schuld zu entlasten, indem sie das israelische Unrecht an einer anderen Gruppe befürworten! Die deutsche Besessenheit, auf der richtigen Seite zu stehen, bekommt derzeit eine dunkle Kehrseite.

    Die Dummheit des Jahres: „Das Böse der Hamas hat keinen Kontext“

    Nun zur inhaltlichen Auseinandersetzung mit meiner Rede. Hier ist eine der vielen Reaktionen darauf in den Medien: „Der populäre slowenische Philosoph und Kulturkritiker Slavoj Žižek sorgte während der Eröffnungszeremonie für einen Skandal“, schreibt die ukrainische Medienplattform The Gaze. „Žižek verurteilte den Terroranschlag der palästinensischen islamistischen Bewegung HAMAS auf Israel und betonte die Notwendigkeit, ‚den Palästinensern zuzuhören und ihre Vergangenheit zu berücksichtigen.’“

    Zunächst stelle ich fest: Der letzte Teilsatz in Anführungszeichen ist kein Zitat aus meinem Text, obwohl er als Zitat dargestellt wird. Zweitens: Ja, es gab einen Skandal, aber war es wirklich ich, der ihn verursacht hat? War der wahre Skandal nicht die Art und Weise, wie meine Rede zweimal lautstark unterbrochen wurde – und diese Unterbrechungen wofür, weil ich was genau getan habe? Ich wurde dafür unterbrochen, dass ich nur das Offensichtliche gesagt habe, was wir jeden Tag in unseren Medien lesen und sehen können: dass es keine Lösung für die Krise im Nahen Osten gibt, ohne den Schwebezustand der Palästinenser zu beenden.

    Der Hauptkandidat für die Dummheit des Jahres ist meiner Meinung nach eine Zwischenüberschrift in einem kürzlich erschienenen Text in der Zeit: „Das Böse der Hamas hat keinen Kontext“. Was damit gemeint ist, wurde in Behauptungen deutlich, die ich in Frankfurt immer wieder zu hören bekam: „Es gibt hier keine zwei Seiten. Es gibt nur eine Seite.“

    Es wurde auf dem Podium von Meron Mendel, Doron Rabinovici und Tomer Dotan-Dreyfus sogar offen über die Ablehnung des Wortes „Aber“ diskutiert. Aber: Ist „aber“ nicht die höfliche Art, in einem Dialog zu widersprechen, also in den Dialog zu treten? „Ich sehe und respektiere Ihren Standpunkt, aber …“ Wie können wir den Konflikt im Nahen Osten verstehen, ohne all die Abers darin zu sehen, die Widersprüche und Antworten „der einen Seite“ darauf?

    Der Kontext des Antisemitismus

    Eine Analyse des Kontextes eines Massakers oder eines Krieges bedeutet keine Entschuldigung oder Rechtfertigung. Es gibt zahlreiche Analysen darüber, wie die Nazis an die Macht kamen, und sie rechtfertigen Hitler in keiner Weise, sondern beschreiben nur die verworrene wirtschaftliche, gesellschaftliche und politische Situation, die Hitler ausnutzte, um die Macht zu übernehmen. Hitler erschien nicht plötzlich aus einem Vakuum. In den 1920er und 1930er Jahren bot er den Antisemitismus als Erklärung für die Probleme der Deutschen an: Arbeitslosigkeit, moralischer Verfall, soziale Unruhen. Die Vorstellung eines „jüdischen Komplotts“ als Erklärung schien all das zu sortieren, indem sie eine einfache „kognitive Zuordnung“ ermöglichte.

    Funktioniert der heutige Hass auf den Multikulturalismus und die Bedrohung durch die Geflüchtete und Migrant*innen nicht in ähnlicher Weise? Es geschehen merkwürdige Dinge, es kommt zu finanziellen Zusammenbrüchen und wirtschaftlichen Umbrüchen und Verschiebungen, die unser tägliches Leben beeinflussen, die aber als völlig undurchsichtig empfunden werden. Die Ablehnung des Multikulturalismus bringt eine falsche Klarheit in die Situation: Es sind die ausländischen Eindringlinge, die unsere Lebensweise stören.

    Warum vergleiche ich die radikale Hamas mit der radikalen Haltung der Netanjahu-Regierung?

    Historische Vergleiche, die den Nationalsozialismus betreffen, sollen prinzipiell abgelehnt werden, ich komme später auf die Einzigartigkeit des Holocaust zurück. Aber der Vergleich einzelner politischer Entwicklungen kann helfen, aus der Geschichte zu lernen. Und damit zurück zu meiner Rede, denn auch hier hat ein Vergleich für Empörung gesorgt, und zwar meine Erwähnung der seltsamen Ähnlichkeit zwischen der radikalen Hamas und der radikalen Haltung der letzten Netanjahu-Regierung. Hier ist das Zitat aus meiner Rede:

    „Ismail Haniyeh, der Führer der Hamas, der bequem in Dubai lebt, sagte am Tag des Angriffs: ‚Wir haben euch nur eines zu sagen: Verschwindet aus unserem Land. Geht uns aus den Augen … Dieses Land gehört uns, Jerusalem gehört uns, alles hier gehört uns … Es gibt keinen Ort und keine Sicherheit für euch.‘ Klare und ekelhafte Worte. Aber hat die israelische Regierung nicht etwas Ähnliches gesagt, wenn auch nicht auf so brutale Weise? Ich verweise nochmals auf das erste der offiziellen ‚Grundprinzipien‘ der gegenwärtigen israelischen Regierung: ‚Das jüdische Volk hat ein exklusives und unveräußerliches Recht auf alle Teile des Landes Israel. Die Regierung wird die Besiedlung aller Teile des Landes Israel – in Galiläa, im Negev, auf dem Golan und in Judäa und Samaria – fördern und entwickeln.‘ Oder, wie Netanjahu erklärte: ‚Israel ist nicht ein Staat aller seiner Bürger‘, sondern ‚des jüdischen Volkes – und nur dieses‘. Schließt dieses ‚Prinzip‘ nicht jegliche ernsthafte Verhandlungen aus? Die Palästinenser werden strikt als Problem behandelt, der Staat Israel hat ihnen nie Hoffnung gemacht und ihre Rolle in dem Staat, in dem sie leben, positiv umrissen. Unter all der Polemik darüber, ‚wer mehr Terrorist ist‘, liegt wie eine schwere dunkle Wolke die Masse der palästinensischen Araber, die jahrzehntelang in einem Schwebezustand gehalten werden und täglich Schikanen durch Siedler und den israelischen Staat ausgesetzt sind. (…) Vielleicht muss man als erstes die massive Verzweiflung und Verwirrung klar erkennen, die zu Taten des Bösen führen kann. Es wird keinen Frieden im Nahen Osten geben, wenn die palästinensische Frage nicht gelöst wird.“

    Soweit meine Rede. Mir wurde hier vorgeworfen, eine entscheidende Tatsache zu ignorieren. Die israelische Regierung sage nicht einfach dasselbe wie die Hamas in einer zivilisierteren Weise, sondern es gäbe auch einen wichtigen Unterschied im Inhalt: Die israelische Regierung fordert nicht das wahllose Umbringen aller ihrer Gegner – und ermordet auch nicht tatsächlich wahllos ihre Gegner. Das stimmt, und das ist ein wichtiger Unterschied.

    Es gibt jedoch einen weiteren Unterschied: Während die Hamas und ihre Verbündeten verkünden, die Juden aus dem israelischen Land zu vertreiben, arbeitet Israel tatsächlich an solch einer Vertreibung, indem es die Palästinenser im Westjordanland schrittweise, aber unaufhaltsam ihres Landes beraubt. Sogar die USA haben sich besorgt über die Angriffe der Siedler auf Palästinenser im Westjordanland geäußert, Staatssekretär Antony Blinken hat seine „Besorgnis“ darüber zum Ausdruck gebracht und, wie zu erwarten war, die Zusage erhalten, dass Israel der Sache „nachgehen wird“. Wie dies mit Itamar Ben Gvir als Minister für Nationale Sicherheit geschehen soll, ist derweil nicht klar. Ben Gvir kündigte am 10. Oktober 2023 an, 10.000 Gewehre für bewaffnete zivile Sicherheitsteams zu beschaffen, die in Städten nahe der israelischen Grenzen sowie in gemischten jüdisch-arabischen Städten – und in Siedlungen im Westjordanland eingesetzt werden sollen.

    Die Scheinwerfer der Medien zeigten zu lange nicht auf Gaza Soweit ich weiß, hat niemand die Fakten bestritten, auf die ich mich in meiner Rede beziehe. Das Hauptgegenargument war, dass dieser Zeitpunkt, an dem Juden in Israel massenhaft sterben – und andernorts, auch in Europa, bedroht werden – nicht der richtige für eine grundlegende Analyse des Konflikts im Nahen Osten sei. Ich traute meinen Ohren nicht, als ich dieses Argument hörte, denn „zu diesem Zeitpunkt“, also zehn Tage nach dem verheerenden Hamas-Angriff, waren bereits mehr Palästinenser gestorben als jüdische Israelis. Aber es stimmt: Zu anderen Zeitpunkten zuvor habe ich das Grauen, das sich in Gaza abspielte, ignoriert. Warum habe ich es so lange ignoriert?

    Erinnern Sie sich an die allerletzten Zeilen von Brechts Dreigroschenoper: „Denn die einen sind im Dunkeln / Und die andern sind im Licht. / Und man sieht nur die im Lichte / Die im Dunkeln sieht man nicht.“ Das ist (vielleicht mehr denn je) unsere Situation heute, im selbsternannten Zeitalter der modernen Medien: Während die großen Medien bis vor kurzem voll mit Nachrichten über den noch immer fortdauernden Ukraine-Krieg waren, wurde über andere, teils tödlichere Kriege der Welt nicht oder kaum berichtet. Jetzt, da die Scheinwerfer auf den Nahen Osten gerichtet sind, kann man nicht umhin festzustellen, dass sie fast ausschließlich auf den Gazastreifen gerichtet sind, und noch immer nicht auf das Westjordanland, wo womöglich gerade etwas viel Entscheidenderes vor sich geht. Um hier keine Missverständnisse aufkommen zu lassen: Ich bin entsetzt darüber, dass die Bombardierung des Gazastreifens durch die israelische Armee IDF mehr „Kollateralschäden“ an der Zivilbevölkerung verursacht als an den Hamas-Kräften selbst, aber ich gehe nicht davon aus, dass Israel den Gazastreifen wieder besetzen will. Ich gehe davon aus, das Ereignis, das die Geschichte im Nahen Osten langfristig prägen könnte, findet derzeit und schon seit Jahren im Westjordanland statt: Es ist die Vertreibung der palästinensischen Bevölkerung zugunsten israelischer Besiedlung.

    Ich kann Judith Butler nur beipflichten, die in ihrem Text im Freitag und in der London Review of Books in einem eindrücklichen Zitat die Gewalt beschreibt: „Von der systematischen Beschlagnahmung von Land bis zu routinemäßigen Luftangriffen, von willkürlichen Verhaftungen bis zu militärischen Kontrollpunkten, von erzwungenen Familientrennungen bis zu gezielten Tötungen sind die Palästinenser gezwungen, in einem Zustand des langsamen und plötzlichen Todes gleichermaßen zu leben.“

    Der Terror israelischer Siedler im Westjordanland

    Unter der neuen Netanjahu-Regierung nahm dieser Druck auf Palästinenser in der Westbank enorm zu. Unter Dutzenden von Videoclips, die derzeit kursieren, möchte ich nur einen erwähnen. Es ist bei Weitem nicht das gewalttätigste, aber zumindest für mich das deprimierendste Video. Es zeigt einen Siedler, der eine Gruppe palästinensischer Bauern, die auf ihrem Land arbeiten, demütigt und beschimpft, indem er behauptet, das Land gehöre ihnen nicht, er öffnet ihre Säcke mit Saatgut und verstreut es, er stellt sich provokativ Brust an Brust vor die Palästinenser und ruft: „Warum schlägst du mich nicht? Bist du ein Mann?“ All diese Drohgebärden passieren in der stillen Gegenwart einiger beobachtender, bewaffneter israelischer Soldaten im Hintergrund. Können wir uns vorstellen, was passiert wäre, wenn ein palästinensischer Bauer dies mit einer Gruppe von israelischen, jüdischen Siedlern gemacht hätte?

    Das ist nur ein Detail. Es passieren auch andere Dinge: Gruppen von Siedlern schicken palästinensischen Häusern die Drohung, dass sie ihre Wohnung in den nächsten 24 Stunden räumen sollen, und wenn sie das nicht tun, kommen die Siedler und greifen die Familien an. Am 12. Oktober wurden zwei Palästinenser getötet, als israelische Siedler das Feuer auf einen Trauerzug in der Nähe der Westbankstadt Qusra, südlich von Nablus, eröffnet hatten. „Krankenwagen transportierten die Leichen von vier Palästinensern, die einen Tag zuvor erschossen worden waren, Berichten zufolge ebenfalls von israelischen Siedlern, als Siedler am Tatort eintrafen und versuchten, den Beerdigungszug aufzuhalten“, schreibt die Times of Israel. Einer der Fahrer des Krankenwagens wurde von der israelischen Zeitung Haaretz mit den Worten zitiert, dass „die Siedler dort gewartet hätten. Sie blockierten das Tor und begannen, auf uns und andere Menschen, die zur Beerdigung gekommen waren, zu schießen.“

    Die offizielle Reaktion? Die israelischen Verteidigungskräfte IDF teilten mit, dass nach Zusammenstößen zwischen Siedlern und Palästinensern in dem Dorf, in dem die Beerdigung stattfinden sollte, mehrere palästinensische Opfer zu beklagen seien und „dass der Vorfall untersucht werde.“ Im vergangenen Jahr gab es wiederholt Vorfälle, bei denen junge Siedler gewaltsam in Dörfer eindrangen und dabei mehrere Palästinenser töteten, zahlreiche Menschen verletzten und erheblichen Sachschaden anrichteten. Die Angreifer werden selten verhaftet, geschweige denn für ihre Taten belangt.

    Im Februar dieses Jahres jagte ein aggressiver Mob israelischer Siedler mit Knüppeln und Schusswaffen durch die Straßen der palästinensischen Stadt Huwara nahe Nablus und umliegende Dörfer. Ein Palästinenser starb, mehrere Hundert wurden verletzt. Es ist nur einer vieler gewaltsamer Übergriffe, bei denen manchmal ein, zwei, drei Palästinenser sterben, jeder Vorfall für sich löste keine weltweite Empörung aus. Seit 2008 haben israelische Streitkräfte und Siedler im Westjordanland und im Gazastreifen aber fast 3.800 palästinensische Zivilisten getötet – bis zum Ausbruch des derzeitigen Krieges. Wenn dies keine Form von Terror ist, dann hat dieses Wort überhaupt keine Bedeutung.

    Gewalt gegen Palästinenser wird gutgeheißen Solange die traditionelle säkulare zionistische Siedler-Kolonialideologie vorherrschte, privilegierte der Staat (mehr oder weniger) diskret seine jüdischen Bürger gegenüber den Palästinensern; er unternahm jedoch große Anstrengungen, um den
    Anschein einer neutralen Rechtsstaatlichkeit aufrechtzuerhalten. Von Zeit zu Zeit verurteilte er zionistische Extremisten für ihre Verbrechen gegen Palästinenser, und er begrenzte die illegalen neuen Siedlungen im Westjordanland. Die wichtigste Behörde dafür war der Oberste Gerichtshof. Nun setzte die Regierung Netanjahu, die 2022 an die Macht kam, eine Justizreform durch, die den Obersten Gerichtshof seiner Autonomie beraubte. Die massiven Proteste gegen die Justizreform aus der israelischen Zivilgesellschaft waren womöglich der letzte Schrei des säkularen Zionismus: Mit der neuen Netanjahu-Regierung wird die antipalästinensische Gewalt nicht einmal mehr formell vom Staat verurteilt.

    Zur Erinnerung: Bevor der Minister für Nationale Sicherheit Ben Gvir in die Politik ging, hing in seinem Wohnzimmer ein Porträt des israelisch-amerikanischen Terroristen Baruch Goldstein, der 1994 in Hebron neunundzwanzig palästinensisch-muslimische Gläubige massakrierte und 125 weitere verletzte, was als Massaker in der Höhle der Patriarchen bekannt wurde. Der Staat Israel, der sich gerne als die einzige Demokratie im Nahen Osten präsentiert, hat sich de facto in einen „halachischen theokratischen Staat (das Äquivalent zur Scharia) verwandelt“, wie der Professor Jamil Khader der Bethlehem Universität nach der Hetzjagd von Huwara schreibt.

    Khader erklärt in diesem Text seine Theorie zum „Surplus-Genuss“, dem „Lustgewinn“ (surplus enjoyment) im Zusammenhang mit antipalästinensischer Gewalt: Im Lacan’schen Sinne funktioniert diese obszöne Gewalt als Surplus-Genuss, den wir als Belohnung für unsere Unterordnung unter eine ideologische Struktur erhalten, für die Opfer und den Verzicht, die diese Struktur von uns verlangt. Jamil Khader schreibt: „In diesem extremistischen messianisch-zionistischen Diskurs wird der Surplus-Genuss (wie das Töten von Palästinensern, das Verbrennen ihrer Häuser, die Vertreibung aus ihren Häusern, die Konfiszierung ihres Landes, der Bau von Siedlungen, die Zerstörung ihrer Olivenbäume, die Judaisierung der Al-Aqsa, und so weiter) ausdrücklich artikuliert. Während diese Formen des Genusses früher im offiziellen zionistischen Diskurs als Ausnahme betrachtet wurden, gelten sie jetzt als Norm.“

    Wenn, wie ich ebenfalls schon erwähnte, der Minister für Nationale Sicherheit Ben Gvir im August 2023 im Fernsehen sagt: „Mein Recht, das Recht meiner Frau und das Recht meiner Kinder, sich auf den Straßen von Judäa und Samaria [Westjordanland] frei zu bewegen, ist wichtiger als das der Araber“ – dann hatte er damit Recht. Ja, das ist die Realität im Westjordanland. Die Vertreibung der Palästinenser wird nicht einmal mehr formell vom Staat verurteilt.

    Die Rede von António Guterres – und die zynische Reaktion darauf Und wenn politisch denkende Menschen dies im Zusammenhang mit dem brutalen Massaker der Hamas erwähnen, dann geht es nicht um eine Rechtfertigung von Gewalt, sondern um den Versuch, den Kontext solch eines Gewaltausbruchs zu erkennen – wie sonst soll zukünftige Gewalt verhindert werden? In diesem Kontext verstehe ich die Worte des Generalsekretärs der Vereinten Nationen António Guterres, der am 24. Oktober 2023 vor dem UN-Sicherheitsrat sagte: „Es ist wichtig zu erkennen, dass die Angriffe der Hamas nicht im luftleeren Raum stattgefunden haben. Das palästinensische Volk hat 56 Jahre lang unter einer erdrückenden Besatzung gelitten. Es hat mit ansehen müssen, wie sein Land immer mehr von Siedlungen verschlungen und von Gewalt heimgesucht wurde, wie seine Wirtschaft unterdrückt, seine Menschen vertrieben und seine Häuser zerstört wurden. Ihre Hoffnungen auf eine politische Lösung für ihre Notlage haben sich in Luft aufgelöst. Aber die Beschwerden des palästinensischen Volkes können die schrecklichen Angriffe der Hamas nicht rechtfertigen. Und diese schrecklichen Angriffe können die kollektive Bestrafung des palästinensischen Volkes nicht rechtfertigen.“

    Die Reaktion war nicht nur wütende Kritik; eine Petition fordert gar den Rücktritt von Guterres: „Der Generalsekretär der Vereinten Nationen hat jetzt sein wahres Gesicht gezeigt und der Welt bewiesen, dass er voreingenommen und zwiespältig ist und nicht die richtige Person, um die Vereinten Nationen durch diese angespannte Phase in der Geschichte unserer Welt zu führen“, heißt es darin. Der Zynismus der Petition zur Forderung seines Rücktritts ist beeindruckend: „Das israelische Volk (Juden, Muslime, Christen, Drusen und Beduinen) hat einen schweren Terroranschlag erlitten.“ Während die israelische Regierung Nicht-Juden ausdrücklich als Bürger zweiter Klasse behandelt, werden sie nun plötzlich als Opfer der Hamas angesprochen?

    Die Hamas muss vernichtet werden

    Aber verlieren wir uns nicht in einer falschen Aufspaltung der Seiten, in jene, die nur „die eine Seite“ oder die nur „die andere Seite“ sehen wollen (und die jeweils andere Seite mit dem Argument ausblenden, die eine Seite auf diese Weise besser zu sehen). Um einen Ausweg zu finden, muss man sich zunächst voll und ganz eingestehen, dass wir es mit einer wahren Tragödie zu tun haben. Es gibt keine klare, einfache Lösung, außer der von Ben Gvir und der Hamas propagierten: die Vernichtung der anderen Seite.

    Diese vermeintlich klare, zutiefst unmenschliche Lösung ist nicht akzeptabel. Meine Verurteilung des Hamas-Angriffs ist daher klar und unmissverständlich. Nicht umsonst lautet der Titel meines Interviews in der Zeit: „Die Hamas muss vernichtet werden“. Ihr Massaker war schrecklich. Jenes Gebiet östlich des Gazastreifens, in dem die Hamas mordete, war größtenteils von Jüdinnen und Juden bewohnt, die für ein friedliches Zusammenleben mit den Palästinensern eintraten, einige von ihnen engagierten sich sogar für die Leidtragenden in Gaza.

    Warum spreche ich von einer Tragödie? Weil die Hamas das Ergebnis von all jenen ist, die die Frage Israels und Palästinas mit Gewalt klären wollen. Die Times of Israel berichtet davon, dass die israelische Politik unter Netanjahu über Jahre darauf ausgerichtet war, „die Palästinensische Autonomiebehörde als Last und die Hamas als politisch von Vorteil zu betrachten“. Der rechtsextreme Bezalel Smotrich, jetzt Finanzminister in der Hardliner-Regierung und Vorsitzender der Partei des Religiösen Zionismus, habe dies im Jahr 2015 selbst gesagt.

    Verschiedenen Berichten zufolge habe sich Netanjahu Anfang 2019 auf einer Fraktionssitzung des Likud in ähnlicher Weise geäußert, als er etwa mit den Worten zitiert wurde, „dass diejenigen, die gegen einen palästinensischen Staat sind, den Transfer von Geldern nach Gaza unterstützen sollten, weil die Aufrechterhaltung der Trennung zwischen der Palästinensischen Autonomiebehörde im Westjordanland und der Hamas in Gaza die Gründung eines palästinensischen Staates verhindern würde“.

    Kurz gesagt: Israel hat hier denselben Fehler gemacht wie die USA und ihre Verbündeten in Afghanistan, als sie radikale Islamisten wie Osama bin Laden unterstützten, um das von der Sowjetunion unterstützte Regime zu besiegen.

    Wir dürfen nicht zwischen der Hamas und Netanjahu wählen

    Der israelische Historiker Yuval Harari hat Recht, wenn er betont, dass das Hauptziel des Hamas-Angriffs nicht nur die Ermordung von Juden war, sondern auch die Verhinderung jeglicher Friedenschancen in absehbarer Zukunft. Dieser Krieg wurde von der Hamas mit dem Ziel begonnen, den Krieg selbst zu verewigen. Und Harari hat Recht, wenn er hinzufügt, dass Israel diese von der Hamas gestellte Falle vermeiden sollte, denn „auf lange Sicht wird es nur dann Frieden geben, wenn die Palästinenser in ihrem Heimatland ein würdiges Leben führen können“. Es ist wichtig, die Worte „in ihrem Heimatland“ zu betonen: Harari akzeptiert hier, dass das von Israel besetzte Land auch das palästinensische Heimatland ist.

    Um es bewusst naiv zu formulieren: Israel sollte seine palästinensischen Bürger wie seine eigenen Bürger behandeln. Zur Empörung vieler meiner „linken“ Kritiker stimme ich mit der zentralen Aussage eines Briefes überein, den Harari zusammen mit dem israelischen Schriftsteller David Grossman und anderen unterzeichnet hat: „Es gibt keinen Widerspruch zwischen der entschiedenen Ablehnung der israelischen Unterwerfung und Besetzung der Palästinenser und der unmissverständlichen Verurteilung brutaler Gewaltakte gegen unschuldige Zivilisten. In der Tat muss jeder konsequente Linke beide Positionen gleichzeitig vertreten.“

    Ich habe in meiner Rede auf der Frankfurter Buchmesse genau das Gleiche gesagt, wie ich es auch hier im Freitag schon geschrieben hatte: „Man sollte in beiden Richtungen bis zum Ende gehen, sowohl bei der Verteidigung der palästinensischen Rechte als auch beim Kampf gegen den Antisemitismus. Die beiden Kämpfe sind zwei Momente desselben Kampfes. (…) Diejenigen, die denken, dass es einen ‚Widerspruch‘ in dieser meiner Haltung gibt, leiden unter einer völligen moralischen Desorientierung.“

    Über linke Irrwege: Israel ist nicht die Ukraine, Donezk ist nicht das Westjordanland In Ljubljana, meiner Heimatstadt, habe ich ein Graffiti an einer Wand gesehen: „Wenn ich ein Palästinenser aus dem Westjordanland wäre, wäre ich auch ein Holocaust-Leugner.“ Genau das ist die Logik, die man auf gar keinen Fall übernehmen darf. Man darf auch ihr Pendant nicht übernehmen: „Ein jüdischer Israeli, deren Vorfahren im Holocaust verfolgt oder brutal ermordet wurden, hat das Recht, jene Ungerechtigkeiten, die der Staat Israel gegenüber Palästinensern begeht, zu ignorieren.“

    Solche Logiken führen auch zu seltsamen Verwischungen der Identifikation in globalen Konflikten. Der pro-israelische Westen (insbesondere die USA) stellt nun die Verteidigung der Ukraine gegen die russische Aggression und die Verteidigung Israels gegen die Hamas als Momente desselben globalen Krieges dar, als ob Israel = Ukraine wäre. Auf der gegenüberliegenden pseudolinken Seite wird bereits behauptet, dass die Angriffe Russlands und die Angriffe der Hamas beide als gerechtfertigte Verteidigungsmaßnahmen anzusehen sind, die nach einer langen Geschichte der Unterdrückung explodiert sind – als wäre Donezk das russische Westjordanland.

    Warum ich den Begriff „Pseudolinke“ verwende? Weil ich in einer alten marxistischen Tradition daran festhalte, dass die Linke strukturell nicht antisemitisch sein kann, da sie weiß, dass Antisemitismus auf dem grundlegenden ideologischen Vorgang beruht, immanente soziale Antagonismen auf einen externen Akteur zu übertragen – der liquidiert werden soll. Das ist auch der Grund, warum Populismus (auch: pseudolinker Populismus) dazu neigt, antisemitisch zu sein: Populismus stellt nicht den Antagonismus in Frage, der der grundlegenden sozialen Ordnung eingeschrieben ist, sondern konzentriert sich auf „Korruption“, einzelne scheinbar „mächtige“ Personen in wichtigen Positionen und Ähnliches. Ich bin mir durchaus bewusst, dass es in der heutigen Linken tatsächlich antisemitische Tendenzen gibt, und diese sind ein verlässliches Signal dafür, dass mit dieser Linken etwas zutiefst falsch läuft. Das gilt von Stalin bis Hugo Chávez in Venezuela, der übrigens von keinem Geringeren als Fidel Castro ermahnt wurde, Antisemitismus
    nicht zu reproduzieren.

    Warum ich den SS-Mann Reinhard Heydrich zitierte In Zeiten dieses schleichenden Antisemitismus wird der Krieg gegen Gaza von manchen genutzt, um jüdische Personen oder den Staat Israel für alle möglichen globalen Probleme verantwortlich zu machen. Etwas anderes ist es, den Konflikt im Nahen Osten in Verbindung zur Politik des Staates Israel zu bringen, der ja tatsächlich ein zentraler Akteur in diesem Konflikt ist. Daher, ein letztes Mal, zurück zu meiner Rede auf der Frankfurter Buchmesse – und der Debatte, die darauf folgte. In der Frankfurter Allgemeinen Zeitung wusste man über die Reaktion des Frankfurter Oberbürgermeisters zu berichten: „’Die Rede hat vor Ort irritiert‘, sagte Mike Josef der F.A.Z. ‚Ich bin kurzzeitig aus dem Saal gegangen, um mit anderen Magistratsmitgliedern zu sprechen.‘ Die Meinungsfreiheit sei wichtig. ‚Und es ist auch notwendig, Debatten anzustoßen, in denen alle Sichtweisen berücksichtigt werden. Jedoch wurde mit dem Heydrich-Zitat eine Grenze überschritten, die über Provokation hinausgeht. Das war falsch.’“

    Tatsächlich wurde meine Rede zum zweiten Mal unterbrochen, als ich den SS-Mann Reinhard Heydrich zitierte. Mir wurde unterstellt, ich würde Heydrich mit der politischen Position der Regierung Israel in eine Linie stellen. Diese Unterstellung geht aber völlig an dem Punkt vorbei, den ich in meiner Rede machte.

    Warum habe ich Heydrich erwähnt? Ich habe einen Gedankengang vorgetragen, den ich auch schon in meinen Büchern und Vorträgen (übrigens auch in Tel Aviv, wo er ohne Probleme angenommen wurde) entwickelt habe. Was mich dabei beschäftigt: Heutzutage scheint ein seltsames Phänomen wieder aufzutauchen, das wir aus der Vergangenheit kennen. Während Donald Trump in seiner Zeit als US-Präsident Jerusalem als Hauptstadt Israels anerkannte, sind einige seiner Anhänger wie etwa die rechtsextremen Proud Boys offen antisemitisch. Ähnliches scheint sich auch in der deutschen AfD zu finden. Ist hier wirklich ein Widerspruch?

    Als Trump die umstrittene Verordnung gegen Antisemitismus an Universitäten unterzeichnete, war John Hagee anwesend, ein bekannter US-amerikanischer Evangelist, der Gründer und Vorsitzende der christlich-zionistischen Organisation Christians United for Israel. An der Spitze der christlich-konservativen Standardagenda äußerte sich Hagee eindeutig antisemitisch: Er hat den Juden selbst die Verantwortung für den Holocaust zugeschoben; er hat erklärt, dass die Judenverfolgung unter Hitler ein „göttlicher Plan“ war, um die Juden dazu zu bringen, den modernen Staat Israel zu gründen; er nennt liberale Juden „vergiftet“ und „geistig blind“. Man sollte sehr misstrauisch sein gegenüber einer solchen vergifteten Unterstützung des Staates Israel, die eine lange Tradition hat.

    Der zionistische Antisemitismus des Anders Breivik

    Antisemitisch und gleichzeitig pro-israelisch, diese Haltung kennen wir auch von Anders Breivik, dem rassistischen, einwanderungsfeindlichen Massenmörder aus Norwegen. Im Staat Israel sah Breivik die erste Verteidigungslinie gegen die „muslimische Expansion“, er möchte den Jerusalemer Tempel wieder aufgebaut sehen, aber er schrieb in seinem „Manifest“ auch: „Es gibt kein jüdisches Problem in Westeuropa (mit Ausnahme des Vereinigten Königreichs und Frankreichs), da wir nur eine Million [Juden] in Westeuropa haben, wobei 800.000 von dieser einen Million in Frankreich und dem Vereinigten Königreich leben. Die USA hingegen haben mit mehr als 6 Millionen Juden (600 Prozent mehr als in Europa) tatsächlich ein beträchtliches jüdisches Problem.“

    Die Figur Breivik verkörpert somit das ultimative Paradoxon des zionistischen Antisemiten – und ich fand die Spuren dieser seltsamen Haltung historisch in dem Nazi Reinhardt Heydrich, einem der Drahtzieher des Holocausts, der 1935 schrieb: „Wir müssen die Juden in zwei Kategorien einteilen: die Zionisten und die Assimilationsbefürworter. Die Zionisten bekennen sich zu einem streng rassischen Konzept und helfen durch die Auswanderung nach Palästina, ihren eigenen jüdischen Staat aufzubauen. / … / unsere guten Wünsche und unser offizielles Wohlwollen sollen mit ihnen gehen.“ (Zitiert nach Heinz Höhne: The Order of the Death’s Hand. The Story of Hitler’s SS) Das ist zionistischer Antisemitismus in seiner reinsten und deutlichsten Form. Nun stellt sich die Frage, ob diese Form heutzutage eine relevante Rolle spielt, jenseits christlicher Fundamentalisten in den USA oder verirrter Rechtsextremer in Europa.

    Die Diskussion über Apartheid in der Westbank

    Die Folgen des extremistischen zionistischen Siedlungsprojekts im Westjordanland jedenfalls sollten jedem Linken Sorgen bereiten, denn sie bereiten bereits ehemaligen israelischen Generälen Sorgen. Selbst Amiram Levin, ein ehemaliger israelischer General, ehemaliger Chef des Nordkommandos der israelischen Armee und stellvertretender Chef des Auslandsgeheimdienstes Mossad, sagte in einem Gespräch mit dem öffentlich-rechtlichen israelischen Sender Kan über die Lage im Westjordanland: „Seit 57 Jahren gibt es dort keine Demokratie mehr, es herrscht totale Apartheid“. Wohlgemerkt, wenn Levin von Apartheid spricht, bezieht er sich dabei nicht auf das ganze israelische Staatsgebiet, sondern auf die Westbank. Er sagt weiter: „Die israelische Armee, die gezwungen ist, dort Souveränität auszuüben, verrottet von innen heraus. Sie steht daneben, während Siedler randalieren, schaut ihnen zu und beginnt, sich an Kriegsverbrechen zu beteiligen.“ Auf die Frage nach der Art der „Vorgänge“ verwies Levin auf die Zeit der Rassengesetze in Nazideutschland. „Es ist schwer für uns, das auszusprechen, aber es ist die Wahrheit. Gehen Sie durch Hebron und sehen Sie sich die Straßen an. Straßen, auf denen Araber nicht mehr gehen dürfen, nur noch Juden. Das ist genau das, was dort passiert ist, in jenem dunklen Land.“

    Es muss hier wohl kaum erwähnt werden, dass die Situation der Palästinenser in Hebron und der Situation von Juden im Nazi-Deutschland nicht gleichgesetzt werden kann. Ungerechtigkeit, apartheidsähnliche Regeln, einzelne Morde und Vertreibung sind nicht mit den Gaskammern des Holocaust zu vergleichen. Wenn aber ein Jude, der weiß, was der Nazi-Antisemitismus bedeutet, solche Parallelen anstellt, wird es ihm sehr ernst damit sein, das, was im Westjordanland vor sich geht, als äußerst gefährliche Tendenz zu beschreiben. Solange es Menschen wie Amiram Levin gibt, gibt es Hoffnung. Nur mit ihrer Solidarität und Unterstützung haben die Palästinenser im Westjordanland eine Chance.

    Wo das Böse absolut ist, gibt es keine Guten

    Die Lehre aus all dem ist jedoch eine sehr traurige. In einer denkwürdigen Passage in Still Alive: A Holocaust Girlhood Remembered beschreibt Ruth Klüger ein Gespräch mit Doktoranden in Deutschland: „Einer berichtet, wie er in Jerusalem die Bekanntschaft eines alten ungarischen Juden machte, der Auschwitz überlebt hatte, und dieser Mann verfluchte die Araber und verachtete sie alle. Wie kann jemand, der aus Auschwitz kommt, so reden? fragt der Deutsche. Ich schalte mich ein und argumentiere, vielleicht etwas heftiger als nötig. Was hat er denn erwartet? Auschwitz war keine Lehranstalt … Man hat dort nichts gelernt, schon gar nicht Menschlichkeit und Toleranz. Aus den Konzentrationslagern kam nichts Gutes, höre ich mich sagen, und meine Stimme erhebt sich, und er erwartet eine Katharsis, eine Läuterung, etwas, wofür man ins Theater geht? Es waren die nutzlosesten und sinnlosesten Einrichtungen, die man sich vorstellen kann.“

    Vor einigen Jahren gab es in Deutschland eine Debatte darüber, was schlimmer war: der Holocaust oder der Kolonialismus? Ich meine, dass solch eine Debatte als zutiefst obszön zurückgewiesen werden muss. Der Holocaust war ein einzigartiges, schreckliches Mega-Verbrechen. Der Kolonialismus hat unvorstellbare Mengen an Tod und Leid verursacht. Der einzig richtige Weg, sich diesen Schrecken zu nähern, besteht darin, den Kampf gegen Antisemitismus und gegen Kolonialismus heute als Teile ein und desselben Kampfes zu betrachten. Wer die Einzigartigkeit des Holocausts relativiert, beleidigt die Opfer der Kolonisierung, und wer den Kolonialismus als das kleinere Übel abtut, beleidigt die Opfer des Holocaust, indem er ein jeweils unerhörtes Grauen als Druckmittel für geopolitische Spiele instrumentalisiert. Der Holocaust ist nicht ein Verbrechen in einer Reihe von Verbrechen, er war auf seine Weise einzigartig. Genauso wie die moderne Kolonisierung ein atemberaubender Horror war, der im Namen der Zivilisierung anderer getan wurde. Wir sprechen von unvergleichlichen Ungeheuerlichkeiten, die nicht auf bloße Beispiele reduziert werden können, um in politischen Debatten „verglichen“ und instrumentalisiert zu werden. Jedes von ihnen ist in gewisser Weise „absolut“ in seinem Bösen.

    Die Lektion, die wir hier ziehen müssen, ist eine tragische. Wir müssen uns von der Vorstellung verabschieden, dass extreme Erfahrungen etwas Emanzipatorisches haben, dass sie uns in die Lage versetzen, das Chaos zu beseitigen und unsere Augen für die letzte Wahrheit einer Situation zu öffnen. Das gilt auch für die Opfer des Hamas-Massakers, und das gilt auch für die unterdrückten Palästinenser. Es gibt keine Helden, keine „Guten“ in diesem Konflikt, auch wenn manche Linke sie sich gerne herbeifantasieren.
    https://kontrapolis.info/11580
    passiert am 26.10.2023

  • Auch ein Fall von Cancel-Culture: Die DDR-Literatur wird im Westen ignoriert
    https://www.freitag.de/autoren/markus-steinmayr/auch-ein-fall-von-cancel-culture-die-ddr-literatur-wird-im-westen-ignoriert

    Markus Steinmayr - Oschmann-Debatte Christa Wolf, Bruno Apitz, Heiner Müller: Auch die einst so gelobte DDR-Literatur wurde abgewickelt. Zeit für eine Anerkennung

    Dass etwas schief gelaufen ist mit der Überführung der DDR-Literatur in das gesamtdeutsche kulturelle Gedächtnis, merkt man, wenn man in Antiquariaten ist. Die Ost-Ausgabe der Werke Bertolt Brechts ist für wenig Geld zu haben, Anna Seghers wird verramscht. Nachdem die DDR-Germanistik als ideologisch abgestempelt und durch eine Art Gesinnungstreuhand abgewickelt worden ist, bekommt man heutzutage die äußerst verdienstvolle Geschichte der deutschen Literatur des „Autorenkollektivs“ fast geschenkt. Auch DDR-Ausgaben, wie die des Romantikers Joseph von Eichendorff oder des Aufklärers Gotthold Ephraim Lessing, bestechen durch philologische Genauigkeit und luzide Kommentare.

    Die großartigen Leistungen des Literaturbetriebs in der DDR und ihrer Wissenschaft sind heute größtenteils vergessen oder antiquarisch. Sie sind Nachrichten aus einem verschwundenen Land, aus einer scheinbar untergegangenen Kultur. Ich sage dies als Westdeutscher, der aufgrund eines großartigen Lehrers an einem westdeutschen Gymnasium recht früh mit Christa Wolf, Hermann Kant, Fritz Rudolf Fies, Bruno Apitz, Heiner Müller und vor allem mit den ostdeutschen Übersetzungen russischer Literatur in Berührung gekommen ist. Ostalgie ist bei mir daher rein literarisch und kulturell, manchmal auch ein bisschen politisch. Die Leipziger Buchmesse ist ein willkommener Anlass, an das Vergessene, Verdrängte, Gecancelte der DDR-Literatur und -kultur zu erinnern.

    Ordnung der Archive

    Dirk Oschmann hat von einer „Löschung des Textgedächtnisses“ der Deutschen Demokratischen Republik gesprochen. Dies ist ein Befund, keine Warnung. Oschmann hat vollkommen recht. Wer weiß heute noch, dass Bruno Apitz’ Nackt unter Wölfen genuine Literatur der DDR ist? Wer kennt noch Fritz Rudolf Fries’ Verlegung eines mittleren Reiches von 1984?

    Die apokalyptische Geschichte einer Welt nach dem Atomkrieg wird in Fragmenten und losen Aufzeichnungen erzählt, die Ebenen der Wirklichkeit ineinander verschachtelt, der Leser in Unruhe versetzt. Umbrüche sind eben auch Umbrüche in der Ordnung der Archive und der Rezeption. Ohne die Reverenz an Fries ist daher, um in der Gegenwart anzukommen, Uwe Tellkamps neues Buch, Der Schlaf in den Uhren, meines Erachtens nicht zu verstehen.

    Jüngst hat Clemens Meyer in seinem Buch über Christa Wolf noch einmal die DDR-Literatur als Referenzsystem seines Schreibens hervorgehoben. Es ist nicht nur ein Buch über Christa Wolf, sondern ein Buch über die vergessenen Autorinnen und Autoren der DDR-Literatur wie Werner Heiduczek, Erik Neutsch und andere. Meyer braucht dazu gar keinen Ost-West-Konflikt aufzumachen.

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    Nicht canceln

    Es wird sehr deutlich, dass sein Schreiben wesentlich mehr der Lektüre von Bräunig, Wolf, Schernikau, Fühmann und anderen verdankt, als westdeutsche Literaturwissenschaftler glauben, die ihn etwas vorschnell in klassistische Kategorien einordnen. Beide, Tellkamp und Meyer, machen in ihren Büchern deutlich, dass die Tradition „DDR-Literatur“ existiert, im Osten mehr als im Westen. Sie ist ein wesentlicher Bestandteil unserer gemeinsamen literarischen Tradition.

    Als solche muss sie anerkannt, sie darf nicht gecancelt werden. Sie verdient Respekt, vor allem von Westdeutschen, die sich in ihrer bildungsbürgerlichen oder identitätspolitischen Bubble eingerichtet haben. Ich wünsche mir für die zukünftige Auseinandersetzung mit der literarischen Tradition der DDR, dass ihr Eigenwert endlich anerkannt, dass der postkoloniale Status der ehemaligen DDR-Gebiete endlich gesehen wird.

    #Allemagne #DDR #littérature #lettres

  • Korruption in der Ukraine: Ein Risiko für die Demokratie in Europa
    https://www.freitag.de/autoren/gerd-meissner/korruption-in-der-ukraine-ein-risiko-fuer-die-demokratie-in-europa

    Gerd Meißner - Beunruhigende Lage Ein Krieg schwächt keine systemische Korruption ab – eher ist das Gegenteil der Fall. Seit Beginn des russischen Angriffskrieges in der Ukraine aber schweigen die EU-Institutionen zur dortigen Korruption

    Beunruhigende Nachrichten für ukrainische Journalisten und Mediennutzer – die Regierung in Kiew hat den Zugang zu frontnahen Regionen neu geregelt. Es gibt „gelbe Zonen“, in denen sich Korrespondenten nur noch begleitet von Presseoffizieren aufhalten dürfen, es gibt „rote Zonen“, aus denen gar nicht mehr berichtet werden kann. Dazu gehören die umkämpfte Stadt Bachmut und Teile der Region Cherson im Süden. Zudem forderte Kulturminister Oleksandr Tkatschenko, die Berichterstattung müsse in Kriegszeiten kontrolliert werden. Damit steht zu befürchten, dass es eine Mischung aus Zensur in der Ukraine und wohlwollender Parteilichkeit deutscher Medien weiter erschwert, ein objektives Bild vom Kriegsgeschehen zu erhalten. Vermutlich soll von Kiew aus die Berichterstattung über die angekündigte Offensive gelenkt werden.

    Was ohnehin auffällt, seit Beginn des russischen Angriffkrieges gegen die Ukraine haben sich EU-Institutionen ein Schweigegebot zur dortigen Korruption auferlegt. Wer sich dazu ein Bild verschaffen will, muss auf Analysen zurückgreifen, die vor Kriegsbeginn entstanden sind, etwa den Sonderbericht des Rechnungshofes der Europäischen Union vom September 2021 über die Bekämpfung der Großkorruption in der Ukraine. In dieser Bestandsaufnahme verwiesen die Autoren auf „informelle Verbindungen“ zwischen Amtsträgern der Regierung in Kiew, Abgeordneten und Mitarbeitern der Ermittlungsbehörden. Die EU habe dazu „keine konkrete Strategie entwickelt“, so die Erkenntnis.

    Kurz darauf zog die für das Kanzleramt tätige Stiftung Wissenschaft und Politik (SWP) ihr Fazit zur Korruption in der Ukraine. In der Studie SWP aktuell Nr. 63 konstatierte die Ukraine-Expertin Susan Stewart einen „Reformstau“. Es sei gerechtfertigt, so Stewart, „sich bei der Suche nach den Gründen“ für diese Lage „vor allem auf den Präsidenten und seine Entourage zu konzentrieren“. Wolodymyr Selenskyj sei es „gelungen, während seiner Amtszeit die eigene Macht und die des Präsidentenbüros ständig auszubauen“. Er habe, sagt die Studie, „Gefolgsleute in Schlüsselpositionen gebracht“ und im Ergebnis „die Rolle von Institutionen in der Ukraine weiter geschwächt“.

    Ebenfalls im Oktober 2021 dokumentierten die von mehreren westlichen Blättern, darunter der Süddeutschen Zeitung, veröffentlichten „Pandora Papers“, dass der begnadete Rhetoriker Selenskyj als Korruptionsbekämpfer nicht überzeugen könne. Den „Papieren“ war zu entnehmen, dass dieser auf den britischen Virgin Islands, in Belize und Zypern Millionen US-Dollar auf Offshore-Konten platziert hatte. Dem Vernehmen nach handelte es sich um Einnahmen aus seinem Fernseh-Serienprogramm Quartal 95.

    Westen und Stiefel

    Zu intensive Verflechtungen mit den Machtstrukturen in Kiew bergen die Gefahr einer schrittweisen Ukrainisierung im Westen. Das Spektrum der Risiken für die europäischen Demokratien reicht dabei von überschwappender Korruption und Geldwäsche bis zum Einsatz von Söldnern aus Europa im Ukrainekrieg. In einem Papier der Deutschen Gesellschaft für Auswärtige Politik (DGAP) warnt Miriam Katharina Hess, Expertin für Sicherheitspolitik, dass deutsche Kombattanten in der „internationalen Legion“ zu einem Problem für die Bundesrepublik werden könnten. Deutsche, so Hess, seien bereits in diesem Verband präsent, der mehrere Tausend Personen aus 50 Ländern zähle. Von russischen Truppen gefangene Deutsche könnten von Moskau als Terroristen betrachtet und durchaus als Druckmittel benutzt werden.

    Was Hess nicht schreibt: Schon jetzt ziehen die Gefechte in der Ukraine deutsche Neonazis und Wehrmachts-Nostalgiker an. Eine der militantesten Gruppierungen dabei ist die etwa 650 Mitglieder zählende Partei Der Dritte Weg, die Kontakte zum von ukrainischen Rechtsextremisten gegründeten Asow-Regiment unterhält. Parole: „Nationalisten helfen Nationalisten“. Es gelte, so die Kleinpartei, der „ukrainischen Bewegung“ beizustehen gegen den „russischen Imperialismus“ und „die Wiederherstellung einer Sowjetunion“. Auf seiner Website rühmt sich Der Dritte Weg, Schutzwesten und Kampfstiefel an die „Kameraden“ von Asow geschickt zu haben. Wie viele deutsche Beine in den Kampfstiefeln stecken, wird nicht verraten.

    #Ukraine #Europe #guerre #corruption

  • Indien ǀ Die drinnen und die draußen
    https://www.freitag.de/autoren/tobias-kuttler/die-drinnen-und-die-draussen

    Indien Unter Corona eskaliert in Mumbai der Kampf um die Öffentlichkeit: Wer kann, schließt sich in Gated Communities ein. Wer übrig bleibt, gilt als dreckig und gefährlich

    Leere Straßen und Plätze von Lima bis Johannesburg, von Mailand bis Mumbai. Es sind es drastische Bilder, die uns aus vielen Teilen der Welt erreichen. Alle Menschen bleiben zuhause, scheint es. Erst auf den zweiten Blick offenbart die Corona-Krise die sozialen Unterschiede hinter den Bildern: Während die Wohnverhältnisse der städtischen Eliten und Mittelschichten einen Rückzug in die eigenen vier Wände ermöglichen, treffen die Ausgangssperren die städtischen Armen und Marginalisierten völlig unvorbereitet. Kaum irgendwo wird diese Krise des öffentlichen Raums deutlicher als in den Großstädten den globalen Südens.

    In Indien gilt nun vorerst eine Ausgangssperre für 21 Tage. Der Eisenbahnverkehr wurde landesweit eingestellt und auch der städtische öffentliche Nahverkehr ist weitestgehend zum Erliegen gekommen. Die städtischen Armen befinden sich in einer Notsituation, noch bevor die Corona-bedingte Krankheitswelle richtig begonnen hat.

    Für all diejenigen, die auch schon bisher hauptsächlich digital gearbeitet haben und virtuell vernetzt sind, bedeutet der Umzug an den häuslichen Schreibtisch lediglich die Fortführung einer routinierten Praxis. Sie haben ihren heimischen Arbeitsplatz schon lange krisenfest gemacht – für die Belastungen durch den hochflexiblen Arbeitsalltag. Für die vielen Selbständigen der Gig-Economy ist diese Art der Arbeit schon lange Realität und Teil ihrer Selbstausbeutung. Gleichzeitig zeigt die schnelle Umsetzung dieses Rückzugs, wie zurückgezogen und ungestört die Wohnsituation der globalen Eliten und Mittelschichten inzwischen ist.
    Räumlicher Ausdruck dieser Zurückgezogenheit ist das Wohnen in abgetrennten, zugangsbeschränkten Wohngebieten, den Gated Communities. Diese Wohnform erfreut sich global großer Beliebtheit: Anfang des Jahrtausends lebten allein in den USA etwa 32 Millionen Menschen in solchen Siedlungen, Tendenz weiter steigend. Seit der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts ist die bewachte und kontrollierte Wohnsiedlung ein Charakteristikum nicht nur der US-amerikanischen Metropolen.
    Vor Corona geschützt in der Gated Community

    In Mumbai, der wohlhabendsten Stadt Indiens und gleichzeitig eine der am dichtesten besiedelten Städte der Welt, lebt etwa die Hälfte der Stadtbevölkerung in Slums. Auch hier ist es für die höheren Einkommensschichten erstrebenswert, in von der Außenwelt weitest gehend abgeschotteten Wohnanlagen zu leben. Viele dieser Siedlungen sind in Form von privat initiierten Wohnkooperativen organisiert, wovon es in Mumbai über 100.000 geben soll. Diese Gebiete sind ausgestattet mit exklusiver, privater Versorgungsinfrastruktur, welche eine Strom- und Wasserversorgung rund um die Uhr garantiert – ein Privileg in Indien, das die Bewohner*innen weitgehend unabhängig macht von der volatilen öffentlichen Versorgung, der Wasserknappheit im Sommer und den regelmäßigen Stromausfällen. Die Mobilität ist durch den Besitz eines eigenen Autos gesichert. Auch aufgrund des Verkehrskollapses haben gutverdienende Selbständige ihren Arbeitsplatz längst in die eigene (geräumige) Wohnung verlegt. Sie verlassen die eigene Wohnung nur noch selten, immer häufiger auch mit einem Fahrdienst wie Uber, um die Fahrtzeit zum Arbeiten oder Schlafen nutzen zu können.

    Die Eingangstore dieser Siedlungen sind in der Regel durchlässig, die Kontrollen der Sicherheitsdienste nicht konsequent. Doch in der Corona-Krise haben die Bewohner*innen die Mauern, Tore und Schranken dieser Wohngebiete zur Demarkationslinie im Kampf gegen das Virus erklärt. Ganze Wohnanlagen schotten sich ab, die Einlasskontrollen sind nun streng. Angestellte, die in den Mittelschichtshaushalten die alltäglichen Arbeiten verrichten – in der Regel Frauen –, werden nun entlassen oder in den Zwangsurlaub geschickt. Mitarbeiter von Lieferdiensten werden davon abgehalten, Familien mit Corona-Verdachtsfällen zu beliefern. Zuletzt wurden Fälle von Ärzt*innen und Pfleger*innen bekannt, die von ihren Vermietern und Nachbarn nicht mehr in ihre Wohnungen gelassen werden. Eine Bewohnerin schreibt in einem Facebook-Post: „Ich wohne in einer Mittelschichts-Wohnkooperative in Mumbai. Der Begriff „kooperativ“ ist natürlich ein Witz, denn hier kooperiert niemand. Die jetzige Krise offenbart die schlimmste Seite der Mittelschichten in diesem Land“.

    Moderne Schlafgänger ohne Raum

    Außerhalb dieser Mauern spielt sich das wahre Drama dieser Tage ab. In den chawls, den einfachen Mietwohnungen in dicht besiedelten Wohnvierteln, und informellen Siedlungen wohnen die Hausangestellten, Taxifahrer und Gemüseverkäufer*innen. Große Familien teilen sich meist ein Zimmer mit Küchenzeile. Die Enge und fehlende Privatsphäre ist eine Herausforderung. Oftmals gibt es in diesen Vierteln Gemeinschaftstoiletten, wenn diese aber fehlen oder nicht benutzbar sind, müssen sich die Bewohner*innen im Freien waschen und erleichtern. Dann steigt insbesondere für Frauen die Gefahr, Opfer von Krankheiten und Gewalt zu werden. Für einen Großteil der Menschen in Mumbai ist somit der Alltag schon ohne Corona der permanente, normalisierte Ausnahmezustand.

    Die jeden Tag aufs Neue mühsam erarbeitete Normalität gerät nun ins Wanken. Die Räumlichkeiten in den dicht besiedelten Vierteln sind nicht darauf ausgerichtet, dass sich eine gesamte Familie über viele Tage hinweg in Ihnen gemeinsam aufhalten kann. Viele Arbeiter*innen wollen daher zurzeit lieber zur Arbeit gehen, als unter diesen Umständen zu Hause sein zu müssen.

    Für viele Arbeitsmigrant*innen, die nach Mumbai und andere Großstädte gekommen sind, stellt sich die Situation jetzt besonders schwierig dar. Für sie ist mit Eintreten der Ausgangsperre das komplette Wohnarrangement zusammengebrochen. Gerade in den Großstädten sind vor allem junge Männer „moderne Schlafgänger“: Zehn oder mehr Personen teilen sich ein Zimmer, in denen sie abwechselnd schlafen. So kann ein Großteil des Verdiensts nach Hause in die Dörfer transferiert werden. Diese rotierenden Systeme sind unter Industrie- und Schichtarbeiter im Großraum Chennai ebenso zu finden wie in Mumbai unter jungen Fahrern von Fahrdiensten wie Uber. Während der eine tagsüber das Auto fährt, schläft der Zimmerkollege und nachts umgekehrt. Da die Taxi- und Fahrdienste nun ihren Betrieb eigestellt haben, funktioniert das Schlafsystem nicht mehr.

    Umkämpfte Öffentlichkeit

    Viele Fahrer und andere Arbeitsmigrant*innen verlassen die Städte nun in Richtung ihrer Heimatdörfer: Mit dem Zug, solange die Züge noch fuhren; seit dem der Zugbetrieb landesweit eingestellt ist, haben sich viele zu Fuß auf die weite Reise gemacht. In Indien sind Zehntausende Arbeitsmigrant*innen an den Bahnhöfen und Busbahnhöfen der Städte gestrandet. Die Solidarität mit Menschen, die nun auf den Straßen zurückbleiben, ist groß. Viele Staaten stellen – mit Verspätung – finanzielle Mittel und Unterkünfte für die Notversorgung bereit. Doch die Videoaufnahmen von Polizisten, die Arbeitsmigranten auf ihrem Weg in die Dörfer demütigen und misshandeln, zeigen gleichzeitig, welche Verachtung ihnen in der Gesellschaft weiterhin entgegenschlägt.

    Der öffentliche Raum ist in den Städten ständig umkämpft: nicht nur der Zugang und die Nutzungen, sondern auch die Bedeutung und die Interpretation desselben. Gerade unter Menschen, die sich stark zurückziehen, ist die Furcht vor dem öffentlichen Raum am stärksten. Wenn der öffentliche Raum als unsicher, unrein oder unwegsam wahrgenommen wird, so wirken auch Personen oder Gruppen, die sich dort aufhalten, als Gefahr – wenn nicht als persönliche, dann doch zumindest als eine Gefahr für die öffentliche Ordnung. Die vielerorts vertretene „Null-Toleranz“-Politik gegenüber „Störungen“ im öffentlichen Raum, wie sie vor allem in den USA anzutreffen ist, fällt dabei nicht zufällig mit weitverbreiteten neoliberalen Stadtentwicklungspolitiken zusammen.

    Seitdem große Städte Ende der 1980er Jahre noch stärker Dreh- und Angelpunkte des globalen Kapitals geworden sind, stehen sie im weltweiten Wettbewerb um Investitionen und die gutgebildete Mittelschicht in Konkurrenz zueinander. Attraktive Innenstädte und „Lebensqualität“ sollen das Image der Stadt bestimmen, für Verlierer ist in solchen Städten – im wahrsten Sinne des Wortes – kein Platz. In Bezug auf die USA nannte der Geograph und Stadtforscher Neil Smith die derart neuausgerichtete Stadt die „revanchistische Stadt“.
    Neoliberale Städte in der Krise

    Auch in Mumbai hat sich – angelehnt an westliche Vorbilder und unter dem Druck der internationalen Geldgeber – seit den 1990er Jahren eine neoliberale Stadtpolitik durchgesetzt. Die schon zuvor grassierende Vertreibung und Entrechtung der urbanen Armen und Marginalisierten wurde unter neuen Vorzeichen ungemindert fortgeführt. Diejenigen, die wichtige Grundfunktionen in der Stadt aufrecht erhalten, z.B. Straßenhändler*innen, Rikscha-Fahrer und Müllsammler*innen sind regelmäßige Ziele dieser Politik.

    Die Mittelschichten sind sich mit den staatlichen Einrichtungen, welche in vielen Städten die „Säuberung“ der öffentlichen Räume vorantreiben, weitestgehend einig. Denn je mehr Personen in isolierten Wohnvierteln leben, desto mehr ist der öffentliche Raum als Ort derjenigen stigmatisiert, die es nicht geschafft haben, auf der sozialen und ökonomischen Leiter nach oben zu klettern.

    Der derart negativ behaftete Raum spielt eine wichtige Rolle in der Corona-Krise. Dort, wo gerade strenge Ausgangssperren durchgesetzt werden, sind alle, die sich im öffentlichen Raum aufhalten, Sonderfälle: Entweder „systemrelevant“, besonders privilegiert, oder besonders marginalisiert. Marginalisiert sind diejenigen, die kein Zuhause haben, sich auf Grund körperlicher Beeinträchtigungen nicht auf den Weg nach Hause machen können und keine Notunterkunft finden.

    In den Großstädten des globalen Südens ruft jeder neue Tag unvorhergesehene Krisen hervor. Jahrzehnte neoliberaler Stadtpolitik haben Städte zu Orten gemacht, an denen überwiegend die Bedürfnisse der Eliten und höheren Mittelschichten zählen. Gerät das fragile (Un-)Gleichgewicht des neoliberalen Konsenses nun durch Corona ins Wanken? Und öffnet sich jetzt möglicherweise ein Fenster für eine erstarkte Recht-auf-Stadt Bewegung? Diese Fragen erscheinen angesichts der noch bevorstehenden gesundheitlichen Katastrophe in den Städten des globalen Südens beinahe zynisch. Die Folgen für die städtischen Armen und Ausgegrenzten werden verheerend sein. Eine Rückkehr zu den Zuständen vor Corona wird es nicht geben.

    Tobias Kuttler forscht an der TU Berlin zu Mobilität und sozialer Benachteiligung in Europa. Zudem forscht und arbeitet er seit 10 Jahren in Indien, derzeit promoviert er an der TU München über den Wandel des Taxisektors und die Situation der Uber-Fahrer in Mumbai

    Tobias Kuttler - Chair of Urban Structure and Transport Planning
    https://www.mos.ed.tum.de/en/sv/mobillab-doctoral-research-group/doctoral-researchers/tobias-kuttler

    Chair of Urban Structure and Transport Planning
    TUM School of Engineering and Design
    Technical University of Munich

    mobil.LAB Fellow
    Funded by the Hans-Böckler Foundation
    Phone: +49.89.289.10455
    Email: tobias.kuttler[at]tum.de

    Research Focus:
    Urban and transportation development in the global south
    Urban theory, postcolonial theory
    Urban anthropology

    PhD Project Description
    Negotiating Spaces of Mobility - Rise and Contestation of the Uber Model in Mumbai

    The introduction of platform-based mobility services in cities of South Asia (e.g. Uber) not only changed the mobility systems of these cities, but also created a new precarious field of employment. In Mumbai, the taxi sector has already been undergoing profound changes since 2006, when the city authorities started to promote its modernization (Bedi 2016). My dissertation deals with the questions how the new business model and the algorithms of the platforms change practices and the profession of taxi driving, and whether and how drivers accept or resist these changes. To investigate these questions, I explore everyday lives and biographies of Uber drivers as well as drivers of conventional black-and-yellow taxis (Kaali Peelis).

    The Uber model is predominantly understood as a global model that is implemented in a top-down manner in cities and is “disruptive” to traditional taxis. However, when taxi driving is understood from the operators’ perspective, it becomes visible that taxi driving is deeply embedded in the urban fabric and history of Mumbai. Both “old“ and “new” forms of taxi driving are intimately connected with social and political dynamics that characterize the city, and function on similar networks of people and places. Furthermore, taxi operations have been dominated by networks of migrants to the city for decades and continue to do so in times of the digital mobility platforms.

    I argue that the investigation of taxi driving allows comprehending Mumbai’s pathway of urban development and its contestations from a different vantage point. Furthermore I argue that in the process of transformation in the taxi sector, existing vulnerabilities and insecurities of drivers of all forms of taxis are reproduced and even reinforced. In this context it is observed that the new generation of app-based cab drivers is bared from securing and stabilising their lives and futures, which is in contrast to many veteran drivers of conventional taxis, who have succeeded in stabilizing their lives and maintain in control of their everyday work life.

    My dissertation is based on fieldwork in Mumbai in 2019 and beginning of 2020. Conceptually, my PhD project tries to link relational urban theory with mobilities theory, highlighting that urban space is produced by different overlapping and intertwined mobilities and immobilities.

    CV
    Since 3/2018
    PhD fellow at the mobil.LAB Doctoral Research Group funded by the Hans Böckler Foundation

    Since 7/2016
    Research Associate at Berlin University of Technology, Department of Work and Technology, Mobilities Research Cluster

    7/2016 – 12/2017
    Research Associate at nexus Institute for Cooperation Management and Interdisciplinary Research, Berlin

    7/2015 – 3/2016
    Freelancer in the project “EcoMobility World Festival 2015” in Johannesburg, South Africa, organized by ICLEI - Local Governments for Sustainability and the City of Johannesburg.

    3/2015 – 7/2015
    Research stay at Indo-German Centre for Sustainability, Department of Humanities and Social Sciences, Indian Institute or Technology Madras, Chennai, India.

    2/2014 – 12/2014
    Student assistant at Technical University Berlin, Department of Work and Technology, in the project “Forschungscampus EUREF – Mobility2Grid”

    08/2012 – 02/2013
    Internship at ICLEI - Local Governments for Sustainability within the “EcoMobility World Festival 2013” in Suwon, South Korea

    08/2012 – 02/2013
    Internship and research visit in Hyderabad, Andhra Pradesh, India within the Megacities Project “Sustainable Hyderabad“ funded by the German Federal Ministry of Education and Research (BMBF)

    07/2010 – 06/2012
    Student assistant at Centre for Innovation in Mobility and Societal Change (InnoZ), work program Green Mobility, Berlin, Germany

    2010 – 2016
    Studies of Urban and Regional Planning in Master`s degree program, Technical University Berlin, Germany

    02/2008 – 04/2008
    Internship at German Aerospace Center, Institute of Transport Research, Department of Commercial Transport, Berlin, Germany

    2006 – 2010
    Studies of Geography and European Ethnology in Bachelor`s degree program (Bachelor of Arts), Humboldt University Berlin, Germany
    Publications

    Kuttler, T. and M. Moraglio (eds.) (2020; forthcoming): Re-thinking Mobility Poverty. Understanding User´s Geographies, Backgrounds and Aptitudes. Routledge.

    Kuttler, T. (2020; forthcoming): Disruptions and continuities in taxi driving - the case of Mumbai. In: Follmann, A.; Falk, G. (2020): Aktuelle Forschungsbeiträge zu Südasien. Geographien Südasien 12. 10. Jahrestagung des AK Südasien, 24./25. Januar 2020, Freiburg im Breisgau.

    Villeneuve, D., D. Durán-Rodas, A. Ferri, T. Kuttler, J. Magelund, M. Mögele, L. Nitschke, E. Servou, and C. Silva. (2019) What is Interdisciplinarity in Practice? Critical Reflections on Doing Mobility Research in an Intended Interdisciplinary Doctoral Research Group. Sustainability 2020, 12(1), 197.

    Kuttler, T., M. Moraglio, S. Bosetti, C. Chiffi, P. van Egmond, and D. Grandsart. (2019): Mobility in prioritised areas: inputs from the final users. Project Deliverable 2.2. H2020 HiReach - High reach innovative mobility solutions to cope with transport poverty.

    Kuttler, T., M. Moraglio, V. Reis, A. Freitas, D. Carvalho, S. Castelo, P. Santos, S. Bosetti, C. Chiffi, S. Maffi, P. Malgieri, A. Selan, and D. Grandsart (2018): Mobility in prioritised areas: mapping the field. Project Deliverable 2.1. H2020 HiReach - High reach innovative mobility solutions to cope with transport poverty.

    Döge, N., C. Hegel, A. Jain, and T. Kuttler (2018): Das Dörpsmobil – Ein Modell fürs E-Carsharing im ländlichen Raum. In: PLANERIN 3/2018, 41-43

    Contributions to: Otto-Zimmermann, K., C. Liao, B. Chiu (2018): Going Green. Experiencing the Ecomobile Lifestyle. Berlin: Jovis Verlag. More: www.jovis.de/en/books/details/product/going_green_experiencing_the_ecomobile_lifestyle.html

    Kuttler, T
    ., Otto-Zimmermann, K., and T. Zimmermann (2016): Change the way you move. A central business district goes ecomobile. Jovis Verlag Berlin. More: www.jovis.de/en/books/change-the-way-you-move.html

    Kuttler, T
    . and A. Jain (2015): Defending space in a changing urban landscape – A study on urban commons in Hyderabad, India. In: Dellenbaugh, M., et al. (ed.): Urban Commons: Moving Beyond State and Market. Vol. 154. Birkhäuser, 2015. More: www.degruyter.com/dg/viewbook/product$002f430778

    Contributions to: Otto-Zimmermann, K. and Y. Park (ed., 2015): Neighborhood in Motion - One neighborhood, one month, no cars. Berlin: Jovis Verlag. More: www.jovis.de/de/buecher/details/neighborhood-in-motion.html

    Jain, A. and T. Kuttler
    (2014): Local Action in and on Urban Open Spaces of Hyderabad. In: Schinkel, U., Schröder, S., Jain, A., (ed.): Local Action and Participation. Lessons Learned from Participatory Projects and Action Research in Future Megacities. Buchreihe Future Megacities Volume 4, Berlin. More: www.jovis.de/de/buecher/future-megacities-4.html

    Kramer, S., C. Hoffmann, T. Kuttler,
    and M. Hendzlik (2013): Electric Car Sharing as an Integrated Part of Public Transport: Customers’ Needs and Experience. In: Hülsmann, M., Fornahl, D. (Hrsg.): Evolutionary Paths Towards the Mobility Patterns of the Future. Berlin Heidelberg, Springer Verlag: More: link.springer.com/chapter/10.1007%2F978-3-642-37558-3_7

    Hoffmann, C., A. Graff, S. Kramer, T. Kuttler,
    M. Hendzlik, C. Scherf, and F. Wolter (2012): Bewertung integrierter Mobilitätsdienste mit Elektrofahrzeugen aus Nutzerperspektive. Results of the project BeMobility–Berlin elektroMobil. InnoZ Baustein, 11. Download here: www.innoz.de/sites/default/files/11_innoz-baustein.pdf

    Weiß, J., A. Neumann, S. Kramer, M. Bost, and T. Kuttler
    (2011): Erneuerbare Energien im Verkehr in Berlin-Brandenburg. Institut für ökologische Wirtschaftsforschung (IÖW), Berlin, 2011. Download here: www.ioew.de/uploads/tx_ukioewdb/Erneuerbare_Energien_im_Verkehr_in_Berlin-Brandenburg.pdf

    Dijks, S., F.-J. Grafe, M. Hampel, J. Jarass, T. Kuttler
    , M. Thylmann and T. Zimmermann (2011): Generation Nachhaltigkeit: Wann, wenn nicht wir? Conference proceedings 2011, Berlin, Geography Department of Humboldt University Berlin. Download here: www.projekte.hu-berlin.de/de/sustainability/flagship-activities/hsk-sustainability/hsk_II/tagungsband
    Voluntary Activities

    Member of Habitat Forum Berlin, http://habitat-forum-berlin.de
    Member of sub\urban e.V., https://zeitschrift-suburban.de
    Member of The Vereinte Dienstleistungsgewerkschaft ver.di

    #Taxi #Uber #Indien #Mumbai #Bombay #Forschung #Wissenschaft

  • Abgesackter U-Bahn-Tunnel in Berlin: Für die U2 ist eine Helmpflicht geplant
    https://www.freitag.de/autoren/susanne-berkenheger/verkehrswende-push-und-pull-und-pendlerglueck

    Alles nicht so ernst gemeint? Es steht zu befüchten, daß die Realität bald die Parodie an Absurdität überbietet.

    13.2.2023 von Susanne Berkenheger - Meinung Der Chef der Jelbi-App will das Pendlerdasein revolutionieren: Den Fahrgästen der Berliner Verkehrsbetriebe ein bisschen Angst zu machen, ist dabei noch nicht einmal seine beste Idee

    Lesen Sie schon heute die Zeitung von morgen – zum Beispiel dieses Interview mit Jelbi-Chef Jakob Michael Heider, das ich noch gar nicht geführt habe, vermutlich auch nie führen werde, da es jetzt ja bereits veröffentlicht ist:

    Herr Heider, neulich las ich auf Twitter: „Ich check dieses Jelbi nicht xD Was ist das?“ Checken Sie Jelbi?

    Heider: Ja klar! Über die Jelbi-App der BVG kann ich nicht nur einen Fahrschein kaufen, sondern mittlerweile 60.000 Fahrzeuge buchen: Fahrräder, E-Scooter, E-Roller, E-Bikes, Autos, bald auch Flugzeuge, U-Boote, Heißluftbal...

    Nutzt das denn jemand?

    Heider: Manche schon! Andere kämpfen noch mit erlernter Hilfslosigkeit. Klar, wenn ich mich jahrelang von der BVG rumkutschieren lasse, verlerne ich irgendwann, selbst Verantwortung für mein Fortkommen zu übernehmen. Klappt dann etwas nicht, lungere ich meckernd und zeternd an der Station, anstatt aktiv zu werden. Diese Anspruchshaltung macht uns in Berlin viele Probleme.

    Der US-Nachrichtenagentur Bloomberg sagten Sie Anfang des Jahres, hier brauche es eine klare „Nudging“-Strategie. Mit einem „ganzheitlichen Ansatz aus Pull- und Push-Maßnahmen“ wollen Sie die Berliner anstupsen. Was kommt da auf uns zu?

    Heider: Derzeit arbeiten wir vor allem an den Push-Maßnahmen. Dazu zählen: Liniensperrungen, Pendelverkehre, Signalstörungen, Störungen im Betriebsablauf, polizeiliche Ermittlungen, Personen im Gleis und so weiter. All das aktiviert Fahrgäste, ihre Komfortzone zu verlassen und zu überlegen: Wie komme ich jetzt weiter? Bei einer Testaktion letztes Jahr in Weißensee haben wir den Schienenersatzverkehr zum großen Teil auf E-Scooter umgestellt. Die Erfahrungen waren so gut, dass wir auf Ersatzbusse bald komplett verzichten. Für Unsichere ist ein begleitetes Scootern in der Gruppe angedacht. Außerdem motivieren wir Fahrgäste, indem wir Umfahrungsmöglichkeiten mit U-Bahnen vorschlagen, die gar nicht in der Nähe fahren. Zum Beispiel: Senefelder Platz, man hört die Durchsage: Bitte nutzen Sie die U6 zur Umfahrung. Aber: Wo fährt die denn? Das sind so Lernsituationen, in denen Fahrgäste herausgefordert werden. Und die Klügsten kommen dann drauf: Klar, Jelbi! Ich traue mich einfach mal und nehme einen Jelbi-Roller, um zur U6 zu gelangen. Für die U2 ist eine Helmpflicht geplant. Fahrgästen soll klar werden: Okay, trotz des abgesackten Tunnels läuft der Pendelverkehr, aber so richtig sicher ist es vielleicht doch nicht. Lass uns lieber ein Jelbi-Leihauto nehmen!

    Was ist Ihr langfristiges Ziel? Soll keiner mehr mit den Öffis fahren?

    Heider: Im Gegenteil. Der gesamte ÖPNV gehört in die Hände der Fahrgäste. Angenommen, Sie wollen in der nahen Zukunft von der Schönhauser Allee zum Bundesplatz fahren, dann leihen Sie sich eine S42 zum Selbststeuern. Wir tüfteln gerade noch aus, wie wir Zubuchungen regeln und ob Selbstfahrende den Fahrpreis für Mitfahrende festlegen dürfen. Das könnte lukrativ werden: Sagen wir, Sie zahlen zwölf Euro Leihgebühr für die S42, nehmen noch einige hundert Zugebuchte mit, und am Bundesplatz lassen Sie die Bahn einfach stehen. Das ist doch ein super Angebot! Wenn alles glattläuft, wartet hier schon jemand mit einer Anschlussbuchung. Falls nicht, kommt es eben zu einer kleinen Störung im Betriebsablauf. Alles wie gehabt. Unser Fehler ist das dann aber nicht mehr. Natürlich werden für das Fahren unserer Flotte die entsprechenden Fahrerlaubnisse benötigt. Deshalb rate ich allen ÖPNV-Nutzern: Bringen Sie Ihre Führerscheine auf den neuesten Stand: Lernen Sie bei uns das Bus-, Tram-, S- und U-Bahn-Fahren. Damit Sie auch in Zukunft gut durchkommen.

    #Berlin #Verkehr #Disruption #Parodie #U-Bahn #S-Bahn #BVG

  • Jeremy Osborne: „Habe mich in keiner Stadt so unsicher gefühlt wie in Berlin“
    https://www.freitag.de/autoren/the-guardian/jeremy-osborne-habe-mich-in-keiner-stadt-so-unsicher-gefuehlt-wie-in-berlin

    Da haben wir einen guten Grund zum Autofahren in Berlin: Es sind die Menschen, dumme, brutale und gelegentlich noch dazu rassistische Berliner. Es gibt zu viele von ihnen und diese besonders unangenehmen Exemplare echter Hauptstadtkultur konzentrieren sich dort, wo wir alle uns häufig aufhalten, in Bussen und Bahnen.

    Eigentlich ist es eine schöne Vorstellung, sich sehr preiswert mit Bus und Bahn überall hinbegeben zu können, rund um die Uhr. Doch der Druck im Hauptstadtkessel steigt seit Jahrzehnten und in den letzten Jahren gefühlt exponentiell an. Dadurch hat die Gefahr, Zielscheibe von körperlichen Angriffen zu werden, ein Ausmaß erreicht, das sogar für manch jungen Mensch und erst recht alle, die nicht in Form für eine ordentliche Klopperei sind, einen guten Grund für den Umstieg in den Individualverkehr darstellt.

    Dafür gibt es drei Möglichkeiten, die sich gut miteinander kombinieren lassen.

    Völlig indiskutabel sind die Plattformen für Mietwagen mit Fahrer. Lohndumping und Zerstörung von Normalarbeitsverhältnissen wollen wir nicht. Das erhöht den Druck im Kessel.

    1. Wir können selber fahren, mit dem eigenen Auto oder Motorrad, es gibt Kurzzeitmietangebote für Autos und Zweiräder.

    2. Wenn wir weder Einkäufe noch Ausrüstung mit uns führen, ist das Fahrrad gemietet oder nicht ein gutes Transportmittel.

    3. Immer wenn es darum geht, bequem von Tür zu Tür zu kommen, mit Gepäck, ohne Parkplatzsuche, Knöllchenstreß und Auseinandersetzung mit dem Verkehrschaos, bei Sauwetter und vor herausfordernden Terminen, lohnt sich die Fahrt mit dem Taxi.

    Alles zusammen kostet monatlich zwischen 300 und 1000 Euro, womit klar sein dürfte, wer weiter auf die ÖPNV-Fresse kriegt: Das arme Schwein, dem das teuer vorkommt. Berlin wird mit Gewalt zur Stadt der Wohlhabenden gemacht.

    Wirksamer Abhilfe stehen Bundesgesetze im Weg, in erster Linie ein Rechtsrahmen, der die Erfüllung von Grundbedürfnissen wie Essen, Wohnen, Fortbewegung und Kleidung vollständig dem Markt, also der Kontrolle der Reichen überläßt.

    „Taxi für alle“ lautet deshalb die Losung des Tages.

    24.5.2022 von Philip Oltermann - Rassismus Der Opernsänger Jeremy Osborne verklagt die Berliner Verkehrsbetriebe BVG wegen Rassismus. Grundlage ist das neue Antidiskriminierungsgesetz. Die BVG weist die Verantwortung für den Vorfall bei einer Ticketkontrolle von sich

    Ein Berliner Ticket-Kontrolleur schlängelt sich in einer gut besetzten U-Bahn an einer Gruppe von typischen Punkern, an mexikanischen Mariachi-Bandmusikern und stämmigen Männern in Lederkluft vorbei und singt dabei unentwegt fröhlich vor sich hin: „Is’ mir egal“. Die Werbung mit dem türkisch-deutschen Rapper Kazim Akboga von 2015, der damals in Neukölln lebte, war ein großer Marketing-Erfolg für die Berliner Verkehrsbetriebe: Wenn ihr mit unseren U-Bahnen, Straßenbahnen und Bussen fahrt, so die Botschaft der BVG, könnt ihr sein, wer oder was immer ihr wollt – solange ihr daran denkt, ein Ticket zu kaufen.

    Jeremy Osbornes Erfahrung mit Berliner Ticket-Kontrolleuren ist weniger angenehm. Der Opernsänger mit doppelter deutscher und US-amerikanischer Staatsbürgerschaft ist einer von mehreren People of Colour, die sagen, sie seien von Kontrolleuren herausgepickt und körperlich misshandelt worden - im öffentlichen Nahverkehrssystem einer Stadt, die sich nach außen hin stolz auf ihre Diversität und ihre gesellschaftliche Offenheit zeigt.

    Osborne verklagt derzeit die öffentlich-rechtlichen Berliner Verkehrsbetriebe wegen Diskriminierung. Bei dem für Deutschland richtungsweisenden Fall geht es um einen Vorfall im Oktober 2020. Gegen sieben Uhr abends war Osborne in der U-Bahnlinie U2 zwischen Spittelmarkt und Hausvogteiplatz unterwegs, als vier Kontrolleure in Zivilkleidung in den Wagen stiegen. In der Berliner U-Bahn gibt es keine Ticket-Barrieren. Laut BVG können sie aus Feuer- und Denkmalschutzgründen nicht installiert werden. Stattdessen werden die Papierfahrscheine und digitalen Tickets von 170 in der Stadt herumfahrenden Kontrolleuren stichprobenartig kontrolliert.

    Ein Viertel der Kontrolleure sind bei der BVG angestellt und tragen Uniform. Die Anderen arbeiten für zwei private Subunternehmer und waren lange alle in Zivilkleidung unterwegs. Erst im vergangenen November haben sie damit begonnen, blaue Uniformen zu tragen. Als Osborne einen der Kontrolleure aufforderte, ihm einen Beweis dafür zu zeigen, dass er wirklich berechtigt ist, das Jahresticket zu sehen, das er in seinem Portemonnaie steckte, wurde die Sache unangenehm.
    „Kontrolleure glauben, sie hätten die Freiheit, einen nach Belieben zu schikanieren“

    Eineinhalb Jahre später präsentierte das BVG-Subunternehmen einen Bericht, der teilweise nicht mit dem Polizeibericht übereinstimmt, der direkt nach dem Vorfall verfasst wurde. In dem neueren Bericht hieß es, der Passagier habe die Kontrolleure provoziert, indem er sein Ticket „sehr langsam“ gezeigt und sie als „Ausländer“ beschimpft hätte (drei der vier Kontrolleure hatten die türkische Staatsangehörigkeit). Osborne, der damals die deutsche Staatsangehörigkeit noch nicht hatte, bestreitet diese Vorwürfe.

    Nach Angaben des in Arkansas geborenen Sängers schnappten die Kontrolleure sich seinen Pass und zwangen ihn auszusteigen. Auf dem Bahnsteig sagte einer zu ihm: „Black Lives Matter ist nur ein Ausrede“, und ein anderer stieß ihn so auf eine Metallbank, dass er Schrammen an Unterarm und Oberschenkel davontrug, die im Krankenhaus behandelt werden mussten. „Ich habe in Baltimore, New York, Nizza und Wien gelebt, aber in keiner Stadt habe ich mich im öffentlichen Nahverkehr so unsicher gefühlt“, sagte der 35-jährige dem Observer. „Es wirkt so, als wenn die Kontrolleure glauben, sie hätten die Freiheit, einen nach Belieben zu schikanieren.“

    Osbornes Verletzungen waren milder als die des nigerianisch-amerikanischen Kunstkurators Abbéy Odunlami, der im Dezember 2020 von Kontrolleuren auf den Bahnsteigboden gestoßen wurde. Die Kontrolleure arbeiteten für das gleiche Subunternehmen: B.O.S. - Berliner Objektschutz und Service.
    Odunlami erlitt ein eingedrücktes Schulterblatt, ein gebrochenes Schlüsselbein und zwei gebrochene Rippen, von denen eine in die Lunge drückte. „Der Arzt, der mich operiert hat, sagte, ich hätte Glück gehabt“, erzählte Odunlami. „Ein paar Millimeter tiefer und ich hätte nicht überlebt.“ Wie Osborne wurde Odunlami aufgefordert, aus der Bahn auszusteigen und auf den Bahnsteig zu treten, obwohl er einen gültigen Fahrschein besaß.

    Der 31-jährigen amerikanischen Yogalehrerin Juju Kim wurde im Januar dieses Jahres ein Finger gebrochen, als ein Ticket-Kontrolleur ihr die Hand verdrehte. Kim war aufgefordert worden, die Straßenbahn M10 zu verlassen, weil sie ihr Ticket zu spät entwertet habe. „Öffentlicher Nahverkehr sollte keine Angst einflößen“, kommentierte Kim in einem Instagram Post, in dem sie über den Vorfall berichtete.
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    Rund 60 Betroffene berichten unter dem Hashtag #WeilWirunsFürchten

    Seit Februar gibt es eine Petition und Soziale-Medien-Kampagne mit dem Titel #WeilWirunsFürchten in Anlehnung an den BVG-Slogan #WeilWirDichLieben. Bisher gibt es rund 60 Berichte von Leuten, die das Gefühl haben, wegen ihres Aussehens aggressiv von Ticket-Kontrolleuren herausgepickt worden zu sein.

    „Tickets zu kontrollieren ist schlecht bezahlte und prekäre Arbeit“, sagte die Journalistin und Moderatorin Anna-Rebekka Helmy, eine der Frauen hinter der Kampagne. „Niemand außerhalb einer gewissen sozioökonomischen Schicht will diesen Job machen.“ Statt sich auf die Subunternehmen zu konzentrieren, muss ihrer Ansicht nach die Veränderung von den mehrheitlich in staatlicher Hand befindlichen Berliner Verkehrsbetrieben kommen.
    Unter anderen Maßnahmen fordert ihre Petition die BVG auf, die Kontrolleure besser zu bezahlen und bei den Subunternehmen Anti-Diskriminierungs- und De-Eskalations-Training sicherzustellen.

    Laut BVG werden die Kontrolleure der Subunternehmen bereits in „interkulturellen Kompetenzen“ geschult und absolvieren ein Training mit Rollenspiel-Szenarien, in denen sie die Rolle der Passagiere einnehmen. Die BVG weist darauf hin, dass die Kontrolleure selbst regelmäßig Opfer verbaler und körperlicher Aggression werden. In 118 Fällen sei in solchen Fällen in den vergangenen Jahren Strafanzeige gestellt worden. Die Zahl der Beschwerden wegen aggressiven Verhaltens seitens von Kontrolleuren konnte die BVG nicht beziffern.
    Erste Klage gegen die BVG nach dem Antidiskriminierungsgesetz in Berlin

    Als erstes Bundesland führte Berlin 2020 ein neues Antidiskriminierungsgesetz ein. Jeremy Osborne wird er erste sein, der die Verkehrsbetriebe der Stadt unter diesem neuen Gesetz verklagt. Laut seinen Rechtsanwälten findet das Gesetz, das die Diskriminierung einer Person wegen Hautfarbe, Gender, Religion, Behinderung, Weltanschauung, Alter oder sexueller Identität in einem „Verantwortungsbereich“ öffentlicher Behörden untersagt, auch auf die Berliner Verkehrsbetriebe und das Verhalten ihrer Fahrscheinkontrolleure Anwendung.

    Dieselben Verkehrsbetriebe, die in viral gegangener Video-Werbung einen Fahrschein-Kontrolleur über ihre Laissez-Faire-Philosophie rappen ließen, weisen jetzt die Verantwortung von sich. Rechtlich sei die BVG nicht für das Verhalten der Männer und Frauen verantwortlich, die versuchen, in ihren U-Bahnen und Straßenbahnen Schwarzfahrer:innen zu erwischen.

    In einem im April an Osbornes Anwälte geschickten Brief argumentierte die Rechtsabteilung der BVG, die Verkehrsbetriebe seien zwar eine öffentlich-rechtliche Institution, der Kauf eines Fahrscheins für die U-Bahn oder Straßenbahn aber ein privatrechtlicher Vertrag. Jede Strafgebühr sei daher eher eine Strafe für Vertragsbruch und kein Verwaltungsakt.

  • 30. Januar 1933 : Das war keine Machtergreifung
    https://www.freitag.de/autoren/lfb/30-januar-1933-das-war-keine-machtergreifung
    Le sort de l’Allemage et de l’Europe se joua en 1932 lors ce que la droite conservatrice lanca le coup de Prusse , en allemand Preußenschlag , contre le gouvernement social-démocrate de la plus importante entité politique de la république allemande.


    Carte de l’État libre de Prusse au sein de la république de Weimar

    Quelques mois plus tard le 30 janvier 1933 le président du Deutsches Reich le général Paul von Hindenburg nomma Adolf Hitler chancelier. C’était il y a 90 an. Ce soir les troupes nazies entrèrent dans Berlin par la porte de Brandebourg. Les historiens bourgeois ont pris l’habitude d’appeler « prise de pouvoir », en allemand Machtergreifung , les événements du 30 janvier 1933 alors que c’est faux. La bourgeoisie et l’aristocratie optèrent pour le remplacement du système politique démocratique par un régime dictatorial.

    Pour y arriver ils choisirent l’organisation la plus efficace, le parti nazi. La chose fut décidée en petit comité, alors nous préférons le terme Machtübergabe ou passation des pouvoirs . En 1933 le putsch contre la république allemande faisait déjà partie des faits accomplis. Le Preußenschlag avait eu lieu six mois auparavant au mois de juillet 1932 avec la destitution du gouvernement social-démocrate de Prusse par le même président aristocrate.


    Une fois au gouvernement les nazis procédaient avec une efficacité inconnue jusqu’alors, qui surprit même ses ennemis jurés, á l’élimination de chacun susceptible d’oser commettre des actes de résistance. L’incendie du Reichstag marqua le tournant dans le processus d’élimination des opposants connus vers le changement des structures de la société qui allait se poursuivre jusqu’aux dernières heures du règne du chaos organisé pendant la bataille de Berlin.

    31.1.2023 von Leander F. Badura - Am 30. Januar jährt sich der Beginn der NS-Diktatur zum 90. Mal. Bis heute hält sich der Mythos von der „Machtergreifung“ der Nazis. Doch die Macht wurde Hitler ausgehändigt – von den konservativen Eliten Deutschlands

    Zu den Lebenslügen des deutschen Bürgertums zählt, dass die Weimarer Republik zwischen Nazis und Kommunisten aufgerieben wurde. Daher die Rede von der „Machtergreifung“ in Bezug auf die Ereignisse vom 30. Januar 1933 – also die Ernennung Hitlers zum Reichskanzler durch Reichspräsident Paul von Hindenburg. Doch der Begriff suggeriert einen Gewaltakt, einen Staatsstreich. Dem war nicht so. Das Sicherheitsschloss der Demokratie musste von den Nazis nicht aufgebrochen werden – es war längst zerbrochen und die Tür zur Macht weit aufgestoßen worden. Es war keine Machtergreifung, es war eine Machtübergabe der konservativen Eliten an die Nazis.


    Franz von Papen (photo de 1933), naissance 29.10.1879, décès 2.5.1969, (1921-1932 Centre chrétien, 1938 - 1945 NSDAP, Chancelier du Reich, 1er juin – 3 décembre 1932, Vice-chancelier du Reich 30 janvier 1933 – 7 août 1934, Ministre-président de Prusse30 janvier – 10 avril 1933

    Denn das Entscheidende jenes Tages war, dass die NSDAP Teil einer Rechtskoalition wurde, zu der auch die Deutschnationalen unter Alfred Hugenberg, der Stahlhelm unter Franz Seldte und Hitlers Amtsvorgänger Franz von Papen, der 1932 aus dem Zentrum ausgetreten war, um seine Minderheitsregierung durch die NSDAP tolerieren zu lassen, gehörten – eine rechtsextreme Einheitsfront.

    Kein Widerspruch gegen die Diktatur

    Berühmt wurde Papens Ausspruch, binnen weniger Wochen habe man Hitler innerhalb der Koalition „an die Wand gedrückt, dass er quiekt“. Auch das vermittelt einen falschen Eindruck. Papen und Hindenburg hatten nicht vor, Hitler zu mäßigen, um Demokratie und Rechtsstaat zu schützen. Gleich in der ersten Kabinettssitzung waren sich Papen und Hitler einig, dass eine Rückkehr zum Parlamentarismus ausgeschlossen werden müsse. Dem folgenden, sehr raschen Übergang zur Diktatur widersprach niemand in der Koalition. Als Hitler am 28. Februar – nicht einmal einen Monat nach seiner Ernennung und einen Tag nach dem Reichstagsbrand – Hindenburg um die Unterzeichnung der „Notverordnung zum Schutz von Volk und Staat“ bat, hatte dieser keinerlei Bedenken. Damit waren alle Grund- und Freiheitsrechte sowie rechtsstaatliche Prinzipien außer Kraft gesetzt; der Terror, den die SA in den vorangegangenen Wochen eskaliert hatte, wurde legal.


    Hjalmar Schacht, naissance 22.1,187, décès 3.7.1970, appartient au DDP puis au NSDAP, Président de la Reichsbank de 1923 à 1930 et de 1933 à 1939, de 1953 à 1963 PDG de la Deutsche Außenhandelsbank Schacht und Co. Schacht participa au soutiien des grands industriels pour la nomination de Hitler comme chancelier.

    Ob Polizei, Ministerien, Rundfunkanstalten, Gerichte – in Windeseile brachte die neue Regierung die Gesellschaft auf Linie. Wer als unzuverlässig galt, wurde ohne Rücksicht auf Gesetz und Verfassung ausgetauscht oder gleich verhaftet. Widerstand gab es von bürgerlicher Seite kaum. Am 21. März, als der am 6. März neu gewählte Reichstag – bei dem die NSDAP und ihre Bündnispartner zusammen mehr als 50 Prozent der Stimmen erhielten – eröffnet wurde, konnte die ganze Welt sehen, dass es weder im konservativ-bürgerlichen, noch im reaktionär-aristokratischen Milieu nennenswerte Ambitionen gab, sich gegen Hitler zu stellen. Der „Tag von Potsdam“ wurde eine Inszenierung der neuen Herrschaft und eine Machtdemonstration. Auch der ehemalige Kronprinz Wilhelm von Preußen war da – im Hintergrund, aber gut sichtbar. Nur Kurt von Schleicher, Hitlers direkter Amtsvorgänger, hegte Putschpläne. Die Nazis ermordeten ihn 1934.


    Hermann Göring (photo de mariage de 1935) Ministre-président de Prusse 11.4.1933 – 23.4.1945

    Doch die Zerschlagung der Demokratie begann nicht am 30. Januar. Denn ja, einen Staatsstreich hatte es gegeben – fast ein halbes Jahr zuvor. Per Notverordnung hatte Hindenburg im Juli 1932 die SPD-Regierung in Preußen abgesetzt und den wichtigsten Gliedstaat Kanzler Papen unterstellt. Dieses Ereignis hat der Republik mehr Schaden zugefügt als jeder Aufmarsch der KPD.

    Der Adel und große Teile des konservativen Bürgertums hatten die Demokratie immer gehasst. Ihre Ablehnung der Nazis speiste sich vielmehr aus Standesdünkel und Sorge vor allzu antikapitalistischen Tönen aus den Reihen der NSDAP. Doch der gemeinsame Feind einte sie: Kommunisten, Sozialdemokraten, Juden.


    Dimitrov, Thälmann et leurs camarades

    Opfer zu Tätern

    Von einer Machtergreifung muss sprechen, wer – bis heute – den Faschismus für ein Randphänomen hält. Doch das war er nie. Die Wähler der NSDAP waren im Durchschnitt protestantische Männer der Mittelschicht. Die Lüge von der Erosion der Demokratie durch extreme Ränder, muss erzählen, wer – bis heute – eine Äquivalenz von Links- und Rechtsextremismus herstellen will. Die KPD war eine stalinistische Partei und hat viele historische Fehler gemacht – wie die Ablehnung einer Zusammenarbeit mit der SPD oder die Kooperation mit der NSDAP beim BVG-Streik 1932. Doch die Kommunisten waren die einzigen, die den Nazis etwas entgegenzusetzen hatten. Nirgendwo waren SA-Aufmärsche gefährlicher als in Arbeitervierteln. Den Kommunisten eine Mitschuld am Aufstieg des Faschismus zu geben, heißt, aus Opfern Täter zu machen – Schuldabwehr einer nach 1945 mit dem Wiederaufbau betrauten konservativen Elite, die freudig ehemaligen Nazis Ämter übertrug und die KPD verbieten ließ.

    La perspective historique nous fait comprendre qu’en France et en Allemagne la démocratie ne sera pas en danger tant que les gouvernements arrivent à imposer aux peuples la politique bourgeoise avec ses réformes d’appauvrissement, son inflation et ses guerres. Il n’y a plus de partis communistes pour défendre les intérêts des classes populaires, alors le pouvoir en place peut déléguer la gestion des nations au forces moins violentes que les fascistes historiques.

    Es geht nicht nur darum, sprachpolitisch historische Gerechtigkeit herzustellen. Es geht um tatsächliche Lehren aus der Geschichte. Denn wie die Politikwissenschaftler Steven Levitsky und Daniel Ziblatt 2018 in ihrem Buch Wie Demokratien sterben feststellten, ist das Entstehen einer demokratiefeindlichen Bewegung noch kein hinreichendes Ereignis für die Erosion eines demokratischen Staates. Erfolg haben diese immer erst dann, wenn sie Verbündete aus den etablierten Eliten finden. Das Paradebeispiel der Autoren? Der 30. Januar 1933.

    Hjalmar Schacht
    https://de.wikipedia.org/wiki/Hjalmar_Schacht

    Zentrum - #attention, les information sur wikipedia à propos de questions et notons de l’histoire récente et surtout allemande sont réputées pour leur manque d’impartialité.
    https://fr.m.wikipedia.org/wiki/Zentrum

    #histoire #nazis #Allemagne #Prusse #putsch #coup_d_état #crise #répression #fascisme #démocratie #lutte_des_classes

  • Indien Unter Corona eskaliert in Mumbai der Kampf um die Öffentlichkeit: Wer kann, schließt sich in Gated Communities ein. Wer übrig bleibt, gilt als dreckig und gefährlich
    https://www.freitag.de/autoren/der-freitag/die-drinnen-und-die-draussen

    03.04.2020 von Tobias Kuttler- Leere Straßen und Plätze von Lima bis Johannesburg, von Mailand bis Mumbai. Es sind es drastische Bilder, die uns aus vielen Teilen der Welt erreichen. Alle Menschen bleiben zuhause, scheint es. Erst auf den zweiten Blick offenbart die Corona-Krise die sozialen Unterschiede hinter den Bildern: Während die Wohnverhältnisse der städtischen Eliten und Mittelschichten einen Rückzug in die eigenen vier Wände ermöglichen, treffen die Ausgangssperren die städtischen Armen und Marginalisierten völlig unvorbereitet. Kaum irgendwo wird diese Krise des öffentlichen Raums deutlicher als in den Großstädten den globalen Südens.

    In Indien gilt nun vorerst eine Ausgangssperre für 21 Tage. Der Eisenbahnverkehr wurde landesweit eingestellt und auch der städtische öffentliche Nahverkehr ist weitestgehend zum Erliegen gekommen. Die städtischen Armen befinden sich in einer Notsituation, noch bevor die Corona-bedingte Krankheitswelle richtig begonnen hat.

    Für all diejenigen, die auch schon bisher hauptsächlich digital gearbeitet haben und virtuell vernetzt sind, bedeutet der Umzug an den häuslichen Schreibtisch lediglich die Fortführung einer routinierten Praxis. Sie haben ihren heimischen Arbeitsplatz schon lange krisenfest gemacht – für die Belastungen durch den hochflexiblen Arbeitsalltag. Für die vielen Selbständigen der Gig-Economy ist diese Art der Arbeit schon lange Realität und Teil ihrer Selbstausbeutung. Gleichzeitig zeigt die schnelle Umsetzung dieses Rückzugs, wie zurückgezogen und ungestört die Wohnsituation der globalen Eliten und Mittelschichten inzwischen ist.

    Räumlicher Ausdruck dieser Zurückgezogenheit ist das Wohnen in abgetrennten, zugangsbeschränkten Wohngebieten, den Gated Communities. Diese Wohnform erfreut sich global großer Beliebtheit: Anfang des Jahrtausends lebten allein in den USA etwa 32 Millionen Menschen in solchen Siedlungen, Tendenz weiter steigend. Seit der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts ist die bewachte und kontrollierte Wohnsiedlung ein Charakteristikum nicht nur der US-amerikanischen Metropolen.

    Vor Corona geschützt in der Gated Community

    In Mumbai, der wohlhabendsten Stadt Indiens und gleichzeitig eine der am dichtesten besiedelten Städte der Welt, lebt etwa die Hälfte der Stadtbevölkerung in Slums. Auch hier ist es für die höheren Einkommensschichten erstrebenswert, in von der Außenwelt weitest gehend abgeschotteten Wohnanlagen zu leben. Viele dieser Siedlungen sind in Form von privat initiierten Wohnkooperativen organisiert, wovon es in Mumbai über 100.000 geben soll. Diese Gebiete sind ausgestattet mit exklusiver, privater Versorgungsinfrastruktur, welche eine Strom- und Wasserversorgung rund um die Uhr garantiert – ein Privileg in Indien, das die Bewohner*innen weitgehend unabhängig macht von der volatilen öffentlichen Versorgung, der Wasserknappheit im Sommer und den regelmäßigen Stromausfällen. Die Mobilität ist durch den Besitz eines eigenen Autos gesichert. Auch aufgrund des Verkehrskollapses haben gutverdienende Selbständige ihren Arbeitsplatz längst in die eigene (geräumige) Wohnung verlegt. Sie verlassen die eigene Wohnung nur noch selten, immer häufiger auch mit einem Fahrdienst wie Uber, um die Fahrtzeit zum Arbeiten oder Schlafen nutzen zu können.

    Die Eingangstore dieser Siedlungen sind in der Regel durchlässig, die Kontrollen der Sicherheitsdienste nicht konsequent. Doch in der Corona-Krise haben die Bewohner*innen die Mauern, Tore und Schranken dieser Wohngebiete zur Demarkationslinie im Kampf gegen das Virus erklärt. Ganze Wohnanlagen schotten sich ab, die Einlasskontrollen sind nun streng. Angestellte, die in den Mittelschichtshaushalten die alltäglichen Arbeiten verrichten – in der Regel Frauen –, werden nun entlassen oder in den Zwangsurlaub geschickt. Mitarbeiter von Lieferdiensten werden davon abgehalten, Familien mit Corona-Verdachtsfällen zu beliefern. Zuletzt wurden Fälle von Ärzt*innen und Pfleger*innen bekannt, die von ihren Vermietern und Nachbarn nicht mehr in ihre Wohnungen gelassen werden. Eine Bewohnerin schreibt in einem Facebook-Post: „Ich wohne in einer Mittelschichts-Wohnkooperative in Mumbai. Der Begriff „kooperativ“ ist natürlich ein Witz, denn hier kooperiert niemand. Die jetzige Krise offenbart die schlimmste Seite der Mittelschichten in diesem Land“.

    Moderne Schlafgänger ohne Raum

    Außerhalb dieser Mauern spielt sich das wahre Drama dieser Tage ab. In den chawls, den einfachen Mietwohnungen in dicht besiedelten Wohnvierteln, und informellen Siedlungen wohnen die Hausangestellten, Taxifahrer und Gemüseverkäufer*innen. Große Familien teilen sich meist ein Zimmer mit Küchenzeile. Die Enge und fehlende Privatsphäre ist eine Herausforderung. Oftmals gibt es in diesen Vierteln Gemeinschaftstoiletten, wenn diese aber fehlen oder nicht benutzbar sind, müssen sich die Bewohner*innen im Freien waschen und erleichtern. Dann steigt insbesondere für Frauen die Gefahr, Opfer von Krankheiten und Gewalt zu werden. Für einen Großteil der Menschen in Mumbai ist somit der Alltag schon ohne Corona der permanente, normalisierte Ausnahmezustand.

    Die jeden Tag aufs Neue mühsam erarbeitete Normalität gerät nun ins Wanken. Die Räumlichkeiten in den dicht besiedelten Vierteln sind nicht darauf ausgerichtet, dass sich eine gesamte Familie über viele Tage hinweg in Ihnen gemeinsam aufhalten kann. Viele Arbeiter*innen wollen daher zurzeit lieber zur Arbeit gehen, als unter diesen Umständen zu Hause sein zu müssen.

    Für viele Arbeitsmigrant*innen, die nach Mumbai und andere Großstädte gekommen sind, stellt sich die Situation jetzt besonders schwierig dar. Für sie ist mit Eintreten der Ausgangsperre das komplette Wohnarrangement zusammengebrochen. Gerade in den Großstädten sind vor allem junge Männer „moderne Schlafgänger“: Zehn oder mehr Personen teilen sich ein Zimmer, in denen sie abwechselnd schlafen. So kann ein Großteil des Verdiensts nach Hause in die Dörfer transferiert werden. Diese rotierenden Systeme sind unter Industrie- und Schichtarbeiter im Großraum Chennai ebenso zu finden wie in Mumbai unter jungen Fahrern von Fahrdiensten wie Uber. Während der eine tagsüber das Auto fährt, schläft der Zimmerkollege und nachts umgekehrt. Da die Taxi- und Fahrdienste nun ihren Betrieb eigestellt haben, funktioniert das Schlafsystem nicht mehr.

    Umkämpfte Öffentlichkeit

    Viele Fahrer und andere Arbeitsmigrant*innen verlassen die Städte nun in Richtung ihrer Heimatdörfer: Mit dem Zug, solange die Züge noch fuhren; seit dem der Zugbetrieb landesweit eingestellt ist, haben sich viele zu Fuß auf die weite Reise gemacht. In Indien sind Zehntausende Arbeitsmigrant*innen an den Bahnhöfen und Busbahnhöfen der Städte gestrandet. Die Solidarität mit Menschen, die nun auf den Straßen zurückbleiben, ist groß. Viele Staaten stellen – mit Verspätung – finanzielle Mittel und Unterkünfte für die Notversorgung bereit. Doch die Videoaufnahmen von Polizisten, die Arbeitsmigranten auf ihrem Weg in die Dörfer demütigen und misshandeln, zeigen gleichzeitig, welche Verachtung ihnen in der Gesellschaft weiterhin entgegenschlägt.

    Der öffentliche Raum ist in den Städten ständig umkämpft: nicht nur der Zugang und die Nutzungen, sondern auch die Bedeutung und die Interpretation desselben. Gerade unter Menschen, die sich stark zurückziehen, ist die Furcht vor dem öffentlichen Raum am stärksten. Wenn der öffentliche Raum als unsicher, unrein oder unwegsam wahrgenommen wird, so wirken auch Personen oder Gruppen, die sich dort aufhalten, als Gefahr – wenn nicht als persönliche, dann doch zumindest als eine Gefahr für die öffentliche Ordnung. Die vielerorts vertretene „Null-Toleranz“-Politik gegenüber „Störungen“ im öffentlichen Raum, wie sie vor allem in den USA anzutreffen ist, fällt dabei nicht zufällig mit weitverbreiteten neoliberalen Stadtentwicklungspolitiken zusammen.

    Seitdem große Städte Ende der 1980er Jahre noch stärker Dreh- und Angelpunkte des globalen Kapitals geworden sind, stehen sie im weltweiten Wettbewerb um Investitionen und die gutgebildete Mittelschicht in Konkurrenz zueinander. Attraktive Innenstädte und „Lebensqualität“ sollen das Image der Stadt bestimmen, für Verlierer ist in solchen Städten – im wahrsten Sinne des Wortes – kein Platz. In Bezug auf die USA nannte der Geograph und Stadtforscher Neil Smith die derart neuausgerichtete Stadt die „revanchistische Stadt“.
    Neoliberale Städte in der Krise

    Auch in Mumbai hat sich – angelehnt an westliche Vorbilder und unter dem Druck der internationalen Geldgeber – seit den 1990er Jahren eine neoliberale Stadtpolitik durchgesetzt. Die schon zuvor grassierende Vertreibung und Entrechtung der urbanen Armen und Marginalisierten wurde unter neuen Vorzeichen ungemindert fortgeführt. Diejenigen, die wichtige Grundfunktionen in der Stadt aufrecht erhalten, z.B. Straßenhändler*innen, Rikscha-Fahrer und Müllsammler*innen sind regelmäßige Ziele dieser Politik.

    Die Mittelschichten sind sich mit den staatlichen Einrichtungen, welche in vielen Städten die „Säuberung“ der öffentlichen Räume vorantreiben, weitestgehend einig. Denn je mehr Personen in isolierten Wohnvierteln leben, desto mehr ist der öffentliche Raum als Ort derjenigen stigmatisiert, die es nicht geschafft haben, auf der sozialen und ökonomischen Leiter nach oben zu klettern.

    Der derart negativ behaftete Raum spielt eine wichtige Rolle in der Corona-Krise. Dort, wo gerade strenge Ausgangssperren durchgesetzt werden, sind alle, die sich im öffentlichen Raum aufhalten, Sonderfälle: Entweder „systemrelevant“, besonders privilegiert, oder besonders marginalisiert. Marginalisiert sind diejenigen, die kein Zuhause haben, sich auf Grund körperlicher Beeinträchtigungen nicht auf den Weg nach Hause machen können und keine Notunterkunft finden.

    In den Großstädten des globalen Südens ruft jeder neue Tag unvorhergesehene Krisen hervor. Jahrzehnte neoliberaler Stadtpolitik haben Städte zu Orten gemacht, an denen überwiegend die Bedürfnisse der Eliten und höheren Mittelschichten zählen. Gerät das fragile (Un-)Gleichgewicht des neoliberalen Konsenses nun durch Corona ins Wanken? Und öffnet sich jetzt möglicherweise ein Fenster für eine erstarkte Recht-auf-Stadt Bewegung? Diese Fragen erscheinen angesichts der noch bevorstehenden gesundheitlichen Katastrophe in den Städten des globalen Südens beinahe zynisch. Die Folgen für die städtischen Armen und Ausgegrenzten werden verheerend sein. Eine Rückkehr zu den Zuständen vor Corona wird es nicht geben.

    Tobias Kuttler forscht an der TU Berlin zu Mobilität und sozialer Benachteiligung in Europa. Zudem forscht und arbeitet er seit 10 Jahren in Indien, derzeit promoviert er an der TU München über den Wandel des Taxisektors und die Situation der Uber-Fahrer in Mumbai

    #Indien #Mumbai #Uber #Wohnen #Covid-19 #Klassenverhältnisse

  • Bürgergeld - Beton, Flexibilität und Schwäche - freitag.de
    https://www.freitag.de/autoren/alexander-fischer/buergergeld-beton-flexibilitaet-und-schwaeche?s=09

    Alexander Fischer, secretaire d’état auprès de la senatrice pour intégration, travail et questions sociales (#SenIAS) du gouvernement (Land) berlinois du parti de gauche (#Die_Linke) Katja Kipping nous propose cette analyse des nouvelles lois fédérales censées remplacer l’infâme #HartzIV qui s’appellerait désormais #Bürgergeld. Texte essentiel pour comprendre comment l’Allemagne dévéloppe le système inspirant les macronistes.

    23.11.2022 von Alexander Fischer - Die Union hat Verschärfungen des Bürgergeld-Gesetzes erzwungen. Aber ihre Blockade-Mehrheit im Bundesrat wäre keine, wenn andere Parteien andere Entscheidungen getroffen hätten. Die politische Verantwortung tragen viele.

    Wohl weil es sich im Schatten sehr großer Krisen vollzieht, wird in Deutschland nicht noch sehr viel mehr über eine der bedeutendsten Sozialreformen der letzten Jahre diskutiert. Mit dem Label „Bürgergeld“ hat die Ampel eine Reform des SGB II auf den Weg gebracht, die einen Bruch mit der letzten großen Reform des Grundsicherungssystems vollziehen will, die unter dem Namen „Hartz IV“ in die Geschichte der Bundesrepublik eingegangen ist. Wie groß man auch immer diesen Bruch qualitativ bewerten will, unstrittig ist, dass die Bezieher/innen von Grundsicherungsleistungen mit diesem Gesetz auf signifikante Verbesserungen hoffen dürften, ob bei der Höhe des Regelsatzes, dem Sanktionsregime oder der Verpflichtung, zumutbare Arbeit anzunehmen. Es war die CDU/CSU, die diese Reform im Bundesrat vorläufig gestoppt hat, weshalb gegenwärtig weitgehend hinter verschlossenen Türen im Vermittlungsausschuss zwischen Bundestag und Bundesrat über einen Kompromiss verhandelt wird, der noch in dieser Woche Bundestag und Bundesrat passieren muss, damit er überhaupt noch rechtzeitig zum 1.1.2023 praktisch umgesetzt werden kann. Und alles sieht danach aus, als ob die CDU/CSU eine Verschärfung der Sanktionsregelungen erzwingen wird. Die Ampel musste nach rechts verhandeln. Aber ist das ein Naturgesetz? Keinesfalls. Die politische Verantwortung für die weitere Verwässerung einer schon im Ansatz begrenzten Sozialreform tragen viele.

    Es lohnt sich, dafür einen Blick auf das Verfahren im Bundesrat und die Machtarithmetik, die in ihm zum Ausdruck kommt, zu werfen. Die Bürgergeld-Reform ist technisch gesehen ein Zustimmungsgesetz, das nicht nur mit Mehrheit vom Bundestag beschlossen werden muss, sondern auch im Bundesrat eine Mehrheit braucht. Das #Bundestag (@klaus++ c’est une erreur, il s’agit du Der #Bundesrat) ist als „Parlament der Länderregierungen“ (Selbstdarstellung) aus 69 Sitzen zusammen gesetzt, die (mit Unschärfen) nach der Größe auf die Bundesländer verteilt sind. Die Besetzung der Sitze und das Stimmverhalten bestimmen die jeweils amtierenden Landesregierungen. Enthaltungen zählen bei Abstimmungen wie Nein-Stimmen. Und da die Koalitionsverträge in den Bundesländern immer einen Passus enthalten, der bestimmt, dass im Bundesrat bei Uneinigkeit der Koalitionsparteien mit Enthaltung votiert wird, ergibt sich in der gegenwärtigen Zusammensetzung des Bundesrats folgende Machtarithmetik:

    Die Ampel-Parteien können auf insgesamt 16 jedenfalls in der Logik der regierenden Parteifarben sichere Ja-Stimmen bauen, die sich aus den 4 Landesregierungen von Hamburg (SPD/Grüne, 3), Niedersachsen (SPD/Grüne, 6), Saarland (SPD, 3) und Rheinland-Pfalz (Ampel, 4) speisen. Die beiden weiteren für den Bundesrat theoretisch relevanten Parteien sind CDU/CSU und DIE LINKE. Die CDU/CSU kann wegen der oben beschriebenen Logik nicht weniger als 39 Stimmen für eine Blockade versammeln, die sich aus den 8 Landesregierungen von Bayern (CSU/Freie Wähler, 6), Baden-Württemberg (Grüne/CDU, 6), Hessen (CDU/Grüne, 5), Nordrhein-Westfalen (CDU/Grüne, 6), Schleswig-Holstein (CDU/Grüne, 4), Brandenburg (SPD/CDU/Grüne, 4), Sachsen-Anhalt (CDU/SPD/Grüne, 4) und Sachsen (CDU/SPD/Grüne, 4) zusammen setzen. Damit hat die CDU/CSU allein, sofern sie ihre jeweils mitregierenden Landesparteien auf eine Linie verpflichtet (was offenbar geschehen ist), die Möglichkeit, mehr als 35 Enthaltungen im Bundesrat zu mobilisieren, die für eine Blockade nötig sind. Anders sieht das bei der LINKEN aus. Sie kann bis zu 14 Stimmen im Bundesrat für eine Enthaltung mobilisieren, die sich aus den Landesregierungen in Berlin (SPD/Grüne/LINKE, 4), Thüringen (LINKE/SPD/Grüne, 4), Bremen (SPD/Grüne/LINKE, 3) und Mecklenburg-Vorpommern (SPD/LINKE, 3) zusammen setzen.

    Es ist diese Macht-Arithmetik, die die Ampel dazu zwingt, in erster Linie mit der CDU/CSU zu verhandeln, und das heißt materiell über sozialpolitische Verschlechterungen des vorliegenden Entwurfs zu reden. Aber diese Macht-Arithmetik ist nicht vom Himmel gefallen, sondern das Ergebnis politischer Entscheidungen. Es waren die baden-württembergischen Grünen, die 2021 bewusst entschieden haben, keine Ampel-Landesregierung mit SPD und FDP zu bilden, sondern weiter mit der CDU zu regieren. Es waren die nordrhein-westfälischen Grünen, die 2022 sehr bewusst entschieden haben, keine Ampel-Landesregierung unter Führung der SPD zu bilden, sondern eine schwarz-grüne unter Führung der CDU. Hätten sie sich nur in einem Fall anders entschieden, könnte die CDU/CSU heute nur 33 Stimmen, und damit keine Blockade-Enthaltungsmehrheit im Bundesrat mobilisieren. Dann hätte die Ampel 22 sichere Gestaltungs-Stimmen im Bundesrat, und es wäre viel naheliegender, sich statt um die Auflösung des von Friedrich Merz angerührten Betons um die 14 Stimmen aus den Ländern zu bemühen, in denen DIE LINKE mitregiert. Eine erfolgreiche Verhandlung würde dann zu 36 Ja-Stimmen im Bundesrat und damit zur Verabschiedung des Gesetzes führen. Wer also jetzt vor allem darüber klagt, dass die CDU/CSU das macht, was sie eben macht, sollte nicht vergessen, wer sie in diese Machtposition durch landespolitische Entscheidungen gebracht hat.

    Ein schwieriger Abwägungsprozess würde dann vor allem auf DIE LINKE zukommen, zu deren Gründungskonsens die fundamentale Ablehnung von Hartz IV gehört. Für welche Verbesserungen wäre man bereit, dem Gesetz zu einer Mehrheit im Bundesrat zu verhelfen, auch dann, wenn zentrale Funktionsprinzipien von Hartz IV noch nicht überwunden sind? Es wäre keine leichte Debatte, das ist sicher. Allein wenn sich SPD und Grüne im Jahr 2019 in Brandenburg für die rechnerisch und politisch mögliche Bildung einer rot-rot-grünen Landesregierung entschieden hätten, könnten die Ampel-Parteien und die rot-rot-grünen bzw. rot-roten Landesregierung gegenwärtig zusammen 34 Stimmen mobilisieren, nur eine weniger als die Mehrheit von 35 Stimmen. Und die Verhandlungssituation sähe völlig anders aus, weil es ausreichen würde, mit einem weiteren Land einen Deal zu machen. Der Beton des Friedrich Merz wäre äußerst brüchig. Aber zu dieser Wahrheit gehört eben auch die gegenwärtige Schwäche der LINKEN, die dazu führt, dass sie in vielen Bundesländer überhaupt kein Machtfaktor mehr ist .

    Der Beton der CDU/CSU, die machtpolitische Flexibilität der Grünen (und abgestuft auch der SPD) und die Schwäche der LINKEN sind es, die jetzt dazu führen, dass am Ende eben doch wieder CDU und CSU die Chance bekommen, selbst vergleichsweise kleine soziale Verbesserungen für Millionen zu verwässern und schlimmstenfalls zu blockieren.

    #Allemagne #politique #allocations_sociales #HartzIV #Bürgergeld

  • Hocherotisch, mit echten Visionen: Das Debüt „LVL UP“ der Rapperin Eli Preiss — der Freitag
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    Ausgabe 24/2022 von Till Wilhelm - Hiphop Das Debütalbum der Wiener Rapperin Eli Preiss hat das Zeug, den Sound der Gegenwart zu beeinflussen

    Die Geister der Nostalgie spuken teils schneller, als die Popkultur fortschreiten kann. Gruselig wird es etwa, wenn die Generation Z auf Tiktok Kleidung im Y2K-Stil glorifiziert, für die Millennials auf den Schulhöfen der nahen Vergangenheit noch ausgelacht wurden. Wie sich mit nostalgischen Inspirationen Zukunftsvisionen formen lassen, beweist derweil die Sängerin und Rapperin Eli Preiss. Ihr Debüt LVL UP orientiert sich konzeptionell an den Videospielen der frühen Nullerjahre, die 14 Lieder tragen Titel wie Princess Peach, Gameboy oder Endboss.

    „Ich weiß, man sollte leben im Moment“, heißt es in Bleib still, „doch ich glaub’, die Zukunft macht einiges besser“. Auf schleppenden Drums entwirft Eli Preiss eine Utopie, in der nicht bloß die Sonne scheint, sondern auch systemische Ungerechtigkeiten beseitigt sind. Im hocherotischen Slide wird sogar der gemeinsame Orgasmus mit einem entspannten „Baby, gleich, gleich, gleich“ noch in die Zukunft verschoben, bevor der wohlig ächzende Gesang am Ende des Songs inmitten von Feuerwerksexplosionen atemlose Höhen erklimmt. Es ist vielleicht der gegenwärtigste Moment auf LVL UP.

    Die Texte der 23-Jährigen erzählen wie so viele vom Coming-of-Age, von der Reise zur Selbstfindung. Gerade noch schleudert Eli Preiss über die bunten Weiten des Regenbogen Boulevard, droht, die Kontrolle zu verlieren, bald darauf rast sie zielstrebig mit präzisen Flows durch die Glühheiße Wüste, beide Titel verweisen auf Fahrstrecken des Videospiels Mario Kart. Dazwischen erreicht die Wienerin Level nach Level nach Level, ohne den eigenen Lebenslauf allzu teleologisch darzulegen. LVL UP ist dabei kein Egoshooter, sondern Mannschaftssport. Mit ihrem Produzententeam um Tschickgott und prodbypengg bedient sie sich bei Drum & Bass, Super-Nintendo-Soundeffekten und den Black Eyed Peas, um auch für den New-Wave-Sound des Deutschen Rap eine neue Stufe freizuspielen.

    Keine falschen Fakten flexen
    Wo in der Retrospektive Schwächen und Selbstzweifel angedeutet werden, behält der optimistische Ausblick stets das Übergewicht. LVL UP demonstriert selbstbewusste Angriffslustigkeit – mit konsistentem Anspruch an das Umfeld. Rapkollegen, die „Frauen hassen“ und „mit falschen Fakten flexen“, werden nicht bloß für ihre artistische Bedeutungslosigkeit kritisiert. Auch in der Liebe erlaubt Eli Preiss keine Fremdbestimmung. „Brauche kein’ Mann“, heißt es an einer Stelle mit ignorant-sanfter Stimme. „Wenn, dann wähl’ ich einen“. Romantische Partner saugen an Nippeln wie an denen ihrer Mama, befriedigen oral und müssen damit rechnen, dass die Rapperin sich auf ihre Grillz setzt. Wem das zu viel ist, der darf gerne einen angeekelten Blick auf die anzüglichen Zeilen der männlichen Konkurrenz werfen.

    Gerade in Endboss gelingt es, die Einflüsse von UK-Garage und modernem Trap zu einer respektvoll-turtelnden R’n’B-Hymne zu collagieren. „Ich spiel keine Games mit dir“, rappt Eli Preiss, das Musikvideo hingegen kleidet sich in die Ästhetik von Grand Theft Auto und Street Fighter im Multiplayer-Modus, Zitate einer Popkultur, die um die Jahrtausendwende eigene Zukunftsvisionen entwarf. LVL UP ist keine nostalgische Reise ins Archiv, sondern ein wachträumender Retrofuturismus, der die musikalische Gegenwart, um die er sich so wenig kümmert, mit Sicherheit prägen wird.

    #Musik #Nacht #Techno #R&B #Rap #Deutschrap #Wien #Österreich