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  • Ukraine: Die von der EU subventionierte Ökonomie wird zum Problem für Polen
    https://www.freitag.de/autoren/jan-opielka/ukraine-die-von-der-eu-subventionierte-oekonomie-wird-zum-problem-fuer-polen

    Die Fehlfarben waren eine visionäre Band der 1980er. Keine Atempause, Geschichte wird gemacht, es geht voran. So lautete die erste Trophe des Sings Ein Jahr (Es geht voran) und so läuft es. Die Ukraine hat einen historischen Auftrag zu erlefigen. Dahinter müssen alle anderen zurückstehen.

    Die Ironie der Geschichte besteht darin, dass nun die polnischen, slowakischen und anderen Lohndumping-Ausbeuter im Fuhrgewerbe kaputtbemacht werden, nachdem die selbst aus stolzen deutschen LKW-Fahrern Hungerlöhner gemacht haben. Dazu hatten sie bereits Fahrer von den Philippinen geholt, um noch weniger zshlen zu können, als ein Angestellter aus dem eigenen Land zum Überleben braucht.

    Das ähnelt den Uber-Methoden zur Zerschlagung des Taxigewerbes.

    Von Jan Opielka - Konkurrenz: Ukrainische Spediteure müssen nicht mehr – wie noch vor dem Krieg – Transportgenehmigungen einholen, um den EU-Markt zu bedienen. Dadurch könnten sie polnischen Transportfirmen Konkurrenz machen und die Preise stutzen

    Als sich im Frühjahr die Proteste polnischer Bauern gegen ukrainische Getreideexporte zu einem handfesten Konflikt zwischen der EU und Warschau auswuchsen, wirkte das wie ein Vorspiel für künftige, gravierendere Differenzen. Die sind nun da und lassen an Vehemenz nichts zu wünschen übrig. Brüssel und damit letztlich auch Polen räumen der Ukraine auf vielen Feldern Vorteile ein, um das Land zu entlasten. Folglich müssen ukrainische Spediteure nicht mehr – wie noch vor dem Krieg – Transportgenehmigungen einholen, um den EU-Markt zu bedienen. Dadurch können diese Unternehmen polnischen Transportfirmen Konkurrenz machen, indem sie etwa die Preise stutzen.
    Blockaden an der Grenze zur Ukraine

    Laut Infrastrukturministerium in Warschau beliefen sich die Fahrten aus der Ukraine 2023 auf bisher gut 800.000 und wären damit auf das Vierfache gestiegen. Polen verliert demnach Marktanteile in Größenordnungen. Es fällt leicht, polnischen Spediteuren, Fahrern von Trucks und inzwischen auch wieder Landwirten vorzuhalten, sie würden aus Wut die Grenze zur Ukraine blockieren. Doch ist dieser Vorwurf deplatziert, da humanitäre Güter passieren dürfen, obwohl polnische Spediteure beim Verlassen der Ukraine auf massive Meldeprobleme stoßen, die oft zu tagelangem Warten führen.

    Angebrachter wäre es, den Blick auf Brüssel zu richten. Von der EU-Zentrale aus gesehen ist Kiew trotz aller Beistandsrhetorik recht fern, für Polen aber nachbarschaftlich nah. Das Land hat seit Februar 2022 nicht nur die meisten ukrainischen Flüchtenden aufgenommen, es ist in seinem Wirtschaftsgeschehen zugleich am stärksten einer international großzügig subventionierten ukrainischen Ökonomie ausgesetzt. Dass deren Wettbewerber Marktanteile erobern und halten wollen, ist nachvollziehbar.

    Polens Regierung hat dem lange nur wenig Aufmerksamkeit geschenkt, weil der überbordende Wille das Denken beherrschte, weltweit die Speerspitze unter den Alliierten Kiews zu sein. Aus den vor Monaten aufgeflammten Protesten der eigenen Bauern wurden daher keine Lehren gezogen. Auch jetzt musste die Blockade der Trucker erst eskalieren, damit man sich bewegte oder zumindest so tat: Noch-Regierungschef Mateusz Morawiecki schickte bislang nur den zuständigen Minister an den Ort des Geschehens – und das nach drei Wochen Protest.
    Was das für die nächste Regierung Polens heißt

    Brüssel vermittelt den Eindruck, dass Polens Umgang mit dem Verdrängungskampf der Spediteure nur unverständlicher Kleinkram und Erbsenzählerei sei angesichts der Mammutaufgabe, die Ukraine in die EU zu lotsen und über Russland triumphieren zu lassen. Das Ganze ist auf die Spitze getrieben, wenn Warschau Kompensationsmittel angeboten werden, die aus polnischen Töpfen kommen. Wer so agiert, bürdet der bei den jüngsten Sejm-Wahlen siegreichen pro-europäischen Opposition eine schwere Last auf. Diese kann angesichts der Situation gar nicht anders, als bei der Frage nach der Aufnahme von EU-Beitrittsverhandlungen mit Kiew strikt die nationale Flagge zu hissen, auf die Bremse zu treten und den Brüssler Solidaritätskurs auf den Prüfstand zu stellen.

    Denn unverkennbar sinkt dank einer wenig reflektierten EU-Politik in der polnischen Bevölkerung die Akzeptanz für die Ukraine-Hilfen. Auch slowakische Spediteure haben bereits angedroht, ihrerseits an der Grenze zur Ukraine aktiv zu werden. Die EU, tief im Westen, sollte dringend ihren Blick auf den Osten schärfen.

    #Arbeit #Lohndumping #Subventionen #Polen #Ukraine #Europäische_Union

  • Trust Barometer von Edelman: Wie PR-Firma Autokraten fördert
    https://www.freitag.de/autoren/the-guardian/trust-barometer-von-edelman-wie-pr-firma-autokraten-foerdert

    Von Adam Lowenstein - Aufgedeckt Edelman, das weltweit größte Unternehmen für Öffentlichkeitsarbeit, erhielt Millionen US-Dollar aus Verträgen mit Saudi-Arabien, den Vereinigten Arabischen Emiraten und anderen Unterdrückungsregimen

    Das Vertrauen der Öffentlichkeit in einige der repressivsten Regierungen der Welt steigt an. So lautet der Befund der weltweit größten Public-Relations-Agentur Edelman, dessen Flaggschiff „Edelman Trust Barometer“, seinen Ruf als Autorität für Vertrauen weltweit begründet hat. Seit Jahren berichtet Edelman, dass die Bürger:innen in autoritären Ländern, darunter Saudi-Arabien, Singapur, die Vereinigten Arabischen Emirate und China, tendenziell ihren Regierungen mehr vertrauen als solche, die in Demokratien leben.

    Weniger mitteilsam ging Edelman mit der Tatsache um, dass einige dieser autoritären Regierungen auch Kunden des Unternehmens waren. Edelmans Arbeit für einen dieser Kunden – die Regierung der Vereinigten Arabischen Emirate – wird im Mittelpunkt stehen, wenn die Staats- und Regierungschefs am 30. November in Dubai zum UN-Klimagipfel Cop28 zusammenkommen.

    Der Guardian und das gemeinnützige Forschungsinstitut Aria analysierten Edelman Trust Barometer sowie vom US-Justizministerium veröffentlichte Akten des Foreign Agent Registration Act (Fara), die bis ins Jahr 2001 zurückreichen, als Edelman seine erste Studie zum Thema Vertrauen veröffentlichte. Das Gesetz verpflichtet US-Unternehmen dazu, bestimmte Informationen zu ihrer Lobby- und Advocacy work für ausländische Regierungen zu veröffentlichen. Während dieser Zeit zahlten autokratische Regierungen an Edelmann und seine Tochterfirmen Millionen US-Dollar dafür, dass sie die von ihnen gewünschten Bilder und Erzählungen entwickelten und verbreiteten.
    Edelman hat einen kommerziellen Hintergrund

    Meinungsforschungsexperten zufolge führen die Ergebnisse von Meinungsumfragen tendenziell zu einer Überschätzung der Zustimmung zu autoritären Regimen, weil viele der Befragten Repressalien der Regierung fürchten. Das hielt dieselben Regierungen nicht davon ab, Edelmans Befunde auszunutzen, um ihren Ruf aufzupolieren und ihren Machterhalt zu legitimieren.

    Edelmans Trust Barometer wird „überall zitiert, als handele es sich um glaubhafte, objektive Forschung einer Denkfabrik. Dabei hat sie einen relativ offensichtlichen kommerziellen Hintergrund und ist ziemlich offensichtlich ein Verkaufsinstrument“, erklärte Alison Taylor, Professorin an der New York University’s Business School. „Als Minimum sollte die Agentur diese finanziellen Beziehungen als Teil der Studie offenlegen. Aber das tut sie nicht.“

    In einem E-Mail-Statement der Agentur an den Guardian heißt es: „Als globales Unternehmen glauben wir, dass es wichtig ist, mit Kunden und in Märkten auf der ganzen Welt zu arbeiten, die sich in der Unwandlung befinden – ökonomisch, politisch, ökologisch und kulturell.“ Und weiter: „Wir glauben, dass unsere Präsenz im Nahen Osten dazu beitragen kann, den Wandel voranzutreiben, indem wir einflussreiche Organisationen beraten, über die Erwartungen an Unternehmen und Marken in der heutigen Zeit aufklären und neue Beziehungen zu Interessengruppen aufbauen.“
    Vereinigte Arabische Emirate wollen ihren Ruf verbessern

    Die Regierung der Vereinigten Arabischen Emirate wurde 2007 Edelman-Kunde. Laut einem Bericht der auf Recherchen zu Klima-Fehlinformationen spezialisierten Non-Profit-Website DeSmog erhielt Edelmann in den beiden folgenden Jahren mehr als sechs Millionen US-Dollar für seine Arbeit zur Verbesserung des Nachhaltigkeitsrufs der VAE und der Abu Dhabi National Oil Company oder Adnoc, eines staatlich geführten Ölgiganten. Diese Bemühungen kulminierten darin, dass die VAE zum diesjährigen Gastgeber der UN-Klimakonferenz ausgewählt wurden.

    2010 unterzeichneten Edelman und eine Tochtergesellschaft zwei weitere Verträge mit der Regierung der Emirate, unter anderem über die Erstellung einer Beltway-Barometer-Unfrage, die die öffentliche Meinung „unter den politischen Entscheidungsträgern und Einflussnehmern in Washington DC“ misst. Im Folgejahr tauchten die VAE erstmals im Edelman Trust Barometer auf.

    Edelman antwortete nicht auf Fragen, ob die Entscheidung der VEA, die Agentur zu beauftragen, etwas damit zu tun hatte, dass das Land im folgenden Jahr in den Trust Barometer aufgenommen wurde, oder ob Edelman potenziellen oder aktuellen Kunden die Möglichkeit der Aufnahme in das Barometer als Vorteil davon anbietet, Edelman zu beauftragen.

    Seit die VAE im Jahr 2011 erstmals dabei waren, ergaben Edelmans Umfragen regelmäßig, dass die Bürger des Landes ihrer Regierung stark vertrauen – ein Ergebnis, das Edelman und die Medien in den Emiraten gerne bestätigen. „Laut der Agentur Edelman mit Sitz in New York trugen die Planungen und Strategien der VAE zum Vertrauen auf ihre Leistungen bei, die es sich in dem Jahr erwarb“, twitterte Sheikh Muhammad bin Raschid Al Maktum, der Premierminister und Vizepräsident der VAE und Herrscher von Dubai nach der Veröffentlichung des Trust Barometers 2014. „Das Vertrauen der Menschen in die Regierung ist das Ergebnis der Nähe der Führung zu den Menschen und der Berücksichtigung ihrer Bedürfnisse und Anliegen.“

    2018 benutzte der damalige Verantwortliche für Edelmans VAE-Geschäfte Tod Donhauser in einem Blogpost auf der Agentur-Homepage eine ähnliche Sprache. „Die diesjährigen Edelman Trust Barometer-Ergebnisse legen nahe, dass die Anstrengungen der Regierung, die Öffentlichkeit vor Fake News zu schützen, Dividenden bringt“, schrieb Donhauser.

    Drei Monate nachdem Donhauser die Regierung dafür gelobt hatte, „Fake News zu bekämpfen“ und „das Land hinter einem gemeinsamen Ziel zu vereinen und das Vertrauen zu steigern“, verurteilte ein VAE-Gericht den Aktivisten Ahmed Mansur zu zehn Jahren Gefängnis. Mansur wurde laut Amnesty International unter anderem vorgeworfen, auf Twitter und Facebook „falsche Informationen, Gerüchte und Lügen über die VAE veröffentlicht zu haben“, die „die gesellschaftliche Harmonie und Einigkeit der VEA beschädigen würden“.

    Ein Jahr zuvor war Mansur wegen der „Verbreitung von Sektiererei und Hass in den sozialen Medien“ verhaftet worden. Er befindet sich weiter im Gefängnis.

    Donhauser arbeitet nicht mehr für Edelman. Auf die Anfrage, einen Kommentar abzugeben, reagierte er nicht. Die Agentur antwortete nicht auf Fragen zu dem Blogpost.

    Bei einer von der Washingtoner Denkfabrik Atlantic Council im Februar veranstalteten Diskussion wurde der Edelman-Geschäftsführer Richard Edelman gefragt, warum seiner Meinung nach autoritäre Regime im Vertrauensbarometer so gut abschneiden. „Eine Hypothese ist, dass sich in diesen Ländern die Informationen, die Regierung und Medien herausgeben, nur sehr gering unterscheiden, während die Medien hier in den USA ihre Arbeit machen. Sie sagen, ,Was die da auf dem Kapitol-Hügel sagen, stimmt nicht‘“, antwortete Edelman. „Das Vertrauen in die Medien ist in den Ländern mit nur einer Partei viel höher als in Demokratien, vielleicht weil es nur eine Linie gibt.“ Weiter sagte Edelman: „Ich bin kein Fan von autoritärer Regierung. Ich bin davon geprägt, in Demokratien aufgewachsen zu sein. Aber was Vertrauen angeht, funktioniert das System. Das ist alles, was ich Ihnen sagen kann.“

    Im Statement der Agentur schreibt ein Sprecher: „Das Vertrauensbarometer soll Unternehmen, Organisationen und Institutionen dabei helfen, zu verstehen, wie persönliche Einstellungen zusammenwirken, um breitere gesellschaftliche Kräfte zu prägen.“ Außerdem heißt es: „Aus einer Reihe von Gründen, einschließlich der starken Wirtschaftsleistung über ein Jahrzehnt, weisen Entwicklungsländer in der ganzen Welt ein hohes Maß an Vertrauen bei den inländischen Befragten auf.“

    Zum Zeitpunkt der Atlantic Council-Veranstaltung hatte Edelman mindestens vier Verträge zur Vertretung der Interessen der Regierungen von VAE und Saudi-Arabiens am Laufen, repressiven Regimen, in denen die Menschenrechte regelmäßig bedroht sind, zivile und politische Freiheit fast nicht existiert, Dissidenten routinemäßig schikaniert und inhaftiert werden. Seither hat Edelman weitere Aufträge seitens der Regierungen der Emirate und Saudi-Arabiens angenommen.

    Auch als er auf der Bühne über Vertrauen sprach, war Richard Edelman bei der US-Regierung als ausländischer Agent registriert, der persönlich die Interessen des saudischen Kulturministeriums vertritt, und ist es weiter. Politico bezeichnete Richard Edelmans Entscheidung, sich registrieren zu lassen, als „einen seltenen Schritt für eine so hochrangige Führungskraft eines so großen Unternehmens“.

    „Wir haben mehr als 2.000 Kunden weltweit, die den öffentlichen und privaten Sektor verschiedener Industrien umfassen“, so der Edelmann-Sprecher. „Wir veröffentlichen die Aufträge, die Fara unterliegen, in Übereinstimmung mit den Vorschriften. Wenn Einzelpersonen Dienstleistungen erbracht haben, die eine Registrierung nach Fara erfordern, setzt sich Edelman dafür ein, dass eine Registrierung für diese Personen vorgenommen wird.“
    Richard Edelman empfängt Vertreter des saudischen Kulturministeriums

    Im Juni übermittelte das Unternehmen dem Justizministerium eine geschwärzte E-Mail einer Führungskraft des Unternehmens, in der ein Empfänger in New York City zu einem Kaffee mit dem stellvertretenden Kulturminister Saudi-Arabiens Hamed bin Mohammed Fayez eingeladen wurde. „Der Ehrgeiz des Königreichs Saudi-Arabien ist beeindruckend“, schrieb der Absender.

    Einige Monate später lud Richard Edelman zu einem „kleinen Abendessen“ für Fayez ein. Es war eine von mindestens drei Networking-Veranstaltungen, bei denen er in den vergangenen eineinhalb Jahren persönlich Gastgeber für offizielle Vertreter Saudi-Arabiens war.

    Die Agentur antwortete nicht auf die Frage, ob Richard Edelman regelmäßig an der Kundenarbeit für ausländische Regierungen beteiligt ist.

    Früher in diesem Jahr sagte Richard Edelman dem Fachblatt der Öffentlichkeitsarbeitsbranche PR Week, er sei kürzlich „mit dem Kulturminister herumgereist“ und „habe sechs Kultureinrichtungen besucht. Eine davon erwägt jetzt, eine Schule in Saudi-Arabien zu gründen“. Laut Richard Edelman ist das „die Art von Engagement, die ich haben möchte, weil sich Saudi-Arabien auf einem Kontinuum des Wandels befindet. Das ist die Art Arbeit, die wir machen wollen: Uns engagieren in den wichtigen Fragen und Herausforderungen unserer Zeit“.

    Die New York Times bezeichnete den Kulturminister als „Freund und Verbündeten“ des saudischen Kronprinzen Mohammed bin Salman. Unter dessen Herrschaft „erlebte Saudi-Arabien eine der schlimmsten Zeiten in Bezug auf die Menschenrechte in der modernen Geschichte des Landes“, sagte Joey Shea von der Menschenrechtsorganisation Human Rights Watch im September vor einem Ausschuss des US-Senats.

    Auf die Frage, ob Richard Edelman über die enge Beziehung des saudischen Kulturministeriums mit dem Kronprinzen besorgt sei, antwortete die Agentur nicht; auch nicht darauf, ob er meint, dass die Arbeit seiner Agentur für die Regierungen von Saudi-Arabien und der VAE die Gefahr birgt, die Bilanz der Länder in Bezug auf Menschenrechte und gesellschaftliche und politische Freiheit zu beschönigen oder die Aufmerksamkeit der Öffentlichkeit davon wegzulenken.
    Einflüsse auf Umfrageergebnisse in Saudi-Arabien

    In den vergangenen Jahren wurden Edelmans Geschäfte im Nahen Osten lukrativer, da die Agentur engere Beziehungen zu Saudi-Arabien knüpfte. Edelman arbeitet seit 2013 für die saudi-arabische Regierung, aber bis 2019 tauchte das Land nicht im Trust Barometer auf. Das war weniger als drei Monate, nachdem der Kronprinz die Ermordung des saudi-arabischen Journalisten und Washington Post-Kolumnisten Jamal Khashoggi gebilligt hatte. Khashoggi war ein prominenter Kritiker des Regimes und der Regierung mit harter Hand im Land.

    Edelmans Vertrauensstudien veröffentlichen auch die Daten, an denen die Agentur ihre „Feldarbeit“ durchführt: die Online- und Telefonumfragen, die die Grundlage ihrer Ergebnisse sind. Laut Edelman fand die Feldarbeit für die Umfrage 2019 zwischen dem 19. Oktober und dem 16. November des Vorjahres statt. Das bedeutet, dass das Unternehmen die saudischen Bürger zu ihrem Vertrauen in eine Regierung befragt hat, die weniger als drei Wochen zuvor in den Mord an einem prominenten Kritiker verwickelt war.

    Auch Fragen des Guardians dazu, warum entschieden wurde, Saudi-Arabien im Trust Barometer zu belassen und Umfrageergebnisse zu veröffentlichen, die nur wenige Monate nach Khashoggis Tod angeblich ein hohes Maß an öffentlichem Vertrauen in die saudische Regierung zeigen, beantwortete die Agentur nicht.

    In der Vergangenheit gibt es Fälle, in denen Edelman nach geopolitischen Ereignissen Länder aus dem Vertrauensbarometer strich. Zwischen 2007 und 2022 veröffentlichte die Agentur Angaben zu Russland, beschloss aber 2023, nach der russischen Invasion der Ukraine das Land nicht mehr ins Barometer zu nehmen. „Wenn Wirtschaftsführer sich entscheiden, zu diesen Themen zu schweigen, werden sie jetzt als Mitschuldige angesehen“, schrieb ein Edelman-Manager in einem Blogpost.
    Saudi-Arabien feiert Umfrage als Beweis für erfolgreiche Regierung

    Saudi-arabische Medien nutzen häufig die Ergebnisse der Edelman-Umfragen als Beweis für die Unterstützung der Regierung in der Bevölkerung. Nachdem es im Vertrauensbarometer 2021 hieß, dass 82 Prozent der Saudis ihrer Regierung vertrauten – zusammen mit China der höchste Wert weltweit – veröffentlichte eine saudi-arabische Presseagentur einen Artikel, in dem dieses Ergebnis hervorgehoben wurde. (Laut der internationalen NRO Reporter ohne Grenzen „arbeiten praktisch alle saudischen Medien unter direkter offizieller Kontrolle“, und Journalisten, „die nicht der offiziellen Linie des Lobgesangs auf Kronprinz Mohammed bin Salman folgen, werden de facto zu Verdächtigen“).

    Im darauffolgenden Jahr betonte ein Artikel in Arab Weekly ein ähnlich hohes Vertrauensergebnis als Beweis dafür, dass die „Reformen“ des Königreichs effektiv und populär seien. In dem Artikel hieß es, „Beobachter sind davon überzeugt, dass dieses Vertrauen nach einem 2016 von der saudi-arabischen Führung angestoßenen Rerformprozess zugenommen hat“. 2016 begann der Kronprinz, den Ruf des Landes als „globales Powerhouse für Investitionen“ neu zu beleben.

    „In den vergangenen Jahren versuchten einige Leute, die Fähigkeit der derzeitigen Führung in Frage zu stellen, ihre Reformziele zu erreichen“, heißt es in der Arab Weekly. „Die bisherigen Ergebnisse zeigen jedoch, dass die Behörden ihre Ziele erreichen konnten, was das Vertrauen der Bürger in die Regierung gestärkt hat.“
    Edelman-Umfragen unterliegen „autokratischer Vertrauensverzerrung“

    Richard Edelman bezeichnete das Edelman Trust Barometer als „Daten, nicht Meinung“. Doch Umfrage-Experten kamen zu dem Ergebnis, dass die Messung der öffentlichen Unterstützung für die Regierung in autoritären Staaten tendenziell größer wirkt als sie eigentlich ist. Das macht es schwierig, Demokratien direkt mit Ländern zu vergleichen, die keine Demokratien sind.

    Edelman lehnte es ab, Fragen dazu zu beantworten, ob sie diese Tatsache bei der Erstellung des Vertrauensbarometers berücksichtigt und ob sie glaubt, dass die Umfrageergebnisse in Demokratien und Autokratien direkt vergleichbar sind. Im Statement der PR-Agentur heißt es: „Wir verpflichten uns zu Transparenz, was den Methodenansatz unseres Trust Barometers betrifft. Wir halten uns an die branchen- und länderspezifischen Vorschriften und Standards, einschließlich des Kodex der Insights Association for Standards and Ethics sowie den Kodex und die Richtlinien von ESOMAR.“

    ESOMAR ist die Abkürzung der Non-Profit-Organisation European Society for Opinion and Marketing Research. Sie wird laut eigenen Angaben „primär finanziert“ durch ihre Mitglieder, von denen rund zwei Drittel Unternehmen sind.

    Staffan I Lindberg, Gründungsdirektor der Non-Profit-Organisation Varieties of Democracy (V-Dem) Institute, die Forschung zu Demokratie auf der ganzen Welt betreibt, formuliert es so: „Es gibt tonnenweise Beweise dafür, dass die Befragung zu autoritären Ländern ein irreführendes Bild ergibt. Die Zufriedenheit mit autoritären Regierungen, das Vertrauen in und die Unterstützung für sie wird zu hoch eingeschätzt.“

    In einer Studie analysierte Marcus Tannenberg von der schwedischen Universität Göteborg rund 80.000 Umfrageergebnisse aus mehr als 30 afrikanischen Ländern. Dabei kam er zu dem Schluss, dass „Angst vor der Regierung“ die Befragten in autokratischen Staaten dazu veranlasst, ihr Vertrauen in die Regierung deutlich höher einzuschätzen – ein Trend, den Tannenberg als „autokratische Vertrauensverzerrung“ bezeichnet.

    Solche Ängste sind in manchen der Länder, mit denen Edelman im Geschäft ist, wohlbegründet.
    Saudi-Arabien will „Soft-Power“ stärken

    Im August beispielsweise berichtete Human Rights Watch, dass der frühere Lehrer Muhammad al-Ghamdi für seine „Twitternachrichten, Twitter-Weiterleitungen und YouTube-Aktivitäten“ zum Tode verurteilt wurde. Laut Gerichtsdokumenten, die Human Rights Watch vorlagen, erklärte ein saudi-arabisches Gericht, „das Ausmaß seiner Taten wurde noch durch die Tatsache verstärkt, dass sie auf einer globalen Medienplattform geschahen, was strenge Bestrafung erfordert“. Laut Human Rights Watch hatten die beiden von dem Gericht zitierten Twitter-Accounts Ghamdis zusammen genommen zehn Follower. Andere saudi-arabische Bürger erhielten für ihre Twitter-Aktivität jahrzehntelange Gefängnisstrafen.

    Dass die saudischen Behörden globale Medienplattformen wie Twitter, jetzt X, genau beobachten, könnte erklären, warum die Regierung so viel Geld in die Aufpolierung des Regierungsimages in den sozialen Medien investierte.

    Anfang Februar schloss Edelman einen Dreijahresvertrag zur Verbesserung der „Social-Media-Präsenz“ der Führungskräfte von Neom ab, einer futuristischen Stadt, die eine persönliche Priorität von Prinz Mohammed ist und dem staatlichen Vermögensfonds des Landes gehört, den der Kronprinz kontrolliert. Weiterhin unterzeichnete Edelman einen separaten Vertrag, um an einigen der anderen Soziale-Medien-Accounts von Neom zu arbeiten. Diese Projekte kamen zur harten Soziale-Medien-Arbeit hinzu, die Edelman für die Regierung der Emirate im Vorlauf zum UN-Klimagipfel Ende November leistete.

    „Es geht um Soft Power“, erklärte Richard Edelman der Publikation PRWeek über die Arbeit seiner Firma mit dem Ziel, den Ruf der saudi-arabischen Regierung in den USA zu verbessern. „Es geht darum, der Welt die Kultur Saudi-Arabiens zu präsentieren, und die Menschen in Saudi-Arabien mit westlicher Kultur bekannt zu machen.“

    Benjamin Freeman vom Quincy Institute for Responsible Statecraft erklärte: „Die amerikanische Bevölkerung soll Saudi-Arabien nicht mit dem Anschlag von 9/11 verbinden oder mit dem brutalen Mord an dem saudi-arabischen Journalisten Jamal Khashoggi. Stattdessen wollen sie, dass wir an Golf denken. Sie wollen, dass wir an die Kunstwelt denken. Sie wollen, dass wir an Hollywood denken.“ Weiter sagte er: „Alles, was sie tun können, um die Jalousien vor unseren Augen herunter zu ziehen, werden sie tun. Und Leuten wie Edelman, solchen PR-Leuten, fehlt es nicht an Ideen, wie sich das genau bewerkstelligen lässt.“

  • Die Bürgergeld-Armutsspirale : Dispo gekündigt, Handy kaputt, Hungertage
    https://www.freitag.de/autoren/janina-luett/die-buergergeld-armutsspirale-dispo-gekuendigt-handy-kaputt-hungertage

    La vie de pauvre en Allemagne te ronge. Voilà comment ça se passe. Après une certaine durée de la vie comme bénéficiare de Bürgergeld tu n’a pas seulement des dettes que tu ne pourras jamais rembourser, en sus tu te coltines des troubles anxieux sans remède.

    La politique de la terreur contre les pauvres n’est pas une exclusivité allemande. Ailleurs on crève sur les trottoirs de sa ville ou sous le soleil du paysage transformé en désert. Il y a plus qu’assez de raisons pour s’engager dans la lutte solidaire contre les responsables de la pauvreté dans le monde.

    Von Janina Lütt - Sie überlegen, ob Sie mit dem Bürgergeld ganz gut hinkommen würden? Unsere Kolumnistin Janina Lütt erklärt, wie das Geld erst ausreicht – aber dann ein kaputtes Handy und ein übersehenes Abo langsam, aber sicher in die Armut ziehen

    Und wieder geht sie los, die Hetze gegen Bürgergeld-Beziehende. 3,25 Milliarden Euro mehr braucht der Sozialminister Hubertus Heil aus dem Etat, und schon hetzt die CDU wieder gegen Armutsbetroffene und will Bürgergeldempfänger dazu zwingen, zu arbeiten. Sonst, so lautet der Tenor, kündigen ja alle ihre Jobs, um sich das Leben mit Bürgergeld einfacher zu machen! Da sich nicht-armutsbetroffene Menschen kaum vorstellen können, wie man mit Bürgergeldbezug in die Armutsspirale gerät, schreibe ich es mal auf. Damit Hubertus Heil das nicht ganz alleine erklären muss.

    Das vorweg: Es gibt durchaus Beispiele von Menschen, die eine Weile gut mit Bürgergeld leben können – temporär. Dabei kommt es darauf an, wie die Ausgangssituation aussieht: Mussten Sie noch nie Sozialleistungen beantragen? Haben Sie Rücklagen? Dann ist die Situation vorerst nicht schlimm. Aber je länger Sie von Bürgergeld leben müssen, desto schlimmer wird es. Wenn Sie armutsbetroffen sind, leben Sie ein Leben auf Verschleiß.

    Die erste Zeit kommen sie noch ganz gut mit ihrem Geld aus: Ihre Wohnung ist ja bereits eingerichtet, mit etwas Glück haben Sie schon ein Auto und sogar ein bisschen angespart, als Sie gearbeitet haben. Das monatliche Bürgergeld ist knapp, aber die Einkäufe können Sie damit bestreiten (wenn Sie den Bio-Laden meiden), und wenn der Toaster kaputtgeht, gibt es ja Kleinanzeigen. Dann geht Ihre Waschmaschine kaputt. Sie lesen nach: Ah, Sie können beim Amt ein Darlehen bekommen! Prima, das machen Sie. Sie diskutieren ein wenig über den Preis, aber Sie haben Glück: Das Darlehen wird bewilligt. In den kommenden Monaten spüren Sie die monatlichen Abzüge, denn das Darlehen zahlen Sie nun zurück. Es wird enger. Natürlich, denn sie bekommen nun faktisch weniger Geld, als Sie für das Existenzminimum brauchen.
    Bei Bürgergeld kündigt Ihnen die Bank den Dispo

    Vielleicht kriegen Sie das noch kompensiert, die Rücklagen sind zwar kleiner, aber okay, zur Not, denken Sie sich, gibt es ja noch den Dispo. Dann springt Ihr Auto nicht mehr an. Oder Ihnen fällt im Stress das Handy runter und zersplittert, der Touchscreen funktioniert nicht mehr. Sie bekommen einen Brief von Ihrer Bank: Da diese inzwischen mitbekommen hat, dass Sie Bürgergeld beziehen, wird Ihnen der Dispo aufgekündigt.

    Jetzt schauen Sie schon panischer auf die Kontoauszüge. Sie sehen, dass da monatlich noch Zahlungen abgehen, die Sie nicht bedacht haben: Ein Online-Abo für eine Zeitung, und Spotify, oder die Bahncard, was haben Sie sich dabei gedacht? Schnell kündigen Sie, aber: Die Kündigung gilt erst in drei Monaten. Ihre Rücklagen schmelzen dahin.

    Die Darlehensabzüge von Ihrem Bürgergeldsatz wegen Ihres finanziellen Super-Gaus – Sie erinnern sich: die Waschmaschine – werden nun immer höher, Sie haben immer weniger Geld zur Verfügung. Jetzt steigen die Lebensmittelpreise, auch die ganz normalen Einkäufe werden Ende des Monats zu teuer. Ihr Konto geht gen Null. Sie bekommen einen Schweißausbruch, Ihnen wird klar: Sie müssen Ihren Bruder um etwas Geld bitten, oder Ihre Eltern, oder Freunde – wenn Sie welche haben. Sehr unangenehm, wenn Sie an den letzten Streit denken, stimmt’s? Aber Sie bekommen 100 Euro, und die Situation entspannt sich.
    Dann ist die Wohnung zu groß: Sie zahlen einen Teil der Miete selbst

    Dann steigen die Energiekosten. Nun gut, die meisten Heizkosten werden ja übernommen! Da finden Sie einen Brief im Briefkasten, vom Jobcenter: Ihre Wohnung ist nicht angemessen. Sie wohnen auf 60 Quadratmetern allein, damit ist die Wohnung zehn Quadratmeter zu groß, und die Heizkostenrechnung wird nicht komplett übernommen. Dann kommt die Stromrechnung. Auch sie übersteigt den Anteil im Bürgergeld von 42,55 Euro bei Weitem.

    Sie bekommen eine E-Mail von Ihrem Vermieter: Die Mietzahlungen von dem Jobcenter sind nicht ausreichend, Sie müssen bitte die Restmiete für die vergangenen drei Monate überweisen. Wie, dafür haben Sie nichts zur Seite gelegt, als der Brief vom Jobcenter kam? Nicht gut. Natürlich wird ihnen nahegelegt, eine kleinere Wohnung zu suchen, und vor allem eine günstigere. Ich muss Ihnen nicht sagen, wie die Verhältnisse auf dem Wohnungsmarkt sind, oder? Sie haben kaum eine Chance.

    Sie gehen zum Termin mit Ihrem Sachbearbeiter. Sie überzeugen ihn, in der Wohnung wohnen bleiben zu dürfen, wenn Sie die Differenz selbst zahlen. 50 bis 70 Euro, die Ihnen nun monatlich fehlen.
    Manche Bürgergeldempfänger legen Hungertage ein

    Die Armutsspirale dreht sich nun: kaputte Schuhe, kaputte Kleidung, kaputter Wasserkocher, teure Medikamente, Zuzahlungen, Cranberry-Saft gegen Blasenentzündung. Hoffentlich sind Sie nicht chronisch krank, das ist teuer.

    Ihrer Familie schulden Sie inzwischen Hunderte Euro, und allen wird langsam klar, dass Sie es nie zurückzahlen können, solange sie weiter von Bürgergeld leben. Was tun Sie? Verzichten Sie auf bestimmte Lebensmittel? Ich kenne Bürgergeldempfänger, die „Hungertage“ einlegen, oder die so lange schlafen, wie sie können, damit Sie auf eine Mahlzeit am Tag verzichten können.

    Und nun wird Ihnen gesagt: Sparen Sie! Ich hatte eine Phase, da trug ich löchrige Unterhemden und hatte Plastiktüten in den Schuhen, weil die Sohle unten Löcher hatte und der Regen reinlief. Damals war meine bis jetzt schlimmste Zeit als Armutsbetroffene.

    Es ist schwer, sich ein Leben als Arme vorzustellen, wenn man nie arm war, daher versuche ich so gut es geht, Ihnen diese Situation nahezubringen. Als Armutsbetroffene haben Sie immer Stress, weil der ständige Mangel Ängste schürt: Kann ich meine Wohnung behalten? Kann ich nächsten Monat genug zu Essen kaufen? Kann ich meine Rechnungen bezahlen? Kann ich meine Medikamente bezahlen? Zahlt das Amt diesen Monat?

    Ich habe immer noch Angst davor, dass ich am Anfang des Monats kein Geld bekomme, weil in früheren Jahren das Amt nicht regelmäßig gezahlt hatte, dabei ist das Jahre her. Armut prägt einen Menschen für das Leben.

    #IchbinArmutsbetroffen

    Janina Lütt lebt mit ihrem Kind in Elmshorn. Auf freitag.de schreibt sie eine regelmäßige Kolumne über den Kampf mit und gegen Armut

    #Allemagne #Bürgergeld #Hartz_IV #pauvres

  • Algenfarmen gegen den Klimawandel : „Wir können die Erde retten“ – Wirklich ?
    https://www.freitag.de/autoren/svenja-beller-bnd/marine-permakultur-algenfarmen-sollen-erde-vor-klimawandel-retten


    Sauver le monde en se remplissant les poches d’argent - l’exploitation agricole des mers est le pays de cocagne des investisseurs verts. Les conséquences imprévisibles ... on verra bien.

    16.11.2023 von Svenja Beller
    ...
    Kurz bevor wir uns verabschieden erzählt Tubal dann aber fast beiläufig, dass die Climate Foundation in der Region auch mehrere Artificial-Upwelling-Projekte plant. Sie wolle sie nah an der Küste entlang von Riffen installieren, erzählt er. Auf erneutes Nachhaken räumen das dann auch Donohue und von Herzen ein. Artificial Upwelling lässt sich zu „Künstlicher Auftrieb“ übersetzen, von Herzen findet aber schon die Bezeichnung falsch: „Es ist nichts Künstliches daran, einen natürlichen Prozess auf regionaler Ebene wiederherzustellen.“ Das würden sie tun, indem sie mit hunderte Meter langen Rohren Wasser an die Oberfläche pumpen. Nur könnten sie damit mehr Schaden anrichten als helfen.

    Es sei falsch, die Komplexität natürlicher Auftriebsereignisse mit künstlichen gleichzusetzen, mahnt die Heinrich-Böll-Stiftung in einer Analyse. Tut man das, können die Folgen verheerend sein. „Der Ozean ist stark geschichtet und das ist gut so, weil er in der Tiefe unheimlich viel CO₂ speichert“, erklärt mir Andreas Oschlies, Leiter der Forschungseinheit Biogeochemische Modellierung des GEOMAR Helmholtz-Zentrums für Ozeanforschung Kiel, auch er hat im Videocall einen Meereshintergrund, nur ohne Algen. „Dieses CO₂ wollen wir eigentlich gar nicht nach oben bringen. Wenn wir in die Klimamodelle Artificial Upwelling reinbringen, zeigt sich aber, dass zusammen mit den Nährstoffen ganz viel CO₂ hochgepumpt wird.“

    Dieses gelangt dann an der Oberfläche zurück in die Atmosphäre und könnte den Gewinn an neu gespeichertem CO₂ zunichte machen. „Und alle Nährstoffe, die diese Algen aufnehmen, fehlen woanders“, fährt Oschlies fort. „Also hat man dann irgendwo einen Algenfarmer, der verdient prächtig Geld, aber nebenan oder vielleicht einen halben Kontinent weiter weg, fangen die Fischer plötzlich weniger, weil da wegen weniger Nährstoffen weniger Algen wachsen und dadurch weniger Fische da sind.“

    Bei allen Vorteilen könnte die Climate Foundation mit dem umstrittenen Artificial Upwelling mehr Schaden anrichten, als sie hilft.

    Die Liste der Probleme ist noch länger: Das Tiefenwasser kühle zwar sogar die Atmosphäre, verdränge gleichzeitig aber auch das warme Oberflächenwasser nach unten, das dort lebenden Pflanzen und Tieren schaden könne. Der Eingriff kann die Blüte unerwünschter giftiger Algen begünstigen, zu Sauerstoffarmut im Wasser führen und Meeresströmungen verändern, was wiederum Wettermuster beeinflussen kann. Und ein positiver Effekt kann den Algenwäldern auch zum Verhängnis werden: Weil sich Meerestiere in ihnen wohlfühlen, vermehren sie sich in ihrer Umgebung, das haben mehrere Studien bestätigt. Einige dieser Tiere bilden Kalziumkarbonatschalen, ein Prozess, bei dem CO₂ freigesetzt wird. „Das kann zehn bis dreißig Prozent der CO₂-Aufnahme der Algen wieder zunichte machen“, sagt Oschlies. Als Mitglied einer internationalen Expertengruppe, die die Vereinten Nationen berät, kam er zu dem Schluss: „Diese Methode hat [...] nur ein sehr begrenztes Potential zur Kohlenstoffbindung und das Risiko erheblicher Nebenwirkungen.“

    https://www.climatefoundation.org

    Permaculture marine
    https://fr.m.wikipedia.org/wiki/Permaculture_marine

    #Philippines #climat #écologie #vie_marine #permaculture_marine #captalisme #startup #Anthropocène #Capitalocène

  • Es gibt keine gute Seite in diesem Krieg !
    https://www.freitag.de/autoren/slavoj-zizek/slavoj-zizek-nach-buchmesse-rede-es-gibt-keine-gute-seite-in-diesem-krieg

    Slavoj Žižek vient de me faire découvrir le sionisme antisemite. Je me demande pourquoi je ne l’ai pas identifié tout seul, tellement c’est évident.

    Anders Breivik, Reinhardt Heydrich, les Proud Boys de Trump et le parti AfD font partie de la bande. Le terme explique comment on peut être amtisemite et sioniste dans un même instant.

    Ces personnages ignobles veulent se débarasser des juifs. Ils sont d’abord antisemites. Leur solution est d’envoyer les juifs en Palestine..

    Reinhardt Heydrich en a donné l’exemple. L’holocauste est la conséquence de l’échec de son approche initiale du « problème juif ».

    Les sionistes antisemites partagent le dédain des arabes avec les sionistes juifs et se soucient peu de leur sort. Ils sont proches de la droite génocidaire israëlienne et font partie de la majorité au sein de la politique allemande qui soutient l’état d’Israël sans condition.

    Les juifs d"Israel et les sionistes juifs ont des amis dangereux.

    Les faits qui composent la réalité sont chaotiques et contradictoires. On a tendance à l’oublier parce que c’est troublant et inquiétant. On préfère les idées et positions auxquelles on est habitué et passe à côtre de bien de choses essentielles. Merci Slavoj Žižek de me l’avoir fait remarquer.

    26.10.2023 von Slavoj Žižek - Essay: Die Rede von Slavoj Žižek auf der Frankfurter Buchmesse sorgt für Diskussion: Muss der Terror der Hamas im Kontext der Unterdrückung der Palästinenser gesehen werden? Der Philosoph hält daran fest: Wir müssen den Kontext des Bösen verstehen

    Meine Rede auf der Eröffnungsfeier der Frankfurter Buchmesse wurde zweimal harsch von dem Antisemitismusbeauftragten des Landes Hessen Uwe Becker unterbrochen – und löste dann eine Lawine von Angriffen auf mich aus. Warum?

    Zunächst einige Fakten zu meiner Rede. Ich hatte zunächst eine ganz andere Rede geschrieben, aber kurz nach dem Hamas-Anschlag wurde ich von Jürgen Boos kontaktiert, dem Direktor der Frankfurter Buchmesse, der mich bat, in meinem Vortrag auch den Krieg zu erwähnen. Wahrscheinlich erwartete man von mir, mich einfach in den Chor all derer einzureihen, die das, was die Regierung Israels tut, nun bedingungslos zu unterstützen. Meine neue Rede habe ich im Voraus an die slowenischen Organisatoren und an die Buchmesse in Frankfurt, einschließlich an Jürgen Boos, geschickt, sie enthielt keine Überraschung: Die Organisatoren kannten sie.

    Warum also die Angriffe auf mich? Es hat einige Zeit gedauert, bis ich es begriffen habe: Nicht weil ich in meiner Rede zu extrem war, sondern gerade weil ich sehr ausgewogen und gemäßigt war, wurde ich angegriffen. Es ist leicht, jemanden zu verurteilen, der „Tod für Israel“ skandiert – viel leichter als jemanden, der den Hamas-Anschlag bedingungslos verurteilt und gleichzeitig auf dessen Hintergründe aufmerksam macht.

    Schließlich könnte ein solcher Ansatz einige dazu verleiten, auch das palästinensische Leid zu sehen. Dass ich dabei einige jüdische Personen zitiert habe, auf die ich mich positiv bezog, darunter Moshe Dayan, Simon Wiesenthal oder Marek Edelman, hat einige Kritiker wohl zusätzlich verärgert. Ich habe aber auch einige wütende Nachrichten von Palästinensern aus dem Westjordanland erhalten. Sie sind wütend, weil ich nicht ausdrücklich gesagt habe, dass sie angesichts dessen, was jetzt mit den Palästinensern geschieht, nicht im Opferdasein verharren können: Haben die Menschen im Westjordanland nicht auch ein Recht auf Wut?

    Meine eigene Wut richtet sich im Moment eher auf Antisemitismusbeauftragte, die im Namen Deutschlands eine schlimme Strategie fahren: Diejenigen aus dem Land, das den Holocaust begangen hat, versuchen nun, sich von ihrer Schuld zu entlasten, indem sie das israelische Unrecht an einer anderen Gruppe befürworten! Die deutsche Besessenheit, auf der richtigen Seite zu stehen, bekommt derzeit eine dunkle Kehrseite.

    Die Dummheit des Jahres: „Das Böse der Hamas hat keinen Kontext“

    Nun zur inhaltlichen Auseinandersetzung mit meiner Rede. Hier ist eine der vielen Reaktionen darauf in den Medien: „Der populäre slowenische Philosoph und Kulturkritiker Slavoj Žižek sorgte während der Eröffnungszeremonie für einen Skandal“, schreibt die ukrainische Medienplattform The Gaze. „Žižek verurteilte den Terroranschlag der palästinensischen islamistischen Bewegung HAMAS auf Israel und betonte die Notwendigkeit, ‚den Palästinensern zuzuhören und ihre Vergangenheit zu berücksichtigen.’“

    Zunächst stelle ich fest: Der letzte Teilsatz in Anführungszeichen ist kein Zitat aus meinem Text, obwohl er als Zitat dargestellt wird. Zweitens: Ja, es gab einen Skandal, aber war es wirklich ich, der ihn verursacht hat? War der wahre Skandal nicht die Art und Weise, wie meine Rede zweimal lautstark unterbrochen wurde – und diese Unterbrechungen wofür, weil ich was genau getan habe? Ich wurde dafür unterbrochen, dass ich nur das Offensichtliche gesagt habe, was wir jeden Tag in unseren Medien lesen und sehen können: dass es keine Lösung für die Krise im Nahen Osten gibt, ohne den Schwebezustand der Palästinenser zu beenden.

    Der Hauptkandidat für die Dummheit des Jahres ist meiner Meinung nach eine Zwischenüberschrift in einem kürzlich erschienenen Text in der Zeit: „Das Böse der Hamas hat keinen Kontext“. Was damit gemeint ist, wurde in Behauptungen deutlich, die ich in Frankfurt immer wieder zu hören bekam: „Es gibt hier keine zwei Seiten. Es gibt nur eine Seite.“

    Es wurde auf dem Podium von Meron Mendel, Doron Rabinovici und Tomer Dotan-Dreyfus sogar offen über die Ablehnung des Wortes „Aber“ diskutiert. Aber: Ist „aber“ nicht die höfliche Art, in einem Dialog zu widersprechen, also in den Dialog zu treten? „Ich sehe und respektiere Ihren Standpunkt, aber …“ Wie können wir den Konflikt im Nahen Osten verstehen, ohne all die Abers darin zu sehen, die Widersprüche und Antworten „der einen Seite“ darauf?

    Der Kontext des Antisemitismus

    Eine Analyse des Kontextes eines Massakers oder eines Krieges bedeutet keine Entschuldigung oder Rechtfertigung. Es gibt zahlreiche Analysen darüber, wie die Nazis an die Macht kamen, und sie rechtfertigen Hitler in keiner Weise, sondern beschreiben nur die verworrene wirtschaftliche, gesellschaftliche und politische Situation, die Hitler ausnutzte, um die Macht zu übernehmen. Hitler erschien nicht plötzlich aus einem Vakuum. In den 1920er und 1930er Jahren bot er den Antisemitismus als Erklärung für die Probleme der Deutschen an: Arbeitslosigkeit, moralischer Verfall, soziale Unruhen. Die Vorstellung eines „jüdischen Komplotts“ als Erklärung schien all das zu sortieren, indem sie eine einfache „kognitive Zuordnung“ ermöglichte.

    Funktioniert der heutige Hass auf den Multikulturalismus und die Bedrohung durch die Geflüchtete und Migrant*innen nicht in ähnlicher Weise? Es geschehen merkwürdige Dinge, es kommt zu finanziellen Zusammenbrüchen und wirtschaftlichen Umbrüchen und Verschiebungen, die unser tägliches Leben beeinflussen, die aber als völlig undurchsichtig empfunden werden. Die Ablehnung des Multikulturalismus bringt eine falsche Klarheit in die Situation: Es sind die ausländischen Eindringlinge, die unsere Lebensweise stören.

    Warum vergleiche ich die radikale Hamas mit der radikalen Haltung der Netanjahu-Regierung?

    Historische Vergleiche, die den Nationalsozialismus betreffen, sollen prinzipiell abgelehnt werden, ich komme später auf die Einzigartigkeit des Holocaust zurück. Aber der Vergleich einzelner politischer Entwicklungen kann helfen, aus der Geschichte zu lernen. Und damit zurück zu meiner Rede, denn auch hier hat ein Vergleich für Empörung gesorgt, und zwar meine Erwähnung der seltsamen Ähnlichkeit zwischen der radikalen Hamas und der radikalen Haltung der letzten Netanjahu-Regierung. Hier ist das Zitat aus meiner Rede:

    „Ismail Haniyeh, der Führer der Hamas, der bequem in Dubai lebt, sagte am Tag des Angriffs: ‚Wir haben euch nur eines zu sagen: Verschwindet aus unserem Land. Geht uns aus den Augen … Dieses Land gehört uns, Jerusalem gehört uns, alles hier gehört uns … Es gibt keinen Ort und keine Sicherheit für euch.‘ Klare und ekelhafte Worte. Aber hat die israelische Regierung nicht etwas Ähnliches gesagt, wenn auch nicht auf so brutale Weise? Ich verweise nochmals auf das erste der offiziellen ‚Grundprinzipien‘ der gegenwärtigen israelischen Regierung: ‚Das jüdische Volk hat ein exklusives und unveräußerliches Recht auf alle Teile des Landes Israel. Die Regierung wird die Besiedlung aller Teile des Landes Israel – in Galiläa, im Negev, auf dem Golan und in Judäa und Samaria – fördern und entwickeln.‘ Oder, wie Netanjahu erklärte: ‚Israel ist nicht ein Staat aller seiner Bürger‘, sondern ‚des jüdischen Volkes – und nur dieses‘. Schließt dieses ‚Prinzip‘ nicht jegliche ernsthafte Verhandlungen aus? Die Palästinenser werden strikt als Problem behandelt, der Staat Israel hat ihnen nie Hoffnung gemacht und ihre Rolle in dem Staat, in dem sie leben, positiv umrissen. Unter all der Polemik darüber, ‚wer mehr Terrorist ist‘, liegt wie eine schwere dunkle Wolke die Masse der palästinensischen Araber, die jahrzehntelang in einem Schwebezustand gehalten werden und täglich Schikanen durch Siedler und den israelischen Staat ausgesetzt sind. (…) Vielleicht muss man als erstes die massive Verzweiflung und Verwirrung klar erkennen, die zu Taten des Bösen führen kann. Es wird keinen Frieden im Nahen Osten geben, wenn die palästinensische Frage nicht gelöst wird.“

    Soweit meine Rede. Mir wurde hier vorgeworfen, eine entscheidende Tatsache zu ignorieren. Die israelische Regierung sage nicht einfach dasselbe wie die Hamas in einer zivilisierteren Weise, sondern es gäbe auch einen wichtigen Unterschied im Inhalt: Die israelische Regierung fordert nicht das wahllose Umbringen aller ihrer Gegner – und ermordet auch nicht tatsächlich wahllos ihre Gegner. Das stimmt, und das ist ein wichtiger Unterschied.

    Es gibt jedoch einen weiteren Unterschied: Während die Hamas und ihre Verbündeten verkünden, die Juden aus dem israelischen Land zu vertreiben, arbeitet Israel tatsächlich an solch einer Vertreibung, indem es die Palästinenser im Westjordanland schrittweise, aber unaufhaltsam ihres Landes beraubt. Sogar die USA haben sich besorgt über die Angriffe der Siedler auf Palästinenser im Westjordanland geäußert, Staatssekretär Antony Blinken hat seine „Besorgnis“ darüber zum Ausdruck gebracht und, wie zu erwarten war, die Zusage erhalten, dass Israel der Sache „nachgehen wird“. Wie dies mit Itamar Ben Gvir als Minister für Nationale Sicherheit geschehen soll, ist derweil nicht klar. Ben Gvir kündigte am 10. Oktober 2023 an, 10.000 Gewehre für bewaffnete zivile Sicherheitsteams zu beschaffen, die in Städten nahe der israelischen Grenzen sowie in gemischten jüdisch-arabischen Städten – und in Siedlungen im Westjordanland eingesetzt werden sollen.

    Die Scheinwerfer der Medien zeigten zu lange nicht auf Gaza Soweit ich weiß, hat niemand die Fakten bestritten, auf die ich mich in meiner Rede beziehe. Das Hauptgegenargument war, dass dieser Zeitpunkt, an dem Juden in Israel massenhaft sterben – und andernorts, auch in Europa, bedroht werden – nicht der richtige für eine grundlegende Analyse des Konflikts im Nahen Osten sei. Ich traute meinen Ohren nicht, als ich dieses Argument hörte, denn „zu diesem Zeitpunkt“, also zehn Tage nach dem verheerenden Hamas-Angriff, waren bereits mehr Palästinenser gestorben als jüdische Israelis. Aber es stimmt: Zu anderen Zeitpunkten zuvor habe ich das Grauen, das sich in Gaza abspielte, ignoriert. Warum habe ich es so lange ignoriert?

    Erinnern Sie sich an die allerletzten Zeilen von Brechts Dreigroschenoper: „Denn die einen sind im Dunkeln / Und die andern sind im Licht. / Und man sieht nur die im Lichte / Die im Dunkeln sieht man nicht.“ Das ist (vielleicht mehr denn je) unsere Situation heute, im selbsternannten Zeitalter der modernen Medien: Während die großen Medien bis vor kurzem voll mit Nachrichten über den noch immer fortdauernden Ukraine-Krieg waren, wurde über andere, teils tödlichere Kriege der Welt nicht oder kaum berichtet. Jetzt, da die Scheinwerfer auf den Nahen Osten gerichtet sind, kann man nicht umhin festzustellen, dass sie fast ausschließlich auf den Gazastreifen gerichtet sind, und noch immer nicht auf das Westjordanland, wo womöglich gerade etwas viel Entscheidenderes vor sich geht. Um hier keine Missverständnisse aufkommen zu lassen: Ich bin entsetzt darüber, dass die Bombardierung des Gazastreifens durch die israelische Armee IDF mehr „Kollateralschäden“ an der Zivilbevölkerung verursacht als an den Hamas-Kräften selbst, aber ich gehe nicht davon aus, dass Israel den Gazastreifen wieder besetzen will. Ich gehe davon aus, das Ereignis, das die Geschichte im Nahen Osten langfristig prägen könnte, findet derzeit und schon seit Jahren im Westjordanland statt: Es ist die Vertreibung der palästinensischen Bevölkerung zugunsten israelischer Besiedlung.

    Ich kann Judith Butler nur beipflichten, die in ihrem Text im Freitag und in der London Review of Books in einem eindrücklichen Zitat die Gewalt beschreibt: „Von der systematischen Beschlagnahmung von Land bis zu routinemäßigen Luftangriffen, von willkürlichen Verhaftungen bis zu militärischen Kontrollpunkten, von erzwungenen Familientrennungen bis zu gezielten Tötungen sind die Palästinenser gezwungen, in einem Zustand des langsamen und plötzlichen Todes gleichermaßen zu leben.“

    Der Terror israelischer Siedler im Westjordanland

    Unter der neuen Netanjahu-Regierung nahm dieser Druck auf Palästinenser in der Westbank enorm zu. Unter Dutzenden von Videoclips, die derzeit kursieren, möchte ich nur einen erwähnen. Es ist bei Weitem nicht das gewalttätigste, aber zumindest für mich das deprimierendste Video. Es zeigt einen Siedler, der eine Gruppe palästinensischer Bauern, die auf ihrem Land arbeiten, demütigt und beschimpft, indem er behauptet, das Land gehöre ihnen nicht, er öffnet ihre Säcke mit Saatgut und verstreut es, er stellt sich provokativ Brust an Brust vor die Palästinenser und ruft: „Warum schlägst du mich nicht? Bist du ein Mann?“ All diese Drohgebärden passieren in der stillen Gegenwart einiger beobachtender, bewaffneter israelischer Soldaten im Hintergrund. Können wir uns vorstellen, was passiert wäre, wenn ein palästinensischer Bauer dies mit einer Gruppe von israelischen, jüdischen Siedlern gemacht hätte?

    Das ist nur ein Detail. Es passieren auch andere Dinge: Gruppen von Siedlern schicken palästinensischen Häusern die Drohung, dass sie ihre Wohnung in den nächsten 24 Stunden räumen sollen, und wenn sie das nicht tun, kommen die Siedler und greifen die Familien an. Am 12. Oktober wurden zwei Palästinenser getötet, als israelische Siedler das Feuer auf einen Trauerzug in der Nähe der Westbankstadt Qusra, südlich von Nablus, eröffnet hatten. „Krankenwagen transportierten die Leichen von vier Palästinensern, die einen Tag zuvor erschossen worden waren, Berichten zufolge ebenfalls von israelischen Siedlern, als Siedler am Tatort eintrafen und versuchten, den Beerdigungszug aufzuhalten“, schreibt die Times of Israel. Einer der Fahrer des Krankenwagens wurde von der israelischen Zeitung Haaretz mit den Worten zitiert, dass „die Siedler dort gewartet hätten. Sie blockierten das Tor und begannen, auf uns und andere Menschen, die zur Beerdigung gekommen waren, zu schießen.“

    Die offizielle Reaktion? Die israelischen Verteidigungskräfte IDF teilten mit, dass nach Zusammenstößen zwischen Siedlern und Palästinensern in dem Dorf, in dem die Beerdigung stattfinden sollte, mehrere palästinensische Opfer zu beklagen seien und „dass der Vorfall untersucht werde.“ Im vergangenen Jahr gab es wiederholt Vorfälle, bei denen junge Siedler gewaltsam in Dörfer eindrangen und dabei mehrere Palästinenser töteten, zahlreiche Menschen verletzten und erheblichen Sachschaden anrichteten. Die Angreifer werden selten verhaftet, geschweige denn für ihre Taten belangt.

    Im Februar dieses Jahres jagte ein aggressiver Mob israelischer Siedler mit Knüppeln und Schusswaffen durch die Straßen der palästinensischen Stadt Huwara nahe Nablus und umliegende Dörfer. Ein Palästinenser starb, mehrere Hundert wurden verletzt. Es ist nur einer vieler gewaltsamer Übergriffe, bei denen manchmal ein, zwei, drei Palästinenser sterben, jeder Vorfall für sich löste keine weltweite Empörung aus. Seit 2008 haben israelische Streitkräfte und Siedler im Westjordanland und im Gazastreifen aber fast 3.800 palästinensische Zivilisten getötet – bis zum Ausbruch des derzeitigen Krieges. Wenn dies keine Form von Terror ist, dann hat dieses Wort überhaupt keine Bedeutung.

    Gewalt gegen Palästinenser wird gutgeheißen Solange die traditionelle säkulare zionistische Siedler-Kolonialideologie vorherrschte, privilegierte der Staat (mehr oder weniger) diskret seine jüdischen Bürger gegenüber den Palästinensern; er unternahm jedoch große Anstrengungen, um den
    Anschein einer neutralen Rechtsstaatlichkeit aufrechtzuerhalten. Von Zeit zu Zeit verurteilte er zionistische Extremisten für ihre Verbrechen gegen Palästinenser, und er begrenzte die illegalen neuen Siedlungen im Westjordanland. Die wichtigste Behörde dafür war der Oberste Gerichtshof. Nun setzte die Regierung Netanjahu, die 2022 an die Macht kam, eine Justizreform durch, die den Obersten Gerichtshof seiner Autonomie beraubte. Die massiven Proteste gegen die Justizreform aus der israelischen Zivilgesellschaft waren womöglich der letzte Schrei des säkularen Zionismus: Mit der neuen Netanjahu-Regierung wird die antipalästinensische Gewalt nicht einmal mehr formell vom Staat verurteilt.

    Zur Erinnerung: Bevor der Minister für Nationale Sicherheit Ben Gvir in die Politik ging, hing in seinem Wohnzimmer ein Porträt des israelisch-amerikanischen Terroristen Baruch Goldstein, der 1994 in Hebron neunundzwanzig palästinensisch-muslimische Gläubige massakrierte und 125 weitere verletzte, was als Massaker in der Höhle der Patriarchen bekannt wurde. Der Staat Israel, der sich gerne als die einzige Demokratie im Nahen Osten präsentiert, hat sich de facto in einen „halachischen theokratischen Staat (das Äquivalent zur Scharia) verwandelt“, wie der Professor Jamil Khader der Bethlehem Universität nach der Hetzjagd von Huwara schreibt.

    Khader erklärt in diesem Text seine Theorie zum „Surplus-Genuss“, dem „Lustgewinn“ (surplus enjoyment) im Zusammenhang mit antipalästinensischer Gewalt: Im Lacan’schen Sinne funktioniert diese obszöne Gewalt als Surplus-Genuss, den wir als Belohnung für unsere Unterordnung unter eine ideologische Struktur erhalten, für die Opfer und den Verzicht, die diese Struktur von uns verlangt. Jamil Khader schreibt: „In diesem extremistischen messianisch-zionistischen Diskurs wird der Surplus-Genuss (wie das Töten von Palästinensern, das Verbrennen ihrer Häuser, die Vertreibung aus ihren Häusern, die Konfiszierung ihres Landes, der Bau von Siedlungen, die Zerstörung ihrer Olivenbäume, die Judaisierung der Al-Aqsa, und so weiter) ausdrücklich artikuliert. Während diese Formen des Genusses früher im offiziellen zionistischen Diskurs als Ausnahme betrachtet wurden, gelten sie jetzt als Norm.“

    Wenn, wie ich ebenfalls schon erwähnte, der Minister für Nationale Sicherheit Ben Gvir im August 2023 im Fernsehen sagt: „Mein Recht, das Recht meiner Frau und das Recht meiner Kinder, sich auf den Straßen von Judäa und Samaria [Westjordanland] frei zu bewegen, ist wichtiger als das der Araber“ – dann hatte er damit Recht. Ja, das ist die Realität im Westjordanland. Die Vertreibung der Palästinenser wird nicht einmal mehr formell vom Staat verurteilt.

    Die Rede von António Guterres – und die zynische Reaktion darauf Und wenn politisch denkende Menschen dies im Zusammenhang mit dem brutalen Massaker der Hamas erwähnen, dann geht es nicht um eine Rechtfertigung von Gewalt, sondern um den Versuch, den Kontext solch eines Gewaltausbruchs zu erkennen – wie sonst soll zukünftige Gewalt verhindert werden? In diesem Kontext verstehe ich die Worte des Generalsekretärs der Vereinten Nationen António Guterres, der am 24. Oktober 2023 vor dem UN-Sicherheitsrat sagte: „Es ist wichtig zu erkennen, dass die Angriffe der Hamas nicht im luftleeren Raum stattgefunden haben. Das palästinensische Volk hat 56 Jahre lang unter einer erdrückenden Besatzung gelitten. Es hat mit ansehen müssen, wie sein Land immer mehr von Siedlungen verschlungen und von Gewalt heimgesucht wurde, wie seine Wirtschaft unterdrückt, seine Menschen vertrieben und seine Häuser zerstört wurden. Ihre Hoffnungen auf eine politische Lösung für ihre Notlage haben sich in Luft aufgelöst. Aber die Beschwerden des palästinensischen Volkes können die schrecklichen Angriffe der Hamas nicht rechtfertigen. Und diese schrecklichen Angriffe können die kollektive Bestrafung des palästinensischen Volkes nicht rechtfertigen.“

    Die Reaktion war nicht nur wütende Kritik; eine Petition fordert gar den Rücktritt von Guterres: „Der Generalsekretär der Vereinten Nationen hat jetzt sein wahres Gesicht gezeigt und der Welt bewiesen, dass er voreingenommen und zwiespältig ist und nicht die richtige Person, um die Vereinten Nationen durch diese angespannte Phase in der Geschichte unserer Welt zu führen“, heißt es darin. Der Zynismus der Petition zur Forderung seines Rücktritts ist beeindruckend: „Das israelische Volk (Juden, Muslime, Christen, Drusen und Beduinen) hat einen schweren Terroranschlag erlitten.“ Während die israelische Regierung Nicht-Juden ausdrücklich als Bürger zweiter Klasse behandelt, werden sie nun plötzlich als Opfer der Hamas angesprochen?

    Die Hamas muss vernichtet werden

    Aber verlieren wir uns nicht in einer falschen Aufspaltung der Seiten, in jene, die nur „die eine Seite“ oder die nur „die andere Seite“ sehen wollen (und die jeweils andere Seite mit dem Argument ausblenden, die eine Seite auf diese Weise besser zu sehen). Um einen Ausweg zu finden, muss man sich zunächst voll und ganz eingestehen, dass wir es mit einer wahren Tragödie zu tun haben. Es gibt keine klare, einfache Lösung, außer der von Ben Gvir und der Hamas propagierten: die Vernichtung der anderen Seite.

    Diese vermeintlich klare, zutiefst unmenschliche Lösung ist nicht akzeptabel. Meine Verurteilung des Hamas-Angriffs ist daher klar und unmissverständlich. Nicht umsonst lautet der Titel meines Interviews in der Zeit: „Die Hamas muss vernichtet werden“. Ihr Massaker war schrecklich. Jenes Gebiet östlich des Gazastreifens, in dem die Hamas mordete, war größtenteils von Jüdinnen und Juden bewohnt, die für ein friedliches Zusammenleben mit den Palästinensern eintraten, einige von ihnen engagierten sich sogar für die Leidtragenden in Gaza.

    Warum spreche ich von einer Tragödie? Weil die Hamas das Ergebnis von all jenen ist, die die Frage Israels und Palästinas mit Gewalt klären wollen. Die Times of Israel berichtet davon, dass die israelische Politik unter Netanjahu über Jahre darauf ausgerichtet war, „die Palästinensische Autonomiebehörde als Last und die Hamas als politisch von Vorteil zu betrachten“. Der rechtsextreme Bezalel Smotrich, jetzt Finanzminister in der Hardliner-Regierung und Vorsitzender der Partei des Religiösen Zionismus, habe dies im Jahr 2015 selbst gesagt.

    Verschiedenen Berichten zufolge habe sich Netanjahu Anfang 2019 auf einer Fraktionssitzung des Likud in ähnlicher Weise geäußert, als er etwa mit den Worten zitiert wurde, „dass diejenigen, die gegen einen palästinensischen Staat sind, den Transfer von Geldern nach Gaza unterstützen sollten, weil die Aufrechterhaltung der Trennung zwischen der Palästinensischen Autonomiebehörde im Westjordanland und der Hamas in Gaza die Gründung eines palästinensischen Staates verhindern würde“.

    Kurz gesagt: Israel hat hier denselben Fehler gemacht wie die USA und ihre Verbündeten in Afghanistan, als sie radikale Islamisten wie Osama bin Laden unterstützten, um das von der Sowjetunion unterstützte Regime zu besiegen.

    Wir dürfen nicht zwischen der Hamas und Netanjahu wählen

    Der israelische Historiker Yuval Harari hat Recht, wenn er betont, dass das Hauptziel des Hamas-Angriffs nicht nur die Ermordung von Juden war, sondern auch die Verhinderung jeglicher Friedenschancen in absehbarer Zukunft. Dieser Krieg wurde von der Hamas mit dem Ziel begonnen, den Krieg selbst zu verewigen. Und Harari hat Recht, wenn er hinzufügt, dass Israel diese von der Hamas gestellte Falle vermeiden sollte, denn „auf lange Sicht wird es nur dann Frieden geben, wenn die Palästinenser in ihrem Heimatland ein würdiges Leben führen können“. Es ist wichtig, die Worte „in ihrem Heimatland“ zu betonen: Harari akzeptiert hier, dass das von Israel besetzte Land auch das palästinensische Heimatland ist.

    Um es bewusst naiv zu formulieren: Israel sollte seine palästinensischen Bürger wie seine eigenen Bürger behandeln. Zur Empörung vieler meiner „linken“ Kritiker stimme ich mit der zentralen Aussage eines Briefes überein, den Harari zusammen mit dem israelischen Schriftsteller David Grossman und anderen unterzeichnet hat: „Es gibt keinen Widerspruch zwischen der entschiedenen Ablehnung der israelischen Unterwerfung und Besetzung der Palästinenser und der unmissverständlichen Verurteilung brutaler Gewaltakte gegen unschuldige Zivilisten. In der Tat muss jeder konsequente Linke beide Positionen gleichzeitig vertreten.“

    Ich habe in meiner Rede auf der Frankfurter Buchmesse genau das Gleiche gesagt, wie ich es auch hier im Freitag schon geschrieben hatte: „Man sollte in beiden Richtungen bis zum Ende gehen, sowohl bei der Verteidigung der palästinensischen Rechte als auch beim Kampf gegen den Antisemitismus. Die beiden Kämpfe sind zwei Momente desselben Kampfes. (…) Diejenigen, die denken, dass es einen ‚Widerspruch‘ in dieser meiner Haltung gibt, leiden unter einer völligen moralischen Desorientierung.“

    Über linke Irrwege: Israel ist nicht die Ukraine, Donezk ist nicht das Westjordanland In Ljubljana, meiner Heimatstadt, habe ich ein Graffiti an einer Wand gesehen: „Wenn ich ein Palästinenser aus dem Westjordanland wäre, wäre ich auch ein Holocaust-Leugner.“ Genau das ist die Logik, die man auf gar keinen Fall übernehmen darf. Man darf auch ihr Pendant nicht übernehmen: „Ein jüdischer Israeli, deren Vorfahren im Holocaust verfolgt oder brutal ermordet wurden, hat das Recht, jene Ungerechtigkeiten, die der Staat Israel gegenüber Palästinensern begeht, zu ignorieren.“

    Solche Logiken führen auch zu seltsamen Verwischungen der Identifikation in globalen Konflikten. Der pro-israelische Westen (insbesondere die USA) stellt nun die Verteidigung der Ukraine gegen die russische Aggression und die Verteidigung Israels gegen die Hamas als Momente desselben globalen Krieges dar, als ob Israel = Ukraine wäre. Auf der gegenüberliegenden pseudolinken Seite wird bereits behauptet, dass die Angriffe Russlands und die Angriffe der Hamas beide als gerechtfertigte Verteidigungsmaßnahmen anzusehen sind, die nach einer langen Geschichte der Unterdrückung explodiert sind – als wäre Donezk das russische Westjordanland.

    Warum ich den Begriff „Pseudolinke“ verwende? Weil ich in einer alten marxistischen Tradition daran festhalte, dass die Linke strukturell nicht antisemitisch sein kann, da sie weiß, dass Antisemitismus auf dem grundlegenden ideologischen Vorgang beruht, immanente soziale Antagonismen auf einen externen Akteur zu übertragen – der liquidiert werden soll. Das ist auch der Grund, warum Populismus (auch: pseudolinker Populismus) dazu neigt, antisemitisch zu sein: Populismus stellt nicht den Antagonismus in Frage, der der grundlegenden sozialen Ordnung eingeschrieben ist, sondern konzentriert sich auf „Korruption“, einzelne scheinbar „mächtige“ Personen in wichtigen Positionen und Ähnliches. Ich bin mir durchaus bewusst, dass es in der heutigen Linken tatsächlich antisemitische Tendenzen gibt, und diese sind ein verlässliches Signal dafür, dass mit dieser Linken etwas zutiefst falsch läuft. Das gilt von Stalin bis Hugo Chávez in Venezuela, der übrigens von keinem Geringeren als Fidel Castro ermahnt wurde, Antisemitismus
    nicht zu reproduzieren.

    Warum ich den SS-Mann Reinhard Heydrich zitierte In Zeiten dieses schleichenden Antisemitismus wird der Krieg gegen Gaza von manchen genutzt, um jüdische Personen oder den Staat Israel für alle möglichen globalen Probleme verantwortlich zu machen. Etwas anderes ist es, den Konflikt im Nahen Osten in Verbindung zur Politik des Staates Israel zu bringen, der ja tatsächlich ein zentraler Akteur in diesem Konflikt ist. Daher, ein letztes Mal, zurück zu meiner Rede auf der Frankfurter Buchmesse – und der Debatte, die darauf folgte. In der Frankfurter Allgemeinen Zeitung wusste man über die Reaktion des Frankfurter Oberbürgermeisters zu berichten: „’Die Rede hat vor Ort irritiert‘, sagte Mike Josef der F.A.Z. ‚Ich bin kurzzeitig aus dem Saal gegangen, um mit anderen Magistratsmitgliedern zu sprechen.‘ Die Meinungsfreiheit sei wichtig. ‚Und es ist auch notwendig, Debatten anzustoßen, in denen alle Sichtweisen berücksichtigt werden. Jedoch wurde mit dem Heydrich-Zitat eine Grenze überschritten, die über Provokation hinausgeht. Das war falsch.’“

    Tatsächlich wurde meine Rede zum zweiten Mal unterbrochen, als ich den SS-Mann Reinhard Heydrich zitierte. Mir wurde unterstellt, ich würde Heydrich mit der politischen Position der Regierung Israel in eine Linie stellen. Diese Unterstellung geht aber völlig an dem Punkt vorbei, den ich in meiner Rede machte.

    Warum habe ich Heydrich erwähnt? Ich habe einen Gedankengang vorgetragen, den ich auch schon in meinen Büchern und Vorträgen (übrigens auch in Tel Aviv, wo er ohne Probleme angenommen wurde) entwickelt habe. Was mich dabei beschäftigt: Heutzutage scheint ein seltsames Phänomen wieder aufzutauchen, das wir aus der Vergangenheit kennen. Während Donald Trump in seiner Zeit als US-Präsident Jerusalem als Hauptstadt Israels anerkannte, sind einige seiner Anhänger wie etwa die rechtsextremen Proud Boys offen antisemitisch. Ähnliches scheint sich auch in der deutschen AfD zu finden. Ist hier wirklich ein Widerspruch?

    Als Trump die umstrittene Verordnung gegen Antisemitismus an Universitäten unterzeichnete, war John Hagee anwesend, ein bekannter US-amerikanischer Evangelist, der Gründer und Vorsitzende der christlich-zionistischen Organisation Christians United for Israel. An der Spitze der christlich-konservativen Standardagenda äußerte sich Hagee eindeutig antisemitisch: Er hat den Juden selbst die Verantwortung für den Holocaust zugeschoben; er hat erklärt, dass die Judenverfolgung unter Hitler ein „göttlicher Plan“ war, um die Juden dazu zu bringen, den modernen Staat Israel zu gründen; er nennt liberale Juden „vergiftet“ und „geistig blind“. Man sollte sehr misstrauisch sein gegenüber einer solchen vergifteten Unterstützung des Staates Israel, die eine lange Tradition hat.

    Der zionistische Antisemitismus des Anders Breivik

    Antisemitisch und gleichzeitig pro-israelisch, diese Haltung kennen wir auch von Anders Breivik, dem rassistischen, einwanderungsfeindlichen Massenmörder aus Norwegen. Im Staat Israel sah Breivik die erste Verteidigungslinie gegen die „muslimische Expansion“, er möchte den Jerusalemer Tempel wieder aufgebaut sehen, aber er schrieb in seinem „Manifest“ auch: „Es gibt kein jüdisches Problem in Westeuropa (mit Ausnahme des Vereinigten Königreichs und Frankreichs), da wir nur eine Million [Juden] in Westeuropa haben, wobei 800.000 von dieser einen Million in Frankreich und dem Vereinigten Königreich leben. Die USA hingegen haben mit mehr als 6 Millionen Juden (600 Prozent mehr als in Europa) tatsächlich ein beträchtliches jüdisches Problem.“

    Die Figur Breivik verkörpert somit das ultimative Paradoxon des zionistischen Antisemiten – und ich fand die Spuren dieser seltsamen Haltung historisch in dem Nazi Reinhardt Heydrich, einem der Drahtzieher des Holocausts, der 1935 schrieb: „Wir müssen die Juden in zwei Kategorien einteilen: die Zionisten und die Assimilationsbefürworter. Die Zionisten bekennen sich zu einem streng rassischen Konzept und helfen durch die Auswanderung nach Palästina, ihren eigenen jüdischen Staat aufzubauen. / … / unsere guten Wünsche und unser offizielles Wohlwollen sollen mit ihnen gehen.“ (Zitiert nach Heinz Höhne: The Order of the Death’s Hand. The Story of Hitler’s SS) Das ist zionistischer Antisemitismus in seiner reinsten und deutlichsten Form. Nun stellt sich die Frage, ob diese Form heutzutage eine relevante Rolle spielt, jenseits christlicher Fundamentalisten in den USA oder verirrter Rechtsextremer in Europa.

    Die Diskussion über Apartheid in der Westbank

    Die Folgen des extremistischen zionistischen Siedlungsprojekts im Westjordanland jedenfalls sollten jedem Linken Sorgen bereiten, denn sie bereiten bereits ehemaligen israelischen Generälen Sorgen. Selbst Amiram Levin, ein ehemaliger israelischer General, ehemaliger Chef des Nordkommandos der israelischen Armee und stellvertretender Chef des Auslandsgeheimdienstes Mossad, sagte in einem Gespräch mit dem öffentlich-rechtlichen israelischen Sender Kan über die Lage im Westjordanland: „Seit 57 Jahren gibt es dort keine Demokratie mehr, es herrscht totale Apartheid“. Wohlgemerkt, wenn Levin von Apartheid spricht, bezieht er sich dabei nicht auf das ganze israelische Staatsgebiet, sondern auf die Westbank. Er sagt weiter: „Die israelische Armee, die gezwungen ist, dort Souveränität auszuüben, verrottet von innen heraus. Sie steht daneben, während Siedler randalieren, schaut ihnen zu und beginnt, sich an Kriegsverbrechen zu beteiligen.“ Auf die Frage nach der Art der „Vorgänge“ verwies Levin auf die Zeit der Rassengesetze in Nazideutschland. „Es ist schwer für uns, das auszusprechen, aber es ist die Wahrheit. Gehen Sie durch Hebron und sehen Sie sich die Straßen an. Straßen, auf denen Araber nicht mehr gehen dürfen, nur noch Juden. Das ist genau das, was dort passiert ist, in jenem dunklen Land.“

    Es muss hier wohl kaum erwähnt werden, dass die Situation der Palästinenser in Hebron und der Situation von Juden im Nazi-Deutschland nicht gleichgesetzt werden kann. Ungerechtigkeit, apartheidsähnliche Regeln, einzelne Morde und Vertreibung sind nicht mit den Gaskammern des Holocaust zu vergleichen. Wenn aber ein Jude, der weiß, was der Nazi-Antisemitismus bedeutet, solche Parallelen anstellt, wird es ihm sehr ernst damit sein, das, was im Westjordanland vor sich geht, als äußerst gefährliche Tendenz zu beschreiben. Solange es Menschen wie Amiram Levin gibt, gibt es Hoffnung. Nur mit ihrer Solidarität und Unterstützung haben die Palästinenser im Westjordanland eine Chance.

    Wo das Böse absolut ist, gibt es keine Guten

    Die Lehre aus all dem ist jedoch eine sehr traurige. In einer denkwürdigen Passage in Still Alive: A Holocaust Girlhood Remembered beschreibt Ruth Klüger ein Gespräch mit Doktoranden in Deutschland: „Einer berichtet, wie er in Jerusalem die Bekanntschaft eines alten ungarischen Juden machte, der Auschwitz überlebt hatte, und dieser Mann verfluchte die Araber und verachtete sie alle. Wie kann jemand, der aus Auschwitz kommt, so reden? fragt der Deutsche. Ich schalte mich ein und argumentiere, vielleicht etwas heftiger als nötig. Was hat er denn erwartet? Auschwitz war keine Lehranstalt … Man hat dort nichts gelernt, schon gar nicht Menschlichkeit und Toleranz. Aus den Konzentrationslagern kam nichts Gutes, höre ich mich sagen, und meine Stimme erhebt sich, und er erwartet eine Katharsis, eine Läuterung, etwas, wofür man ins Theater geht? Es waren die nutzlosesten und sinnlosesten Einrichtungen, die man sich vorstellen kann.“

    Vor einigen Jahren gab es in Deutschland eine Debatte darüber, was schlimmer war: der Holocaust oder der Kolonialismus? Ich meine, dass solch eine Debatte als zutiefst obszön zurückgewiesen werden muss. Der Holocaust war ein einzigartiges, schreckliches Mega-Verbrechen. Der Kolonialismus hat unvorstellbare Mengen an Tod und Leid verursacht. Der einzig richtige Weg, sich diesen Schrecken zu nähern, besteht darin, den Kampf gegen Antisemitismus und gegen Kolonialismus heute als Teile ein und desselben Kampfes zu betrachten. Wer die Einzigartigkeit des Holocausts relativiert, beleidigt die Opfer der Kolonisierung, und wer den Kolonialismus als das kleinere Übel abtut, beleidigt die Opfer des Holocaust, indem er ein jeweils unerhörtes Grauen als Druckmittel für geopolitische Spiele instrumentalisiert. Der Holocaust ist nicht ein Verbrechen in einer Reihe von Verbrechen, er war auf seine Weise einzigartig. Genauso wie die moderne Kolonisierung ein atemberaubender Horror war, der im Namen der Zivilisierung anderer getan wurde. Wir sprechen von unvergleichlichen Ungeheuerlichkeiten, die nicht auf bloße Beispiele reduziert werden können, um in politischen Debatten „verglichen“ und instrumentalisiert zu werden. Jedes von ihnen ist in gewisser Weise „absolut“ in seinem Bösen.

    Die Lektion, die wir hier ziehen müssen, ist eine tragische. Wir müssen uns von der Vorstellung verabschieden, dass extreme Erfahrungen etwas Emanzipatorisches haben, dass sie uns in die Lage versetzen, das Chaos zu beseitigen und unsere Augen für die letzte Wahrheit einer Situation zu öffnen. Das gilt auch für die Opfer des Hamas-Massakers, und das gilt auch für die unterdrückten Palästinenser. Es gibt keine Helden, keine „Guten“ in diesem Konflikt, auch wenn manche Linke sie sich gerne herbeifantasieren.
    https://kontrapolis.info/11580
    passiert am 26.10.2023

  • Auch ein Fall von Cancel-Culture: Die DDR-Literatur wird im Westen ignoriert
    https://www.freitag.de/autoren/markus-steinmayr/auch-ein-fall-von-cancel-culture-die-ddr-literatur-wird-im-westen-ignoriert

    Markus Steinmayr - Oschmann-Debatte Christa Wolf, Bruno Apitz, Heiner Müller: Auch die einst so gelobte DDR-Literatur wurde abgewickelt. Zeit für eine Anerkennung

    Dass etwas schief gelaufen ist mit der Überführung der DDR-Literatur in das gesamtdeutsche kulturelle Gedächtnis, merkt man, wenn man in Antiquariaten ist. Die Ost-Ausgabe der Werke Bertolt Brechts ist für wenig Geld zu haben, Anna Seghers wird verramscht. Nachdem die DDR-Germanistik als ideologisch abgestempelt und durch eine Art Gesinnungstreuhand abgewickelt worden ist, bekommt man heutzutage die äußerst verdienstvolle Geschichte der deutschen Literatur des „Autorenkollektivs“ fast geschenkt. Auch DDR-Ausgaben, wie die des Romantikers Joseph von Eichendorff oder des Aufklärers Gotthold Ephraim Lessing, bestechen durch philologische Genauigkeit und luzide Kommentare.

    Die großartigen Leistungen des Literaturbetriebs in der DDR und ihrer Wissenschaft sind heute größtenteils vergessen oder antiquarisch. Sie sind Nachrichten aus einem verschwundenen Land, aus einer scheinbar untergegangenen Kultur. Ich sage dies als Westdeutscher, der aufgrund eines großartigen Lehrers an einem westdeutschen Gymnasium recht früh mit Christa Wolf, Hermann Kant, Fritz Rudolf Fies, Bruno Apitz, Heiner Müller und vor allem mit den ostdeutschen Übersetzungen russischer Literatur in Berührung gekommen ist. Ostalgie ist bei mir daher rein literarisch und kulturell, manchmal auch ein bisschen politisch. Die Leipziger Buchmesse ist ein willkommener Anlass, an das Vergessene, Verdrängte, Gecancelte der DDR-Literatur und -kultur zu erinnern.

    Ordnung der Archive

    Dirk Oschmann hat von einer „Löschung des Textgedächtnisses“ der Deutschen Demokratischen Republik gesprochen. Dies ist ein Befund, keine Warnung. Oschmann hat vollkommen recht. Wer weiß heute noch, dass Bruno Apitz’ Nackt unter Wölfen genuine Literatur der DDR ist? Wer kennt noch Fritz Rudolf Fries’ Verlegung eines mittleren Reiches von 1984?

    Die apokalyptische Geschichte einer Welt nach dem Atomkrieg wird in Fragmenten und losen Aufzeichnungen erzählt, die Ebenen der Wirklichkeit ineinander verschachtelt, der Leser in Unruhe versetzt. Umbrüche sind eben auch Umbrüche in der Ordnung der Archive und der Rezeption. Ohne die Reverenz an Fries ist daher, um in der Gegenwart anzukommen, Uwe Tellkamps neues Buch, Der Schlaf in den Uhren, meines Erachtens nicht zu verstehen.

    Jüngst hat Clemens Meyer in seinem Buch über Christa Wolf noch einmal die DDR-Literatur als Referenzsystem seines Schreibens hervorgehoben. Es ist nicht nur ein Buch über Christa Wolf, sondern ein Buch über die vergessenen Autorinnen und Autoren der DDR-Literatur wie Werner Heiduczek, Erik Neutsch und andere. Meyer braucht dazu gar keinen Ost-West-Konflikt aufzumachen.

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    Nicht canceln

    Es wird sehr deutlich, dass sein Schreiben wesentlich mehr der Lektüre von Bräunig, Wolf, Schernikau, Fühmann und anderen verdankt, als westdeutsche Literaturwissenschaftler glauben, die ihn etwas vorschnell in klassistische Kategorien einordnen. Beide, Tellkamp und Meyer, machen in ihren Büchern deutlich, dass die Tradition „DDR-Literatur“ existiert, im Osten mehr als im Westen. Sie ist ein wesentlicher Bestandteil unserer gemeinsamen literarischen Tradition.

    Als solche muss sie anerkannt, sie darf nicht gecancelt werden. Sie verdient Respekt, vor allem von Westdeutschen, die sich in ihrer bildungsbürgerlichen oder identitätspolitischen Bubble eingerichtet haben. Ich wünsche mir für die zukünftige Auseinandersetzung mit der literarischen Tradition der DDR, dass ihr Eigenwert endlich anerkannt, dass der postkoloniale Status der ehemaligen DDR-Gebiete endlich gesehen wird.

    #Allemagne #DDR #littérature #lettres

  • Korruption in der Ukraine: Ein Risiko für die Demokratie in Europa
    https://www.freitag.de/autoren/gerd-meissner/korruption-in-der-ukraine-ein-risiko-fuer-die-demokratie-in-europa

    Gerd Meißner - Beunruhigende Lage Ein Krieg schwächt keine systemische Korruption ab – eher ist das Gegenteil der Fall. Seit Beginn des russischen Angriffskrieges in der Ukraine aber schweigen die EU-Institutionen zur dortigen Korruption

    Beunruhigende Nachrichten für ukrainische Journalisten und Mediennutzer – die Regierung in Kiew hat den Zugang zu frontnahen Regionen neu geregelt. Es gibt „gelbe Zonen“, in denen sich Korrespondenten nur noch begleitet von Presseoffizieren aufhalten dürfen, es gibt „rote Zonen“, aus denen gar nicht mehr berichtet werden kann. Dazu gehören die umkämpfte Stadt Bachmut und Teile der Region Cherson im Süden. Zudem forderte Kulturminister Oleksandr Tkatschenko, die Berichterstattung müsse in Kriegszeiten kontrolliert werden. Damit steht zu befürchten, dass es eine Mischung aus Zensur in der Ukraine und wohlwollender Parteilichkeit deutscher Medien weiter erschwert, ein objektives Bild vom Kriegsgeschehen zu erhalten. Vermutlich soll von Kiew aus die Berichterstattung über die angekündigte Offensive gelenkt werden.

    Was ohnehin auffällt, seit Beginn des russischen Angriffkrieges gegen die Ukraine haben sich EU-Institutionen ein Schweigegebot zur dortigen Korruption auferlegt. Wer sich dazu ein Bild verschaffen will, muss auf Analysen zurückgreifen, die vor Kriegsbeginn entstanden sind, etwa den Sonderbericht des Rechnungshofes der Europäischen Union vom September 2021 über die Bekämpfung der Großkorruption in der Ukraine. In dieser Bestandsaufnahme verwiesen die Autoren auf „informelle Verbindungen“ zwischen Amtsträgern der Regierung in Kiew, Abgeordneten und Mitarbeitern der Ermittlungsbehörden. Die EU habe dazu „keine konkrete Strategie entwickelt“, so die Erkenntnis.

    Kurz darauf zog die für das Kanzleramt tätige Stiftung Wissenschaft und Politik (SWP) ihr Fazit zur Korruption in der Ukraine. In der Studie SWP aktuell Nr. 63 konstatierte die Ukraine-Expertin Susan Stewart einen „Reformstau“. Es sei gerechtfertigt, so Stewart, „sich bei der Suche nach den Gründen“ für diese Lage „vor allem auf den Präsidenten und seine Entourage zu konzentrieren“. Wolodymyr Selenskyj sei es „gelungen, während seiner Amtszeit die eigene Macht und die des Präsidentenbüros ständig auszubauen“. Er habe, sagt die Studie, „Gefolgsleute in Schlüsselpositionen gebracht“ und im Ergebnis „die Rolle von Institutionen in der Ukraine weiter geschwächt“.

    Ebenfalls im Oktober 2021 dokumentierten die von mehreren westlichen Blättern, darunter der Süddeutschen Zeitung, veröffentlichten „Pandora Papers“, dass der begnadete Rhetoriker Selenskyj als Korruptionsbekämpfer nicht überzeugen könne. Den „Papieren“ war zu entnehmen, dass dieser auf den britischen Virgin Islands, in Belize und Zypern Millionen US-Dollar auf Offshore-Konten platziert hatte. Dem Vernehmen nach handelte es sich um Einnahmen aus seinem Fernseh-Serienprogramm Quartal 95.

    Westen und Stiefel

    Zu intensive Verflechtungen mit den Machtstrukturen in Kiew bergen die Gefahr einer schrittweisen Ukrainisierung im Westen. Das Spektrum der Risiken für die europäischen Demokratien reicht dabei von überschwappender Korruption und Geldwäsche bis zum Einsatz von Söldnern aus Europa im Ukrainekrieg. In einem Papier der Deutschen Gesellschaft für Auswärtige Politik (DGAP) warnt Miriam Katharina Hess, Expertin für Sicherheitspolitik, dass deutsche Kombattanten in der „internationalen Legion“ zu einem Problem für die Bundesrepublik werden könnten. Deutsche, so Hess, seien bereits in diesem Verband präsent, der mehrere Tausend Personen aus 50 Ländern zähle. Von russischen Truppen gefangene Deutsche könnten von Moskau als Terroristen betrachtet und durchaus als Druckmittel benutzt werden.

    Was Hess nicht schreibt: Schon jetzt ziehen die Gefechte in der Ukraine deutsche Neonazis und Wehrmachts-Nostalgiker an. Eine der militantesten Gruppierungen dabei ist die etwa 650 Mitglieder zählende Partei Der Dritte Weg, die Kontakte zum von ukrainischen Rechtsextremisten gegründeten Asow-Regiment unterhält. Parole: „Nationalisten helfen Nationalisten“. Es gelte, so die Kleinpartei, der „ukrainischen Bewegung“ beizustehen gegen den „russischen Imperialismus“ und „die Wiederherstellung einer Sowjetunion“. Auf seiner Website rühmt sich Der Dritte Weg, Schutzwesten und Kampfstiefel an die „Kameraden“ von Asow geschickt zu haben. Wie viele deutsche Beine in den Kampfstiefeln stecken, wird nicht verraten.

    #Ukraine #Europe #guerre #corruption

  • Indien ǀ Die drinnen und die draußen
    https://www.freitag.de/autoren/tobias-kuttler/die-drinnen-und-die-draussen

    Indien Unter Corona eskaliert in Mumbai der Kampf um die Öffentlichkeit: Wer kann, schließt sich in Gated Communities ein. Wer übrig bleibt, gilt als dreckig und gefährlich

    Leere Straßen und Plätze von Lima bis Johannesburg, von Mailand bis Mumbai. Es sind es drastische Bilder, die uns aus vielen Teilen der Welt erreichen. Alle Menschen bleiben zuhause, scheint es. Erst auf den zweiten Blick offenbart die Corona-Krise die sozialen Unterschiede hinter den Bildern: Während die Wohnverhältnisse der städtischen Eliten und Mittelschichten einen Rückzug in die eigenen vier Wände ermöglichen, treffen die Ausgangssperren die städtischen Armen und Marginalisierten völlig unvorbereitet. Kaum irgendwo wird diese Krise des öffentlichen Raums deutlicher als in den Großstädten den globalen Südens.

    In Indien gilt nun vorerst eine Ausgangssperre für 21 Tage. Der Eisenbahnverkehr wurde landesweit eingestellt und auch der städtische öffentliche Nahverkehr ist weitestgehend zum Erliegen gekommen. Die städtischen Armen befinden sich in einer Notsituation, noch bevor die Corona-bedingte Krankheitswelle richtig begonnen hat.

    Für all diejenigen, die auch schon bisher hauptsächlich digital gearbeitet haben und virtuell vernetzt sind, bedeutet der Umzug an den häuslichen Schreibtisch lediglich die Fortführung einer routinierten Praxis. Sie haben ihren heimischen Arbeitsplatz schon lange krisenfest gemacht – für die Belastungen durch den hochflexiblen Arbeitsalltag. Für die vielen Selbständigen der Gig-Economy ist diese Art der Arbeit schon lange Realität und Teil ihrer Selbstausbeutung. Gleichzeitig zeigt die schnelle Umsetzung dieses Rückzugs, wie zurückgezogen und ungestört die Wohnsituation der globalen Eliten und Mittelschichten inzwischen ist.
    Räumlicher Ausdruck dieser Zurückgezogenheit ist das Wohnen in abgetrennten, zugangsbeschränkten Wohngebieten, den Gated Communities. Diese Wohnform erfreut sich global großer Beliebtheit: Anfang des Jahrtausends lebten allein in den USA etwa 32 Millionen Menschen in solchen Siedlungen, Tendenz weiter steigend. Seit der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts ist die bewachte und kontrollierte Wohnsiedlung ein Charakteristikum nicht nur der US-amerikanischen Metropolen.
    Vor Corona geschützt in der Gated Community

    In Mumbai, der wohlhabendsten Stadt Indiens und gleichzeitig eine der am dichtesten besiedelten Städte der Welt, lebt etwa die Hälfte der Stadtbevölkerung in Slums. Auch hier ist es für die höheren Einkommensschichten erstrebenswert, in von der Außenwelt weitest gehend abgeschotteten Wohnanlagen zu leben. Viele dieser Siedlungen sind in Form von privat initiierten Wohnkooperativen organisiert, wovon es in Mumbai über 100.000 geben soll. Diese Gebiete sind ausgestattet mit exklusiver, privater Versorgungsinfrastruktur, welche eine Strom- und Wasserversorgung rund um die Uhr garantiert – ein Privileg in Indien, das die Bewohner*innen weitgehend unabhängig macht von der volatilen öffentlichen Versorgung, der Wasserknappheit im Sommer und den regelmäßigen Stromausfällen. Die Mobilität ist durch den Besitz eines eigenen Autos gesichert. Auch aufgrund des Verkehrskollapses haben gutverdienende Selbständige ihren Arbeitsplatz längst in die eigene (geräumige) Wohnung verlegt. Sie verlassen die eigene Wohnung nur noch selten, immer häufiger auch mit einem Fahrdienst wie Uber, um die Fahrtzeit zum Arbeiten oder Schlafen nutzen zu können.

    Die Eingangstore dieser Siedlungen sind in der Regel durchlässig, die Kontrollen der Sicherheitsdienste nicht konsequent. Doch in der Corona-Krise haben die Bewohner*innen die Mauern, Tore und Schranken dieser Wohngebiete zur Demarkationslinie im Kampf gegen das Virus erklärt. Ganze Wohnanlagen schotten sich ab, die Einlasskontrollen sind nun streng. Angestellte, die in den Mittelschichtshaushalten die alltäglichen Arbeiten verrichten – in der Regel Frauen –, werden nun entlassen oder in den Zwangsurlaub geschickt. Mitarbeiter von Lieferdiensten werden davon abgehalten, Familien mit Corona-Verdachtsfällen zu beliefern. Zuletzt wurden Fälle von Ärzt*innen und Pfleger*innen bekannt, die von ihren Vermietern und Nachbarn nicht mehr in ihre Wohnungen gelassen werden. Eine Bewohnerin schreibt in einem Facebook-Post: „Ich wohne in einer Mittelschichts-Wohnkooperative in Mumbai. Der Begriff „kooperativ“ ist natürlich ein Witz, denn hier kooperiert niemand. Die jetzige Krise offenbart die schlimmste Seite der Mittelschichten in diesem Land“.

    Moderne Schlafgänger ohne Raum

    Außerhalb dieser Mauern spielt sich das wahre Drama dieser Tage ab. In den chawls, den einfachen Mietwohnungen in dicht besiedelten Wohnvierteln, und informellen Siedlungen wohnen die Hausangestellten, Taxifahrer und Gemüseverkäufer*innen. Große Familien teilen sich meist ein Zimmer mit Küchenzeile. Die Enge und fehlende Privatsphäre ist eine Herausforderung. Oftmals gibt es in diesen Vierteln Gemeinschaftstoiletten, wenn diese aber fehlen oder nicht benutzbar sind, müssen sich die Bewohner*innen im Freien waschen und erleichtern. Dann steigt insbesondere für Frauen die Gefahr, Opfer von Krankheiten und Gewalt zu werden. Für einen Großteil der Menschen in Mumbai ist somit der Alltag schon ohne Corona der permanente, normalisierte Ausnahmezustand.

    Die jeden Tag aufs Neue mühsam erarbeitete Normalität gerät nun ins Wanken. Die Räumlichkeiten in den dicht besiedelten Vierteln sind nicht darauf ausgerichtet, dass sich eine gesamte Familie über viele Tage hinweg in Ihnen gemeinsam aufhalten kann. Viele Arbeiter*innen wollen daher zurzeit lieber zur Arbeit gehen, als unter diesen Umständen zu Hause sein zu müssen.

    Für viele Arbeitsmigrant*innen, die nach Mumbai und andere Großstädte gekommen sind, stellt sich die Situation jetzt besonders schwierig dar. Für sie ist mit Eintreten der Ausgangsperre das komplette Wohnarrangement zusammengebrochen. Gerade in den Großstädten sind vor allem junge Männer „moderne Schlafgänger“: Zehn oder mehr Personen teilen sich ein Zimmer, in denen sie abwechselnd schlafen. So kann ein Großteil des Verdiensts nach Hause in die Dörfer transferiert werden. Diese rotierenden Systeme sind unter Industrie- und Schichtarbeiter im Großraum Chennai ebenso zu finden wie in Mumbai unter jungen Fahrern von Fahrdiensten wie Uber. Während der eine tagsüber das Auto fährt, schläft der Zimmerkollege und nachts umgekehrt. Da die Taxi- und Fahrdienste nun ihren Betrieb eigestellt haben, funktioniert das Schlafsystem nicht mehr.

    Umkämpfte Öffentlichkeit

    Viele Fahrer und andere Arbeitsmigrant*innen verlassen die Städte nun in Richtung ihrer Heimatdörfer: Mit dem Zug, solange die Züge noch fuhren; seit dem der Zugbetrieb landesweit eingestellt ist, haben sich viele zu Fuß auf die weite Reise gemacht. In Indien sind Zehntausende Arbeitsmigrant*innen an den Bahnhöfen und Busbahnhöfen der Städte gestrandet. Die Solidarität mit Menschen, die nun auf den Straßen zurückbleiben, ist groß. Viele Staaten stellen – mit Verspätung – finanzielle Mittel und Unterkünfte für die Notversorgung bereit. Doch die Videoaufnahmen von Polizisten, die Arbeitsmigranten auf ihrem Weg in die Dörfer demütigen und misshandeln, zeigen gleichzeitig, welche Verachtung ihnen in der Gesellschaft weiterhin entgegenschlägt.

    Der öffentliche Raum ist in den Städten ständig umkämpft: nicht nur der Zugang und die Nutzungen, sondern auch die Bedeutung und die Interpretation desselben. Gerade unter Menschen, die sich stark zurückziehen, ist die Furcht vor dem öffentlichen Raum am stärksten. Wenn der öffentliche Raum als unsicher, unrein oder unwegsam wahrgenommen wird, so wirken auch Personen oder Gruppen, die sich dort aufhalten, als Gefahr – wenn nicht als persönliche, dann doch zumindest als eine Gefahr für die öffentliche Ordnung. Die vielerorts vertretene „Null-Toleranz“-Politik gegenüber „Störungen“ im öffentlichen Raum, wie sie vor allem in den USA anzutreffen ist, fällt dabei nicht zufällig mit weitverbreiteten neoliberalen Stadtentwicklungspolitiken zusammen.

    Seitdem große Städte Ende der 1980er Jahre noch stärker Dreh- und Angelpunkte des globalen Kapitals geworden sind, stehen sie im weltweiten Wettbewerb um Investitionen und die gutgebildete Mittelschicht in Konkurrenz zueinander. Attraktive Innenstädte und „Lebensqualität“ sollen das Image der Stadt bestimmen, für Verlierer ist in solchen Städten – im wahrsten Sinne des Wortes – kein Platz. In Bezug auf die USA nannte der Geograph und Stadtforscher Neil Smith die derart neuausgerichtete Stadt die „revanchistische Stadt“.
    Neoliberale Städte in der Krise

    Auch in Mumbai hat sich – angelehnt an westliche Vorbilder und unter dem Druck der internationalen Geldgeber – seit den 1990er Jahren eine neoliberale Stadtpolitik durchgesetzt. Die schon zuvor grassierende Vertreibung und Entrechtung der urbanen Armen und Marginalisierten wurde unter neuen Vorzeichen ungemindert fortgeführt. Diejenigen, die wichtige Grundfunktionen in der Stadt aufrecht erhalten, z.B. Straßenhändler*innen, Rikscha-Fahrer und Müllsammler*innen sind regelmäßige Ziele dieser Politik.

    Die Mittelschichten sind sich mit den staatlichen Einrichtungen, welche in vielen Städten die „Säuberung“ der öffentlichen Räume vorantreiben, weitestgehend einig. Denn je mehr Personen in isolierten Wohnvierteln leben, desto mehr ist der öffentliche Raum als Ort derjenigen stigmatisiert, die es nicht geschafft haben, auf der sozialen und ökonomischen Leiter nach oben zu klettern.

    Der derart negativ behaftete Raum spielt eine wichtige Rolle in der Corona-Krise. Dort, wo gerade strenge Ausgangssperren durchgesetzt werden, sind alle, die sich im öffentlichen Raum aufhalten, Sonderfälle: Entweder „systemrelevant“, besonders privilegiert, oder besonders marginalisiert. Marginalisiert sind diejenigen, die kein Zuhause haben, sich auf Grund körperlicher Beeinträchtigungen nicht auf den Weg nach Hause machen können und keine Notunterkunft finden.

    In den Großstädten des globalen Südens ruft jeder neue Tag unvorhergesehene Krisen hervor. Jahrzehnte neoliberaler Stadtpolitik haben Städte zu Orten gemacht, an denen überwiegend die Bedürfnisse der Eliten und höheren Mittelschichten zählen. Gerät das fragile (Un-)Gleichgewicht des neoliberalen Konsenses nun durch Corona ins Wanken? Und öffnet sich jetzt möglicherweise ein Fenster für eine erstarkte Recht-auf-Stadt Bewegung? Diese Fragen erscheinen angesichts der noch bevorstehenden gesundheitlichen Katastrophe in den Städten des globalen Südens beinahe zynisch. Die Folgen für die städtischen Armen und Ausgegrenzten werden verheerend sein. Eine Rückkehr zu den Zuständen vor Corona wird es nicht geben.

    Tobias Kuttler forscht an der TU Berlin zu Mobilität und sozialer Benachteiligung in Europa. Zudem forscht und arbeitet er seit 10 Jahren in Indien, derzeit promoviert er an der TU München über den Wandel des Taxisektors und die Situation der Uber-Fahrer in Mumbai

    Tobias Kuttler - Chair of Urban Structure and Transport Planning
    https://www.mos.ed.tum.de/en/sv/mobillab-doctoral-research-group/doctoral-researchers/tobias-kuttler

    Chair of Urban Structure and Transport Planning
    TUM School of Engineering and Design
    Technical University of Munich

    mobil.LAB Fellow
    Funded by the Hans-Böckler Foundation
    Phone: +49.89.289.10455
    Email: tobias.kuttler[at]tum.de

    Research Focus:
    Urban and transportation development in the global south
    Urban theory, postcolonial theory
    Urban anthropology

    PhD Project Description
    Negotiating Spaces of Mobility - Rise and Contestation of the Uber Model in Mumbai

    The introduction of platform-based mobility services in cities of South Asia (e.g. Uber) not only changed the mobility systems of these cities, but also created a new precarious field of employment. In Mumbai, the taxi sector has already been undergoing profound changes since 2006, when the city authorities started to promote its modernization (Bedi 2016). My dissertation deals with the questions how the new business model and the algorithms of the platforms change practices and the profession of taxi driving, and whether and how drivers accept or resist these changes. To investigate these questions, I explore everyday lives and biographies of Uber drivers as well as drivers of conventional black-and-yellow taxis (Kaali Peelis).

    The Uber model is predominantly understood as a global model that is implemented in a top-down manner in cities and is “disruptive” to traditional taxis. However, when taxi driving is understood from the operators’ perspective, it becomes visible that taxi driving is deeply embedded in the urban fabric and history of Mumbai. Both “old“ and “new” forms of taxi driving are intimately connected with social and political dynamics that characterize the city, and function on similar networks of people and places. Furthermore, taxi operations have been dominated by networks of migrants to the city for decades and continue to do so in times of the digital mobility platforms.

    I argue that the investigation of taxi driving allows comprehending Mumbai’s pathway of urban development and its contestations from a different vantage point. Furthermore I argue that in the process of transformation in the taxi sector, existing vulnerabilities and insecurities of drivers of all forms of taxis are reproduced and even reinforced. In this context it is observed that the new generation of app-based cab drivers is bared from securing and stabilising their lives and futures, which is in contrast to many veteran drivers of conventional taxis, who have succeeded in stabilizing their lives and maintain in control of their everyday work life.

    My dissertation is based on fieldwork in Mumbai in 2019 and beginning of 2020. Conceptually, my PhD project tries to link relational urban theory with mobilities theory, highlighting that urban space is produced by different overlapping and intertwined mobilities and immobilities.

    CV
    Since 3/2018
    PhD fellow at the mobil.LAB Doctoral Research Group funded by the Hans Böckler Foundation

    Since 7/2016
    Research Associate at Berlin University of Technology, Department of Work and Technology, Mobilities Research Cluster

    7/2016 – 12/2017
    Research Associate at nexus Institute for Cooperation Management and Interdisciplinary Research, Berlin

    7/2015 – 3/2016
    Freelancer in the project “EcoMobility World Festival 2015” in Johannesburg, South Africa, organized by ICLEI - Local Governments for Sustainability and the City of Johannesburg.

    3/2015 – 7/2015
    Research stay at Indo-German Centre for Sustainability, Department of Humanities and Social Sciences, Indian Institute or Technology Madras, Chennai, India.

    2/2014 – 12/2014
    Student assistant at Technical University Berlin, Department of Work and Technology, in the project “Forschungscampus EUREF – Mobility2Grid”

    08/2012 – 02/2013
    Internship at ICLEI - Local Governments for Sustainability within the “EcoMobility World Festival 2013” in Suwon, South Korea

    08/2012 – 02/2013
    Internship and research visit in Hyderabad, Andhra Pradesh, India within the Megacities Project “Sustainable Hyderabad“ funded by the German Federal Ministry of Education and Research (BMBF)

    07/2010 – 06/2012
    Student assistant at Centre for Innovation in Mobility and Societal Change (InnoZ), work program Green Mobility, Berlin, Germany

    2010 – 2016
    Studies of Urban and Regional Planning in Master`s degree program, Technical University Berlin, Germany

    02/2008 – 04/2008
    Internship at German Aerospace Center, Institute of Transport Research, Department of Commercial Transport, Berlin, Germany

    2006 – 2010
    Studies of Geography and European Ethnology in Bachelor`s degree program (Bachelor of Arts), Humboldt University Berlin, Germany
    Publications

    Kuttler, T. and M. Moraglio (eds.) (2020; forthcoming): Re-thinking Mobility Poverty. Understanding User´s Geographies, Backgrounds and Aptitudes. Routledge.

    Kuttler, T. (2020; forthcoming): Disruptions and continuities in taxi driving - the case of Mumbai. In: Follmann, A.; Falk, G. (2020): Aktuelle Forschungsbeiträge zu Südasien. Geographien Südasien 12. 10. Jahrestagung des AK Südasien, 24./25. Januar 2020, Freiburg im Breisgau.

    Villeneuve, D., D. Durán-Rodas, A. Ferri, T. Kuttler, J. Magelund, M. Mögele, L. Nitschke, E. Servou, and C. Silva. (2019) What is Interdisciplinarity in Practice? Critical Reflections on Doing Mobility Research in an Intended Interdisciplinary Doctoral Research Group. Sustainability 2020, 12(1), 197.

    Kuttler, T., M. Moraglio, S. Bosetti, C. Chiffi, P. van Egmond, and D. Grandsart. (2019): Mobility in prioritised areas: inputs from the final users. Project Deliverable 2.2. H2020 HiReach - High reach innovative mobility solutions to cope with transport poverty.

    Kuttler, T., M. Moraglio, V. Reis, A. Freitas, D. Carvalho, S. Castelo, P. Santos, S. Bosetti, C. Chiffi, S. Maffi, P. Malgieri, A. Selan, and D. Grandsart (2018): Mobility in prioritised areas: mapping the field. Project Deliverable 2.1. H2020 HiReach - High reach innovative mobility solutions to cope with transport poverty.

    Döge, N., C. Hegel, A. Jain, and T. Kuttler (2018): Das Dörpsmobil – Ein Modell fürs E-Carsharing im ländlichen Raum. In: PLANERIN 3/2018, 41-43

    Contributions to: Otto-Zimmermann, K., C. Liao, B. Chiu (2018): Going Green. Experiencing the Ecomobile Lifestyle. Berlin: Jovis Verlag. More: www.jovis.de/en/books/details/product/going_green_experiencing_the_ecomobile_lifestyle.html

    Kuttler, T
    ., Otto-Zimmermann, K., and T. Zimmermann (2016): Change the way you move. A central business district goes ecomobile. Jovis Verlag Berlin. More: www.jovis.de/en/books/change-the-way-you-move.html

    Kuttler, T
    . and A. Jain (2015): Defending space in a changing urban landscape – A study on urban commons in Hyderabad, India. In: Dellenbaugh, M., et al. (ed.): Urban Commons: Moving Beyond State and Market. Vol. 154. Birkhäuser, 2015. More: www.degruyter.com/dg/viewbook/product$002f430778

    Contributions to: Otto-Zimmermann, K. and Y. Park (ed., 2015): Neighborhood in Motion - One neighborhood, one month, no cars. Berlin: Jovis Verlag. More: www.jovis.de/de/buecher/details/neighborhood-in-motion.html

    Jain, A. and T. Kuttler
    (2014): Local Action in and on Urban Open Spaces of Hyderabad. In: Schinkel, U., Schröder, S., Jain, A., (ed.): Local Action and Participation. Lessons Learned from Participatory Projects and Action Research in Future Megacities. Buchreihe Future Megacities Volume 4, Berlin. More: www.jovis.de/de/buecher/future-megacities-4.html

    Kramer, S., C. Hoffmann, T. Kuttler,
    and M. Hendzlik (2013): Electric Car Sharing as an Integrated Part of Public Transport: Customers’ Needs and Experience. In: Hülsmann, M., Fornahl, D. (Hrsg.): Evolutionary Paths Towards the Mobility Patterns of the Future. Berlin Heidelberg, Springer Verlag: More: link.springer.com/chapter/10.1007%2F978-3-642-37558-3_7

    Hoffmann, C., A. Graff, S. Kramer, T. Kuttler,
    M. Hendzlik, C. Scherf, and F. Wolter (2012): Bewertung integrierter Mobilitätsdienste mit Elektrofahrzeugen aus Nutzerperspektive. Results of the project BeMobility–Berlin elektroMobil. InnoZ Baustein, 11. Download here: www.innoz.de/sites/default/files/11_innoz-baustein.pdf

    Weiß, J., A. Neumann, S. Kramer, M. Bost, and T. Kuttler
    (2011): Erneuerbare Energien im Verkehr in Berlin-Brandenburg. Institut für ökologische Wirtschaftsforschung (IÖW), Berlin, 2011. Download here: www.ioew.de/uploads/tx_ukioewdb/Erneuerbare_Energien_im_Verkehr_in_Berlin-Brandenburg.pdf

    Dijks, S., F.-J. Grafe, M. Hampel, J. Jarass, T. Kuttler
    , M. Thylmann and T. Zimmermann (2011): Generation Nachhaltigkeit: Wann, wenn nicht wir? Conference proceedings 2011, Berlin, Geography Department of Humboldt University Berlin. Download here: www.projekte.hu-berlin.de/de/sustainability/flagship-activities/hsk-sustainability/hsk_II/tagungsband
    Voluntary Activities

    Member of Habitat Forum Berlin, http://habitat-forum-berlin.de
    Member of sub\urban e.V., https://zeitschrift-suburban.de
    Member of The Vereinte Dienstleistungsgewerkschaft ver.di

    #Taxi #Uber #Indien #Mumbai #Bombay #Forschung #Wissenschaft

  • Abgesackter U-Bahn-Tunnel in Berlin: Für die U2 ist eine Helmpflicht geplant
    https://www.freitag.de/autoren/susanne-berkenheger/verkehrswende-push-und-pull-und-pendlerglueck

    Alles nicht so ernst gemeint? Es steht zu befüchten, daß die Realität bald die Parodie an Absurdität überbietet.

    13.2.2023 von Susanne Berkenheger - Meinung Der Chef der Jelbi-App will das Pendlerdasein revolutionieren: Den Fahrgästen der Berliner Verkehrsbetriebe ein bisschen Angst zu machen, ist dabei noch nicht einmal seine beste Idee

    Lesen Sie schon heute die Zeitung von morgen – zum Beispiel dieses Interview mit Jelbi-Chef Jakob Michael Heider, das ich noch gar nicht geführt habe, vermutlich auch nie führen werde, da es jetzt ja bereits veröffentlicht ist:

    Herr Heider, neulich las ich auf Twitter: „Ich check dieses Jelbi nicht xD Was ist das?“ Checken Sie Jelbi?

    Heider: Ja klar! Über die Jelbi-App der BVG kann ich nicht nur einen Fahrschein kaufen, sondern mittlerweile 60.000 Fahrzeuge buchen: Fahrräder, E-Scooter, E-Roller, E-Bikes, Autos, bald auch Flugzeuge, U-Boote, Heißluftbal...

    Nutzt das denn jemand?

    Heider: Manche schon! Andere kämpfen noch mit erlernter Hilfslosigkeit. Klar, wenn ich mich jahrelang von der BVG rumkutschieren lasse, verlerne ich irgendwann, selbst Verantwortung für mein Fortkommen zu übernehmen. Klappt dann etwas nicht, lungere ich meckernd und zeternd an der Station, anstatt aktiv zu werden. Diese Anspruchshaltung macht uns in Berlin viele Probleme.

    Der US-Nachrichtenagentur Bloomberg sagten Sie Anfang des Jahres, hier brauche es eine klare „Nudging“-Strategie. Mit einem „ganzheitlichen Ansatz aus Pull- und Push-Maßnahmen“ wollen Sie die Berliner anstupsen. Was kommt da auf uns zu?

    Heider: Derzeit arbeiten wir vor allem an den Push-Maßnahmen. Dazu zählen: Liniensperrungen, Pendelverkehre, Signalstörungen, Störungen im Betriebsablauf, polizeiliche Ermittlungen, Personen im Gleis und so weiter. All das aktiviert Fahrgäste, ihre Komfortzone zu verlassen und zu überlegen: Wie komme ich jetzt weiter? Bei einer Testaktion letztes Jahr in Weißensee haben wir den Schienenersatzverkehr zum großen Teil auf E-Scooter umgestellt. Die Erfahrungen waren so gut, dass wir auf Ersatzbusse bald komplett verzichten. Für Unsichere ist ein begleitetes Scootern in der Gruppe angedacht. Außerdem motivieren wir Fahrgäste, indem wir Umfahrungsmöglichkeiten mit U-Bahnen vorschlagen, die gar nicht in der Nähe fahren. Zum Beispiel: Senefelder Platz, man hört die Durchsage: Bitte nutzen Sie die U6 zur Umfahrung. Aber: Wo fährt die denn? Das sind so Lernsituationen, in denen Fahrgäste herausgefordert werden. Und die Klügsten kommen dann drauf: Klar, Jelbi! Ich traue mich einfach mal und nehme einen Jelbi-Roller, um zur U6 zu gelangen. Für die U2 ist eine Helmpflicht geplant. Fahrgästen soll klar werden: Okay, trotz des abgesackten Tunnels läuft der Pendelverkehr, aber so richtig sicher ist es vielleicht doch nicht. Lass uns lieber ein Jelbi-Leihauto nehmen!

    Was ist Ihr langfristiges Ziel? Soll keiner mehr mit den Öffis fahren?

    Heider: Im Gegenteil. Der gesamte ÖPNV gehört in die Hände der Fahrgäste. Angenommen, Sie wollen in der nahen Zukunft von der Schönhauser Allee zum Bundesplatz fahren, dann leihen Sie sich eine S42 zum Selbststeuern. Wir tüfteln gerade noch aus, wie wir Zubuchungen regeln und ob Selbstfahrende den Fahrpreis für Mitfahrende festlegen dürfen. Das könnte lukrativ werden: Sagen wir, Sie zahlen zwölf Euro Leihgebühr für die S42, nehmen noch einige hundert Zugebuchte mit, und am Bundesplatz lassen Sie die Bahn einfach stehen. Das ist doch ein super Angebot! Wenn alles glattläuft, wartet hier schon jemand mit einer Anschlussbuchung. Falls nicht, kommt es eben zu einer kleinen Störung im Betriebsablauf. Alles wie gehabt. Unser Fehler ist das dann aber nicht mehr. Natürlich werden für das Fahren unserer Flotte die entsprechenden Fahrerlaubnisse benötigt. Deshalb rate ich allen ÖPNV-Nutzern: Bringen Sie Ihre Führerscheine auf den neuesten Stand: Lernen Sie bei uns das Bus-, Tram-, S- und U-Bahn-Fahren. Damit Sie auch in Zukunft gut durchkommen.

    #Berlin #Verkehr #Disruption #Parodie #U-Bahn #S-Bahn #BVG

  • Jeremy Osborne: „Habe mich in keiner Stadt so unsicher gefühlt wie in Berlin“
    https://www.freitag.de/autoren/the-guardian/jeremy-osborne-habe-mich-in-keiner-stadt-so-unsicher-gefuehlt-wie-in-berlin

    Da haben wir einen guten Grund zum Autofahren in Berlin: Es sind die Menschen, dumme, brutale und gelegentlich noch dazu rassistische Berliner. Es gibt zu viele von ihnen und diese besonders unangenehmen Exemplare echter Hauptstadtkultur konzentrieren sich dort, wo wir alle uns häufig aufhalten, in Bussen und Bahnen.

    Eigentlich ist es eine schöne Vorstellung, sich sehr preiswert mit Bus und Bahn überall hinbegeben zu können, rund um die Uhr. Doch der Druck im Hauptstadtkessel steigt seit Jahrzehnten und in den letzten Jahren gefühlt exponentiell an. Dadurch hat die Gefahr, Zielscheibe von körperlichen Angriffen zu werden, ein Ausmaß erreicht, das sogar für manch jungen Mensch und erst recht alle, die nicht in Form für eine ordentliche Klopperei sind, einen guten Grund für den Umstieg in den Individualverkehr darstellt.

    Dafür gibt es drei Möglichkeiten, die sich gut miteinander kombinieren lassen.

    Völlig indiskutabel sind die Plattformen für Mietwagen mit Fahrer. Lohndumping und Zerstörung von Normalarbeitsverhältnissen wollen wir nicht. Das erhöht den Druck im Kessel.

    1. Wir können selber fahren, mit dem eigenen Auto oder Motorrad, es gibt Kurzzeitmietangebote für Autos und Zweiräder.

    2. Wenn wir weder Einkäufe noch Ausrüstung mit uns führen, ist das Fahrrad gemietet oder nicht ein gutes Transportmittel.

    3. Immer wenn es darum geht, bequem von Tür zu Tür zu kommen, mit Gepäck, ohne Parkplatzsuche, Knöllchenstreß und Auseinandersetzung mit dem Verkehrschaos, bei Sauwetter und vor herausfordernden Terminen, lohnt sich die Fahrt mit dem Taxi.

    Alles zusammen kostet monatlich zwischen 300 und 1000 Euro, womit klar sein dürfte, wer weiter auf die ÖPNV-Fresse kriegt: Das arme Schwein, dem das teuer vorkommt. Berlin wird mit Gewalt zur Stadt der Wohlhabenden gemacht.

    Wirksamer Abhilfe stehen Bundesgesetze im Weg, in erster Linie ein Rechtsrahmen, der die Erfüllung von Grundbedürfnissen wie Essen, Wohnen, Fortbewegung und Kleidung vollständig dem Markt, also der Kontrolle der Reichen überläßt.

    „Taxi für alle“ lautet deshalb die Losung des Tages.

    24.5.2022 von Philip Oltermann - Rassismus Der Opernsänger Jeremy Osborne verklagt die Berliner Verkehrsbetriebe BVG wegen Rassismus. Grundlage ist das neue Antidiskriminierungsgesetz. Die BVG weist die Verantwortung für den Vorfall bei einer Ticketkontrolle von sich

    Ein Berliner Ticket-Kontrolleur schlängelt sich in einer gut besetzten U-Bahn an einer Gruppe von typischen Punkern, an mexikanischen Mariachi-Bandmusikern und stämmigen Männern in Lederkluft vorbei und singt dabei unentwegt fröhlich vor sich hin: „Is’ mir egal“. Die Werbung mit dem türkisch-deutschen Rapper Kazim Akboga von 2015, der damals in Neukölln lebte, war ein großer Marketing-Erfolg für die Berliner Verkehrsbetriebe: Wenn ihr mit unseren U-Bahnen, Straßenbahnen und Bussen fahrt, so die Botschaft der BVG, könnt ihr sein, wer oder was immer ihr wollt – solange ihr daran denkt, ein Ticket zu kaufen.

    Jeremy Osbornes Erfahrung mit Berliner Ticket-Kontrolleuren ist weniger angenehm. Der Opernsänger mit doppelter deutscher und US-amerikanischer Staatsbürgerschaft ist einer von mehreren People of Colour, die sagen, sie seien von Kontrolleuren herausgepickt und körperlich misshandelt worden - im öffentlichen Nahverkehrssystem einer Stadt, die sich nach außen hin stolz auf ihre Diversität und ihre gesellschaftliche Offenheit zeigt.

    Osborne verklagt derzeit die öffentlich-rechtlichen Berliner Verkehrsbetriebe wegen Diskriminierung. Bei dem für Deutschland richtungsweisenden Fall geht es um einen Vorfall im Oktober 2020. Gegen sieben Uhr abends war Osborne in der U-Bahnlinie U2 zwischen Spittelmarkt und Hausvogteiplatz unterwegs, als vier Kontrolleure in Zivilkleidung in den Wagen stiegen. In der Berliner U-Bahn gibt es keine Ticket-Barrieren. Laut BVG können sie aus Feuer- und Denkmalschutzgründen nicht installiert werden. Stattdessen werden die Papierfahrscheine und digitalen Tickets von 170 in der Stadt herumfahrenden Kontrolleuren stichprobenartig kontrolliert.

    Ein Viertel der Kontrolleure sind bei der BVG angestellt und tragen Uniform. Die Anderen arbeiten für zwei private Subunternehmer und waren lange alle in Zivilkleidung unterwegs. Erst im vergangenen November haben sie damit begonnen, blaue Uniformen zu tragen. Als Osborne einen der Kontrolleure aufforderte, ihm einen Beweis dafür zu zeigen, dass er wirklich berechtigt ist, das Jahresticket zu sehen, das er in seinem Portemonnaie steckte, wurde die Sache unangenehm.
    „Kontrolleure glauben, sie hätten die Freiheit, einen nach Belieben zu schikanieren“

    Eineinhalb Jahre später präsentierte das BVG-Subunternehmen einen Bericht, der teilweise nicht mit dem Polizeibericht übereinstimmt, der direkt nach dem Vorfall verfasst wurde. In dem neueren Bericht hieß es, der Passagier habe die Kontrolleure provoziert, indem er sein Ticket „sehr langsam“ gezeigt und sie als „Ausländer“ beschimpft hätte (drei der vier Kontrolleure hatten die türkische Staatsangehörigkeit). Osborne, der damals die deutsche Staatsangehörigkeit noch nicht hatte, bestreitet diese Vorwürfe.

    Nach Angaben des in Arkansas geborenen Sängers schnappten die Kontrolleure sich seinen Pass und zwangen ihn auszusteigen. Auf dem Bahnsteig sagte einer zu ihm: „Black Lives Matter ist nur ein Ausrede“, und ein anderer stieß ihn so auf eine Metallbank, dass er Schrammen an Unterarm und Oberschenkel davontrug, die im Krankenhaus behandelt werden mussten. „Ich habe in Baltimore, New York, Nizza und Wien gelebt, aber in keiner Stadt habe ich mich im öffentlichen Nahverkehr so unsicher gefühlt“, sagte der 35-jährige dem Observer. „Es wirkt so, als wenn die Kontrolleure glauben, sie hätten die Freiheit, einen nach Belieben zu schikanieren.“

    Osbornes Verletzungen waren milder als die des nigerianisch-amerikanischen Kunstkurators Abbéy Odunlami, der im Dezember 2020 von Kontrolleuren auf den Bahnsteigboden gestoßen wurde. Die Kontrolleure arbeiteten für das gleiche Subunternehmen: B.O.S. - Berliner Objektschutz und Service.
    Odunlami erlitt ein eingedrücktes Schulterblatt, ein gebrochenes Schlüsselbein und zwei gebrochene Rippen, von denen eine in die Lunge drückte. „Der Arzt, der mich operiert hat, sagte, ich hätte Glück gehabt“, erzählte Odunlami. „Ein paar Millimeter tiefer und ich hätte nicht überlebt.“ Wie Osborne wurde Odunlami aufgefordert, aus der Bahn auszusteigen und auf den Bahnsteig zu treten, obwohl er einen gültigen Fahrschein besaß.

    Der 31-jährigen amerikanischen Yogalehrerin Juju Kim wurde im Januar dieses Jahres ein Finger gebrochen, als ein Ticket-Kontrolleur ihr die Hand verdrehte. Kim war aufgefordert worden, die Straßenbahn M10 zu verlassen, weil sie ihr Ticket zu spät entwertet habe. „Öffentlicher Nahverkehr sollte keine Angst einflößen“, kommentierte Kim in einem Instagram Post, in dem sie über den Vorfall berichtete.
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    Rund 60 Betroffene berichten unter dem Hashtag #WeilWirunsFürchten

    Seit Februar gibt es eine Petition und Soziale-Medien-Kampagne mit dem Titel #WeilWirunsFürchten in Anlehnung an den BVG-Slogan #WeilWirDichLieben. Bisher gibt es rund 60 Berichte von Leuten, die das Gefühl haben, wegen ihres Aussehens aggressiv von Ticket-Kontrolleuren herausgepickt worden zu sein.

    „Tickets zu kontrollieren ist schlecht bezahlte und prekäre Arbeit“, sagte die Journalistin und Moderatorin Anna-Rebekka Helmy, eine der Frauen hinter der Kampagne. „Niemand außerhalb einer gewissen sozioökonomischen Schicht will diesen Job machen.“ Statt sich auf die Subunternehmen zu konzentrieren, muss ihrer Ansicht nach die Veränderung von den mehrheitlich in staatlicher Hand befindlichen Berliner Verkehrsbetrieben kommen.
    Unter anderen Maßnahmen fordert ihre Petition die BVG auf, die Kontrolleure besser zu bezahlen und bei den Subunternehmen Anti-Diskriminierungs- und De-Eskalations-Training sicherzustellen.

    Laut BVG werden die Kontrolleure der Subunternehmen bereits in „interkulturellen Kompetenzen“ geschult und absolvieren ein Training mit Rollenspiel-Szenarien, in denen sie die Rolle der Passagiere einnehmen. Die BVG weist darauf hin, dass die Kontrolleure selbst regelmäßig Opfer verbaler und körperlicher Aggression werden. In 118 Fällen sei in solchen Fällen in den vergangenen Jahren Strafanzeige gestellt worden. Die Zahl der Beschwerden wegen aggressiven Verhaltens seitens von Kontrolleuren konnte die BVG nicht beziffern.
    Erste Klage gegen die BVG nach dem Antidiskriminierungsgesetz in Berlin

    Als erstes Bundesland führte Berlin 2020 ein neues Antidiskriminierungsgesetz ein. Jeremy Osborne wird er erste sein, der die Verkehrsbetriebe der Stadt unter diesem neuen Gesetz verklagt. Laut seinen Rechtsanwälten findet das Gesetz, das die Diskriminierung einer Person wegen Hautfarbe, Gender, Religion, Behinderung, Weltanschauung, Alter oder sexueller Identität in einem „Verantwortungsbereich“ öffentlicher Behörden untersagt, auch auf die Berliner Verkehrsbetriebe und das Verhalten ihrer Fahrscheinkontrolleure Anwendung.

    Dieselben Verkehrsbetriebe, die in viral gegangener Video-Werbung einen Fahrschein-Kontrolleur über ihre Laissez-Faire-Philosophie rappen ließen, weisen jetzt die Verantwortung von sich. Rechtlich sei die BVG nicht für das Verhalten der Männer und Frauen verantwortlich, die versuchen, in ihren U-Bahnen und Straßenbahnen Schwarzfahrer:innen zu erwischen.

    In einem im April an Osbornes Anwälte geschickten Brief argumentierte die Rechtsabteilung der BVG, die Verkehrsbetriebe seien zwar eine öffentlich-rechtliche Institution, der Kauf eines Fahrscheins für die U-Bahn oder Straßenbahn aber ein privatrechtlicher Vertrag. Jede Strafgebühr sei daher eher eine Strafe für Vertragsbruch und kein Verwaltungsakt.

  • 30. Januar 1933 : Das war keine Machtergreifung
    https://www.freitag.de/autoren/lfb/30-januar-1933-das-war-keine-machtergreifung
    Le sort de l’Allemage et de l’Europe se joua en 1932 lors ce que la droite conservatrice lanca le coup de Prusse , en allemand Preußenschlag , contre le gouvernement social-démocrate de la plus importante entité politique de la république allemande.


    Carte de l’État libre de Prusse au sein de la république de Weimar

    Quelques mois plus tard le 30 janvier 1933 le président du Deutsches Reich le général Paul von Hindenburg nomma Adolf Hitler chancelier. C’était il y a 90 an. Ce soir les troupes nazies entrèrent dans Berlin par la porte de Brandebourg. Les historiens bourgeois ont pris l’habitude d’appeler « prise de pouvoir », en allemand Machtergreifung , les événements du 30 janvier 1933 alors que c’est faux. La bourgeoisie et l’aristocratie optèrent pour le remplacement du système politique démocratique par un régime dictatorial.

    Pour y arriver ils choisirent l’organisation la plus efficace, le parti nazi. La chose fut décidée en petit comité, alors nous préférons le terme Machtübergabe ou passation des pouvoirs . En 1933 le putsch contre la république allemande faisait déjà partie des faits accomplis. Le Preußenschlag avait eu lieu six mois auparavant au mois de juillet 1932 avec la destitution du gouvernement social-démocrate de Prusse par le même président aristocrate.


    Une fois au gouvernement les nazis procédaient avec une efficacité inconnue jusqu’alors, qui surprit même ses ennemis jurés, á l’élimination de chacun susceptible d’oser commettre des actes de résistance. L’incendie du Reichstag marqua le tournant dans le processus d’élimination des opposants connus vers le changement des structures de la société qui allait se poursuivre jusqu’aux dernières heures du règne du chaos organisé pendant la bataille de Berlin.

    31.1.2023 von Leander F. Badura - Am 30. Januar jährt sich der Beginn der NS-Diktatur zum 90. Mal. Bis heute hält sich der Mythos von der „Machtergreifung“ der Nazis. Doch die Macht wurde Hitler ausgehändigt – von den konservativen Eliten Deutschlands

    Zu den Lebenslügen des deutschen Bürgertums zählt, dass die Weimarer Republik zwischen Nazis und Kommunisten aufgerieben wurde. Daher die Rede von der „Machtergreifung“ in Bezug auf die Ereignisse vom 30. Januar 1933 – also die Ernennung Hitlers zum Reichskanzler durch Reichspräsident Paul von Hindenburg. Doch der Begriff suggeriert einen Gewaltakt, einen Staatsstreich. Dem war nicht so. Das Sicherheitsschloss der Demokratie musste von den Nazis nicht aufgebrochen werden – es war längst zerbrochen und die Tür zur Macht weit aufgestoßen worden. Es war keine Machtergreifung, es war eine Machtübergabe der konservativen Eliten an die Nazis.


    Franz von Papen (photo de 1933), naissance 29.10.1879, décès 2.5.1969, (1921-1932 Centre chrétien, 1938 - 1945 NSDAP, Chancelier du Reich, 1er juin – 3 décembre 1932, Vice-chancelier du Reich 30 janvier 1933 – 7 août 1934, Ministre-président de Prusse30 janvier – 10 avril 1933

    Denn das Entscheidende jenes Tages war, dass die NSDAP Teil einer Rechtskoalition wurde, zu der auch die Deutschnationalen unter Alfred Hugenberg, der Stahlhelm unter Franz Seldte und Hitlers Amtsvorgänger Franz von Papen, der 1932 aus dem Zentrum ausgetreten war, um seine Minderheitsregierung durch die NSDAP tolerieren zu lassen, gehörten – eine rechtsextreme Einheitsfront.

    Kein Widerspruch gegen die Diktatur

    Berühmt wurde Papens Ausspruch, binnen weniger Wochen habe man Hitler innerhalb der Koalition „an die Wand gedrückt, dass er quiekt“. Auch das vermittelt einen falschen Eindruck. Papen und Hindenburg hatten nicht vor, Hitler zu mäßigen, um Demokratie und Rechtsstaat zu schützen. Gleich in der ersten Kabinettssitzung waren sich Papen und Hitler einig, dass eine Rückkehr zum Parlamentarismus ausgeschlossen werden müsse. Dem folgenden, sehr raschen Übergang zur Diktatur widersprach niemand in der Koalition. Als Hitler am 28. Februar – nicht einmal einen Monat nach seiner Ernennung und einen Tag nach dem Reichstagsbrand – Hindenburg um die Unterzeichnung der „Notverordnung zum Schutz von Volk und Staat“ bat, hatte dieser keinerlei Bedenken. Damit waren alle Grund- und Freiheitsrechte sowie rechtsstaatliche Prinzipien außer Kraft gesetzt; der Terror, den die SA in den vorangegangenen Wochen eskaliert hatte, wurde legal.


    Hjalmar Schacht, naissance 22.1,187, décès 3.7.1970, appartient au DDP puis au NSDAP, Président de la Reichsbank de 1923 à 1930 et de 1933 à 1939, de 1953 à 1963 PDG de la Deutsche Außenhandelsbank Schacht und Co. Schacht participa au soutiien des grands industriels pour la nomination de Hitler comme chancelier.

    Ob Polizei, Ministerien, Rundfunkanstalten, Gerichte – in Windeseile brachte die neue Regierung die Gesellschaft auf Linie. Wer als unzuverlässig galt, wurde ohne Rücksicht auf Gesetz und Verfassung ausgetauscht oder gleich verhaftet. Widerstand gab es von bürgerlicher Seite kaum. Am 21. März, als der am 6. März neu gewählte Reichstag – bei dem die NSDAP und ihre Bündnispartner zusammen mehr als 50 Prozent der Stimmen erhielten – eröffnet wurde, konnte die ganze Welt sehen, dass es weder im konservativ-bürgerlichen, noch im reaktionär-aristokratischen Milieu nennenswerte Ambitionen gab, sich gegen Hitler zu stellen. Der „Tag von Potsdam“ wurde eine Inszenierung der neuen Herrschaft und eine Machtdemonstration. Auch der ehemalige Kronprinz Wilhelm von Preußen war da – im Hintergrund, aber gut sichtbar. Nur Kurt von Schleicher, Hitlers direkter Amtsvorgänger, hegte Putschpläne. Die Nazis ermordeten ihn 1934.


    Hermann Göring (photo de mariage de 1935) Ministre-président de Prusse 11.4.1933 – 23.4.1945

    Doch die Zerschlagung der Demokratie begann nicht am 30. Januar. Denn ja, einen Staatsstreich hatte es gegeben – fast ein halbes Jahr zuvor. Per Notverordnung hatte Hindenburg im Juli 1932 die SPD-Regierung in Preußen abgesetzt und den wichtigsten Gliedstaat Kanzler Papen unterstellt. Dieses Ereignis hat der Republik mehr Schaden zugefügt als jeder Aufmarsch der KPD.

    Der Adel und große Teile des konservativen Bürgertums hatten die Demokratie immer gehasst. Ihre Ablehnung der Nazis speiste sich vielmehr aus Standesdünkel und Sorge vor allzu antikapitalistischen Tönen aus den Reihen der NSDAP. Doch der gemeinsame Feind einte sie: Kommunisten, Sozialdemokraten, Juden.


    Dimitrov, Thälmann et leurs camarades

    Opfer zu Tätern

    Von einer Machtergreifung muss sprechen, wer – bis heute – den Faschismus für ein Randphänomen hält. Doch das war er nie. Die Wähler der NSDAP waren im Durchschnitt protestantische Männer der Mittelschicht. Die Lüge von der Erosion der Demokratie durch extreme Ränder, muss erzählen, wer – bis heute – eine Äquivalenz von Links- und Rechtsextremismus herstellen will. Die KPD war eine stalinistische Partei und hat viele historische Fehler gemacht – wie die Ablehnung einer Zusammenarbeit mit der SPD oder die Kooperation mit der NSDAP beim BVG-Streik 1932. Doch die Kommunisten waren die einzigen, die den Nazis etwas entgegenzusetzen hatten. Nirgendwo waren SA-Aufmärsche gefährlicher als in Arbeitervierteln. Den Kommunisten eine Mitschuld am Aufstieg des Faschismus zu geben, heißt, aus Opfern Täter zu machen – Schuldabwehr einer nach 1945 mit dem Wiederaufbau betrauten konservativen Elite, die freudig ehemaligen Nazis Ämter übertrug und die KPD verbieten ließ.

    La perspective historique nous fait comprendre qu’en France et en Allemagne la démocratie ne sera pas en danger tant que les gouvernements arrivent à imposer aux peuples la politique bourgeoise avec ses réformes d’appauvrissement, son inflation et ses guerres. Il n’y a plus de partis communistes pour défendre les intérêts des classes populaires, alors le pouvoir en place peut déléguer la gestion des nations au forces moins violentes que les fascistes historiques.

    Es geht nicht nur darum, sprachpolitisch historische Gerechtigkeit herzustellen. Es geht um tatsächliche Lehren aus der Geschichte. Denn wie die Politikwissenschaftler Steven Levitsky und Daniel Ziblatt 2018 in ihrem Buch Wie Demokratien sterben feststellten, ist das Entstehen einer demokratiefeindlichen Bewegung noch kein hinreichendes Ereignis für die Erosion eines demokratischen Staates. Erfolg haben diese immer erst dann, wenn sie Verbündete aus den etablierten Eliten finden. Das Paradebeispiel der Autoren? Der 30. Januar 1933.

    Hjalmar Schacht
    https://de.wikipedia.org/wiki/Hjalmar_Schacht

    Zentrum - #attention, les information sur wikipedia à propos de questions et notons de l’histoire récente et surtout allemande sont réputées pour leur manque d’impartialité.
    https://fr.m.wikipedia.org/wiki/Zentrum

    #histoire #nazis #Allemagne #Prusse #putsch #coup_d_état #crise #répression #fascisme #démocratie #lutte_des_classes

  • Indien Unter Corona eskaliert in Mumbai der Kampf um die Öffentlichkeit: Wer kann, schließt sich in Gated Communities ein. Wer übrig bleibt, gilt als dreckig und gefährlich
    https://www.freitag.de/autoren/der-freitag/die-drinnen-und-die-draussen

    03.04.2020 von Tobias Kuttler- Leere Straßen und Plätze von Lima bis Johannesburg, von Mailand bis Mumbai. Es sind es drastische Bilder, die uns aus vielen Teilen der Welt erreichen. Alle Menschen bleiben zuhause, scheint es. Erst auf den zweiten Blick offenbart die Corona-Krise die sozialen Unterschiede hinter den Bildern: Während die Wohnverhältnisse der städtischen Eliten und Mittelschichten einen Rückzug in die eigenen vier Wände ermöglichen, treffen die Ausgangssperren die städtischen Armen und Marginalisierten völlig unvorbereitet. Kaum irgendwo wird diese Krise des öffentlichen Raums deutlicher als in den Großstädten den globalen Südens.

    In Indien gilt nun vorerst eine Ausgangssperre für 21 Tage. Der Eisenbahnverkehr wurde landesweit eingestellt und auch der städtische öffentliche Nahverkehr ist weitestgehend zum Erliegen gekommen. Die städtischen Armen befinden sich in einer Notsituation, noch bevor die Corona-bedingte Krankheitswelle richtig begonnen hat.

    Für all diejenigen, die auch schon bisher hauptsächlich digital gearbeitet haben und virtuell vernetzt sind, bedeutet der Umzug an den häuslichen Schreibtisch lediglich die Fortführung einer routinierten Praxis. Sie haben ihren heimischen Arbeitsplatz schon lange krisenfest gemacht – für die Belastungen durch den hochflexiblen Arbeitsalltag. Für die vielen Selbständigen der Gig-Economy ist diese Art der Arbeit schon lange Realität und Teil ihrer Selbstausbeutung. Gleichzeitig zeigt die schnelle Umsetzung dieses Rückzugs, wie zurückgezogen und ungestört die Wohnsituation der globalen Eliten und Mittelschichten inzwischen ist.

    Räumlicher Ausdruck dieser Zurückgezogenheit ist das Wohnen in abgetrennten, zugangsbeschränkten Wohngebieten, den Gated Communities. Diese Wohnform erfreut sich global großer Beliebtheit: Anfang des Jahrtausends lebten allein in den USA etwa 32 Millionen Menschen in solchen Siedlungen, Tendenz weiter steigend. Seit der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts ist die bewachte und kontrollierte Wohnsiedlung ein Charakteristikum nicht nur der US-amerikanischen Metropolen.

    Vor Corona geschützt in der Gated Community

    In Mumbai, der wohlhabendsten Stadt Indiens und gleichzeitig eine der am dichtesten besiedelten Städte der Welt, lebt etwa die Hälfte der Stadtbevölkerung in Slums. Auch hier ist es für die höheren Einkommensschichten erstrebenswert, in von der Außenwelt weitest gehend abgeschotteten Wohnanlagen zu leben. Viele dieser Siedlungen sind in Form von privat initiierten Wohnkooperativen organisiert, wovon es in Mumbai über 100.000 geben soll. Diese Gebiete sind ausgestattet mit exklusiver, privater Versorgungsinfrastruktur, welche eine Strom- und Wasserversorgung rund um die Uhr garantiert – ein Privileg in Indien, das die Bewohner*innen weitgehend unabhängig macht von der volatilen öffentlichen Versorgung, der Wasserknappheit im Sommer und den regelmäßigen Stromausfällen. Die Mobilität ist durch den Besitz eines eigenen Autos gesichert. Auch aufgrund des Verkehrskollapses haben gutverdienende Selbständige ihren Arbeitsplatz längst in die eigene (geräumige) Wohnung verlegt. Sie verlassen die eigene Wohnung nur noch selten, immer häufiger auch mit einem Fahrdienst wie Uber, um die Fahrtzeit zum Arbeiten oder Schlafen nutzen zu können.

    Die Eingangstore dieser Siedlungen sind in der Regel durchlässig, die Kontrollen der Sicherheitsdienste nicht konsequent. Doch in der Corona-Krise haben die Bewohner*innen die Mauern, Tore und Schranken dieser Wohngebiete zur Demarkationslinie im Kampf gegen das Virus erklärt. Ganze Wohnanlagen schotten sich ab, die Einlasskontrollen sind nun streng. Angestellte, die in den Mittelschichtshaushalten die alltäglichen Arbeiten verrichten – in der Regel Frauen –, werden nun entlassen oder in den Zwangsurlaub geschickt. Mitarbeiter von Lieferdiensten werden davon abgehalten, Familien mit Corona-Verdachtsfällen zu beliefern. Zuletzt wurden Fälle von Ärzt*innen und Pfleger*innen bekannt, die von ihren Vermietern und Nachbarn nicht mehr in ihre Wohnungen gelassen werden. Eine Bewohnerin schreibt in einem Facebook-Post: „Ich wohne in einer Mittelschichts-Wohnkooperative in Mumbai. Der Begriff „kooperativ“ ist natürlich ein Witz, denn hier kooperiert niemand. Die jetzige Krise offenbart die schlimmste Seite der Mittelschichten in diesem Land“.

    Moderne Schlafgänger ohne Raum

    Außerhalb dieser Mauern spielt sich das wahre Drama dieser Tage ab. In den chawls, den einfachen Mietwohnungen in dicht besiedelten Wohnvierteln, und informellen Siedlungen wohnen die Hausangestellten, Taxifahrer und Gemüseverkäufer*innen. Große Familien teilen sich meist ein Zimmer mit Küchenzeile. Die Enge und fehlende Privatsphäre ist eine Herausforderung. Oftmals gibt es in diesen Vierteln Gemeinschaftstoiletten, wenn diese aber fehlen oder nicht benutzbar sind, müssen sich die Bewohner*innen im Freien waschen und erleichtern. Dann steigt insbesondere für Frauen die Gefahr, Opfer von Krankheiten und Gewalt zu werden. Für einen Großteil der Menschen in Mumbai ist somit der Alltag schon ohne Corona der permanente, normalisierte Ausnahmezustand.

    Die jeden Tag aufs Neue mühsam erarbeitete Normalität gerät nun ins Wanken. Die Räumlichkeiten in den dicht besiedelten Vierteln sind nicht darauf ausgerichtet, dass sich eine gesamte Familie über viele Tage hinweg in Ihnen gemeinsam aufhalten kann. Viele Arbeiter*innen wollen daher zurzeit lieber zur Arbeit gehen, als unter diesen Umständen zu Hause sein zu müssen.

    Für viele Arbeitsmigrant*innen, die nach Mumbai und andere Großstädte gekommen sind, stellt sich die Situation jetzt besonders schwierig dar. Für sie ist mit Eintreten der Ausgangsperre das komplette Wohnarrangement zusammengebrochen. Gerade in den Großstädten sind vor allem junge Männer „moderne Schlafgänger“: Zehn oder mehr Personen teilen sich ein Zimmer, in denen sie abwechselnd schlafen. So kann ein Großteil des Verdiensts nach Hause in die Dörfer transferiert werden. Diese rotierenden Systeme sind unter Industrie- und Schichtarbeiter im Großraum Chennai ebenso zu finden wie in Mumbai unter jungen Fahrern von Fahrdiensten wie Uber. Während der eine tagsüber das Auto fährt, schläft der Zimmerkollege und nachts umgekehrt. Da die Taxi- und Fahrdienste nun ihren Betrieb eigestellt haben, funktioniert das Schlafsystem nicht mehr.

    Umkämpfte Öffentlichkeit

    Viele Fahrer und andere Arbeitsmigrant*innen verlassen die Städte nun in Richtung ihrer Heimatdörfer: Mit dem Zug, solange die Züge noch fuhren; seit dem der Zugbetrieb landesweit eingestellt ist, haben sich viele zu Fuß auf die weite Reise gemacht. In Indien sind Zehntausende Arbeitsmigrant*innen an den Bahnhöfen und Busbahnhöfen der Städte gestrandet. Die Solidarität mit Menschen, die nun auf den Straßen zurückbleiben, ist groß. Viele Staaten stellen – mit Verspätung – finanzielle Mittel und Unterkünfte für die Notversorgung bereit. Doch die Videoaufnahmen von Polizisten, die Arbeitsmigranten auf ihrem Weg in die Dörfer demütigen und misshandeln, zeigen gleichzeitig, welche Verachtung ihnen in der Gesellschaft weiterhin entgegenschlägt.

    Der öffentliche Raum ist in den Städten ständig umkämpft: nicht nur der Zugang und die Nutzungen, sondern auch die Bedeutung und die Interpretation desselben. Gerade unter Menschen, die sich stark zurückziehen, ist die Furcht vor dem öffentlichen Raum am stärksten. Wenn der öffentliche Raum als unsicher, unrein oder unwegsam wahrgenommen wird, so wirken auch Personen oder Gruppen, die sich dort aufhalten, als Gefahr – wenn nicht als persönliche, dann doch zumindest als eine Gefahr für die öffentliche Ordnung. Die vielerorts vertretene „Null-Toleranz“-Politik gegenüber „Störungen“ im öffentlichen Raum, wie sie vor allem in den USA anzutreffen ist, fällt dabei nicht zufällig mit weitverbreiteten neoliberalen Stadtentwicklungspolitiken zusammen.

    Seitdem große Städte Ende der 1980er Jahre noch stärker Dreh- und Angelpunkte des globalen Kapitals geworden sind, stehen sie im weltweiten Wettbewerb um Investitionen und die gutgebildete Mittelschicht in Konkurrenz zueinander. Attraktive Innenstädte und „Lebensqualität“ sollen das Image der Stadt bestimmen, für Verlierer ist in solchen Städten – im wahrsten Sinne des Wortes – kein Platz. In Bezug auf die USA nannte der Geograph und Stadtforscher Neil Smith die derart neuausgerichtete Stadt die „revanchistische Stadt“.
    Neoliberale Städte in der Krise

    Auch in Mumbai hat sich – angelehnt an westliche Vorbilder und unter dem Druck der internationalen Geldgeber – seit den 1990er Jahren eine neoliberale Stadtpolitik durchgesetzt. Die schon zuvor grassierende Vertreibung und Entrechtung der urbanen Armen und Marginalisierten wurde unter neuen Vorzeichen ungemindert fortgeführt. Diejenigen, die wichtige Grundfunktionen in der Stadt aufrecht erhalten, z.B. Straßenhändler*innen, Rikscha-Fahrer und Müllsammler*innen sind regelmäßige Ziele dieser Politik.

    Die Mittelschichten sind sich mit den staatlichen Einrichtungen, welche in vielen Städten die „Säuberung“ der öffentlichen Räume vorantreiben, weitestgehend einig. Denn je mehr Personen in isolierten Wohnvierteln leben, desto mehr ist der öffentliche Raum als Ort derjenigen stigmatisiert, die es nicht geschafft haben, auf der sozialen und ökonomischen Leiter nach oben zu klettern.

    Der derart negativ behaftete Raum spielt eine wichtige Rolle in der Corona-Krise. Dort, wo gerade strenge Ausgangssperren durchgesetzt werden, sind alle, die sich im öffentlichen Raum aufhalten, Sonderfälle: Entweder „systemrelevant“, besonders privilegiert, oder besonders marginalisiert. Marginalisiert sind diejenigen, die kein Zuhause haben, sich auf Grund körperlicher Beeinträchtigungen nicht auf den Weg nach Hause machen können und keine Notunterkunft finden.

    In den Großstädten des globalen Südens ruft jeder neue Tag unvorhergesehene Krisen hervor. Jahrzehnte neoliberaler Stadtpolitik haben Städte zu Orten gemacht, an denen überwiegend die Bedürfnisse der Eliten und höheren Mittelschichten zählen. Gerät das fragile (Un-)Gleichgewicht des neoliberalen Konsenses nun durch Corona ins Wanken? Und öffnet sich jetzt möglicherweise ein Fenster für eine erstarkte Recht-auf-Stadt Bewegung? Diese Fragen erscheinen angesichts der noch bevorstehenden gesundheitlichen Katastrophe in den Städten des globalen Südens beinahe zynisch. Die Folgen für die städtischen Armen und Ausgegrenzten werden verheerend sein. Eine Rückkehr zu den Zuständen vor Corona wird es nicht geben.

    Tobias Kuttler forscht an der TU Berlin zu Mobilität und sozialer Benachteiligung in Europa. Zudem forscht und arbeitet er seit 10 Jahren in Indien, derzeit promoviert er an der TU München über den Wandel des Taxisektors und die Situation der Uber-Fahrer in Mumbai

    #Indien #Mumbai #Uber #Wohnen #Covid-19 #Klassenverhältnisse

  • Bürgergeld - Beton, Flexibilität und Schwäche - freitag.de
    https://www.freitag.de/autoren/alexander-fischer/buergergeld-beton-flexibilitaet-und-schwaeche?s=09

    Alexander Fischer, secretaire d’état auprès de la senatrice pour intégration, travail et questions sociales (#SenIAS) du gouvernement (Land) berlinois du parti de gauche (#Die_Linke) Katja Kipping nous propose cette analyse des nouvelles lois fédérales censées remplacer l’infâme #HartzIV qui s’appellerait désormais #Bürgergeld. Texte essentiel pour comprendre comment l’Allemagne dévéloppe le système inspirant les macronistes.

    23.11.2022 von Alexander Fischer - Die Union hat Verschärfungen des Bürgergeld-Gesetzes erzwungen. Aber ihre Blockade-Mehrheit im Bundesrat wäre keine, wenn andere Parteien andere Entscheidungen getroffen hätten. Die politische Verantwortung tragen viele.

    Wohl weil es sich im Schatten sehr großer Krisen vollzieht, wird in Deutschland nicht noch sehr viel mehr über eine der bedeutendsten Sozialreformen der letzten Jahre diskutiert. Mit dem Label „Bürgergeld“ hat die Ampel eine Reform des SGB II auf den Weg gebracht, die einen Bruch mit der letzten großen Reform des Grundsicherungssystems vollziehen will, die unter dem Namen „Hartz IV“ in die Geschichte der Bundesrepublik eingegangen ist. Wie groß man auch immer diesen Bruch qualitativ bewerten will, unstrittig ist, dass die Bezieher/innen von Grundsicherungsleistungen mit diesem Gesetz auf signifikante Verbesserungen hoffen dürften, ob bei der Höhe des Regelsatzes, dem Sanktionsregime oder der Verpflichtung, zumutbare Arbeit anzunehmen. Es war die CDU/CSU, die diese Reform im Bundesrat vorläufig gestoppt hat, weshalb gegenwärtig weitgehend hinter verschlossenen Türen im Vermittlungsausschuss zwischen Bundestag und Bundesrat über einen Kompromiss verhandelt wird, der noch in dieser Woche Bundestag und Bundesrat passieren muss, damit er überhaupt noch rechtzeitig zum 1.1.2023 praktisch umgesetzt werden kann. Und alles sieht danach aus, als ob die CDU/CSU eine Verschärfung der Sanktionsregelungen erzwingen wird. Die Ampel musste nach rechts verhandeln. Aber ist das ein Naturgesetz? Keinesfalls. Die politische Verantwortung für die weitere Verwässerung einer schon im Ansatz begrenzten Sozialreform tragen viele.

    Es lohnt sich, dafür einen Blick auf das Verfahren im Bundesrat und die Machtarithmetik, die in ihm zum Ausdruck kommt, zu werfen. Die Bürgergeld-Reform ist technisch gesehen ein Zustimmungsgesetz, das nicht nur mit Mehrheit vom Bundestag beschlossen werden muss, sondern auch im Bundesrat eine Mehrheit braucht. Das #Bundestag (@klaus++ c’est une erreur, il s’agit du Der #Bundesrat) ist als „Parlament der Länderregierungen“ (Selbstdarstellung) aus 69 Sitzen zusammen gesetzt, die (mit Unschärfen) nach der Größe auf die Bundesländer verteilt sind. Die Besetzung der Sitze und das Stimmverhalten bestimmen die jeweils amtierenden Landesregierungen. Enthaltungen zählen bei Abstimmungen wie Nein-Stimmen. Und da die Koalitionsverträge in den Bundesländern immer einen Passus enthalten, der bestimmt, dass im Bundesrat bei Uneinigkeit der Koalitionsparteien mit Enthaltung votiert wird, ergibt sich in der gegenwärtigen Zusammensetzung des Bundesrats folgende Machtarithmetik:

    Die Ampel-Parteien können auf insgesamt 16 jedenfalls in der Logik der regierenden Parteifarben sichere Ja-Stimmen bauen, die sich aus den 4 Landesregierungen von Hamburg (SPD/Grüne, 3), Niedersachsen (SPD/Grüne, 6), Saarland (SPD, 3) und Rheinland-Pfalz (Ampel, 4) speisen. Die beiden weiteren für den Bundesrat theoretisch relevanten Parteien sind CDU/CSU und DIE LINKE. Die CDU/CSU kann wegen der oben beschriebenen Logik nicht weniger als 39 Stimmen für eine Blockade versammeln, die sich aus den 8 Landesregierungen von Bayern (CSU/Freie Wähler, 6), Baden-Württemberg (Grüne/CDU, 6), Hessen (CDU/Grüne, 5), Nordrhein-Westfalen (CDU/Grüne, 6), Schleswig-Holstein (CDU/Grüne, 4), Brandenburg (SPD/CDU/Grüne, 4), Sachsen-Anhalt (CDU/SPD/Grüne, 4) und Sachsen (CDU/SPD/Grüne, 4) zusammen setzen. Damit hat die CDU/CSU allein, sofern sie ihre jeweils mitregierenden Landesparteien auf eine Linie verpflichtet (was offenbar geschehen ist), die Möglichkeit, mehr als 35 Enthaltungen im Bundesrat zu mobilisieren, die für eine Blockade nötig sind. Anders sieht das bei der LINKEN aus. Sie kann bis zu 14 Stimmen im Bundesrat für eine Enthaltung mobilisieren, die sich aus den Landesregierungen in Berlin (SPD/Grüne/LINKE, 4), Thüringen (LINKE/SPD/Grüne, 4), Bremen (SPD/Grüne/LINKE, 3) und Mecklenburg-Vorpommern (SPD/LINKE, 3) zusammen setzen.

    Es ist diese Macht-Arithmetik, die die Ampel dazu zwingt, in erster Linie mit der CDU/CSU zu verhandeln, und das heißt materiell über sozialpolitische Verschlechterungen des vorliegenden Entwurfs zu reden. Aber diese Macht-Arithmetik ist nicht vom Himmel gefallen, sondern das Ergebnis politischer Entscheidungen. Es waren die baden-württembergischen Grünen, die 2021 bewusst entschieden haben, keine Ampel-Landesregierung mit SPD und FDP zu bilden, sondern weiter mit der CDU zu regieren. Es waren die nordrhein-westfälischen Grünen, die 2022 sehr bewusst entschieden haben, keine Ampel-Landesregierung unter Führung der SPD zu bilden, sondern eine schwarz-grüne unter Führung der CDU. Hätten sie sich nur in einem Fall anders entschieden, könnte die CDU/CSU heute nur 33 Stimmen, und damit keine Blockade-Enthaltungsmehrheit im Bundesrat mobilisieren. Dann hätte die Ampel 22 sichere Gestaltungs-Stimmen im Bundesrat, und es wäre viel naheliegender, sich statt um die Auflösung des von Friedrich Merz angerührten Betons um die 14 Stimmen aus den Ländern zu bemühen, in denen DIE LINKE mitregiert. Eine erfolgreiche Verhandlung würde dann zu 36 Ja-Stimmen im Bundesrat und damit zur Verabschiedung des Gesetzes führen. Wer also jetzt vor allem darüber klagt, dass die CDU/CSU das macht, was sie eben macht, sollte nicht vergessen, wer sie in diese Machtposition durch landespolitische Entscheidungen gebracht hat.

    Ein schwieriger Abwägungsprozess würde dann vor allem auf DIE LINKE zukommen, zu deren Gründungskonsens die fundamentale Ablehnung von Hartz IV gehört. Für welche Verbesserungen wäre man bereit, dem Gesetz zu einer Mehrheit im Bundesrat zu verhelfen, auch dann, wenn zentrale Funktionsprinzipien von Hartz IV noch nicht überwunden sind? Es wäre keine leichte Debatte, das ist sicher. Allein wenn sich SPD und Grüne im Jahr 2019 in Brandenburg für die rechnerisch und politisch mögliche Bildung einer rot-rot-grünen Landesregierung entschieden hätten, könnten die Ampel-Parteien und die rot-rot-grünen bzw. rot-roten Landesregierung gegenwärtig zusammen 34 Stimmen mobilisieren, nur eine weniger als die Mehrheit von 35 Stimmen. Und die Verhandlungssituation sähe völlig anders aus, weil es ausreichen würde, mit einem weiteren Land einen Deal zu machen. Der Beton des Friedrich Merz wäre äußerst brüchig. Aber zu dieser Wahrheit gehört eben auch die gegenwärtige Schwäche der LINKEN, die dazu führt, dass sie in vielen Bundesländer überhaupt kein Machtfaktor mehr ist .

    Der Beton der CDU/CSU, die machtpolitische Flexibilität der Grünen (und abgestuft auch der SPD) und die Schwäche der LINKEN sind es, die jetzt dazu führen, dass am Ende eben doch wieder CDU und CSU die Chance bekommen, selbst vergleichsweise kleine soziale Verbesserungen für Millionen zu verwässern und schlimmstenfalls zu blockieren.

    #Allemagne #politique #allocations_sociales #HartzIV #Bürgergeld

  • Hocherotisch, mit echten Visionen: Das Debüt „LVL UP“ der Rapperin Eli Preiss — der Freitag
    https://www.freitag.de/autoren/der-freitag/hocherotisch-mit-echten-visionen-das-debuet-lvl-up-der-rapperin-eli-preiss

    Ausgabe 24/2022 von Till Wilhelm - Hiphop Das Debütalbum der Wiener Rapperin Eli Preiss hat das Zeug, den Sound der Gegenwart zu beeinflussen

    Die Geister der Nostalgie spuken teils schneller, als die Popkultur fortschreiten kann. Gruselig wird es etwa, wenn die Generation Z auf Tiktok Kleidung im Y2K-Stil glorifiziert, für die Millennials auf den Schulhöfen der nahen Vergangenheit noch ausgelacht wurden. Wie sich mit nostalgischen Inspirationen Zukunftsvisionen formen lassen, beweist derweil die Sängerin und Rapperin Eli Preiss. Ihr Debüt LVL UP orientiert sich konzeptionell an den Videospielen der frühen Nullerjahre, die 14 Lieder tragen Titel wie Princess Peach, Gameboy oder Endboss.

    „Ich weiß, man sollte leben im Moment“, heißt es in Bleib still, „doch ich glaub’, die Zukunft macht einiges besser“. Auf schleppenden Drums entwirft Eli Preiss eine Utopie, in der nicht bloß die Sonne scheint, sondern auch systemische Ungerechtigkeiten beseitigt sind. Im hocherotischen Slide wird sogar der gemeinsame Orgasmus mit einem entspannten „Baby, gleich, gleich, gleich“ noch in die Zukunft verschoben, bevor der wohlig ächzende Gesang am Ende des Songs inmitten von Feuerwerksexplosionen atemlose Höhen erklimmt. Es ist vielleicht der gegenwärtigste Moment auf LVL UP.

    Die Texte der 23-Jährigen erzählen wie so viele vom Coming-of-Age, von der Reise zur Selbstfindung. Gerade noch schleudert Eli Preiss über die bunten Weiten des Regenbogen Boulevard, droht, die Kontrolle zu verlieren, bald darauf rast sie zielstrebig mit präzisen Flows durch die Glühheiße Wüste, beide Titel verweisen auf Fahrstrecken des Videospiels Mario Kart. Dazwischen erreicht die Wienerin Level nach Level nach Level, ohne den eigenen Lebenslauf allzu teleologisch darzulegen. LVL UP ist dabei kein Egoshooter, sondern Mannschaftssport. Mit ihrem Produzententeam um Tschickgott und prodbypengg bedient sie sich bei Drum & Bass, Super-Nintendo-Soundeffekten und den Black Eyed Peas, um auch für den New-Wave-Sound des Deutschen Rap eine neue Stufe freizuspielen.

    Keine falschen Fakten flexen
    Wo in der Retrospektive Schwächen und Selbstzweifel angedeutet werden, behält der optimistische Ausblick stets das Übergewicht. LVL UP demonstriert selbstbewusste Angriffslustigkeit – mit konsistentem Anspruch an das Umfeld. Rapkollegen, die „Frauen hassen“ und „mit falschen Fakten flexen“, werden nicht bloß für ihre artistische Bedeutungslosigkeit kritisiert. Auch in der Liebe erlaubt Eli Preiss keine Fremdbestimmung. „Brauche kein’ Mann“, heißt es an einer Stelle mit ignorant-sanfter Stimme. „Wenn, dann wähl’ ich einen“. Romantische Partner saugen an Nippeln wie an denen ihrer Mama, befriedigen oral und müssen damit rechnen, dass die Rapperin sich auf ihre Grillz setzt. Wem das zu viel ist, der darf gerne einen angeekelten Blick auf die anzüglichen Zeilen der männlichen Konkurrenz werfen.

    Gerade in Endboss gelingt es, die Einflüsse von UK-Garage und modernem Trap zu einer respektvoll-turtelnden R’n’B-Hymne zu collagieren. „Ich spiel keine Games mit dir“, rappt Eli Preiss, das Musikvideo hingegen kleidet sich in die Ästhetik von Grand Theft Auto und Street Fighter im Multiplayer-Modus, Zitate einer Popkultur, die um die Jahrtausendwende eigene Zukunftsvisionen entwarf. LVL UP ist keine nostalgische Reise ins Archiv, sondern ein wachträumender Retrofuturismus, der die musikalische Gegenwart, um die er sich so wenig kümmert, mit Sicherheit prägen wird.

    #Musik #Nacht #Techno #R&B #Rap #Deutschrap #Wien #Österreich

  • Solidarität statt offene Grenzen ! | Rubikon
    https://www.rubikon.news/artikel/solidaritat-statt-offene-grenzen

    10.8.2018. von Hans-Jürgen Bandelt - Mit ihrer Hetze gegen Heimatgefühle stärkt die Lifestyle-Linke den neoliberalen Wahn.

    „Solidarität statt Heimat“ — welch abartige Gegenüberstellung, die als Aufruf (a) bereits mehr als 12.000 Intellektuelle aus dem mutmaßlich linken Milieu unterzeichnet haben! Denn Solidarität und Heimat betreffen völlig verschiedene Ebenen. Und vieles wäre vorab zu klären: Für was oder gegen was und überhaupt mit wem soll wer solidarisch sein? Und was ist Heimat? Solidarität mit den Ausgebeuteten und Unterdrückten ist zu üben, in der Heimat wie international. Offene Grenzen sind als Phantasmen zurückzuweisen.

    Solidarität statt Heimat

    Im Sommer und Herbst der Großen Migration war die Welt scheinbar noch in Ordnung: Es gab sie, die Willkommenskultur. Sie wurde gefeiert – ach, wie war das schön und gut. Aber sie war von oben verordnet: „Wir schaffen das!“ war der Zuruf der Bundeskanzlerin an die Zivilgesellschaft und meinte doch übersetzt: Kümmert Euch gefälligst um die, die da in Massen kommen, wir – der Staat – tun es nicht, wir verwalten nur notdürftig – oder erst mal gar nicht.

    Und die Menschen glaubten tatsächlich, daß sie es schaffen könnten. Das konnte so nicht gutgehen, da es nie zuvor eine konsequente Integrationskultur in Deutschland staatlicherseits gegeben hatte.

    Asylanten waren dem Staate immer lästig. Und wenn man sie am Ende nicht loswerden konnte ohne Gesichtsverlust, mußten sie um jeden Sprachkurs, jede Integrationsförderung kämpfen und ansonsten halt sehen, wie sie klarkamen in dieser Gesellschaft.

    Sie schafften sich Subkulturen – generationsübergreifend. Jener denkwürdige Herbst rief ein Nachspüren und Nachdenken hervor, und kritische Stimmen meldeten sich, die die Merkelsche Inszenierung gar nicht gut fanden.

    Nun hat sich ein linksliberales Willkommensmilieu tief getroffen gefühlt und sendet Signale an die Kritiker, um sie als unsolidarische Hetzer zu brandmarken: „Wir erleben seit Monaten eine unerträgliche öffentliche Schmutzkampagne, einen regelrechten Überbietungswettbewerb der Hetze gegen Geflüchtete und Migrant*innen, aber auch gegen die solidarischen Milieus dieser Gesellschaft“ – so lautet es im Aufruf „Solidarität statt Heimat“, den jüngst Intellektuelle aus dem mutmaßlich linken Milieu unterzeichnet und ins Netz gestellt haben.

    Daß von „Geflüchtete und Migrant*innen“ im politisch korrekten Gender-Neusprech statt von „Flüchtlingen und Einwanderern“ in normalem Deutsch gesprochen wird, läßt erahnen, daß hier die Postmoderne die Hand der Aufrufschreiber geführt hat.

    „Wenn diese Welt noch nicht gut ist, darf man sie nicht als gut verteidigen. Und deswegen muss man auch jene kritisieren, die unablässig die Schönheit dieser Welt hervorheben. Das sind die liberalen Moralisten. Sie sind konservativ. Derjenige, der aus Liebe zur Welt handelt, ist progressiv. Er hat noch etwas vor. Er will noch vorankommen. Deswegen kritisiert er.
    Er kritisiert nicht aus rechter Ideologie. Nein, er kritisiert aus Liebe. Aus Liebe zur Welt. Er denkt auch an die, die im Denken eines ,progressiven Neoliberalismus‘ ausgeschlossen sind. Er denkt an die Ausgebeuteten und die Abgehängten. Gerade für sie will er vorankommen. Das ist Liebe. Solidarität. Und genau deswegen muss der liberale Moralismus auch kritisiert werden. Gerade jener, wie er sich in der Flüchtlingspolitik offenbarte“ (Nils Heisterhagen: Die liberale Illusion, J.H.W. Dietz Nachf., 2018, S.24f).

    Heimat

    „Heimat ist ein wesentlicher Teil der Identität! Warum ist das so? Weil Heimat eine Vertrauenswelt darstellt“ (1). Heimat ist ein positives Grundgefühl vieler Menschen, was es ihnen erst ermöglicht, solidarisch zu sein mit anderen Menschen. Aber es ist doch mehr als nur so irgendein Gefühl: Es ist an eine größere, teils lose Gemeinschaft und nicht nur auf die eigene Kernfamilie bezogen. Und damit ist es an einen Ort oder mehrere Orte gebunden. Insofern verkürzen den Begriff Heimat sowohl Mojib Latif, wenn er charmant vorträgt „Heimat ist dort, wo meine Frau ist“, als auch Herbert Grönemeyer, wenn er gepreßt singt „Heimat ist kein Ort, sondern ein Gefühl“.

    Auch die Kulturanthropologin Carola Lipp sagte in einem Interview, daß Heimat immer eine territoriale Komponente hat (2). Und weil uns das Heimatgefühl so wichtig ist, wird dieses immer wieder durch eine reaktionäre Politik von Parteien wie CSU und AfD instrumentalisiert.

    Wenn DIE LINKE nun mit dem Begriff Heimat fremdelt, weil es einen Seehofer und ein Heimat-Ministerium gibt, so schüttet sie das Kind mit dem Bade aus.

    Dadurch, daß nicht nur der politische Mißbrauch abgewiesen wird, sondern auch die individuelle Vorstellung von Heimat dabei verdammt wird, werden gerade die Menschen der Unterschicht, die sich nicht einmal in kleinsten Dosen die Illusion eines kosmopolitischen Lebens leisten können, auch noch ihrer Gefühle enteignet.

    Das ist die Ignoranz und Arroganz der hippen und selbstgerechten, oberen Mittelschicht und unteren Oberschicht. Die Unverbundenheit mit ihrer Umgebung ist dem flexiblen Kosmopoliten eigen: Ihm ist die alte Heimat fremd geworden, weil er sich im Zuge seiner globalen Karriere hat entwurzeln lassen. Er ist immer bei seinesgleichen und nirgendwo richtig zuhause, nirgendwo wirklich solidarisch mit den Menschen, die ihn zufällig umgeben und ihm dienstbar sind. Solidarität kennt er nur abstrakt als moralischen Imperativ. Die Selbstgerechtigkeit, die ihn einhüllt, nimmt er als Heimatersatz überall mit hin.

    Solidarität

    „Vorwärts, nicht vergessen, die Solidarität“ – hatte 1931 einst Ernst Busch gesungen. Welche Solidarität hatte er gemeint? Die der Arbeiterklasse. Denn nur vereint kann sie sich der Ausbeutung erwehren. Das war früher nicht anders als heute. Nur, was heute anders ist: Wer fühlt sich noch zur Arbeiterklasse gehörig? Der Arbeitslose, der Leiharbeiter, der Handwerksgeselle, der noch vom Jobcenter geförderte Scheinselbstständige oder der jeder Willkür ausgesetzte Lehrbeauftragte an einer Universität? Viele Schichten gibt es und scheinbar wenig Gemeinsamkeiten.

    Oder sollten wir an die Flüchtlinge denken und meinen, sie seien der neue Messias der Arbeiterklasse, der alle eint? Auch wenn kein Schwan, sondern ein Rettungsschiff sie brachte. Daniela Dahn fragte dazu (3): „Sind die Flüchtenden das ersehnte revolutionäre Subjekt, das Egalisierung und Ökologisierung zwangsläufig vorantreibt? Endlich eine Globalisierung von unten? Prekarier aller Länder vereinigt euch!“

    Nein, eine Globalisierung von unten kann es nicht geben, dazu haben die Unterprivilegierten nicht die Mittel und Möglichkeiten, die die herrschende Klasse hat, die global bestens vernetzt ist. Und auch das World Wide Web wird eines nicht so fernen Tages ganz und gar von den Mächtigen kontrolliert und zugeteilt werden.

    Und ebensowenig sind die Flüchtlinge selber revolutionäre Subjekte, denn die, die zu uns kommen, wollen nur ihr Leben retten, was ihr gutes Menschenrecht ist, und hoffen, wohl vergeblich, auf ein menschenwürdiges Dasein hierzulande.

    Solidarität kann nicht direkt im Weltmaßstab funktionieren, sondern sich nur unmittelbar in Dialogen und Aktionen entwickeln. Zunächst in einem begrenzten Bereich des Kontaktes, wo Menschen in ähnlicher Weise der Ausbeutung unterliegen. Solidarität ist keine wohlfeile Gesinnung, die man wie eine Monstranz vor sich herträgt, sondern aktives Handeln, wo immer sie gefragt ist – im Klassenkampf gegen Ausbeutung und Unterdrückung.

    Wer also die unbedingte und globale Solidarität preist und gleichzeitig eine beliebte Politikerin, die Ikone der Linken, in die Nähe von Rassisten rückt, muß wohl etwas anderes mit Solidarität meinen. Denn Solidarität meint auch Konsens – und der ist in der Postmoderne mit ihrem ungehemmten Subjektivismus nicht mehr gefragt, sondern nur der Kampf gegen die Anderen, die man dämonisiert.

    Wie es im Solidaritätslied klingt „Unsre Herrn, wer sie auch seien, sehen unsre Zwietracht gern, denn solang sie uns entzweien, bleiben sie doch unsre Herrn“, so ist es auch heute.

    Die Zwietracht, die die urbanen Mittelschichtler – und mit ihr die akademischen Aufrufer zu „Solidarität statt Heimat“ – sähen, nützt genau diesen Herrn – den Profiteuren des Neoliberalismus.

    Denn sie wollen keine Grenzen respektieren, die sie daran hindern könnten, nach Belieben Finanzkapital hin- und herzuschieben und Humankapital, von wo auch immer, einzusetzen und auszubeuten.

    Offene Grenzen
    „Fernziel muss eine Welt sein, in der jeder leben kann, wo er will. Ein Privileg, das die Reichen längst haben“, drückt Daniela Dahn wohl das aus, was wohl auch viele der Aufrufunterzeichner denken mögen (3). In der Tat ist sie damit nicht allein – viele in DER LINKEN würden die naive Forderung „Jeder Mensch muss das Recht haben zu wählen, wo sie oder er leben möchte“ unterschreiben (4). Wir leben aber nicht in Utopia, wo alle Menschen einander wohlgesonnen sind und sich mit Wertschätzung begegnen.

    Wollen wir, die wir uns noch Menschlichkeit bewahrt haben, wirklich rücksichtslos wie manche Superreiche leben? Reiche wollen natürlich nicht mit den Menschen in einer Favela in Rio leben, sondern suchen sich global die abgegrenzten Sahnestücke an Villen mit grandiosem Seeblick und guter Flughafenanbindung aus. Wenn das nun alle wollten – wie sollte das gehen?

    Jenes „Fernziel“ ist eine Utopie mit Geschmäckle. Denn Siedlerkolonisten haben zu allen Zeiten diese sogar als Nahziel gehabt: Sie haben sich das Recht herausgenommen, da zu siedeln, wo sie wollten und wo andere bereits lebten – mit den fatalen Konsequenzen von Ermordung, Vertreibung und Einsperrung der Indigenen, wie einst in Amerika, Südafrika und aktuell noch in Palästina.

    Der Chefkommentator der rechtskonservativen WELT begrüßte jüngst das neue rassistische Nationalitätengesetz Israels und brach in Bezug auf den jüdischen Staat Israel in ekstatischen Jubel aus: „Er ist die Verwirklichung eines Ideals von Heimat, einer Heimat, die die geschundenen Juden über Jahrhunderte ersehnt haben und sich erobern mussten“ (5). Ja, genau, sie haben ihre neue Heimat erobert, nur halt auf Kosten der Palästinenser, die sie massenhaft ermordet, vertrieben oder in Freiluftgefängnisse eingepfercht haben im Laufe der letzten sieben Jahrzehnte.

    Staatsgrenzen haben gerade auch die Funktion, diejenigen, die in einer großen Gemeinschaft leben, zu schützen, indem bestimmte Gesetze nicht verletzt werden dürfen und gewisse Regeln zu beachten sind. Ein globaler Raubtierkapitalismus kann so zunächst daran gehindert werden, ungehemmt seinen Raum des Ausbeutens beliebig zu erweitern.

    Israel hat übrigens keine offiziellen Staatsgrenzen, so daß die Palästinenser unter der Besatzung und Lufthoheit des israelischen Militärs ungeschützt bleiben und der israelische Staat der privilegierten Juden weiterhin Eroberungspolitik auf Kosten der Palästinenser machen kann. Hier rächt sich das Versagen der Weltgemeinschaft, die nicht beizeiten Israel angeklagt und isoliert hat.

    Grenzen erinnern selbst flüchtige Besucher, daß andere Gemeinschaften andere Sitten und Gebräuche haben, die auch bewahrt werden wollen. So heißt es schon bei Ankunft auf dem Narita Airport mit großen Lettern (seit mehr als einem Vierteljahrhundert): „Welcome to Japan. Please respect the rules. (Willkommen in Japan. Bitte respektieren Sie die Regeln.)“ Da hält man erst einmal inne.

    Eine ungeregelte Freizügigkeit – außer in humanitären Notsituationen – kann es nicht ohne Konflikte geben. „Als international anerkanntes Menschenrecht bezieht sich Freizügigkeit allein auf das Recht eines Bürgers, das eigene Land zu verlassen und wieder dorthin zurückzukehren“ (6). Selbst Staaten müssen nicht absolute Freizügigkeit innerhalb ihrer Grenzen gewährleisten, im Sinne eines postulierten Gemeinwohls, wie das Beispiel der Volksrepublik China lehrt.

    Grenzenlose Utopien

    Wer offene Grenzen, also absolut ungehemmte Freizügigkeit will, müsste eigentlich Staatsgebilde grundsätzlich ablehnen, also einer anarchistischen Utopie folgen. So wie dies seit rund zwanzig Jahren die deutsche Bewegung „Kein Mensch ist illegal“ und das europäische „No-Border-Netzwerk“ tun.

    Nun ist nichts gegen Utopien einzuwenden, seien es anarchistische, kommunistische, christliche oder andere, solange sie auf einem Humanismus gegründet sind, Orientierungen geben und Gedankenspiele bleiben. Man wird doch noch träumen dürfen. Problematisch wird es allerdings, wenn man meint, hier und heute Teile von Utopien realisieren zu wollen – inmitten eines neoliberal-kapitalistischen Umfelds, ohne die Grundfeste des ökonomischen Systems anzugreifen und anzutasten. Die Teilutopien, die dann scheinbar real umsetzbar sind, werden dann genau die sein, die dem Neoliberalismus dienstbar sind.

    „Naiver Kosmopolitismus bringt niemanden weiter. (...) Denn von Globalisierung hat bislang im Grunde nur das Kapital wirklich profitiert. Und die ,neuen Liberalen‘, die ,neuen Linken‘, die helfen seit Jahren dem Kapital dabei, wirklich zu profitieren“ (Nils Heisterhagen).

    Wer Utopien unmittelbar in seiner Tagespolitik verfolgt, ist naiv, weil er die Folgen nicht bedenkt. Früher hieß es im Klassenkampf: Man muß den Klassenfeind studieren, also damals etwa FAZ lesen. Heute ist jeder nur mit seinem beruflichen Vorankommen, seinen sichtbaren Moralattributen auf Facebook und mit der Resonanz in seiner Blase beschäftigt.

    Wer das Edle propagiert, veredelt sich selbst. Offene Grenzen gelten als edel. Und diese beziehen sich nicht nur auf Staatsgrenzen.

    Grenzen im Bildungssystem wurden längst schon ausgemacht. Und die sollen natürlich erst recht weg: Keiner soll ausgegrenzt werden – so lautet die postmoderne Illusion. Ein mehrgliedriges Schulsystem, was allen – je nach Begabung und Nöten – das Beste für jeden bringen soll, ist demnach grundsätzlich böse und schlecht. Konsequenterweise hat sich die Idee von der inklusiven Einheitsschule in das linke Gedankengut eingeschleust. So heißt es im Wahlprogramm DER LINKEN:

    „Eine gute Schule für alle ist eine Schule in der das längere gemeinsame Lernen individuell und gemeinschaftlich so gestaltet wird, dass sich die Kinder und Jugendlichen zu mündigen, lebensfrohen, friedfertigen, weltoffenen und kompetenten Bürgerinnen und Bürgern entwickeln“.

    Naiver ließe sich das kaum formulieren – und obendrein noch Flagge zeigend mit Gender- und Kompetenz-Neusprech. Das könnte die Bertelsmann-Stiftung – aus ganz anderen Interessen – nur voll unterstützen. Ein Zitat von Gernot Bodner (siehe unten) paraphrasierend könnte ebenso Bezug auf unser Bildungssystem nehmen: „Bei ein wenig historischem Gedächtnis ist es schwer zu begreifen, wie das mehrgliedrige Schulsystem für die Linke zu einem derartigen Synonym für das Böse werden konnte.“

    In den sechziger und siebziger Jahren haben vor allem die Kinder aus der Arbeiterklasse einen Bildungsschub erlebt, der ihnen einen Aufstieg bis hin zur technischen und politischen Elite erlaubte. Leider auch einem Gerhard Schröder. Hingegen ist die inklusive Einheitsschule langfristig billiger und bei sinkender Einflußnahme der Lehrer den Eingriffsmöglichkeiten von außen (vom Kapital) stärker ausgeliefert.

    Unterzeichner

    Haben wirklich alle, die den Aufruf unterzeichnet haben, verstanden, worum es geht beziehungsweise worum eben nicht? Wenn es dann hervorgehoben lautet „Nennen wir das Problem beim Namen. Es heißt nicht Migration. Es heißt Rassismus“, dann kann man sich nur wundern, wieso das das Problem sein sollte – hier in Deutschland oder überhaupt in Europa. Unser Hauptproblem ist immer noch der Neoliberalismus, der dabei ist, seinen finalen Sieg zu erringen (7). Die Folgen sind doch hinreichend bekannt: weiterer Demokratieabbau, Tiefer Staat, weiteres Öffnen der Schere zwischen Arm und Reich, stärkere Militarisierung und mehr Beteiligung an illegalen Kriegen und so fort.

    Nicht für alle Unterzeichner des Aufrufs gilt die Unschuldsvermutung. Die drei Mitglieder des Fraktionsvorstands DER LINKEN, Caren Lay, Petra Pau und Bernd Riexinger, wußten genau, was sie da taten, nämlich faktisch zur Spaltung DER LINKEN aufzurufen. In einem Interview mit der jungen Welt vom 22. Juni 2018 erläuterte eine Verfasserin des Aufrufs:

    „Wir leben lange schon in einer Gesellschaft, in der gut 20 Prozent rassistische Auffassungen vertreten – aber im Grunde ist das eine Ideologie, die nicht nur in AfD und CSU zu finden ist, sondern bis weit in die Linke hineinreicht. Dass mit der Sammlungsbewegung um Sahra Wagenknecht ein nationalistischer Versuch von links gestartet wurde, war der Punkt, wo wir aktiv geworden sind“ (8).

    Das ist eine maßlose Unterstellung („20 Prozent rassistische Auffassungen“, „nationalistischer Versuch“) und eine direkte Verleumdung der Fraktionsvorsitzenden Sahra Wagenknecht obendrein. Wer so spricht und schreibt, hat nicht verstanden, was Linkssein bedeutet und was demokratische Spielregeln im Umgang miteinander sind. Ein Arbeiter oder Arbeitsloser kann sich da nur fragen, ob denen da in ihrer Blase nicht ihr elitäres Weltbild komplett entrückt ist. Hier tut sich ein tiefer Graben auf.

    Pikanterweise schrieb ausgerechnet die Geschäftsführerin der parteinahen Rosa-Luxemburg-Stiftung dem Verfasser einer Studie, der hart mit der antikommunistischen Geschichtsklitterung DER LINKEN in Thüringen und ihrer Führung ins Gericht ging, im April ins Stammbuch, daß „heute mehr denn je eine linke Grundsolidarität vonnöten“ sei (Ludwig Elm: Rechte Geschichtspolitik unter linker Flagge, pad-Verlag, 2018).

    Ja, aber eine solche Solidarität gibt es schon lange nicht mehr. Zum Zeitpunkt ihrer Gründung war DIE LINKE noch eine Sammlungsbewegung mit einer gemeinsamen Ausrichtung trotz unterschiedlicher Positionen, jetzt ist sie zu einer postmodern gewendeten Ausgrenzungsbewegung mutiert. Ach ja, die Vorstandsvorsitzende der Rosa-Luxemburg-Stiftung hat den Aufruf auch unterschrieben.

    Die Parteigänger DER LINKEN haben in großer Zahl den Aufruf unterstützt. Aber nicht allein sie sind dabei, sondern auch mehrere Mitglieder der kleinen Deutschen Kommunistischen Partei (DKP). Ja, sie ist noch nicht abgewickelt, erscheint aber politisch wirkungslos, da sie in erster Linie mit sich selbst beschäftigt und gespalten ist auf der Suche nach der richtigen Imperialismustheorie.

    Ein kleiner Verein („marxistische linke – ökologisch, emanzipatorisch, feministisch, integrativ e.V.“), der eine Brücke zwischen Teilen DER LINKEN und der DKP und Sympathisanten, die „die sich dem lebendigen, beweglichen Marxismus verbunden fühlen“, schlagen will, ist mit mehreren Unterzeichnern auch dabei: Unterschrieben haben die beiden Vereinsgründerinnen und mindestens vier weitere Mitglieder.

    Das „Institut Solidarische Moderne“, unterstützt von der Vorsitzenden DER LINKEN, Katja Kipping, hat einen breiten Vorstand, aus dem heraus viele jenen unsolidarischen Aufruf unterzeichnet haben, insbesondere auch ihr Sprecher, einige Sozialdemokraten und zwei Mitglieder jener Marxistischen Linken. Offenbar wird mit diesem Institut intensive Netzarbeit auf verschiedenen Ebenen geleistet. Man nennt das dort wohl Bündnisarbeit. Und bleibt doch unter sich.

    Der Riß geht also quer durch DIE LINKE, die DKP und die SPD und verläuft offenbar zwischen den angeblich beweglichen und den unbeweglichen Teilen. Sind die beweglichen Teile, wohl die dynamischen, etwa die, die mit dem flexiblen Kapitalismus (sprich: Neoliberalismus) ihren ideologischen Frieden gefunden haben? Und sind die unbeweglichen Teile, wohl die dogmatischen, gerade die, die noch etwas vorhaben und noch vorankommen wollen in ihrer Welterkenntnis?

    Es haben viele Mitglieder der absterbenden SPD unterzeichnet, 45 an der Zahl. Und viel mehr Parteigänger der GRÜNEN. Und noch mehr offenbar Parteilose. Niemand von der CDU/CSU, der FDP oder der AfD. Paßt schon. Nicht unterschrieben hat übrigens der IG-Metall-Vorstand Hans-Jürgen Urban, weil, wie er in einem Interview sagte, „dieser Aufruf neben den offenkundigen anti-rassistischen Botschaften, denen ich mich anschließe, auch eine versteckte Agenda enthält. Diese will nicht nach außen einigen, sondern nach innen polarisieren und spalten. Und diese Agenda will ich nicht unterstützen, ich halte sie für fatal“ (9). Das ist sie in der Tat – und markiert womöglich den Anfang vom Ende der Linkspartei, so wie sie jetzt besteht.

    Begriffsverdrehung

    Das hilflose Aufbegehren mancher, die das Heil in der Unterstützung rechtspopulistischer Gruppen suchen, ist ein ernstes Symptom, das das Versagen der postmodernen Linken signalisiert. Und das nicht nur in Deutschland. Rassismus ist dabei nicht das Problem, das als Schreckgespenst hysterisch bekämpft werden muß. Es gab immer und gibt wirkliche Rassisten. Und für die sollte die derzeitige Gesetzgebung hinreichen, um sie, wenn nicht zu läutern, doch wenigstens für ihre Gewaltaktionen und Haßaufrufe zu bestrafen.

    Die übergroße Mehrheit derjenigen, die heutzutage als Rassisten und Antisemiten bezeichnet und verleumdet werden, sind gar keine, sondern nur politische Feinde des Mainstreams, die mit größtmöglichem Haß ausgegrenzt und dämonisiert werden sollen – ganz im Sinne des Neoliberalismus.

    Dabei werden Begriffe im neoliberalen Neusprech zwecks Ausgrenzung der unerwünschten Kritiker schlicht umgedeutet.

    Das fängt schon an mit dem Begriff Nation. Dieser wird inzwischen bei gewissen Linken negativ konnotiert und in einem Atemzug mit Nationalismus genannt. Die Bejahung der Nation hat aber nichts mit Nationalismus zu tun, im Sinne eines übersteigerten Nationalgefühls. Der Wiener Gernot Bodner schrieb jüngst:

    „Bei ein wenig historischem Gedächtnis ist es schwer zu begreifen, wie der Nationalstaat für die Linke zu einem derartigen Synonym für das Böse werden konnte. (...) Der Nationalstaat war der Ort des sozialen Ausgleichs (Sozialstaat) und der parlamentarisch-demokratischen Steuerung. Von ihm ging die Aushandlung internationaler Bündnisse mit anderen Staaten aus. (...) Der Nationalstaat als Ort des Eingreifens in wirtschaftliche, soziale und politische Entwicklungen hat nie aufgehört zu existieren und wird nun in seiner Rolle neu definiert. Die Rechtspopulisten greifen dazu auf ihre völkischen Ideen einer ausschließenden Nation zurück. Die Linke braucht dagegen ein überzeugendes alternatives Narrativ der Nation als Ort demokratischer Willensbildung, sozialen Solidarität und Völkerverständigung“ (10).

    Der Historiker Klaus-Rüdiger Mai meinte:

    „Denn die meisten Bürger wollen zuallererst einen funktionierenden Staat, der an jedem Ort im betreffenden Land seine Hoheitsrechte durchzusetzen vermag – was an den Grenzen beginnt – und der in der Lage ist, eine solidarische Absicherung seiner Bürger gerecht zu organisieren.“

    „Und wie selbstgerecht ist es, den Bezug auf den Nationalstaat und das Verlangen nach Souveränität als gestrigen Nationalismus zu geißeln, wenn für eine erdrückende Mehrheit der Menschen genau dieser Nationalstaat ein zentraler positiver Bezugspunkt bleibt?“ schrieb Sebastian Müller (11).

    Milton Friedman sagt:

    „Man kann einen Sozialstaat haben und man kann offene Grenzen haben, aber man kann nicht beides zugleich haben“ (12).

    Das wird von manchen liberalen Autoren (Jakob Augstein und Rainer Hank) auch sofort eingesehen, die dann prompt daraus folgern, daß der Sozialstaat eben abgebaut werden müsse (13). Und das genau ist ein Ziel des Neoliberalismus. Klingelt es jetzt beim Stichwort „Offene Grenzen“?

    Wundert es nun, daß die ärmeren Bevölkerungsschichten, die ganz besonders auf den Sozialstaat angewiesen sind, genau spüren, daß sie vom linksliberalen Mainstream verraten und verkauft werden und sie es sind, die die Zeche für ungehemmte Einwanderung zahlen sollen? Wundert es dann, daß sich diese Schichten von den linken Moralisten und Selbstgerechten abwenden und überproportional AfD wählen?

    Obendrein werden sie, die ökonomisch in der Abwärtsspirale hängen, dann noch von denen, die ihr schönes linksliberales Lebensgefühl weitgehend unbeschwert genießen können, als Rassisten diffamiert. Mit Verteilung solcher Wutetiketten wird also massiv Wahlkampfhilfe für die AfD betrieben.

    Ein Sozialdemokrat kommentierte auf den Nachdenkseiten: „Liebe Genossen, Ihr habt nicht mehr alle Tassen im Schrank, wenn Ihr so weitermacht und berechtigte Kritik an ungehemmter Zuwanderung mit menschenverachtendem Rassismus gleichstellt und damit den Rassismus trivialisiert. (…) So wird das nix mit rot-rot-grün“ (14).

    Rassismus

    Rassismus ist zu einem Kampfbegriff der linksliberalen Eliten geworden. Damit geht einher, daß im neoliberalen Zeitalter der Rassismusbegriff unzähligen Erweiterungsversuchen unterworfen wurde. Alltagsrassismus ist auch ein solch unzulässiger Begriff, weil da eher Ressentiments gemeint sind. Fremdenfeindlichkeit kann auch nicht unter Rassismus subsumiert werden. Und die feindselige Einstellung gegenüber einer bestimmten Religion ebensowenig.

    Es gibt eben ein ganzes Spektrum vom pauschalen Ablehnungsmöglichkeiten. Die Sprache ist reich genug, diese alle zu benennen und zu unterscheiden. Man muß nur wollen. In derzeitigen Diskursen scheinen jedoch alle Ausgrenzungsarten in Rassismus zu kollabieren, weil damit ein größerer Abschreckungseffekt erzielt werden kann.

    Die folgende populäre „Definition“ von Albert Memmi ist eine überschießende und somit unzulässige Verallgemeinerung (15): „Der Rassismus ist die verallgemeinerte und verabsolutierte Wertung tatsächlicher oder fiktiver Unterschiede zum Nutzen des Anklägers und zum Schaden seines Opfers, mit der seine Privilegien oder seine Aggressionen gerechtfertigt werden sollen.“

    Denn der im Worte Rassismus enthaltene unwissenschaftliche Begriff Rasse (der im Falle von Menschen kein biologisch begründbares Konzept ist) nimmt auf jeden Fall Bezug auf eine mutmaßlich biologische, also mutmaßlich ererbte Form einer äußerlichen Eigenschaft, die sich somit auf eine gesamte Gruppe bezieht, die einer bewertenden Diskriminierung unterliegt.

    Wohin die Aufblähung des Rassismusbegriffs führt, kann man bei dem Sprecher des Instituts Solidarische Moderne (das heißt wirklich so), Thomas Seibert, lernen:

    „Rassismus liegt dort vor, wo Menschen nach entsprechenden Merkmalen selektiert werden: in solche, die hierhergehören, und solche, die hier nur geduldet sind und bald wieder wegsollen“ (16).

    Das ist paßgenau für eine Polemik in der Flüchtlingsproblematik konstruiert. Und dann kommt das Skandalon schrill aus seinem Munde:

    „Wagenknecht stärkt rassistische Positionen in der Wählerschaft der politischen Linken und damit den diffusen Rassismus in rund einem Viertel unserer Gesellschaft. Streng verstanden ist das selbst Rassismus.“

    Von einem Philosophen, auch wenn er für ein Institut der unsolidarischen Postmoderne spricht, würde man eigentlich einen genaueren Umgang mit Begriffen und sauberes Schließen erwarten. Zu den 20 Prozent des Aufrufs gibt er übrigens noch 5 Prozent dazu – wer bietet mehr?

    Das mit dem praktischen Kampf gegen den Rassismus ist auch so eine Sache. Der Co-Vorsitzende DER LINKEN, Bernd Riexinger, will mit dem Aufruf eine („sozialpolitisch fundierte“) Offensive gegen den Rassismus starten (laut Stuttgarter Zeitung, Hauptausgabe vom 20. Juli 2018, S.4).

    Währenddessen machte sich der Co-Fraktionsvorsitzende, Dietmar Bartsch, mit der rassistischen Netanyahu-Regierung Israels gemein und pflanzte ein Bäumchen, angeblich zum Schutze der Israelis vor den Palästinensern. Und er will sein Bäumchen auch wieder besuchen (17). Das ist Treue. Hätte er mal besser ganze Haine gepflanzt zum Gedenken an die vielen ermordeten Palästinenser (18). Aber Solidarität mit den Palästinensern kennt er nicht.

    Stattdessen „Solidarität mit diesem Besatzerstaat auszudrücken, stellt eine Kolonialideologie zur Schau und drückt Verständnis für die brutalen rassistischen Praktiken der Besatzung aus“ (19). Der israelische Marxist Moshe Zuckermann klagte:

    „Wenn DIE LINKE meint, sich mit einem Land wie Israel beziehungsweise mit dem, was aus Israel geworden ist, solidarisieren zu sollen, dann erweist man ihr die falsche Ehre, sie noch als eine linke Partei anzusehen – eine Ehre, auf die sie übrigens vielleicht überhaupt keinen Wert mehr legt“ (20).

    Ganz richtig – DIE LINKE ist mehrheitlich keine linke Partei.

    Die Lifestyle-Linke und ihr Haßhorizont
    Perfide ist die Umdeutung, die überhaupt das Linkssein in der Postmoderne erfahren hat. Links bedeutete stets Solidarität mit den Unterdrückten, auch wenn diese einen anderen Habitus und Sprachstil pflegten. Der Klassenstandpunkt ist wesentlich. Und da das Ideal der Menschlichkeit und der Beseitigung von Ausbeutung real werden soll, gehört ein universeller Humanismus selbstverständlich zum Kern der Leitvorstellungen für eine klassenbewußte Linke.

    Wenn der Klassenstandpunkt im gesellschaftlichen Diskurs schwindet, geraten die ökonomischen Bedingungen leicht aus dem Blickfeld und werden durch Emanzipationsbestrebungen und Identitätsfragen aller Art ersetzt. Es ist die Postmoderne, die große Teile der Linken, sogar bis hin zu den Kommunisten, transformiert hat. Für die kulturelle Emanzipation wird gekämpft, aber der ökonomische Gesichtspunkt fällt unter den Tisch. So konnte zum Beispiel aus einem Feminismus des Klassenkampfes das identitätspolitische Gender Mainstreaming mit seinen Sprachspielen werden.

    Die postmoderne Linke (oder auch Neue Linke), die zumeist im arrivierten Milieu der oberen Mittelschicht und unteren Oberschicht (je nachdem, wo die jeweiligen Einkommensgrenzen gezogen werden) zu finden ist, das sich mit dem Neoliberalismus arrangiert hat, wird auch „Kulturlinke“ genannt. Ein besserer Name wäre jedoch Lifestyle-Linke.

    Diese Lifestyle-Linke vertritt den progressiven Neoliberalismus im Gegensatz zu jenen, die jegliche Spielart des Neoliberalismus abweisen. Diese Linke denkt, wie sie zu leben strebt, nämlich kosmopolitisch. Diejenigen, die sich diesen Lebensstil nicht leisten können und auf Solidarität eines Sozialstaats angewiesen sind, werden dann der sogenannten kommunitarischen Linken zugewiesen.

    Der Gegensatz zwischen Kosmopolitismus und Kommunitarismus ist aber nur ein Aspekt eines tieferen, ideologischen Konflikts innerhalb der Linken und der Mitte der Gesellschaft, nämlich zwischen progressivem Neoliberalismus (wie ihn Nancy Fraser bezeichnet hat) und konsequentem Anti-Neoliberalismus (21). Das Flüchtlingsproblem, an dem sich AfD wie DIE LINKE abarbeiten, ist nur ein Symptom.

    Die AfD und DIE LINKE brauchen einander als Haßobjekt. Die AfD bezieht sich gern auf die Linken, wenn sie von „linksgrün versifft“ spricht. Eigentlich ist ihr wahrer Haßhorizont der progressive Neoliberalismus mit seinem ausgrenzenden Moralismus und seiner politischen Korrektheit. Aber das weiß die Partei nicht, weil sie sich eher von dumpfen Stimmungen leiten läßt und den Neoliberalismus auch gar nicht grundsätzlich ablehnt.

    Andererseits: was wäre, wenn sich die AfD plötzlich in Luft auflösen würde? Dann verlöre DIE LINKE auch gleich ihr Alleinstellungsmerkmal und ihren Haßhorizont und müßte im Wahlkampf kontur- und orientierungslos erscheinen. Denn ihr herausgestelltes Antifa-Gebaren gegen den Rassismus ist in erster Linie auf das Wahlvolk der AfD gemünzt. Dadurch will sie beim Wähler punkten: Seht her, WIR sind die konsequentesten Kämpfer gegen das Übel in Europa, den Rassismus der Rechtspopulisten. WIR sind die Weltretter. Das Dumme ist nur, daß das Wahlprogramm der AfD nichts in Bezug auf Rassismus hergibt.

    Die wirkliche politische Auseinandersetzung mit der AfD unterläßt DIE LINKE – aus gutem Grunde. Die AfD ist dezidiert frauenfeindlich, weil sie alte Benachteiligungen neu auflegen will. Nur DIE LINKE beläßt es einfach bei der ökonomischen Benachteiligung der Frauen, indem sie Identitätspolitik betreibt und das Gender Mainstreaming stützt und ein Feuerwerk von Gendersternchen zündet.

    Die AfD ist rechtsneoliberal und fremdenfeindlich, wie sich aus ihrem Wahlprogramm herauslesen läßt (22). DIE LINKE hingegen ist linksneoliberal, nicht zuletzt, da sie auch auf den Politikfeldern Feminismus und Bildungspolitik dem Neoliberalismus Tür und Tor geöffnet hat.

    Die AfD ist militaristisch und einer kriegstreibenden Politik zugewandt (23). Aber die Israel-Politik DER LINKEN ist kriegstreiberisch, indem sie Netanyahu mit seiner barbarischen Besatzungspolitik und dem Angriffskrieg in Syrien den Rücken stärkt.

    Die AfD ist ausgesprochen arbeitnehmerunfreundlich, auch da sie nie davon spricht, Arbeitnehmerrechte und Gewerkschaften zu stärken. DIE LINKE hingegen hat da laut Wahlprogramm sehr viel vor – nur warum glaubt ihr der Wähler das nicht? Das war schon vor einem Jahrzehnt nicht viel anders. Hat DIE LINKE ein Glaubwürdigkeitsproblem? Jetzt ganz gewiß: Wer in einem Rundumschlag die Mehrheit der Deutschen, die so etwas Selbstverständliches wie Staatsgrenzen bewahren wollen, völlig borniert als Rassisten tituliert und damit Björn Höcke und Sahra Wagenknecht in eine Reihe stellt, dem glaubt man einfach gar nichts mehr. Und denkt sich: (pseudo-)linke Spinner.

    Aber die Lifestyle-Linke will und muß aus ihrer Selbstgerechtigkeit heraus hassen – und zwar nicht die Großkonzerne und das internationale Finanzkapital mit ihren Think Tanks. Sondern die, die sich am greifbarsten hassen lassen, nämlich jene, die sich ihren netten Lebensstil nicht leisten können oder sich ihrer selbstgerechten Ideologie verweigern.

    Hillary Clinton hatte einst vom „basket of deplorables“ gesprochen. Hierzulande ist man drastischer und beschimpft solche Menschen gleich als Parias (Rassisten, Rechte, Nazis, Antisemiten und so weiter). Eigentlich müßte sich die Lifestyle-Linke selber hassen: im Besonderen, weil sie die soziale Frage in der Praxis bestenfalls als Charity sieht und den Klassenkampf abgeschrieben hat, weil sie sich selber bestens mit einem hedonistischen Lifestyle arriviert hat und sich vom neoliberalen Kapitalismus hat korrumpieren lassen.

    Konsequenzen

    Die neoliberale Hegemonie manifestiert sich durch die Macht der postmodern gewendeten Begrifflichkeiten, die die Klassengegensätze vertuschen und dabei neue Fronten errichten sollen. Es soll Zwietracht gesät werden unter denen, die als Ausgebeutete eigentlich ähnliche objektive Interessen haben müßten. Divide et impera. Im postmodernen Zeitalter haben sich Losungen wie Freiheit und Emanzipation verselbständigt, Identitäten werden konstruiert und wieder dekonstruiert. Jeder muß um die Anerkennung seines spezifischen Opferstatus ringen. Solidarität ist nur noch innerhalb einer Opfergruppe realisierbar. Die Konkurrenz der Gruppen ist groß.

    DIE LINKE reklamiert bisweilen für sich, anti-neoliberal zu sein – das ist außer Wunschdenken jedoch bestenfalls nur in der Frage der Militäreinsätze der Fall. Selbst auf ökonomischem Gebiet führt sie die Schrödersche Politik der Privatisierung weiter, nämlich in einer runderneuerten Softvariante von ÖPPs (Öffentlich-private Partnerschaft), die verschleiernd als ÖÖPs (Öffentlich-öffentliche Partnerschaft) bezeichnet werden. Die Rosa-Luxemburg-Stiftung plädiert offen für eine „progressive ÖÖP-Praxis“ (Analysen32.Zukunftsinvestitionen; 24). So sollen in Berlin und Thüringen, dort wo DIE LINKE in Regierungsverantwortung steht, die Schulgebäude in eine Gesellschaft übergehen, die noch mehrheitlich in öffentlichen Händen ist (Marxistische Blätter 3-2017, S.15-18; UZ, 16. März 2018, S.5; 25).

    DIE LINKE ist absolut naiv in dieser Hinsicht. Denn gleichwohl wird damit das Geschäftsmodell des neoliberalen Abverkaufs vorangetrieben, das auch noch die letzten staatlichen Bereiche langfristig privatisieren soll. Ralf Wurzbacher nennt es den großen Schulraub (26). Dieser einmal angeworfene Prozeß ist dann kaum mehr rückgängig zu machen, da den staatlichen Verwaltungen nach und nach die Fachleute ausgehen. Die Bauämter in den Kommunen sind jetzt schon völlig ausgedünnt: magersüchtiger Staat. Der rot-rot-grüne Senat von Berlin verhält sich kein bißchen anders als „konservative“ Regierungen, meint auch Magda von Garrel (27).

    Durch die Übernahme postmoderner Vorstellungen geht in anderen Bereichen Identitätspolitik vor ökonomischen Maßnahmen, die das Großkapital schmerzen könnten. Das ist so mit dem fehlgeleiteten Feminismus, bei dem nur die Sprache im Sinne politischer Korrektheit umgebaut wird, aber nicht die Grundpfeiler des Entlohnungssystems, das Frauen nach wie vor benachteiligt (28).

    Der Aufruf „Solidarität statt Heimat“, der – in bewußter Frontstellung gegenüber der Fraktionsvorsitzenden Sahra Wagenknecht – sogar vom Co-Parteivorsitzenden und zwei anderen Mitgliedern des Fraktionsvorstands DER LINKEN unterzeichnet wurde, hat eine katastrophale Außenwirkung auf das Wählervolk, das noch nicht den Slogans der postmodernen Moralisten auf den Leim gegangen ist.

    Wer will denn noch DIE LINKE wählen, die schon lange aufgehört hat, sich als Partei dem neoliberalen Mainstream zu verweigern? Sie paralysiert sozusagen die wenigen linken Kräfte in diesem Land, folgt der Staatsräson und schützt den neoliberalen Staat vor einem effektiven Aufbegehren der Ausgebeuteten.

    DIE LINKE ist also nicht das geringste Übel, welches man zähneknirschend wählen müßte, sie ist neben den GRÜNEN das Übel schlechthin diesseits von Rechts. Eine solche Partei brauchen wir nicht – denn es gibt ja schon die SPD (für die Sozialprosa) und die GRÜNEN (für die Moralkeule) (29). Und der Aufruf demonstriert ja überdies, daß dieser Teil der Kipping-Linken nicht wirklich bündnisfähig ist, weil sie mit Andersdenkenden keinen Konsens sucht, sondern sofort mit Antifa-Gebaren die Rassismuskeule schwingt.

    Georg Seeßlen behauptete jüngst in seinem Beitrag „Dem Volk was vormachen“: „Der Populismus ist eine Kraft, die das Linke zersetzt, von außen wie von innen“ (30). Nein, die bereits vollzogene Zersetzung ist durch die Postmoderne, die linksliberale Leitideologie des progressiven Neoliberalismus, geschehen. Der Linkspopulismus ist lediglich die nötige Antwort darauf, um wieder Gehör und Glauben beim „Volk“ zu finden, das sich in seinen wirtschaftlichen Nöten schon lange nicht mehr politisch repräsentiert sieht.

    Den Unterschied zum Rechtspopulismus hat Bernd Stegemann in seinem Buch „Das Gespenst des Populismus“ (Verlag Theater der Zeit, 2017) hinreichend deutlich dargelegt.
    „Linke Parteien müssen darauf hinarbeiten, ihre Basis wieder zu verbreitern und Wähler zurückzugewinnen“, schrieb Lev Lhommeau (21). Nur, DIE LINKE wie die GRÜNEN können und wollen es gar nicht, da sie mehrheitlich die schlecht verdienenden und hart arbeitenden Menschen mit ihrem linksliberalen Moralismus nachhaltig abschrecken.

    Und die SPD ist sowieso am Ende ihrer Glaubwürdigkeit angelangt. Die beworbene obere Mittelschicht ist eher dünn und wird noch dünner. Mit ihr allein gewinnt man keine Wahlen.
    Nils Heisterhagen hat dennoch die Vision von einem „linken Realismus“, der die linken Kräfte einen soll. Ihm ist zwar klar, daß ein kultureller Kosmopolitismus, der alle nationalen Kulturen aufhebt und enthält, naiver postmoderner Unsinn ist.

    Nur ist dieser als moralische Haltung in der Lifestyle-Linken fest verankert. Ein solcher Habitus und Moralismus läßt sich nicht einfach aus den Köpfen vertreiben und wird noch Jahre, wenn nicht gar Jahrzehnte, überdauern. Eine Einigung ist nicht in Sicht und nur eine saubere Trennung verspricht einen Neuanfang.

    Die Kritiker des liberalen Mainstreams und der Lifestyle-Linken müssen also und werden sich weiter sammeln, um letztendlich eine neue linkspopulistische Partei noch vor der nächsten Bundestagswahl zu gründen – Name egal, Hauptsache klassenbewußt und anti-neoliberal. Dann könnte sie aus dem Stand vielleicht sogar die zweitstärkste Volkspartei werden.

    Die Reste der Linkspartei würden dann hoffentlich ihre Katharsis erfahren und unter die Fünf-Prozent-Hürde gehen und später vielleicht eingehen in ein Bündnis mit den postmodernen GRÜNEN – wo sie eigentlich auch jetzt schon hingehörten. Eine postmoderne linksliberale Mittelschichtpartei in Deutschland reicht völlig. Eine wirklich linke Partei ohne postmoderne Verstrickungen fehlt ganz.

    Solidarität mit den Ausgebeuteten und Unterdrückten ist zu üben, in der Heimat wie international. Offene Grenzen sind als Phantasmen zurückzuweisen.

    Quellen und Anmerkungen:

    (a) https://solidaritaet-statt-heimat.kritnet.org
    (1) https://zahramohammadzadeh.wordpress.com/2010/11/08/was-ist-heimat-fur-mich
    (2) https://www.hna.de/kultur/interview-darum-ist-heimat-ein-trend-9521710.html
    (3) https://www.rubikon.news/artikel/willkommen-und-abschiebung
    (4) https://www.zeitschrift-luxemburg.de/offene-grenzen-sind-machbar
    (5) https://www.welt.de/debatte/kommentare/article179671432/Nahost-Israel-ist-ein-juedischer-Staat-eine-Selbstverstaendlichkeit.html?wtrid=
    (6) https://www.rubikon.news/artikel/der-spaltpilz
    (7) https://www.rubikon.news/artikel/die-unsichtbare-hand
    (8) https://www.jungewelt.de/artikel/334596.wir-erleben-gerade-einen-rechten-putsch.html
    (9) https://www.freitag.de/autoren/der-freitag/anti-rassismus-und-eine-versteckte-agenda
    (10) http://www.antiimperialista.org/de/content/mit-antifa-gegen-rechtspopulismus
    (11) https://makroskop.eu/2018/07/mit-falscher-empfindlichkeit-gegen-den-rauen-wind-des-populismus
    (12) https://www.deutschlandfunkkultur.de/absage-an-ein-vereintes-europa-warum-die-linke- die-nation.1005.de.html?dram:article_id=410341
    (13) https://www.nachdenkseiten.de/?p=44870, http://norberthaering.de/de/27-german/news/995-hank-sozialnazis
    (14) https://www.nachdenkseiten.de/?p=44529#h01
    (15) http://www.dir-info.de/dokumente/def_rass_memmi.html
    (16) http://www.taz.de/!5455168
    (17) http://www.kkl-jnf.org/about-kkl-jnf/green-israel-news/may-2018/life-saving-trees-sufa-dietmar-bartsch/german
    (18) https://www.rubikon.news/artikel/wenn-die-olivenhaine-trauer-tragen
    (19) https://www.jungewelt.de/artikel/336757.protest-aus-pal ProzentC3 ProzentA4stina-gegen-besuch-von-dietmar-bartsch-die-linke-ende-mai-in-israelischer-siedlung.html; https://www.rubikon.news/artikel/die-apartheid-pr
    (20) https://www.rubikon.news/artikel/linker-opportunismus
    (21) https://makroskop.eu/2018/06/der-kosmopolitische-irrweg
    (22) https://www.rubikon.news/artikel/neoliberal-und-fremdenfeindlich
    (23) https://www.rubikon.news/artikel/die-kriegspartei
    (24) https://www.rubikon.news/artikel/die-schulen-werden-privatisiert
    (25) https://www.rubikon.news/artikel/ware-bildung
    (26) https://www.rubikon.news/artikel/der-grosse-schulraub
    (27) https://www.rubikon.news/artikel/der-grosse-coup
    (28) https://www.rubikon.news/artikel/die-grosse-ablenkung
    (29) https://www.rubikon.news/artikel/diese-linke-braucht-kein-mensch
    (30) http://www.taz.de/!5519642

    #Allemagne #polituque #gauche #migration

  • Interview ǀ „Den Streikmuskel trainieren“ — der Freitag
    https://www.freitag.de/autoren/der-freitag/den-streikmuskel-trainieren

    9.9.2021, von Jörn Boewe - Interview Die „Berliner Krankenhausbewegung“ kämpft für mehr Pflegepersonal. Wir haben mit einer Krankenschwester, einer Organizerin und einem Gewerkschaftssekretär gesprochen.

    Am Montag präsentierte die Gewerkschaft Verdi das Ergebnis einer Urabstimmung unter Mitgliedern, die als Beschäftigte in Berlins landeseigenen Krankenhäusern und deren Tochterfirmen arbeiten: Mehr als 98 Prozent stimmten für einen unbefristeten Streik, am heutigen Donnerstag hat ein unbefristeter „Erzwingungsstreik“ begonnen. Es ist der vorläufige Höhepunkt der „Berliner Krankenhausbewegung“: Über deren Hintergründe und das Ziel, bessere Arbeitsbedingungen in den Charité- und den Vivantes-Kliniken zu erkämpfen, sprechen hier eine Krankenschwester, eine Organizerin und ein Gewerkschaftssekretär.

    der Freitag: Frau Habekost, was ist die „Berliner Krankenhausbewegung“? Und was sind Ihre Forderungen?

    Silvia Habekost: Wir sind Krankenhausbeschäftigte von Vivantes und Charité. Vivantes und Charité haben die meisten Covid-19-Patienten in Berlin behandelt, aber die Personalsituation ist seit Jahren völlig unzureichend. Trotz Pandemie wurde daran nichts geändert. Ein Ziel unserer Kampagne ist also, eine feste Personal-Patienten-Quote, einen Belastungsausgleich und bessere Ausbildungsbedingungen zu bekommen – geregelt in einem „Tarifvertrag Entlastung“. Und wir fordern, dass die Beschäftigten der ausgelagerten Vivantes-Tochterfirmen auf dem Niveau des Tarifvertrags für den öffentlichen Dienst bezahlt werden. Bislang bekommen sie für die gleiche Arbeit viel weniger Geld, bis zu 1.000 Euro weniger pro Monat.

    Sie haben im Januar Ihren Plan Verdi vorgestellt.

    Silvia Habekost: Ja, und Ende Januar grünes Licht bekommen. Verdi unterstützt uns mit 30 Organizer*innen, das sind zwei, drei pro Krankenhausstandort. Dann hatten wir drei Meilensteine oder, wie wir das nennen, „Strukturtests“: Der erste war eine Petition. Wir wollten wissen, ob die Mehrheit der Beschäftigten einverstanden ist, sich mit uns zusammen für bessere Personalausstattung und eine bessere Bezahlung einzusetzen. Leute sind durch die Teams gegangen, haben den Plan vorgestellt und diskutiert. Ende März hatten 8.397 Kolleginnen und Kollegen unterschrieben, das waren 63 Prozent der Beschäftigten. Am 12. Mai haben wir diese Unterschriften auf einer Kundgebung vor dem Roten Rathaus dem Senat übergeben …

    … und gehofft, dass der Senat auf Ihre Argumente eingeht?

    Silvia Habekost: Wir haben ein Ultimatum von 100 Tagen gestellt: Entweder sie nehmen zumindest Verhandlungen mit uns auf oder wir werden vier Wochen vor den Wahlen in den Streik treten. Dann haben wir die Forderungen in den Teams weiterdiskutiert: Wie viel Personal brauchen wir, um eine sichere Patientenversorgung zu gewährleisten? Welche Konsequenzen sollen greifen, wenn diese Mindestbesetzung nicht erreicht wird? Wir wollten, dass eine Mehrheit in den Teams ihre Forderungen abstimmt und Delegierte wählt. Dann wurden diese Forderungen auf einer Versammlung mit tausend Teamdelegierten im Fußballstadion des 1. FC Union vorgetragen, diskutiert und beschlossen. Das war unser zweiter Test. Und als dritten haben wir Mitte August eine Umfrage gestartet, ob die Kolleginnen und Kollegen bereit sind zu streiken.

    Es war also ein Konflikt mit Ansage. Wie haben die Verantwortlichen in Senat und Klinikmanagement reagiert?

    Silvia Habekost: Die Charité-Leitung sieht zumindest die Notwendigkeit einer besseren Personalausstattung. Das Vivantes-Management sagt, dass alles super ist, der Mangel sei nur „gefühlt“. Sie verstehen nicht, warum wir uns beschweren. Wir haben eine Personalchefin, die vermutlich noch nie mit jemandem unter einer bestimmten Hierarchiestufe gesprochen hat. Vivantes ist mit einstweiligen Verfügungen gegen uns vorgegangen, um uns das Streiken zu verbieten. Aber über unsere Anliegen verhandeln – dazu waren sie bis jetzt nicht bereit.

    Die Unterbesetzung ist eine Folge des Systems der Krankenhausfinanzierung – der sogenannten Bezahlung nach Fallpauschalen. Können Krankenhausmanager daran überhaupt etwas ändern?

    Silvia Habekost: Sie sagen nicht, dass sie mehr Pflegepersonal nicht finanzieren könnten. Ihr Argument ist, dass sie keine Leute finden. Und unser Argument ist: Wir brauchen bessere Arbeitsbedingungen, dann ändert sich die Situation auf dem Arbeitsmarkt sehr schnell. Es gibt Studien, die beweisen, dass viele ehemalige Pflegekräfte in ihren Beruf zurückkehren würden, wenn die Arbeitsbedingungen besser wären.

    Jane McAlevey: In den USA ist es genau das Gleiche. Die Chefs haben immer gesagt: Wir würden gerne mehr Krankenschwestern einstellen, aber es gibt einfach keine. Seit ich 2004 meine erste große Pflegekampagne für sichere Personalquoten gemacht habe, haben wir immer gesagt: Das ist Blödsinn. Es gibt keinen Mangel an Krankenschwestern schlechthin. Es gibt einen Mangel an Krankenschwestern, die bereit sind, unter den derzeitigen Bedingungen in Krankenhäusern zu arbeiten, weil ihr diese Arbeitsbedingungen zerstört habt. Die durchschnittliche Krankenschwester in den Vereinigten Staaten fühlt sich, wenn sie zur Arbeit geht, wie in einem Kriegsgebiet, wie bei der Triage, weil es nicht genug Personal gibt, die Patienten zu behandeln. Das ist es, was die Leute dazu bringt, zu kündigen und lieber in einer Arztpraxis zu arbeiten, wo es ruhiger zugeht.

    Okay, aber wie bekommt man die Bedingungen wieder repariert?

    Jane McAlevey: In Kalifornien haben die Krankenschwestern und -pfleger ein staatliches Gesetz erkämpft, das die Mindestbesetzung regelt. In Australien wurden ebenfalls auf politischer Ebene sichere Personalquoten gesetzlich durchgesetzt. Das sind die einzigen Länder auf der Welt, wo es so etwas gibt. Es bedurfte vieler, vieler, vieler Jahre politischer Kämpfe und vieler Streiks, um dahin zu kommen. In dem Moment, in dem wir sie durchgesetzt hatten, strömten Tausende Krankenschwestern und -pfleger zurück in die Krankenhäuser, es mussten Zehntausende Auffrischungskurse für Pflegekräfte durchgeführt werden.

    Frau McAlevey, wie hat es eine US-amerikanische Gewerkschaftsorganizerin wie Sie nach Deutschland verschlagen?

    Jane McAlevey: Ich habe Silvia und ihre Kollegen 2019 bei der Konferenz „Erneuerung durch Streik“ der Rosa-Luxemburg-Stiftung kennengelernt. Danach haben wir uns immer wieder getroffen und während der Pandemie ein Online-Organizing-Schulungsprogramm durchgeführt, das Zehntausende von Beschäftigten zusammengebracht hat, nicht nur aus dem Gesundheitswesen. Ich selbst komme aus der Health and Hospital Workers Union 1199NE, die ihre Wurzeln in der radikalen US-Gewerkschaftsbewegung der 1930er Jahre hat. Sie ist immer noch die Gewerkschaft, die die besten Verträge für das Gesundheitspersonal in den USA abschließt.

    Warum ist das so?

    Sie gewinnt ihre Kämpfe, weil sie eine demokratische Gewerkschaft ist, weil sie es den Beschäftigten ermöglicht, zu streiken, und weil sie der Meinung ist, dass Beschäftigte alle paar Jahre streiken sollten, um die Streikmuskeln zu trainieren. Ohne das wären wir nicht führend bei den nationalen Standards.

    Aber wenn es dafür keine parlamentarischen Mehrheiten gibt?

    Jane McAlevey: Im Bundesstaat Nevada, wo eine konservative Mehrheit eine politische Lösung blockiert hat, haben die Beschäftigten gesagt: Scheiß drauf, wir setzen das auf tarifvertraglichem Weg durch. Wir haben das kalifornische Krankenschwester-Patienten-Verhältnis in wichtigen Krankenhäusern durch Tarifverträge durchgesetzt. Es war zäh, aber jetzt haben die Kliniken, in denen wir erfolgreich waren, die beste Personalausstattung und die besten Ergebnisse bei der Patientenversorgung.

    Moritz Lange: Vielleicht ist es das, was man als lebensverändernde Forderungen bezeichnen könnte. In Deutschland war der Kampf für die 35-Stunden-Woche in den achtziger Jahren so eine Auseinandersetzung. Das hat wirklich das Leben von Hunderttausenden verändert – und weil das allen klar war, hat dieser Kampf eine ganz andere Dynamik entwickelt als eine normale Lohnrunde. Ein bisschen davon habe ich in der Tarifrunde der Metallindustrie vor drei Jahren gespürt, als die IG Metall zusätzliche freie Tage für Beschäftigte mit kleinen Kindern und pflegebedürftigen Angehörigen und für Schichtarbeiter*innen gefordert hat. Das war gefühlt die erfolgreichste landesweite Tarifbewegung der vergangenen zehn Jahre. Die Leute fingen an zu diskutieren: He, was werdet ihr mit den zusätzlichen Tagen machen? Was möchtet ihr mit euren Kindern unternehmen? Und am Ende haben die Kolleg*innen diesen Kampf gewonnen. Ich denke, wenn man eine Forderung hat, die wirklich das Leben verändern würde, gibt es diese Chance auf eine unerwartet machtvolle Bewegung.

    Bessere Arbeitsbedingungen, bessere Personalausstattung – das muss auch bezahlt werden.

    Jane McAlevey: Dort, wo wir in den USA erfolgreich waren, haben die Arbeitgeber natürlich erkannt, dass sie mehr Geld brauchen, um die Forderungen zu erfüllen. Die cleveren unter ihnen haben sich strategisch und im Stillen mit den Beschäftigten verbündet, um den Staat zu verklagen, um das Geld zu bekommen. Es gab andere, die nicht clever waren und die aus ideologischen Gründen bis zum Schluss mit uns gekämpft haben. Aber die Politik hat irgendwann verstanden, dass eine weitere Eskalation sehr riskant ist, und plötzlich floss Geld in die Kassen der Krankenhäuser.

    Konflikte strategisch eskalieren – passt eine solche Herangehensweise auch in die Kultur der sozialpartnerschaftlichen IG Metall?

    Moritz Lange: Organizing bedeutet für deutsche Gewerkschaften eine Kulturrevolution. Hierzulande haben Gewerkschaften vor mehr als zehn Jahren angefangen, die ersten Organizing-Kampagnen aufzuziehen. Der Ausgangspunkt war dabei, dass wir es auch hierzulande zunehmend mit Arbeitgebern zu tun haben, die von Sozialpartnerschaft überhaupt nichts wissen wollen. Zwar sind Elemente aus dem Organizing jetzt in Deutschland weit verbreitet, für viele ist es jedoch nur ein „Werkzeugkasten“ zur Mitgliedergewinnung. Als Aber wenn es dafür keine parlamentarischen Mehrheiten gibt?

    Jane McAlevey: Im Bundesstaat Nevada, wo eine konservative Mehrheit eine politische Lösung blockiert hat, haben die Beschäftigten gesagt: Scheiß drauf, wir setzen das auf tarifvertraglichem Weg durch. Wir haben das kalifornische Krankenschwester-Patienten-Verhältnis in wichtigen Krankenhäusern durch Tarifverträge durchgesetzt. Es war zäh, aber jetzt haben die Kliniken, in denen wir erfolgreich waren, die beste Personalausstattung und die besten Ergebnisse bei der Patientenversorgung.

    Moritz Lange: Vielleicht ist es das, was man als lebensverändernde Forderungen bezeichnen könnte. In Deutschland war der Kampf für die 35-Stunden-Woche in den achtziger Jahren so eine Auseinandersetzung. Das hat wirklich das Leben von Hunderttausenden verändert – und weil das allen klar war, hat dieser Kampf eine ganz andere Dynamik entwickelt als eine normale Lohnrunde. Ein bisschen davon habe ich in der Tarifrunde der Metallindustrie vor drei Jahren gespürt, als die IG Metall zusätzliche freie Tage für Beschäftigte mit kleinen Kindern und pflegebedürftigen Angehörigen und für Schichtarbeiter*innen gefordert hat. Das war gefühlt die erfolgreichste landesweite Tarifbewegung der vergangenen zehn Jahre. Die Leute fingen an zu diskutieren: He, was werdet ihr mit den zusätzlichen Tagen machen? Was möchtet ihr mit euren Kindern unternehmen? Und am Ende haben die Kolleg*innen diesen Kampf gewonnen. Ich denke, wenn man eine Forderung hat, die wirklich das Leben verändern würde, gibt es diese Chance auf eine unerwartet machtvolle Bewegung.

    Bessere Arbeitsbedingungen, bessere Personalausstattung – das muss auch bezahlt werden.

    Jane McAlevey: Dort, wo wir in den USA erfolgreich waren, haben die Arbeitgeber natürlich erkannt, dass sie mehr Geld brauchen, um die Forderungen zu erfüllen. Die cleveren unter ihnen haben sich strategisch und im Stillen mit den Beschäftigten verbündet, um den Staat zu verklagen, um das Geld zu bekommen. Es gab andere, die nicht clever waren und die aus ideologischen Gründen bis zum Schluss mit uns gekämpft haben. Aber die Politik hat irgendwann verstanden, dass eine weitere Eskalation sehr riskant ist, und plötzlich floss Geld in die Kassen der Krankenhäuser.

    Konflikte strategisch eskalieren – passt eine solche Herangehensweise auch in die Kultur der sozialpartnerschaftlichen IG Metall?

    Moritz Lange: Organizing bedeutet für deutsche Gewerkschaften eine Kulturrevolution. Hierzulande haben Gewerkschaften vor mehr als zehn Jahren angefangen, die ersten Organizing-Kampagnen aufzuziehen. Der Ausgangspunkt war dabei, dass wir es auch hierzulande zunehmend mit Arbeitgebern zu tun haben, die von Sozialpartnerschaft überhaupt nichts wissen wollen. Zwar sind Elemente aus dem Organizing jetzt in Deutschland weit verbreitet, für viele ist es jedoch nur ein „Werkzeugkasten“ zur Mitgliedergewinnung. Als Methode okay, aber bitte nicht zu viel Bewegung und schon gar nicht zu viel Konflikt. Aus meiner Sicht lässt sich das nicht trennen: Dort wo es keine gewachsene Gewerkschaftskultur gibt, werden Beschäftigte nur Gewerkschaftsmitglied, wenn sie mit der Gewerkschaft ihre wichtigsten Probleme lösen können. Und das geht in ihren Branchen oft nur im Konflikt. Wird der Kampf der Berliner Krankenhausbeschäftigten in der IG Metall wahrgenommen?

    Moritz Lange: Im Gesundheitswesen führt Verdi heute konfliktorientierte, strategisch durchdachte Organizing-Kampagnen und gewinnt damit Tausende Mitglieder. Das wird natürlich schon beobachtet. Und wenn die Berliner Krankenhausbewegung am Ende erfolgreich ist, wird das Türen öffnen, auch für große Kampagnen bei anderen Gewerkschaften.

    Wie sieht das aus, wenn man von außen draufschaut? Stehen die deutschen Gewerkschaften gerade an einem Wendepunkt?

    Jane McAlevey: Zunächst mal stehen die westlichen Demokratien an einem Wendepunkt. Auch wenn Trump in den USA abgewählt wurde, gibt es weiterhin eine ernste Bedrohung durch Rechtspopulismus, Faschismus und Autoritarismus. Wenn wir das aufhalten wollen, müssen wir für den Wiederaufbau starker Gewerkschaften kämpfen, um die Macht am Arbeitsplatz neu zu verteilen und bessere Standards und ein besseres Leben zu erreichen. Ich bin überzeugt, dass es sich in Deutschland und in den USA um den gleichen Kampf handelt. Das ist nicht nur eine Floskel. Die Union Buster, die früher die Gewerkschaften in US-Autofabriken zerschlugen, tauchen jetzt in der IG-Metall-Welt auf. Ich denke, der einzige Ausweg aus diesem Elend ist für Gewerkschaften, dass sie ihre Mitglieder an allen wichtigen Entscheidungen wirklich beteiligen. Den Beschäftigten sagen: Ihr selbst müsst diese Kampagne gewinnen, und ihr habt jedes Recht, alle dafür notwendigen Entscheidungen zu treffen. Das bedeutet unter den heutigen Bedingungen wahrscheinlich Mehrheitsstreiks. Keine kleinen Streiks, sondern große Streiks, um die Bedingungen zu erkämpfen, die wir dringend brauchen.Methode okay, aber bitte nicht zu viel Bewegung und schon gar nicht zu viel Konflikt. Aus meiner Sicht lässt sich das nicht trennen: Dort wo es keine gewachsene Gewerkschaftskultur gibt, werden Beschäftigte nur Gewerkschaftsmitglied, wenn sie mit der Gewerkschaft ihre wichtigsten Probleme lösen können. Und das geht in ihren Branchen oft nur im Konflikt. Wird der Kampf der Berliner Krankenhausbeschäftigten in der IG Metall wahrgenommen?

    Moritz Lange: Im Gesundheitswesen führt Verdi heute konfliktorientierte, strategisch durchdachte Organizing-Kampagnen und gewinnt damit Tausende Mitglieder. Das wird natürlich schon beobachtet. Und wenn die Berliner Krankenhausbewegung am Ende erfolgreich ist, wird das Türen öffnen, auch für große Kampagnen bei anderen Gewerkschaften.

    Wie sieht das aus, wenn man von außen draufschaut? Stehen die deutschen Gewerkschaften gerade an einem Wendepunkt?

    Jane McAlevey: Zunächst mal stehen die westlichen Demokratien an einem Wendepunkt. Auch wenn Trump in den USA abgewählt wurde, gibt es weiterhin eine ernste Bedrohung durch Rechtspopulismus, Faschismus und Autoritarismus. Wenn wir das aufhalten wollen, müssen wir für den Wiederaufbau starker Gewerkschaften kämpfen, um die Macht am Arbeitsplatz neu zu verteilen und bessere Standards und ein besseres Leben zu erreichen. Ich bin überzeugt, dass es sich in Deutschland und in den USA um den gleichen Kampf handelt. Das ist nicht nur eine Floskel. Die Union Buster, die früher die Gewerkschaften in US-Autofabriken zerschlugen, tauchen jetzt in der IG-Metall-Welt auf. Ich denke, der einzige Ausweg aus diesem Elend ist für Gewerkschaften, dass sie ihre Mitglieder an allen wichtigen Entscheidungen wirklich beteiligen. Den Beschäftigten sagen: Ihr selbst müsst diese Kampagne gewinnen, und ihr habt jedes Recht, alle dafür notwendigen Entscheidungen zu treffen. Das bedeutet unter den heutigen Bedingungen wahrscheinlich Mehrheitsstreiks. Keine kleinen Streiks, sondern große Streiks, um die Bedingungen zu erkämpfen, die wir dringend brauchen.

    Silvia Habekost arbeitet als Anästhesie-Krankenschwester. Seit etwa 15 Jahren engagiert sie sich für eine bessere Personalaustattung

    Jane McAlevey ist eine Autorin, Organizerin und Gewerkschaftsberaterin aus den USA. Im August erschien von ihr im VSA Verlag das Buch Macht. Gemeinsame Sache. Gewerkschaften, Organizing und der Kampf um die Demokratie

    Moritz Lange ist Gewerkschaftssekretär in der Organizing-Abteilung des IG-Metall-Vorstands

    #Arbeit #Streik #Krankenhaus

  • Ein guter Beitrag über Herrschaft und das, was sie aufrecht erhält:...
    https://diasp.eu/p/12822032

    Ein guter Beitrag über Herrschaft und das, was sie aufrecht erhält: „Entstanden im aufsteigenden Bürgertum, hat er sich #Bildung als ein unhinterfragtes Konzept über die Gesellschaft gelegt. Bis heute sind für „akademische“ Kinder die Chancen zigfach höher, an eine Uni zu kommen und dort Erfolg zu haben. Es sind nicht alle „ihres Glückes Schmied“. Das ist Ideologie, denn wir leben nicht in einer herrschaftsfreien Gesellschaft, in der es egal wäre, woher man kommt.“ https://www.freitag.de/autoren/der-freitag/der-freie-wille-ist-eine-ideologie

    • [...]

      Diese „Chemie“ sorgt ja auch dafür, dass schichtenübergreifende Lebenspartnerschaften kaum häufiger sind als ethnisch „gemischte“. Aber wie wirkt sie bei der sozialen Vererbung?

      Sie entsteht im Herkunftsmilieu, dessen soziale Position durch den Zugriff auf ökonomische, kulturelle, soziale und symbolische Ressourcen bestimmt ist. Wichtig sind aber auch Identifikationsprozesse mit diesem Milieu und seinem Habitus. Bildungsarmut entsteht nicht nur, wenn die Eltern zu wenig kulturelles Kapital „vererben“, sondern auch in dem, was sie stattdessen weitergeben. Nämlich bestimmte „Komplexe“, etwa eine starke Unsicherheit gegenüber Bildung. Man fühlt sich minderwertig, traut sich nichts zu und versucht es dann kaum. Selbst bei manchen Studierenden sehe ich das, obwohl die es ja alle immerhin an die Universität geschafft haben. Wer etwa Dialekt spricht, was ja zumeist nicht als „legitime Kultur“ gilt, traut sich oft nicht, im Seminar etwas zu sagen.

      An diesem Punkt würden nun viele mit Hintergrund in der „legitimen Kultur“ einwenden: Na ja, versuchen müssen sie es schon selbst. Lehrjahre sind keine Herrenjahre!

      Wer das so sagt, muss seine Herkunft komplett vergessen haben. Aber tatsächlich treten „ererbte“ Unsicherheiten auch offensiv auf, als Trotz, als scheinbare Selbstsicherheit. Etwa in der Abwertung von „Studierten“, die „keinen Nagel einschlagen“ können. Aus der Not wird eine Tugend, man tröstet sich im Vorhinein über versagte Chancen: „So ein Schreibtischjob wäre wirklich nichts für mich.“ Das wirkt wie sich selbst erfüllende Prophetie, wie ein Teufelskreis, dem schwer zu entkommen ist. Schon Kinder entsprechen oft unwillkürlich den schlechten Meinungen, die Lehrkräfte von ihnen haben, was diese Zuschreibungen wiederum bestärkt.

      [...]

    • propre lien:

      https://taz.de/Neues-Buch-von-Sahra-Wagenknecht/!5764480

      Die US-Theoretikerin Nancy #Fraser hat in dem Bündnis von Neoliberalismus und Linksliberalen eine Voraussetzung für den Aufstieg des Rechtspopulismus identifiziert. Ein „dröhnender Dauerdiskurs über Vielfalt“, so Fraser, habe die Forderungen nach sozialer Gleichheit verdrängt. Die Linke müsse sich wieder sozialer Gerechtigkeit zuwenden, aber ohne Minderheitenrechte zu vergessen.

      Auch Sahra Wagenknecht treibt die Frage um, warum die gesellschaftliche Linke partout nicht mehrheitsfähig wird. Sie knüpft in ihrer Streitschrift „Die Selbstgerechten“ an Frasers Kritik an und radikalisiert sie bis zur Unkenntlichkeit. Denn bei ihr sind der giftige Neoliberalismus und der nur scheinbar menschenfreundliche Linksliberalismus fast das Gleiche.

      „Die linksliberale Erzählung ist nichts als eine aufgehübschte Neuverpackung der Botschaften des Neoliberalismus. So wurde aus Egoismus Selbstverwirklichung, aus Flexibilisierung Chancenvielfalt, aus Verantwortungslosigkeit gegenüber den Menschen im eigenen Land Weltbürgertum.“

      [...]

      –------------
      cf. aussi:

      Interview:
      Sahra Wagenknecht: «In einer Demokratie muss man zur Grundlage nehmen, was die Menschen wollen, und nicht, was einige hippe Weltbürger schön finden»

      https://www.nzz.ch/international/deutschland/sahra-wagenknecht-identitaetspolitik-will-ungleichheit-ld.1611631

      [...]

      Die linken Parteien verlieren mehr und mehr aus den Augen, für wen sie eigentlich da sein müssen. Wir sind keine Interessenvertretung gutsituierter Grossstadt-Akademiker, sondern müssen uns vor allem für die einsetzen, die sonst keine Stimme haben: die in schlecht bezahlten Service-Jobs arbeiten, oder auch für die klassische Mittelschicht, etwa Handwerker und Facharbeiter, die oft keinen akademischen Abschluss haben. Debatten über Denk- und Sprachverbote gehen an den Bedürfnissen der Menschen vorbei.

      [...]

      #Wagenknecht #Allemagne #dieLinke #gauche_modérée #centre-gauche #cancel_culture #néolibéralisme

    • Ein Gespräch mit Sahra Wagenknecht über Identitäten, Wir-Gefühle, soziale Benachteiligung, den Begriff „Heimat“ sowie Umweltpolitik und Fridays for Future (Teil 1)

      https://www.heise.de/tp/features/Sahra-Wagenknecht-Was-wir-einfordern-muessen-ist-echte-Gleichbehandlung-602819

      [...]

      Die Lifestyle-Linken par exellence sind natürlich die Grünen. Sie werden hauptsächlich von dem Milieu gewählt, in dem diese Botschaften ankommen: Eher gutsituierte, akademisch gebildete Großstädter, die in Vierteln wohnen, in denen schon die Mieten garantieren, dass man mit Ärmeren oder Zuwanderern, soweit es sich nicht um Hochqualifizierte handelt, persönlich kaum in Kontakt kommt - und also auch nicht mit den mit Armut und Zuwanderung verbundenen Problemen. Die Wähler der Grünen verdienen im Schnitt mittlerweile mehr als die der FDP. Das reale Leben bewegt sich für viele in einer Art Filterblase.

      Die Grünen sind erfolgreich, weil sie die Lebenswelt, die Interessen und die kosmopolitischen und individualistischen Werte dieses Milieus repräsentieren. Die Frage ist nur: Sollten Parteien, die sich als links verstehen, mit den Grünen vor allem um diese Wählerschaft konkurrieren? Oder sollten sie nicht eher versuchen, wieder die Stimme derjenigen zu sein, die es schwer haben, denen Bildungschancen vorenthalten werden, die um jedes bisschen Wohlstand kämpfen müssen und sich heute großenteils von niemandem mehr vertreten fühlen? Für diese Menschen da zu sein, war jedenfalls mal der Anspruch der Linken.

      [...]

      Identität ist eine wichtige Sache - jeder Mensch hat Identitäten; und zwar meistens nicht nur eine. Ich etwa verstehe mich als Saarländerin, weil ich hier lebe, aber natürlich auch als Bürgerin dieses Landes und als Europäerin. Die entscheidende Frage ist, ob man die gemeinsamen Identitäten in den Vordergrund stellt, oder die, die spalten und den Unterschied von der Mehrheitsgesellschaft betonen - ob man also die Abstammung und die sexuelle Orientierung hervorhebt oder das, was Belegschaften und auch die große Mehrheit der Bevölkerung eint: Die meisten Menschen müssen von ihrer Arbeit leben, profitieren von einem starken Sozialstaat, sind nicht reich. Aber sie haben deutsche oder nicht-deutsche Eltern, sind homo- oder heterosexuell.

      [...]

      #Verts #Gauche_du_lifestyle #identité

    • Stéfanie #Roza, https://seenthis.net/messages/912250 ,
      et Judith Basad font valoir des arguments très similaires:

      Identitätspolitik: „Schlechtes Gewissen einer Wohlstandselite“ 26. April 2021, Florian Rötzer

      Judith Basad über Ihr Buch „Schäm dich!“, die Kritik an der Identitäts-, Gender- und Antirassismus-Politik und die Weltsicht von Sprachaktivisten

      https://www.heise.de/tp/features/Identitaetspolitik-Schlechtes-Gewissen-einer-Wohlstandselite-6022674.html

      [...]

      Eine solche Form (....) hat mit Foucault oder Derrida nichts mehr zu tun, da diese Philosophen keine politischen Prämissen aus ihren Theorien abgeleitet haben. Auch die Poststrukturalisten, die die Grundlage für das Gendern und den ganzen Sprachaktivismus bilden, haben nie gefordert, dass die Sprache etwa in staatlichen Institutionen verändert werden muss, um eine gerechtere Gesellschaft zu erreichen. Letztendlich wird dieses postmoderne Cherry-Picking betrieben, um eine Ideologie durchzusetzen, die nur noch in Hautfarben, Binaritäten und Feindbildern denkt. Das ist meiner Meinung nach sehr gefährlich.

      Sie sagen auch, es seien Menschen aus einer bestimmten Schicht, die diese Theorien verfolgen und diese Ideologie durchsetzen wollen. Wie würden Sie diese Schicht beschreiben?

      Für die Rechten sind es vor allem die „linksversifften Grünen“, sie meinen damit relativ wohlhabende Menschen, die keine großen Probleme haben. Was treibt diese Menschen an?

      Judith Basad: Dahinter steckt ein religiöses Bedürfnis, das meiner Meinung nach mit einer Wohlstandsverwahrlosung einhergeht. Denn bei denjenigen, die in dieser Bewegung am lautesten sind – die etwa im Netz andere als Rassisten beschimpfen und Veranstaltungen sprengen – handelt es sich um eine Bildungselite, die gerne damit angibt, dass sie Foucault und Judith Butler verstanden haben.

      Diese Art von Aktivismus ist deswegen so erfolgreich, weil sich alles ums Weißsein dreht. Motto: Wie können „wir Weißen“ bessere Menschen werden? Für mich ist ziemlich offensichtlich, dass dahinter ein schlechtes Gewissen einer Wohlstandselite steckt, die behütet aufgewachsen ist und nun für diesen Wohlstand Reue empfindet.

      Wenn weiße Studenten sich demonstrativ im Fernsehen, in Artikeln oder auf Social Media für ihre Hautfarbe schämen, dann ist das nichts anderes als die Sehnsucht nach Unterwerfung, Buße und Läuterung – damit man der Welt zeigen kann, dass man jetzt zu den moralisch Guten gehört.

      [...]

    • Dialektik: Von Gleichheit, Perspektive und Aktion
      25. April 2021 Gerhard Mersmann

      https://neue-debatte.com/2021/04/25/dialektik-von-gleichheit-perspektive-und-aktion

      [...]

      Die Auswüchse, die das Treiben der Identitären, der Inquisitoren, der Sektierer zeitigen, sind grotesk und sie dokumentieren, in welcher Sackgasse sich Gemeinwesen wie Politik befinden. Gesellschaftlicher Fortschritt, wie er auch immer beschrieben werden mag, ist einer Paralyse gewichen, die an Selbstzerstörung nicht mehr zu überbieten ist.

      Es liegt auf der Hand, dass es einen Weg zurück nicht mehr geben kann, und es ist offensichtlich, dass es so nicht mehr weitergehen kann. Wer das vorschlägt und die inquisitorische Befindlichkeitsprogrammatik weiter vorantreiben will, bietet keine Option für alles, was ein Gemeinwesen ausmacht.

      Die Sprachvergewaltigung, die Verhunzung von Texten, die Kreation absurder Begriffe, alles wird weiter getrieben, ohne dass sich dadurch eine Perspektive erkennen ließe, die einen gesellschaftlichen Nutzen hätte.

      Gleichheit, Perspektive und Aktion

      Das Kernstück einer Gesellschaft, die in die Zukunft weist, muss das Prinzip der Gleichheit sein. Wird das aufgegeben, dann bleibt nach dem Aufräumen der umherliegenden Fleischfetzen der individuellen Befindlichkeit das Recht des Stärkeren, welches von der Spaltung begünstigt wird und Tür und Tor zur brutalen Herrschaft öffnet. Welches, bitte schön, von den vielen Opfern, wird sich dann noch dem widersetzen können?

      An ihren Taten sollt ihr sie messen, heißt es in einem der ältesten abendländischen Sätze. Doch welche Taten werden diejenigen vorweisen können, die ihre Identität als Anfang- und Endpunkt setzen?

      Die einzigen Taten, die in ihrem Journal stehen, weisen nicht in eine Richtung der Befreiung, sondern in die der Ranküne, der Vergeltung und der Zerstörung.

      Wer standhalten will, schrieb Theodor W. Adorno (1), einer der immer wieder Stigmatisierten, darf nicht verharren in leerem Entsetzen. Damit dokumentierte er sein Gespür für die Notwendigkeit der Gegenwehr, der aktiven Veränderung, der Gestaltung. Wer standhalten will, der muss sich seiner selbst bewusst sein, gewiss, der muss sich Verbündete suchen, und das geschieht auf dem Feld der Gemeinsamkeit.

      [...]

      #langue #égalité

  • The Jakarta Method, Washington’s Anticommunist Crusade & the Mass Murder Program that Shaped Our World, Vincent Bevins, 2020 - agog » 2020 » September
    http://www.mutanteggplant.com/agog/2020/09

    Ce livre traitre l’extension des méthodes génocidaires étatsuniennes pratiqués pendant l’accaparement des terres sur le continent nord-américain à la lutte anticommuniste mondiale. L’hécatombe impérialiste est systématiquement mise en pratique au service le la conquête du monde par les capitalistes nord-américains. Nos livres scolaires et médias évitents de mentionner les événements et les dimensions du crime dont le nombre de victimes dépasse de loin celle des exactions commises par toutes les dictatures communistes.

    Le dernier châpitre du livre tire la conclusion que le monde d’aujourd’hui a été formé par des agressions économiques et idéologiques complétées par une série de massacres et crimes impérialistes contre les peuples trop pacifiques et incapables de resoudre leurs contradictions intérieures.

    When JFK became President he told Jones that Jones was solely in charge of relations with Sukarno and Indonesia. Reeling from the Bay of Pigs disaster, JFK no longer trusted the CIA and wanted Jones to have a hand free of interference from CIA black ops. After JFK’s assassination, LBJ, with almost no international experience but listening to JFK’s holdover advisors, stopped all cooperation with Sukarno and recalled Ambassador Jones. The CIA now had a free hand to move forward with overthrowing the Sukarno government and attacking the PKI communist party of Indonesia, at the time the third largest communist political party behind China and the Soviet Union. The coup began on Sept. 30, 1965 and on October 2, an unknown (except to key US policy makers) army general Suharto took over the government. On Oct 5, Ambassador Howard Green cabled the State Department:

    Spread the story of PKI’s guilt, treachery and brutality (this priority effort is perhaps most needed immediate assistance we can giver army if we can find way to do it without identifying it as solely or largely US effort). .. The army now has the opportunity to move against Communist Party if it moves quickly…”It’s now or never.”

    On Oct 29 Frank Wisner killed himself.

    On Nov 22, D.N. Aidit, leader to PKI in Central Java was arrested and executed. The military reported and Newsweek published Aidit’s confession that the PKI planned to take over the country. His confession was impossible and a part of an anticommunist black propaganda operation.

    In Jan. 1966, Bobby Kennedy was the only American politician to speak up:

    We have spoken out against the inhuman slaughters perpetrated by the Nazis and the Communists. But will we speak out also against the inhuman slaughter in Indonesia, where over 100,000 alleged Communists have not been perpetrators but victims

    What followed was a state sponsored massacre and genocide of a million Indonesians, many ethnic Chinese.

    #anticommunisme #génocide #histoire #politique #Indonésie #Asie #impérialisme #massacre #CIA #USA