https://www.freitag.de

  • Börse ǀ Rasendes Roulette — der Freitag
    https://www.freitag.de/autoren/der-freitag/rasendes-roulette

    Nun vertreten die Hochfrequenzhändler selbst naturgemäß nicht den Standpunkt, dass sie extreme Preisstürze verstärken, sondern bestehen darauf, Volatilität zu entschärfen und bei Preisabstürzen sogar marktberuhigend zu wirken. Die Deutsche Bank widerspricht dem jedoch: In einer Studie aus dem Jahr 2016 heißt es, dass sich Hochfrequenzhändler „in volatilen Marktphasen häufig zurückziehen“ und damit für ein erhöhtes Risiko von „übermäßiger Volatilität (sorgen), wodurch Marktverwerfungen bis hin zu Flash-Events begünstigt werden könnten“. Für die Studien-Autoren ist klar, dass Hochfrequenzhändler „in Zeiten höherer Nervosität am Markt exzessive Preisbewegungen noch verstärken“.

    Theoretisch sind Preise ein wichtiger Indikator für den Gesundheitszustand der Finanzmärkte. In Zeiten des Hochfrequenzhandels, in denen sich Preise innerhalb von Millisekunden bilden, werden sie jedoch zu einer Erwartung ohne Bezug zu realen Werten degradiert: Eher sind es automatisierte Prognosen, wie eine Information oder Nachricht den Preis bewegen wird. Je heftiger die Nachricht, desto aggressiver werden die Positionen der Händler angepasst. Wenn jedoch Preise, von Aktien etwa, nicht länger mit den wirtschaftlichen Kennzahlen eines Unternehmens in Verbindung stehen, sondern lediglich eine Richtungserwartung darstellen, dann führt das dazu, dass Produktionsfaktoren wie Arbeit, Boden oder eben Kapital nicht mehr dorthin gelenkt werden, wo sie am dringendsten gebraucht werden.

    #capital #bourse #dérégulation

  • #unten ǀ Die App ist der Feind — der Freitag
    https://www.freitag.de/autoren/der-freitag/die-app-ist-der-feind

    #unten Der Kapitalismus bringt ständig neue Formen von Ausbeutung hervor – und erzwingt so immer neue Formen des Kampfes, Sebastian Friedrich, Ausgabe 45/2018

    Die neuen Hoffnungsträger für den Klassenkampf kommen auf zwei Rädern

    Wissenschaftler und Publizisten haben sich viel Mühe gegeben, die These zu untermauern, es gebe keine Klassen mehr. Die Bundesrepublik war noch keine fünf Jahre alt, die KPD noch nicht verboten, da sprach der Soziologe Helmut Schelsky von der „nivellierten Mittelstandsgesellschaft“: Die Unterschiede zwischen Unten und Oben würden sich zunehmend auflösen, so Schelsky. Das Bild der Mittelstandsgesellschaft erwies sich als erstaunlich resistent: Obwohl sich in den vergangenen Jahrzehnten die Schere zwischen Arm und Reich öffnete, fühlte sich ein überwiegender Teil der Mitte zugehörig.

    Doch dieses Bild bröckelt. Mittlerweile geht selbst Konservativen der Verweis, Klassen habe es nur zu Zeiten von Karl Marx gegeben, nicht mehr so leicht von den Lippen. Die Krise, die vor zehn Jahren begann, machte viele, vor allem junge Leute in Südeuropa, arbeitslos. Selbst in Deutschland kommen Millionen Menschen nicht mit einem Job über die Runden, sind Patchwork-Arbeiter. Gleichzeitig stiegen die Gehälter der Topmanager in astronomische Höhen.

    Auch viele Linke, die lange nichts von Klassen wissen wollten, haben die soziale Frage wiederentdeckt – aus einer Position der Schwäche heraus. Als immer deutlicher wurde, dass es rechten Parteien und Initiativen gelingt, Teile der Arbeiterklasse zu mobilisieren, wurde so manchen Sozialdemokraten wie auch so manchem radikalen Kritiker an der Universität gewahr, dass der Aufstieg der Rechten irgendetwas mit der Krise der Linken zu tun haben könnte.

    Kurz nachdem die AfD im März 2016 bei Landtagswahlen in Baden-Württemberg und Sachsen-Anhalt bei Arbeitern und Arbeitslosen stärkste Partei wurde, erschien die deutsche Übersetzung des Buches Rückkehr nach Reims von dem französischen Soziologen Didier Eribon. Das Buch war plötzlich überall: auf den Tischen in den Seminarräumen, neben dem Glas Latte Macchiato im Berliner Szenecafé und in den Reiserucksäcken deutscher Individualtouristen. Eribon beschrieb eindrucksvoll, wie sich die Linken von den Arbeiterinnen und Arbeitern abgewandt hatten. Während das Buch fleißig gelesen und diskutiert wurde, stimmte in Großbritannien eine Mehrheit für den Brexit. Ein paar Monate später wurde Donald Trump zum Präsidenten der USA gewählt.

    Bleib gesund, Crowdworker

    Aktuell droht die Linke, zerrieben zu werden: Es gibt keine linke Erzählung, kaum Verbindungen zum Alltagsleben breiter Teile der Bevölkerung, nur sehr wenig kollektive Erfahrung gemeinsamer erfolgreicher Kämpfe, geschweige denn eine Zukunftsvision, von einem realistischen Machtzugang einmal ganz abgesehen.

    Unter dem Begriff „Neue Klassenpolitik“ diskutieren Linke seitdem, wie feministische, antirassistische und internationalistische Perspektiven mit einer Klassenpolitik auf Höhe der Zeit verbunden werden können. Ausgangspunkt ist die Erkenntnis, dass die Trennung zwischen Klasse auf der einen Seite und Antirassismus und Feminismus auf der anderen Seite keinen Sinn ergibt. Die Zusammensetzung der Klassen ist seit jeher durch Geschlechterverhältnisse, rassistische Verhältnisse und die globale Ungleichheit strukturiert.

    Klassenpolitik ist im Grunde stets „neu“, denn Klassen sind nichts Statisches. Sie unterscheiden sich je nach Gesellschaftsformation, aber auch im Kapitalismus selbst – die kapitalistische Klassengesellschaft ist im Kern noch immer eine, auch wenn sie vor 100 Jahren anders aussah.

    Das Grundprinzip bleibt freilich gleich: Die Bourgeoisie, heute bizarrerweise Arbeitgeber genannt, besitzt die Produktionsmittel und schöpft Profite aus der Arbeit der von ihnen abhängig Beschäftigten – weshalb sie eigentlich die Arbeitnehmerseite ist. Ihr gegenüber steht die Klasse der Arbeiterinnen und Arbeiter im weiten Sinne. Sie haben keine Produktionsmittel und müssen sich beim Bourgeois verdingen. Die durch dieses Ausbeutungsverhältnis definierte Klasse der Lohnabhängigen ist sehr divers in ihrer Gestalt: hochqualifizierte Angestellte, ungelernte Hilfsarbeiter_innen, Reinigungskräfte, Fahrradkuriere – was die gemeinsamen Interessen überdeckt und eine Organisierung erschwert.

    In der Debatte um „Neue Klassenpolitik“ geht es darum, die Orte des Klassenkampfs zu finden. Dabei geht es nicht nur um Orte, an denen gekämpft wird, sondern auch um jene Orte, an denen die Klasse zusammenkommt, an denen sie sich mit neuen Formen der Produktion auseinandersetzen muss, wie die Arbeit technisch und von oben organisiert wird. Gleichzeitig nimmt die „Neue Klassenpolitik“ die Perspektive von unten ein, wie die Arbeiterklasse für ihre Interessen kämpft, an welchen Punkten sich Protest entwickelt – und die Vereinzelung überwunden werden kann.

    Kämpfe um bessere Arbeitsbedingungen gibt es nicht nur an den bekannten Orten der Klassenauseinandersetzungen: den Fabriken, sondern auch da, wo sich neue Formen der Beschäftigung entwickeln.

    Die Digitalisierung der Arbeitswelt hat nicht nur Roboter hervorgebracht. Es hat sich eine neue Gruppe innerhalb der Arbeiterklasse entwickelt: die Crowdworker. Crowdwork umfasst alle Dienstleistungen, die über Plattformen im Internet vermittelt werden. Das Prinzip: Crowdworker loggen sich über eine App ein und bearbeiten einzelne Aufträge. Eine Plattform dient als eine Zwischenstelle zwischen Auftraggeber und Auftragnehmer. Nach diesem Prinzip arbeiten weltweit im Netz Tausende Plattformen. Umsatz machen sie über die Vermittlung. Und das nicht zu knapp: Der Taxidienst Uber bekommt bis zu 20 Prozent des Honorars der jeweiligen Fahrt. Damit hat Uber im Jahr 2016 über 6,5 Milliarden Dollar umgesetzt.

    Arbeitsverträge gibt es für Crowdworker kaum noch. Crowdworker werden zu „Selbstständigen“, womit sie weniger Rechte haben, etwa auf Urlaub. Von Lohnfortzahlung im Krankheitsfall träumen viele nur. Hinzu kommt: Bei den meisten Jobs in der Plattformökonomie bezahlen die Firmen pro Gig. Der Begriff Gig bezeichnet in der Musikbranche einen einzelnen Auftritt. In der Welt der Plattformen ist ein Gig ein einzelner, meist kleinteiliger Auftrag. Dass Menschen nach kleineren Jobs bezahlt werden, ist kein neues Phänomen; neu aber ist, dass nun Plattformen damit Geld verdienen.

    Die Bezahlung nach Gig ist kein Novum im Kapitalismus. Marx kannte einen anderen Begriff: Stücklohn. Er nannte das Stücklohn-Prinzip einst die dem Kapitalismus entsprechendste Form der Entlohnung. In der Tat: Das Stücklohn-Prinzip ist vor allem für die Konzerne von Vorteil, denn dadurch können sie möglichst viel aus der Arbeitskraft herauspressen. Die britische Arbeitsforscherin Ursula Huws spricht mit Blick auf die weitgehend nicht regulierte Plattformökonomie von einer Wildwest-Phase des Kapitalismus, in der wir uns gegenwärtig befänden. Die Parallelen zur Zeit der Industrialisierung im 19. Jahrhundert sind unübersehbar: hohe Ausbeutung auf der einen Seite, kaum bis gar kein Schutz der Arbeitskraft auf der anderen Seite.

    Extreme Formen von Ausbeutung haben sich immer nur dann geändert, wenn es zu Klassenkämpfen kam. Die Arbeiterbewegung, die in der Phase der Industrialisierung entstand, erstritt mehr Sicherheit und höhere Löhne: der Acht-Stunden-Tag, die Einführung der Sozialversicherungen, Tarifverträge. Doch wer könnte heute diese Kämpfe führen? Durch die Zerstückelung der Arbeit und die hyperflexibilisierte und die stark individualisierte Arbeit ist kollektives Handeln kaum möglich.
    Hoffnung auf zwei Rädern

    Das gilt aber nicht unbedingt für alle Gruppen. Die Hoffnungsträger eines Klassenhandelns in der Plattformökonomie kommen auf zwei Rändern. Man sieht sie vor allem in größeren Städten: Fahrradkuriere, sogenannte Rider, mit großen und bunten Warmhalte-Boxen auf dem Rücken. Sie sind unterwegs, um den Kunden ihr online bestelltes Essen zu liefern. Erste Ansätze von Kämpfen sind erkennbar: Los ging es in London, als Kuriere des Online-Essenslieferdienstes Deliveroo gegen die Einführung eines Stücklohns streikten. Auch in Italien, Spanien und in den Niederlanden gab es ähnliche Streiks. In Deutschland ging es bisher vor allem in Köln heiß her. Renitente Rider gründeten bei Deliveroo einen Betriebsrat. Laut der Kuriere hat Deliveroo darauf reagiert, indem es die Verträge der Festangestellten nicht verlängert hat.

    Die Bedingungen für kollektives Handeln sind bei Fahrradkurieren besser als bei Clickworkern, die sich einsam an ihrem heimischen Laptop mühsam von Kleinstjob zu Kleinstjob hangeln. Die Rider erkennen sich gegenseitig an ihren Essensboxen auf dem Rücken und den Farben ihrer Shirts. Viele teilen einen Lifestyle – eine Rider-Kultur. Sie interessieren sich für ausgefallene Fahrradteile, tragen ähnliche Klamotten. Was für den Industriearbeiter in der Fabrik die Kantine war, das sind bei den Riders die Orte in der Stadt, wo sie auf neue Aufträge warten. Trafen sich früher die Arbeiter in der Eckkneipe, schrauben die Rider in der Werkstatt an ihren Rädern herum. Was einst das Treffen der kämpfenden Teile der Klasse war, ist heute die Facebook- oder Whatsapp-Gruppe.

    Und es gibt Ansätze, wie sich der Kampf von unten gegen die Kontrolle von oben wenden kann. Riders nutzten ihre App, um sich mit anderen Kurieren auszutauschen. Gleichzeitig ist die App mit ihrem erbarmungslosen Algorithmus für die Rider vor allem eines: ein Feind. Tatsächlich ist sie aber auch ein nützlicher, weil gemeinsamer Feind. So manchem Untergebenen mag es schwer fallen, den Kampf gegen einen permanent duzenden Chef zu führen. Gegen eine kalte App fällt das leichter.

    Diese Kämpfe sind Anfänge. Die Streiks im Care-Bereich, bei Amazon, bei Ryanair – sie alle zeigen nicht nur, dass sich etwas bewegt, sondern dass es sie gibt, die Klassen. Vereinzelung, Atomisierung, Prekarisierung – das sind Leitbegriffe unserer Zeit. Sie müssen es nicht bleiben.

    Sebastian Friedrich ist gemeinsam mit der Redaktion analyse & kritik Herausgeber des soeben im Verlag Bertz + Fischer erschienenen Buches Neue Klassenpolitik. Linke Strategien gegen Rechtsruck und Neoliberalismus. Es umfasst 220 Seiten und kostet 14 Euro

    #Allemagne #lutte_des_classes #gig_economy #livreurs

  • Porträt ǀ „Ich weiß nicht, was heute unser Ding ist“ — der Freitag
    https://www.freitag.de/autoren/linkerhand/ich-weiss-nicht-was-heute-unser-ding-ist
    https://www.freitag.de/autoren/linkerhand/ich-weiss-nicht-was-heute-unser-ding-ist/@@images/c95647fc-0a02-413d-9111-0736083d0e3f.jpeg

    Philippe Manesse betreibt seit 1969 das Café de la Gare in Paris. Ein Ort für Kunst, Liebe, Anarchie. Heute kämpft das Theater ums Überleben. Und um sein Erbe

    #Paris #théâtre

  • Abgefüllt wie ein Köter
    https://www.freitag.de/autoren/der-freitag/abgefuellt-wie-ein-koeter

    https://www.freitag.de/autoren/der-freitag/abgefuellt-wie-ein-koeter/@@images/2882d78d-477a-4ad5-9c97-26b8187ab2fe.jpeg

    Wenn wir Sichuaner trinken, und wir trinken gerne, krakeelen wir plötzlich mutig herum, schimpfen auf die Regierung und sagen, was wir wirklich denken. Bestünde ganz China zu 70 Prozent aus Trinkern, hätten wir Demokratie im Land!
    Liao Yiwu

    #Chine #littérature #politique #wtf

  • Hilde Benjamin ǀ Die Hetze gegen linke Juristin geht weiter — der Freitag
    https://www.freitag.de/autoren/peter-nowak/die-hetze-gegen-linke-juristin-geht-weiter

    19.05.2018 - Peter Nowak - Weil in einer Broschüren die DDR-Justizministerin als starke Frau bezeichnet wurde, schäumt die deutsche Einheitsfront von PI-News bis zu der Taz.

    Bei diesem Beitrag handelt es sich um ein Blog aus der Freitag-Community

    Hilde Benjamin wird noch immer von der großen Mehrheit in Deutschland gehasst, weil sie Antifaschistin und Kommunistin war. In der Weimarer Republik war sie in der Roten HIlfe aktiv, verteidigte Linke und Antifaschist_innen. Ihr Mann und ein großer Teil ihrer Verwandtschaft wurden im NS verfolgt und ermordert. Nach 1945 trat Benjamin in die SED ein und war für den Aufbau einer sozialistischen Justiz verantwortlich, die allerdings autoritär-stalinistisch geprägt war. Da gäbe es auch an ihrer Politik viel zu kritisieren. Dass sie allerdigns unnachgiebig mit den Nazis und ihren Nutznießer_innnen abrechnete, sollte nicht kritisiert werden. Dafür aber wird sie noch immer gehaßt, nicht nur in rechten Kreisen, wo sie als Blut-Hilde diffamiert wird, weil sie auch an einigen Todesurteilen beteilig war.

    Und nun sollte Benjamin in einer vom Bezirksamt Zehlendorf-Steglitz herausgegebenen Broschüren in die Reihe der starken Frauen aufgenommen werden. Das ging nicht nur den offenen oder verstecken Nazis zu weit.

    In der Taz durfte mit Katharina Mayer zu Eppendorf eine Vertreterin des Adels den Stab über die Kommunstin brechen, da sind die Klassenfragen gleich mal klargestellt. Hilde Benjamin bekämpfte viele Jahre ihres Lebens die Klasse, aus der die Autorin stammt.

    Ob die Würdigung einer Frau, die Todesurteile vollstreckt habe, nicht Grenzen überschreite, echauffierte sich der Adelssproß. Todesurteile, das weiß die Frau von Eppendorf, haben in der Geschichte in der Regel die hohen Herrn mit und ohne Adelstitel an den Bäuerinnen und Bauern und Arbeiter_innen vollstreckt. Deshalb werden auch so viele ehemalige Nazis geehrt, die im NS Todesurteile vollstreckt und in der BRD weiter Karriere gemacht haben. Wer kennt noch Filbinger und C? Hilde Benjamin wird vorgeworfen, im Namen der roten Justiz Todsurteile gegen die alten Ausbeuterklassen verhängt zu haben. Das ist der Kern des Vorwurfs. Die für die Broschüre verantwortliche Doris Habermann verteidigte in der Taz die Entscheidung, Benjamin in die Reihe der starken Frauen aufzunehmen.

    "Menschen sollten auch für ihre positiven Eigenschaften gewürdigt werden. Benjamins Einsatz für die Gleichberechtigung zählt für uns dazu.“

    Damit hat sie völlig Recht. Denn Benjamin hat sich auch als eine Frau einen Namen gemacht, die die DDR-Gesetze reformierte:

    Hilde Benjamin schrieb als Leiterin der Gesetzgebungskommission beim Staatsrat der DDR mit dem Gerichtsverfassungsgesetz, dem Jugendgerichtsgesetz und der Strafprozessordnung von 1952 Rechtsgeschichte in der DDR. Sie war 1963 Vorsitzende der Kommission zur Ausarbeitung des neue Strafgesetzbuch. Bereits seit dem Beginn ihrer Karriere setzte sie sich für die Gleichberechtigung der Frauen ein, etwa als Mitbegründerin des Demokratischen Frauenbundes der DDR. Der erste Entwurf Familiengesetzes 1965 ging auf sie zurück, worin die Gleichstellung nichtehelicher Kinder hergestellt, das Scheidungs- und Namensrecht reformiert und die Berufstätigkeit der Frauen gefördert werden sollte.

    Hilde Benjamin starb 1989 wenige Monante vor dem Kollaps der DDR, sonst wäre sie wahrscheinlich auch noch wegen der Todesurteile angeklagt wurden. Schließlich werden in Deutschland dafür nur Nazis geehrt. Es gäbe viel zu kritisieren an der Politik der SED und natürlich auch der von HIlde Benjamin. Doch wenn Rechte und Adelssprosse, also die Bagage, die Hilde Benjamin Zeit ihres Lebens gehaßt hat, gegen sie mobil macht, gilt die Devise: Hilde Benjamin war eine starke Frau, eine Antifaschistin und Mitbegründerin der Roten Hilfe, ob es ihren alten und neuen Feind_innen passt oder nicht.

    #anticommunisme #Allemagne

  • Protest ǀ Goldesel — der Freitag
    https://www.freitag.de/autoren/der-freitag/goldesel

    Protest Das Geschäft boomt, aber wenn es um das Verteilen des Profits geht, bleiben Fahrradkuriere außen vor. Nun starten sie den Arbeitskampf

    Rebekka Gottl | Ausgabe 08/2018

    Abgenutzte Reifen, gerissene Ketten, durchgesessene Sättel, vor dem Gebäude in der Oranienburger Straße hat sich ein beträchtlicher Haufen Schrott angesammelt. Immer mehr Menschen in rosa- und türkisfarbenen Jacken werfen verschlissene Fahrradteile dazu. „Lass mich dein Sklave sein“, schallt aus den Musikboxen der Refrain eines Ärzte-Songs. „Sie wissen überhaupt nicht, wie es ist, hier draußen zu sein“, empört sich Joe auf Englisch per Megafon. Er ist mit dem Fahrrad gekommen, mit dem er der Kundschaft Gerichte vom Restaurant zur Wohnungstür liefert und blickt wütend nach oben zum Delivery-Hero-Schriftzug. Etwa 40 Kuriere, die meisten zwischen 20 und 30 Jahre alt, haben sich hier vor der Berliner Zentrale des Lieferdienstnetzwerks versammelt, um gegen Lohn- und Arbeitsbedingungen beim Tochterunternehmen Foodora sowie des britischen Konkurrenten Deliveroo zu demonstrieren.

    Eine von ihnen ist Georgia Palmer. Die Pressesekretärin der FAU, der Freien Arbeiterinnen- und Arbeiter-Union, sitzt zwei Tage später in einem Café und zieht ein Resümee. Sie trägt feste Schuhe, einen Kapuzenpulli und wirkt, als könne sie wenig aus der Ruhe bringen. „Nach den gescheiterten Verhandlungen mit Foodora setzen wir den Arbeitskampf jetzt erst einmal mit Protesten und gewerkschaftlichen Aktionen fort, um konkrete Forderungen durchzusetzen“, sagt Palmer. Die 25-jährige Philosophiestudentin brauchte kurzfristig einen Minijob. Die Idee, für Foodora Essen vom Produzenten mit dem Rad zur Kundschaft zu liefern, kam durch eine Freundin. „Ökologisch gesehen ein super Konzept“, findet auch Geraldine, mit einem knapp dreijährigen Beschäftigungsverhältnis hält sie den berlinweiten Rekord. Viele werfen den Job nach einem Sommer hin. Im Winter gebe es keinen Raum zum Aufwärmen und Foodoras Arbeitsklamotten sind laut Palmer „von schlechter Qualität, oft nicht wasserdicht und hauptsächlich groß und pink und mit vielen Logos bedruckt“.

    Anders als die Arbeitskleidung werden die Fahrräder nicht von Foodora gestellt, sie müssen selbst angeschafft und instand gehalten werden. Zwar hat das Unternehmen tags zuvor per Pressemeldung verkündet, den Kurieren eine Gutschrift von 25 Cent pro gefahrener Stunde zu gewähren, die sie beim kooperierenden Fahrradservice LiveCycle einlösen können, zufriedenstellen ließen sich die Fahrer damit nicht. Angesichts eines Stundenlohns von neun Euro ist das zu wenig, um Reparaturkosten selbst zu tragen. „Im Büro muss ich mich auch nicht mit meinem Chef streiten, damit ich nicht meinen eigenen Bürostuhl mitbringen und selbst reparieren muss“, vergleicht Palmer. Foodoras Entgegenkommen liegt unter der geforderten Fahrtkostenpauschale von 35 Cent pro Kilometer.

    Mit Marx den Aufstieg von Trump & Co. verstehen: Nach Brexit, dem politischen Wandel in den USA und den Wahlerfolgen rechter Parteien fragt dieser Sammelband, wie weit das Bonapartismus-Konzept trägt, um die Wiederkehr von Autoritarismus und Nationalismus zu verstehen und diskutiert dies in historischer Rückschau...

    Unmut verbindet

    Die Übernahme der Reparaturkosten, eine Lohnerhöhung und eine effektivere Schichtplanung, das sind die Forderungen, die die FAU in den Verhandlungen mit Foodora geäußert hat. Unmut verbindet, er führte dazu, dass sich die Boten der beiden Lieferdienste über WhatsApp organisierten und austauschten. So wuchs die Gruppe derer, die ihre Arbeitserfahrungen und ihren Frust teilten. Die merkten, dass sie nicht alleine sind, sich nicht selbst optimieren müssen, sondern an ihren Arbeitsbedingungen ansetzen und mitbestimmen können. Die geringfügig Beschäftigten begannen, sich unabhängig von gewerkschaftlichen Strukturen solidarisch zusammenzuschließen. Die Kooperation mit der anarchosyndikalistischen, sprich selbstbestimmten, FAU sei ein „organischer Übergang“. Nötig, um auf eine kollektive Interessenvertretung zurückgreifen zu können. „In einer Basisgewerkschaft wie der FAU haben die Arbeiterinnen selbst in der Hand, was wie umgesetzt wird“, erklärt Palmer. Je weniger Vermittlungsebenen es gebe, desto flexibler könne reagiert werden. Ein Ansatz, der in der Gig-Economy effektiv ist. „Firmen wie Foodora, Deliveroo oder Amazon nutzen neue Technologien, um eigentlich ganz alte, ausbeuterische Arbeitsbedingungen wieder einzuführen.“ Palmer spielt auf die Digitalisierung des Arbeitsablaufs an. Mit dem Piepen des Handys wird den Boten die Adresse des Restaurants mitgeteilt, die des Kunden wird erst nach Übergabe des Essens sichtbar. Das Abarbeiten der von der App vorgegebenen Aufträge strukturiert den Ablauf, macht ihn berechenbar und durch die Datenspeicherung jederzeit nachverfolgbar. „Maschinell“ sei das, sagen die Kuriere. In die Datenverwertung haben sie keinen Einblick. Die daraus resultierenden Statistiken würden, insbesondere bei Deliveroo, das Gehalt beeinflussen und als Druckmittel verwendet. „Das Unternehmensrisiko wird auf die selbstständigen Arbeiterinnen verlagert, diese werden aber durch die App wie Angestellte des Unternehmens kontrolliert. Ein extrem problematisches, perfides Doppelspiel“, sagt Palmer.

    Warum tragen Joe, Geraldine, Georgia und viele andere Kuriere, die um den aufgehäuften Fahrradschrott stehen, Jacken und Thermoboxen mit Firmenlogo, auf ein Piepsen des Handys und damit den nächsten Auftrag wartend? Bei einem Arbeitsmodell, in dem alles auf Unabhängigkeit ausgelegt sei, sollte es doch einfach sein, dem Unternehmen den Rücken zu kehren. Das hört man oft, wenn es um Jobs in der Start-up-Branche geht. Vergessen wird dabei die Tatsache, dass etliche Boten auf diese Arbeit angewiesen sind. „Viele sind noch nicht lange in Deutschland, beherrschen die Sprache noch nicht so gut und sind von diesem Job abhängig.“ Arbeitnehmer, die ihre Rechte nicht kennen, sind dabei kein Einzelfall. Zudem würden sich einige so weit mit dem Konzept des Unternehmens identifizieren, dass sie einen Misserfolg des Unternehmens als eigenen Tiefschlag empfänden. „Klassenkampf von oben, geschickt verpackt“, bezeichnet Palmer Foodoras Strategie. Es sei auch keine Lösung, von Job zu Job zu gehen, fügt sie hinzu im Hinblick auf jene, die auf Mini- oder Midijob-Basis angestellt sind und sich nach kurzer Zeit nach etwas Neuem umsehen.

    Sie selbst will bald zwar nicht mehr aufs Rad steigen und sich die Thermobox auf den Rücken schnallen, bei der internationalen Kampagne #deliverunion möchte sie aber weiter mitwirken. Geld bringt ihr das Engagement nicht, ihr Einkommen von Foodora würde wegfallen.

    Zurück zur Festanstellung?

    Die FAU-Flaggen wehen nicht nur auf Demos der Deliverunion-Kampagne, sondern auch bei Kundgebungen unter dem Motto #makeamazonpay. Diese Protestform gegen Amazon ist ein weiteres Beispiel dafür, wie sich Arbeiter verbünden, um gegen niedrige Löhne, algorithmusgesteuerte Abläufe und permanente digitale Überwachung zu kämpfen. Obwohl sich die Amazon-Mitarbeiter und die Fahrradkuriere mit ihren Forderungen auf das jeweilige Unternehmen beschränken, ziehen sie an einem Strang. „Wir machen keine Branchentarifpolitik“, so Palmer. „Wir arbeiten lokal, solidarisieren uns aber gegenseitig mit Arbeitnehmerinnen in ähnlichen Situationen und unterstützen uns über Städte- und Ländergrenzen hinweg.“ Sich austauschen, nicht gegeneinander ausspielen lassen, parallel streiken. Nicht ohne Stolz sagt sie das. „Sie wollen nicht, dass wir zusammenarbeiten. Dass wir uns gegenseitig helfen“, ruft Joe ins Megafon. Das „befreiende Moment, sich zusammenzutun, um aus der Abhängigkeit und Ohnmacht herauszukommen“, motiviere dazu, sich für die Idee eines Tarifvertrags starkzumachen.

    Zurück zur Festanstellung, geregeltem Lohn und festen Arbeitszeiten? Nein, lautet Georgia Palmers Antwort. „40-Stunden-Woche-Lohnsklaverei“ sei kein Konzept, zu dem sie zurückwolle. Die versprochene Selbstbestimmung, die mit flexiblen Arbeitsverträgen einhergehen müsste, solle eingefordert werden, um Entscheidungen im Kollektiv zu treffen und die eingefahrenen Profite gleich zu verteilen.

    Fahrwerk, ein Fahrradkurierkollektiv aus Berlin, operiert nach diesen Kriterien. 2009 gegründet, „um sich selbst bessere Arbeitsbedingungen zu schaffen“, transportiert man Sendungen nach dem Credo „Schneller. Umweltfreundlich. Selbst organisiert“. Die Open-Source-App CoopCycle aus Frankreich könnte bald die Plattform liefern. Funktionieren soll sie wie die Software von Gig-Economy-Plattformen. Mit einer gegensätzlichen Strategie, Kollektive werden ermutigt, sich zusammenzuschließen, um sich mithilfe der durch Nutzungsbeiträge finanzierten App zu organisieren. Eine Idee, die wegführt vom Profitdenken. Ein utopischer Gedanke? Vielleicht. Zur Zeit wird mit den verschiedensten Arbeitsformen experimentiert, es wäre reine Stagnation, dieser kollektiven Form selbstbestimmter Arbeit nicht wenigstens eine Chance zu geben.

    Für die hungrigen Kunden ändert sich dadurch nicht viel. Außer das schlechte Gewissen, das einen bei dem Gedanken quälen mag, der schlecht bezahlte Bote rast durch die Stadt, um das bestellte Essen noch dampfend an der eigenen Wohnungstür abzuliefern.

    #Berlin #Gewerkschaft #Arbeitskampf #Disruption #Ausbeutung #Fahrrad

  • Interview ǀ „Für uns geht es gerade um alles“ — der Freitag
    https://www.freitag.de/autoren/der-freitag/fuer-uns-geht-es-gerade-um-alles
    https://www.freitag.de/autoren/der-freitag/fuer-uns-geht-es-gerade-um-alles/@@images/image/lead_article

    Francesca Bria ist Sozialwissenschaftlerin und Expertin für Technologiepolitik. Seit 2016 arbeitet sie als Kommissarin für Technologie und Innovation für die Stadtregierung von Barcelona. Außerdem berät Bria die EU-Kommission in Smart-City-Angelegenheiten
    Worin unterscheidet sich Ihr Smart-City-Konzept davon?

    Unsere Smart City ist nicht technologiegetrieben. Wir fragen: Wie sieht eine lebenswerte Stadt aus? Und: Wie können die Menschen selbst darüber bestimmen, wie sie leben wollen? Technologie ist nur dazu da, das zu unterstützen.

    Wo setzen Sie Technologie ein, wo das vorher nicht der Fall war?

    Eins unserer wichtigsten Projekte dreht sich um Partizipation. Wir haben jetzt ein Amt, das sich nur um Bürgerbeteiligung und Bürgerrechte kümmert. Da sitzen Menschen aus allen Abteilungen, die zum ersten Mal zusammenarbeiten. Manche machen Sozialpolitik, andere haben vorher eher auf kommunaler Ebene gearbeitet, dann gibt es Vertreter der einzelnen Nachbarschaften und Stadtinitiativen und natürlich Programmierer. Mittlerweile gibt es eine Open-Source-Plattform, auf der Anträge eingereicht und bewertet werden können. Gleichzeitig finden in den Nachbarschaften Versammlungen statt, bei denen auch über Anträge beraten und abgestimmt werden kann. Offline und online, das geht bei uns Hand in Hand. 70 Prozent der Anträge, die von Bürgern gestellt wurden, sind heute Teil unseres Regierungsprogramms, 40.000 Bürger haben sich daran aktiv beteiligt.

    #Smart-City

  • Privatisierung ǀ Feudalismus 4.0 — der Freitag
    https://www.freitag.de/autoren/der-freitag/feudalismus-4.0

    Was Google, Amazon und Co. mit der Finanzkrise zu tun haben und warum uns die Digitalisierung nicht in ein postkapitalistisches Paradies führen wird Evgeny Morozov | Ausgabe 49/2017 2

    Der Aufstieg von „Big Tech“ – also der Erfolg datenintensiver Plattformunternehmen meist mit Sitz in Nordamerika, zunehmend auch in China – hat zu einem interessanten Zeitpunkt stattgefunden. Die meisten Beobachter haben nicht bemerkt, dass sich der kometenhafte Aufstieg dieser Konzerne zumindest zeitweilig mit der beginnenden, immer noch nicht abgeschlossenen Erholung von der globalen Finanzkrise überschnitt.

    Das dürfte kaum Zufall sein. Der Aufstieg von Big Tech liegt tatsächlich zum Teil in der Tatsache begründet, dass viele dieser Plattformen all jenen, die unter der Krise zu leiden haben – ob Institutionen oder einzelnen Bürgern –, dabei geholfen haben, ihre Haushalte beziehungsweise Einkommen um neue Einnahmequellen zu ergänzen und ihre Ausgaben radikal zu senken. Zugleich ist die Expansion von Big Tech von den wachsenden Hoffnungen der globalen Eliten darauf befeuert worden, dass der Technologiesektor die Weltwirtschaft nicht nur aus der Krise führen, sondern auch einen reibungslosen Übergang zu einem ganz anderen Wirtschaftsmodell erlauben wird, das ohne die parasitären, rentieristischen Aspekte auskommt, die wir heute beobachten. Der Aufstieg von Big Tech wird also nicht als Symptom der globalen Wirtschaftskrise, einer laxeren Kartellgesetzgebung oder der Privatisierung von staatlichen Aufgaben betrachtet, sondern in erster Linie als Lösung für all diese Probleme angesehen. Den ambitioniertesten Visionen zufolge soll er sogar zur Herstellung eines neuen politischen und wirtschaftlichen Status quo, einer Art neuem New Deal führen.

    Solche tiefverwurzelten Hoffnungen auf eine strukturell transformative digitale Revolution werden quer über das politische Spektrum hinweg gehegt. Da gibt es auf der Linken jene, die, wie der britische Journalist Paul Mason, der Meinung sind, dass die Digitalisierung bei den Bürgern nicht nur eine neue Art von politischer und kosmopolitischer Identität stiften, sondern zudem dabei helfen könnte, neue Formen flexibler, dezentraler ökonomischer Modelle zu propagieren, und es somit einem nicht näher spezifizierten künftigen sozialistischen Regime erlauben, den Fallstricken der Planwirtschaft zu entgehen. Dann sind da jene in der politischen Mitte – einem Segment, dem viele Umweltgruppen zuzurechnen sind –, die, wie der US-Soziologe und -Ökonom Jeremy Rifkin, der Meinung sind, dass durch das Internet der Dinge Waren und Dienstleistungen entstehen werden, deren Grenzkosten null betragen, wodurch sich die ökonomischen Grundlagen des Handels und des Vertragswesens fundamental verändern und uns in eine Zukunft führen werden, die dezentraler, humaner und umweltfreundlicher gestaltet sein wird. Und schließlich gibt es jene auf der postpolitischen libertären Rechten, die wie Google-Chefingenieur Ray Kurzweil glauben, dass digitale Technologien viele stagnierende Wirtschaftsbereiche, vom Bildungs- bis zum Gesundheitswesen, beeinflussen und dabei nicht nur neue Geschäftsmodelle schaffen, sondern zugleich auch die alten Institutionen wie den Wohlfahrtsstaat neu definieren werden.

    Privatisierte Wohlfahrt

    Ich werde hier die These vertreten, dass es zum einen zwar richtig ist, dass der Aufstieg von Big Tech die Weltwirtschaft in Gang gehalten hat, ohne systemübergreifende politische Veränderungen zu provozieren, es zum anderen aber auf lange Sicht viel wahrscheinlicher ist, dass der Erfolg der Technologieunternehmen die Widersprüche des bestehenden Systems einfach multiplizieren und viele seiner Elemente, Beziehungsformen und Praktiken noch stärker hierarchisieren und zentralisieren wird. Darüber hinaus behaupte ich, dass die Erwartung, aus einer durch und durch vernetzten und von riesigen Datenmengen gestützten Wirtschaftsweise werde eine andere ökonomische Logik hervorgehen, zwar nicht abwegig ist, dass es aber gute Gründe für die Annahme gibt, die systemische Transformation werde zu einem System führen, das zwar nicht unbedingt der Logik der Kapitalakkumulation unterliegen muss, aber ebenso wenig notwendigerweise in die Richtung eines postkapitalistischen egalitären Nirwanas tendieren muss.

    Die rasante Aufstieg digitaler Plattformen hat einen weithin unsichtbaren privatisierten Parallelwohlfahrtsstaat hervorgebracht, durch den viele unserer alltäglichen Aktivitäten entweder von Big-Tech-Unternehmen (die an unseren Daten interessiert sind) massiv finanziell subventioniert oder, wie im Falle kleinerer Firmen und Start-ups, durch Risikokapitalanleger abgesichert werden, die darauf hoffen, dass sie sich mit kurzfristigen Verlusten langfristige Vorherrschaft erkaufen können. Das Beispiel Uber mit seinen bekannt günstigen Preisen ist hier einschlägig: Die von den Fahrgästen an das Unternehmen entrichteten Gebühren sind oft so niedrig, dass sie allein nicht ausreichen würden, um den Service weiter anzubieten. Ubers Investoren, von der saudischen Regierung bis zu Goldman Sachs, gleichen die Verluste aus.

    Hier wird deutlich, dass der Zusammenhang des Aufstiegs von Big-Tech-Plattformen mit der globalen Finanzkrise weder selbstverständlich ist noch unmittelbar besteht: Die anhaltende Krise vergrößert nicht nur die Nachfrage nach billigeren Dienstleistungen sowie nach Verdienstmöglichkeiten (unter welch prekären Arbeitsbedingungen auch immer), sondern sorgt darüber hinaus, vor allem aufgrund niedriger Renditen in den traditionellen Anlagebereichen von Investoren (etwa bei Dividenden und Staatsanleihen), für eine Umschichtung großer Mengen globalen Kapitals in den Händen von Staatsfonds und institutionellen Anlegern, die auf der Suche nach besser verzinslichen Investitionen ihr Geld in vielversprechende Technologieplattformen stecken.

    Eine unangenehme und von den meisten Fürsprechern der digitalen Wirtschaft kaum jemals erwähnte Tatsache ist die, dass der Markt trotz der Fülle an Start-ups und der massiven Unterstützung, die sie von Risikokapitalgebern erhalten, unter fünf großen Konzernen – Apple, Google, Facebook, Microsoft und Amazon – aufgeteilt ist und viele Start-ups über genau ein Geschäftsmodell verfügen: nämlich von einem dieser Konzerne aufgekauft zu werden. Die Start-ups müssen sich also nicht sonderlich intensiv mit ihrer Umsatzgenerierung und Rentabilität beschäftigen; es ist völlig ausreichend, wenn sie ihre Dienstleistungen so konzipieren, dass sie auf einer Linie mit den Expansionsstrategien von Akteuren wie Google oder Facebook liegen, die nach der Übernahme eines Start-ups und der von ihm gewonnenen Daten dann schon eine Möglichkeit finden werden, es in ihre riesigen Datenimperien zu integrieren. Facebooks Übernahme von Whatsapp, das zum Zeitpunkt seiner Veräußerung gerade einmal ein paar Dutzend Leute beschäftigte, ist die Messlatte für solche Geschäfte.

    Viele Risikokapitalgeber würden es paradoxerweise lieber sehen, wenn Start-ups nun das Gegenteil ihres Geschäftsmodells verfolgen würden. Die Idee, dass die von diesen Start-ups angebotenen Dienstleistungen kostenpflichtig sein und wie jedes andere normale Geschäft auch behandelt werden sollten, findet ihre technische Entsprechung in der umfassenden und sich rasch erweiternden Sensoren- und Zahlungsinfrastruktur, die hinter dem Internet der Dinge und der Smart City steht. Diese erlaubt es, sowohl die Nutzer als auch die Nutzung bestimmter Dienstleistungen und Infrastrukturen zu identifizieren und den Nutzern entsprechend in Rechnung zu stellen. Es ist gut möglich, dass das „Freemium“-Modell eigentlich nur ein vorübergehendes, sehr frühes Stadium der digitalen Transformation markierte. Schließlich entspricht eine Ökonomie ubiquitärer Gebührenerhebung, die sich nach der Dauer der tatsächlichen Nutzung sowie den aktuellen Marktpreisen für die Nutzung des Guts richtet, weitaus eher vielen anderen Entwicklungen im Finanzkapitalismus der Gegenwart.

    Millionen benutzte Nutzer

    Was aber ist mit Google, Facebook und dem Rest? Diese werden ihre bestehenden Geschäftsmodelle gewiss nicht aufgeben. Sollte man daher zu Recht annehmen, dass das Zeitalter der „Gratiskultur“ mit seinen zahlreichen Vorzügen – die Alphabet-Chefökonom Hal Varian so zusammenfasst, dass sie den Armen, vermittelt durch die Technik, das zur Verfügung stellt, in dessen Genuss die Ober- und Mittelklasse lange Zeit auf andere Weise gekommen ist – noch eine Weile andauern wird?

    Hier ist Skepsis angebracht. Erstens sind die kostenlosen Vorzüge, die manche irrigerweise für eine neue Art von Sozialleistungen halten, aufs Engste mit einem sehr spezifischen Geschäftsmodell der Big Five verknüpft. Im Falle von Alphabet und Facebook besteht es darin, Werbemöglichkeiten zu verkaufen, bei Microsoft und Amazon im Verkauf von Software, Hardware oder anderen Gütern; bei Amazon besteht die Wohlfahrtsleistung in der Bereitstellung nicht so sehr kostenloser, sondern verbilligter Dienste: Durch seine Größe ist es in der Lage, Produkte zu viel günstigeren Preisen als seine Konkurrenten anzubieten, ganz so, wie Walmart es vorgemacht hat.

    Diese bisherigen Geschäftsmodelle gibt es noch immer, und sie werden aller Voraussicht nach noch eine Weile existieren. Dennoch bestreitet kaum jemand die grundlegenden Veränderungen, zu denen es im vergangenen Jahrzehnt dank der beeindruckenden Fortschritte auf einem speziellen Gebiet der künstlichen Intelligenz gekommen ist: beim Maschinenlernen. Große Technologiefirmen haben es erstens vermocht, Möglichkeiten zur Extraktion großer Datenmengen zu entwickeln, die häufig aus Aktivitäten stammen, die ihre ursprünglichen Geschäftsfelder nur am Rande berührten, und zweitens Millionen Nutzer ohne deren Wissen dafür eingespannt, ihre Systeme darauf zu trainieren, smarter und autonomer zu werden. Alphabets selbstfahrendes Auto ist dafür ein gutes Beispiel: Dank der Fortschritte in der Mapping-Technologie und der Verfügbarkeit äußerst detaillierter Informationen über geografische Orte können die Autos leicht ihren eigenen Standort ermitteln und etwa Routen berechnen. Aufgrund der Fähigkeit, Objekte zu erkennen – die sich die Software von Alphabet aneignen konnte, weil zahlreiche Nutzer ihr halfen, etwa Katzen und Hunde zu unterscheiden –, kann ein Auto mittlerweile angemessen reagieren, wenn es bestimmten Gegenständen begegnet.

    Amazon, Facebook und Microsoft, ganz zu schweigen von Alphabet, haben alle in Entwicklungen auf diesem Gebiet investiert und selbst nennenswerte hervorgebracht. Die Anwendungen solcher Technologien sind alles andere als trivial, wie etwa die Kooperation von Alphabet mit dem britischen National Health Service belegt: Dank seiner KI-Technologie, die durch den Erwerb von Deepmind noch einen weiteren Entwicklungsschub erfahren hat, kann Software von Alphabet beispielsweise frühzeitig Nierenerkrankungen erkennen. Und mit je mehr Daten sie gefüttert wird, desto besser sind diese Prognosen. Von der Bildung bis zum Versicherungswesen, vom Energie- bis zum Bankensektor: Ganze Industrien und Sozialbereiche werden von der künstlichen Intelligenz transformiert. Und da die jüngsten Durchbrüche in der KI-Forschung zum einen von riesigen Mengen extrahierter Daten und zum anderen durch Millionen Nutzer verursacht worden sind, die das System im Zuge der Verrichtung anderer Aktivitäten gelehrt haben, smarter zu werden, wird offensichtlich, dass die einzigen Akteure, die die Steuerung solcher Transformationen bewältigen können, die Big-Tech-Unternehmen sind. Das neue Modell ist klar: Diese Unternehmen eignen sich die aktuell wertvollste Ressource beziehungsweise die wertvollste Dienstleistung – die künstliche Intelligenz – an, während die übrige Gesellschaft und die Wirtschaft Wege finden müssen, um diese Technologie in ihre Aktivitäten zu integrieren und sämtliche Bedingungen zu erfüllen, die die Unternehmen stellen, auf die sie angewiesen sind.

    Für einen Konzern wie Alphabet eröffnen sich damit neue Geschäftsmodelle. Die Aussage, Alphabet sei im Suchmaschinen- oder Werbegeschäft tätig, ist daher nicht ganz korrekt. In Wirklichkeit ist es auf dem Sektor der Informationsprognose aktiv – und verfügt über viele weitere Möglichkeiten, sich bezahlen zu lassen, die nichts mit Werbung zu tun haben und keine Suchbegriffe benötigen, um herauszufinden, worin unser jeweiliges Informationsbedürfnis besteht. Die Wahrheit ist, dass Alphabet so viele Daten über uns gesammelt hat, dass der Konzern zu jedem beliebigen Zeitpunkt weiß, welche Informationen wir gerade benötigen. Es ist die Fähigkeit des Konzerns, diese Informationen durch die Verwendung von KI zu nutzen, welche es zum nahezu unangefochtenen Vorreiter in diesem Bereich macht.

    Ende der Gratiskultur

    Im Falle sich verschärfender rechtlicher Rahmenbedingungen etwa durch die EU-Kommission, eines schrumpfenden weltweiten Werbemarktes oder der Erfindung eines Werbeblockers, den Alphabet nicht sperren könnte, verfügt das Unternehmen noch immer über ein robustes alternatives Geschäftsmodell, das darin besteht, Bürgern und Regierungen KI-Dienstleistungen zu verkaufen. Sollte ein solcher Kipp-Punkt erreicht werden, dann stünde Alphabet tatsächlich den Geschäftsmodellen der jüngsten Generation von Start-ups viel näher, die keine kostenlosen Dienste mehr anbieten, sondern ihre Kunden einfach für deren Nutzung bezahlen lassen wollen, ob pauschal oder mengenabhängig. Das ist zumindest das Geschäftsmodell von Amazons nach Gewinnanteilen betrachtet lukrativster Sparte, dem Tochterunternehmen Amazon Web Services; dieses lässt sich von dritten Unternehmen für die Bereitstellung von KI-basierten Diensten wie Objekt- oder Stimmerkennung bezahlen.

    In einem bestimmten Sinne kann man natürlich an der Illusion festhalten, dass die auf Regierungen zugeschnittenen Dienstleistungen von Alphabet selbst dann, wenn ein Übergang zum KI-zentrierten Geschäftsmodell tatsächlich stattfindet, immer noch kostenlos bleiben und damit eine Fortsetzung des privatisierten digitalen Wohlfahrtsmodells darstellen würden. Dies wäre aber selbstverständlich eine Täuschung: Denn während die Patienten vielleicht noch nicht dazu bereit waren, etwas dafür zu bezahlen, dass sie von der Früherkennung von Nierenerkrankungen profitieren, die Alphabet dem Gesundheitssystem ihres Landes zur Verfügung gestellt hat, werden sie als Steuerzahler doch mit Sicherheit für einige dieser Dienstleistungen aufkommen müssen, da Alphabet diese nicht aus Gründen der Mildtätigkeit anbietet, jedenfalls nicht für alle. Eine solche Privatisierung des Gesundheitssystems liegt genau auf der Linie des generellen Trends zur Privatisierung und zur Ausweitung der Tätigkeiten von Unternehmen im Bereich der Daseinsvorsorge, der in mehreren entwickelten Volkswirtschaften zu beobachten ist.

    Natürlich haben wir es hier mit einer Transformation in einem allgemeineren Sinne zu tun: Mit der Konzentration von künstlicher Intelligenz – einer Vermittlungsinstanz, die künftig wohl sämtliche Bereiche des Lebens und Regierens durchdringen wird – in den Händen einiger weniger privater Firmen dürften wir auch zu Zeugen eines enormen Verlusts von Verantwortung für und zivilgesellschaftlicher Kontrolle über wesentliche Teile der Gesellschaft werden. Die Big-Tech-Unternehmen befinden sich in einer äußerst beneidenswerten Lage: Sie haben fast 20 Jahre lang auf die unverschämteste Art und Weise Datenextraktivismus betrieben und sind jetzt an einem kritischen Punkt angelangt, an dem einige Akteure, darunter auch Regierungsinstitutionen, ihnen einigermaßen Konkurrenz machen könnten. Gleichzeitig haben sie es vermocht, viele staatliche Subventionen und militärische Forschungsmittel vom Pentagon und von diesem nahestehenden Institutionen einzuwerben, um ihre Fähigkeiten noch weiter zu entwickeln. Jetzt werden sie dazu übergehen, Regierungen und Steuerzahlern Produkte zu verkaufen, die mit ebenjenen Subventionen finanziert worden sind – und das zu exorbitanten Preisen! Das dürfte wohl kaum irgendeine Art von Übergang zum Postkapitalismus markieren.

    Soziale Hackordnung bleibt

    Die implizite Annahme, die vielen gegenwärtigen Auffassungen von der digitalen Transformation zugrunde liegt, lautet, dass jede Abweichung vom aktuellen kapitalistischen Modell auch ein Schritt hin zu einem besseren, progressiveren und faireren System sein muss. Diese Annahme scheint jedoch ungerechtfertigt zu sein. Zwischen der Ausbreitung von vernetzten und digitalen Technologien auf der einen und der Stärkung neuer und alter Hierarchieformen (auch solchen sozialer Natur) auf der anderen Seite besteht offenbar kein inhärenter Widerspruch. Selbstverständlich kann man der Meinung sein, dass eine Plattform wie Airbnb irgendwie die Macht der Immobilieninvestoren brechen und für die einfachen Hausbesitzer von Vorteil sein wird, die nicht denselben Zugang zu finanziellen Mitteln haben wie jene. Doch während dies vielleicht am Anfang so gewesen sein mag, hat sich die Immobilienbranche bei der Nutzung von Plattformen wie Airbnb zur Stärkung und sogar weiteren Expansion ihres Einflusses auf dem Immobilienmarkt als sehr findig erwiesen; Airbnb selbst hat diese Entwicklung begrüßt und individuelle Deals mit Großinvestoren ausgehandelt.

    Ähnliche Fälle lassen sich überall finden; selbst das paradigmatische Beispiel der „Empfehlungsökonomie“, durch die unser Platz in der Hackordnung der vernetzten Gesellschaft von unserem sozialen Kapital, der Stärke unserer Vertrauensnetzwerke, unserer Ehrlichkeit und weiteren Eigenschaften abhängig gemacht wird, geht von der Voraussetzung aus, dass Kategorien wie „Klasse“ obsolet geworden sind und daher in der Rangordnung der „Empfehlungsökonomie“ nicht auftauchen werden. Geht man allerdings weiter davon aus, dass unter ansonsten gleichen Umständen die Klassenzugehörigkeit die eigene Stellung in der Gesellschaft eben doch beeinflusst, dann wird man kaum um die Schlussfolgerung herumkommen, dass die „Empfehlungsökonomie“ einfach nur eine clevere Methode ist, um bestehende soziale Hierarchien und Ungleichheiten zu perpetuieren und vielleicht sogar zu verstärken, obgleich sie selbst diese Unterschiede als rein natürlichen – und daher völlig gerechtfertigten – Ausdruck unserer Stellung in der Gesellschaft insgesamt ausgibt, die vermeintlich von unseren Fähigkeiten oder etwa unserer Ehrlichkeit abhängig ist.

    Dank eines ausgefeilten Instrumentariums zur Sammlung von Daten in Echtzeit – ein Vorgang, der heute schon beginnt, wenn die Nutzer noch im Kindergartenalter sind – verfügt der gegenwärtige digitale Kapitalismus über die perfekten Mittel, um Wetten auf das „Humankapital“ – Menschen – abzuschließen und seine vielversprechendsten Vermögensgegenstände von denen zu separieren, die hinter den Erwartungen zurückbleiben und die eigentlich gar nichts verdienen und dem System letztlich zur Last fallen. Aus Sicht des digitalen Kapitalismus kann die Wissensökonomie eine wunderbare Sache sein – nur dass es heute eben viel zu viele unproduktive Menschen gibt, als dass diese Ökonomie wirklich ihr volles Potenzial entfalten und zu nachhaltigem Wohlstand führen könnte. Und die Krise des Kapitalismus insgesamt – ob man sie nun als „säkulare Stagnation“ oder als eine noch fundamentalere strukturelle und vielleicht tödliche Fehlfunktion kategorisiert – wirkt nicht gerade vertrauensbildend. Der Geist des Egalitarismus stellt, insofern er den sozialdemokratischen Kompromiss des Wohlfahrtsstaats mit seinen Grundbausteinen Solidarität, Anonymität und Fairness belebt, ein Hindernis für jene Art der sozialen Sortierung dar, die stattfinden muss, bevor die Wissensökonomie von den humanistischen Ketten befreit werden kann, von denen sie seit Anbeginn gefesselt war.

    Natürlich: Das 20. Jahrhundert mit all seinem Grauen haben wir längst hinter uns gelassen, so dass kein Weg mehr zu den alten, brutalen Methoden zurückführt, mit denen einer Gesellschaft ihr egalitärer Geist zugunsten neuer Hierarchien ausgetrieben werden kann. Die Konturen des neuen Gesellschaftsvertrags sind zwar noch nicht vollständig auszumachen, aber man kann bereits darüber spekulieren, was er umfassen wird.

    Zunächst ist hierzu zu sagen, dass man heute, anders als in den 1930ern, als keynesianische Maßnahmen zur Förderung von Vollbeschäftigung breite Unterstützung in den wichtigen politischen Lagern gefunden haben, realistischerweise nicht mehr von einer Rückkehr der Vollbeschäftigung ausgehen kann. Der progressivste Industriezweig – nämlich Big Tech – scheint dies bereits verstanden zu haben, was erklärt, warum viele prominente Investoren in diesem Bereich zu lautstarken Verfechtern der Idee des bedingungslosen Grundeinkommens geworden sind. Dass die Konzerne aus Silicon Valley diese Idee unterstützen, dürfte auf der Hand liegen: Schließlich beherrschen sie kaum etwas so gut, wie die eigene Steuerlast zu minimieren, so dass sie mit größer Wahrscheinlichkeit nicht viel zur Finanzierung solcher Sozialprogramme beitragen würden.

    Dass das Silicon Valley das bedingungslose Grundeinkommen befürwortet, ist auch ein Indiz dafür, dass eine der bereits genannten Thesen dieses Essays korrekt ist: Die gesamte Technologieindustrie schwenkt von einer auf kostenlosen und massiv subventionierten Gütern und Dienstleistungen basierenden Wirtschaftsweise zu einem neuen Geschäftsmodell um, bei dem jedes Gut und jede Dienstleistung komplett kostenpflichtig und die Preisgestaltung vielleicht sogar von der Zahlungskraft des jeweiligen Kunden abhängig ist. Und eine Ökonomie, in der uns eine mit zahlreichen Sensoren ausgestattete Infrastruktur flexible Preise in Rechnung stellt, die sich danach richten, welche Menge einer gegebenen Ressource wir genutzt haben, und vielleicht auch danach, wie sehr wir dies genossen haben, setzt voraus, dass die Konsumenten auch wirklich über das nötige Geld verfügen, um all jene Güter und Dienstleistungen bezahlen zu können – und dass dieses Geld nicht einfach aus neuen Schulden stammt. Anders formuliert: Aus der Perspektive der Risikokapitalgeber im Silicon Valley ist das Projekt des bedingungslosen Grundeinkommens eine fantastische versteckte Subvention für die Silicon-Valley-Unternehmen selbst.

    Phantasma Grundeinkommen
    Nun wird Derartiges der Öffentlichkeit natürlich nicht auf diese Weise schmackhaft gemacht. Den Bürgern wird stattdessen etwa versichert, das bedingungslose Grundeinkommen sei eine tolle Idee, die uns für die Schrecken der Automatisierung und für all die von uns extrahierten Daten entschädigen könne. Solange diese Rhetorik dazu beiträgt, alle Arten von politischen Zusammenschlüssen zu unterdrücken, die die Frage nach dem Dateneigentum aufwerfen, bleibt ein solches Grundeinkommen aus der Perspektive von Big Tech ein wunderbares Glücksspiel, schließlich müssen die Technologiefirmen selbst nicht viel dafür aufwenden, dass es gespielt wird.

    Der eigentliche politische Schachzug sieht etwas anders aus. Zunächst einmal ist es offensichtlich, dass die meisten Entwürfe zu einem bedingungslosen Grundeinkommen ohne signifikante Anstrengungen zur Umverteilung von Wohlstand und Einkommen nur sehr schwer finanzierbar sein dürften. Also werden wir es voraussichtlich mit Konzepten zu tun bekommen, die dieses Grundeinkommen auf bestimmte Gruppen von Bürgern einschränken wollen. Denjenigen an der Spitze der neuen gesellschaftlichen Hierarchie – jenen also, die qualitativ hochwertige Daten produzieren oder innovative Ideen zur „Wissensökonomie“ beisteuern – wird es möglicherweise gestattet werden, Vertragspartei des neuen New Deal zu werden. Dies mag sich weit weniger emanzipatorisch anhören, als es früher vielleicht einmal der Fall war, und das nicht zuletzt deshalb, weil wir zeitgleich mit der Einführung des Grundeinkommens für wenige eine Intensivierung des Rentierismus auf den übrigen Feldern der Wirtschaft feststellen werden, so dass ein Gutteil des an die Bürger ausgezahlten Geldes in Gestalt von Zahlungen für elementare Güter und Dienstleistungen wieder in den Unternehmenssektor zurückfließen wird.

    Was aber ist mit jenen am unteren Rand der sozialen Pyramide, die demnach nicht zu den Vertragsparteien der neuen gesellschaftlichen Vereinbarung gehören werden? Die Antwort darauf ist nicht so eindeutig. Die einfachste Lösung bestünde darin, die Armen und Überflüssigen der Fürsorge der globalen technophilanthropischen Klasse zu überlassen; die wird sich schon neue, innovative und letztlich private Lösungen für deren Probleme ausdenken. Eine davon, die ein Hightech-Unternehmer und erklärter Trump-Anhänger propagiert, lautet: Man solle doch Virtual-Reality-Brillen an die Elenden verteilen, mit denen sie auf ziemlich preiswerte Weise den ganzen Tag lang virtuelle Glückseligkeit und Freude erleben können.

    Wie kann dieses neue System wachsen und die Reichen – die kein bedingungsloses Grundeinkommen und keine virtuelle Realität brauchen – noch reicher machen? Früher war es so, dass es negative Auswirkungen auf die Wirtschaftstätigkeit hatte, wenn man den Menschen lebensnotwendige Güter wie Nahrung, Obdach und Sicherheit vorenthielt. Der Wohlfahrtsstaat baut in vielerlei Hinsicht auf diesem Grundgedanken auf; den Kapitalismus durch die Sozialisierung des Risikos zu stabilisieren, schien der richtige Weg zu sein.

    Heute herrscht allerdings eine andere Logik vor, gerade weil sich die technologischen Bedingungen so sehr verändert haben, dass die Bürger bei der Suche nach Lösungen für ihre Not recht einfallsreich sein können. Und je schlechter ihre Lage ist, desto kreativer fallen die Lösungsideen aus. Damit dieses System expandieren kann, müssen die Unternehmen einfach nur diesen Innovationsmehrwert abschöpfen und ihn auf profitable Weise nutzen. Wollte man die Weisheit dieses neuen digitalen Zeitalters in einem prägnanten Satz zusammenfassen, dann würde er wahrscheinlich lauten: „Warte nicht, bis die Regierung dir hilft – erstell deine eigene App!“ Und mach dir nichts daraus, dass irgendwo irgendwer – höchstwahrscheinlich die Technologiefirma, die hinter der Plattform steht, auf der du deine App erstellst – von dieser auf eine Weise profitieren wird, von der ihr eigentlicher Schöpfer nicht einmal zu träumen wagt.

    Wachstum und Enteignung

    Dies ist der wesentliche Grund dafür, dass der Aufstieg von Big Tech und die Fortdauer der globalen Finanzkrise zusammengedacht werden müssen. Die in vielen entwickelten Volkswirtschaften anzutreffenden Austeritätsbestrebungen, Kürzungen bei staatlichen Dienstleistungen und bei den Realeinkommen bilden die Hauptursache dafür, dass Akteure wie Uber und Airbnb so stark expandieren konnten: Ein bankrottes Städtchen irgendwo in Florida oder New Jersey kann sich kein annehmbares öffentliches Nahverkehrssystem leisten, also bezahlt es stattdessen Subventionen an Uber, um seinen Bürgern ein günstiges Verkehrsmittel anzubieten.

    Nach David Harvey ist die neoliberale Phase des globalen Kapitalismus von einer Logik gekennzeichnet, die er „Akkumulation durch Enteignung“ nennt; sobald sich das Wachstum verlangsamt, werden die Reichen dadurch reicher, dass die existierenden Ressourcen zuungunsten der Armen umverteilt werden. Der Aufstieg der Informationstechnologie hat diese Logik noch etwas weiter gesponnen, insofern das Kapital durch die Enteignung der Ressourcen der Menschen und ihre gleichzeitige Versorgung mit hochkomplexen, aber allgemein verfügbaren Mitteln zur Selbsthilfe auch deren kreative Potenziale erschließt, was die Menschen dann dazu mobilisiert, durch ihre Mitwirkung an Apps, Plattformen und anderen Gestalten der Wissensökonomie zur Erreichung seiner Ziele beizutragen. Das Kapital wächst also selbst dann noch, wenn es die Armen durch Umverteilung ihrer Ressourcen beraubt.

    Wie sollte also unsere vorläufige Einschätzung dieses neuen gesellschaftlichen und politischen Deals ausfallen? Was seine Grundlagen angeht, scheint er durchaus „postkapitalistisch“ zu sein: Ein großer Teil der Arbeit wird automatisiert, an die Stelle des Arbeitslohns als sozialer Institution tritt ein bedingungsloses Grundeinkommen, und die Armen und Schwachen durchlaufen nicht mehr die Institutionen des Sozialstaats, sondern sollen ein von virtueller Realität konstituiertes Hightech-Universum bevölkern, in dem sie nicht einmal mehr als Menschen behandelt werden. Wer kreative Fähigkeiten besitzt, wird selbst dann, wenn er ein Grundeinkommen bezieht, dauerhaft vom System herausgefordert, so dass er sich aus jeder Art von Notlage herausinnovieren kann – was all jene noch reicher macht, denen die Mittel der Heilsbringung gehören. Darüber hinaus bilden sich wieder Hierarchien heraus, auch wenn wir sie „Netzwerke“ und „Empfehlungssysteme“ nennen.

    Dass dieses neu entstehende System postkapitalistisch ist, bedeutet nicht, dass es nicht auch neofeudalistisch wäre, mit Big-Tech-Unternehmen in der Rolle der neuen Lehnsherren, die fast jeden Aspekt unseres Lebens kontrollieren und zugleich die Rahmenbedingungen des politischen und gesellschaftlichen Diskurses festlegen. Aus Sicht eines normalen Bürgers ist das neue System höchst problematisch, aufgrund seines Inegalitarismus, aber auch aufgrund seiner Willkürlichkeit und Beliebigkeit. Solange man die Existenz der „Überschuss-Bevölkerung“ anerkennt und auch, dass die herrschende Klasse nicht mehr bereit ist, ihr gegenüber weiterhin Zugeständnisse irgendeiner Art zu machen – abgesehen vielleicht von netten Updates für ihre Virtual-Reality-Brillen –, dann ist es kaum vorstellbar, dass die Zahl dieser „Überflüssigen“ mit zunehmender Automatisierung nicht weiter anwachsen sollte.

    Doch auch für die, die nicht in diese Kategorie fallen, ist das Leben mit einem bedingungslosen Grundeinkommen kaum erfüllend oder emanzipatorisch. Worin besteht der Sinn eines bedingungslosen Grundeinkommens, wenn es vollständig von Tributzahlungen für die Nutzung grundlegender Dienstleistungen aufgezehrt wird? Und was geschieht, wenn die Verbindlichkeiten einer Person ihr Grundeinkommen übersteigen? Würde das bedeuten, dass ihre Besitztümer – die voller Sensoren stecken und in Netzwerke eingebunden sind – abgeschaltet werden, und zwar so, wie einige Amerikaner es bereits jetzt erleben: dass ihr Wagen per Fernsteuerung deaktiviert wird, wenn sie mit den Raten für ihren Autokredit in Rückstand geraten? Was passiert, wenn man Schulden bei Alphabet hat – etwa für die Nutzung einer seiner erweiterten KI-Dienstleistungen – und das Unternehmen zugleich das nationale Gesundheitssystem betreibt? Hieße das dann, dass man keinen Zugang zu medizinischer Versorgung mehr hätte, solange man seine Schulden nicht begleicht?

    Es gibt einiges, was für technoutopische Narrative spricht. Und da sich der Kapitalismus derzeit in einer schweren Krise befindet, sollten wir alternative Visionen davon, wie wir unser Leben organisieren, nicht einfach von vornherein verwerfen. Das Problem ist, dass die meisten der aus dem Silicon Valley stammenden technoutopischen Narrative sich des Wesens der gegenwärtigen Krise weder vollständig bewusst sind noch Ehrlichkeit walten lassen im Hinblick auf die Frage, wie ihre eigenen sich wandelnden Geschäftspolitiken ihre soziale und politische Rhetorik beeinflussen. Eine postkapitalistische Welt ist definitiv etwas, für das es sich zu kämpfen lohnt – aber nicht, wenn in ihr die schlimmsten Auswüchse des Feudalismus zu neuem Leben erweckt werden.

    Dieser Artikel erschien in Ausgabe 49/2017 vom 07.12.2017

    #disruption #économie #société

  • Industrie ǀ Wenn Marxisten joggen — der Freitag
    https://www.freitag.de/autoren/simons/wenn-marxisten-joggen

    Auf der Spitze des Hochofens 5 weiß Peter Römmele nicht, ob er schwärmen oder schweigen soll. Unter ihm liegt der Landschaftspark Duisburg-Nord, Ankerpunkt auf der „Route der Industriekultur“ und ausgezeichnet für seine Landschaftsarchitektur. Der Stahlarbeiter verbindet mit seinem Finger die rotbraunen Klötze, die schief aus dem üppigen Grün des Parks ragen: Erzbunkeranlage, Gießhalle, Hochofen, Kaltwalzwerk. Der Beton am Fuß der Anlagen wurde von wuchernden Pflanzen aufgesprengt und der Stahl vom Regen mit Rost überzogen. Entlang der alten Transportschienen verläuft Römmeles Joggingstrecke. Er läuft sie so gut wie jeden Morgen. Römmele liebt den Park. Erst einmal schweigt er.

    Dabei ist der Park ein Ort, den es, wenn es nach ihm ginge, eigentlich gar nicht geben sollte. An dem man sehe, „wie es nicht laufen sollte“. Der für all das steht, wogegen Peter Römmele seit fast zwei Jahrzehnten kämpft.

    Der Landschaftspark im Duisburger Norden ist das schöne Ergebnis des schmerzhaften Niedergangs der Stahlindustrie im Ruhrgebiet. Der Hochofen, von dem Römmele hinabblickt, war gerade einmal zwölf Jahre in Betrieb, bevor er wegen Überkapazitäten abgeschaltet wurde, wie seine vier Vorgänger. Zwar ist Duisburg mit rund 20.000 Beschäftigten noch heute der größte Stahlstandort Europas. Doch die Öfen im Park künden von der Vergangenheit wie von der Zukunft. Sie dienen nun als Kletterpark. Der Gasometer wurde geflutet und zu einer Tauchstation umgebaut. An den Geländern haben verliebte Paare gravierte Vorhängeschlösser angebracht.

    Peter Römmele kämpft gegen diese Schließungen. Er gehört zur „MLPD-Landesleitung Nordrhein-Westfalen“ – einer Partei, die außerhalb der Stahlbranche höchstens wegen ihres markigen Namens bekannt ist: die Marxistisch-Leninistische Partei Deutschlands. In ihrem Programm fordert sie den „Sturz der kapitalistischen Herrschaft“ und den „Sieg der sozialistischen Weltrevolution“ unter der Diktatur des Proletariats. Bei der letzten Bundestagswahl erreichte die MLPD 0,1 Prozent. In der Stahlbranche allerdings genießen die Marxisten einen Rückhalt, der weit über dem Bundesdurchschnitt liegt. Die MLPD stellt Vertrauensleute und hat enge Verbindungen zu einzelnen Betriebsräten. Vor den Werkstoren verteilen Mitglieder Flyer, sie schreiben an Mitarbeiterzeitungen mit.

    Der stärksten Gewerkschaft der Branche, der IG Metall, gilt die MLPD seit den 1970er Jahren als „gegnerische Organisation“, auf Grundlage ihres Unvereinbarkeitsbeschlusses kann sie MLPD-Mitglieder ausschließen. Aber der Stahl und die MLPD sind eng miteinander verknüpft. Nach wie vor stehen die Marxisten für kompromisslose Arbeitskämpfe. „Uns wird gesagt, der Konzern müsse Gewinne machen und wir Verständnis haben, wenn Arbeitsplätze abgebaut werden“, sagt Römmele. „Wir haben dieses Verständnis nicht. Wir akzeptieren diese Profitlogik nicht.“ Natürlich sei die MLPD eine radikale Partei. „Eben eine, die immer auf der Seite der Arbeiter steht.“

    Und mehr denn je sehen die Arbeiter der deutschen Stahlbranche gerade einer sehr ungewissen Zukunft entgegen. 1,6 Milliarden Tonnen Rohstahl wurden 2016 weltweit gekocht, davon allein 808 Millionen, etwa die Hälfte, in China. Dahinter folgt die EU mit 162 Millionen Tonnen und rückläufiger Tendenz, während die Produktion in China, Japan und Indien stagniert oder wächst.

    Tata steht vor der Tür

    Deutschland liegt auf Platz sieben und hat am Weltmarkt einen Anteil von nur noch 2,6 Prozent. Gegen den Verlust an Bedeutung lobbyiert die Wirtschaftsvereinigung Stahl, ein Zusammenschluss der hier produzierenden Unternehmen; sie wehrt sich gegen den EU-Emissionsrechtehandel, fordert deutlich schärfere Anti-Dumping-Maßnahmen gegen Billig-Importe aus China und fürchtet nun zugleich eine Abschottung des US-Marktes, da Präsident Donald Trump propagiert, er würde heimische Hersteller stärken und verlorene Jobs zurückbringen.

    Derweil gleicht die europäische Stahlindustrie einem Risiko-Spielbrett. Der Weltmarktführer ArcelorMittal mit Sitz in Luxemburg und Zentrale in London sowie der indische Hersteller Tata Steel teilen einen Großteil der Produktionsstätten unter sich auf. Arcelor und Mittal, einst die größten Stahlproduzenten der Welt, fusionierten 2007 und halten Werke in Deutschland, den Niederlanden, der Ukraine und Polen. Der Stahlhersteller Corus, eine Fusion aus Königlich niederländische Hochöfen und British Steel, gehört heute zu Tata. Das könnte bald auch für Thyssenkrupp gelten.

    Längst investiert der Konzern nicht mehr in die Stahlproduktion, sondern in Aufzugsanlagen, Tagebautechnik oder Rüstungsgüter. Am liebsten würde die Konzernspitze die Stahlsparte sofort abstoßen, um diesen schwierigen Posten aus der Bilanz zu tilgen. Werke in den USA und Brasilien hat sie bereits verkauft.

    Seit mehr als einem Jahr laufen Verhandlungen mit Tata über eine europäische Stahl-Allianz. Zuletzt machten Vermutungen die Runde, dass sich Vorstandschef Heinrich Hiesinger mit einer Minderheitsbeteiligung für Thyssenkrupp zufriedengeben könnte. Dass die Fusion kommt, daran zweifelt niemand mehr. In Kreisen der IG Metall gilt als wahrscheinlich, dass das Memorandum of Understanding diesen Sommer veröffentlicht wird. Die Fusion, da ist man sich sicher, wird Schließungen bedeuten. Schon bekannt sind die Sparpläne für die Stahlbranche: 500 Millionen Euro will Thyssenkrupp im Laufe der nächsten drei Jahre in der Stahlproduktion einsparen – auch über Personalkosten.

    Ein blaues Firmen-Poloshirt für ihn sei da wohl auch nicht mehr drin, sagt der Pförtner an Tor 4, bevor er Julia Willms an einem heißen Julimorgen auf das Thyssenkrupp-Gelände im Dortmunder Osten lässt. Willms ist Auszubildende, statt des üblichen Pütthemds trägt sie heute das hellblaue Polohemd mit Firmenlogo, vor einem Jahr hat sie es zum Ausbildungsbeginn geschenkt bekommen. Ob er auch so eines bekommen könne, scherzt der Pförtner. Willms verspricht nachzufragen. Der Pförtner lacht, winkt ab und verschwindet in seinem Häuschen.

    Willms ist Jugendauszubildendenvertreterin (JAV) am Standort Westfalenhütte. 1871 von Stahlunternehmer Leopold Hoesch gegründet, ist das Werk bis heute untrennbar mit der Geschichte Dortmunds verknüpft. Nach dem Krieg war es einer der größten Arbeitgeber der Stadt. Werksarbeiter machten den angrenzenden Borsigplatz zum Mittelpunkt der schwarz-gelben Fankultur. 2001 legte Thyssenkrupp den letzten Hochofen still. Arbeiter bauten das komplette Stahlwerk ab und in China wieder auf. Heute wird hier nur noch gewalzt, veredelt und feuerbeschichtet.

    Willms’ Großvater war Tischler in Dortmund, der Vater ebenso. „Ich wäre sowieso keine Büromaus geworden“, sagt die 21-Jährige. Zusammen mit vier weiteren „JAVs“ teilt sie sich ein kleines Büro im zweiten Stock über der Auszubildendenwerkstatt. 123 der 960 Azubis in der Stahlspartewerden hier angelernt. Wie lange noch, weiß Willms nicht. Es geht das Gerücht um, im Falle einer Fusion werde nur noch in Duisburg ausgebildet. „Unser Werk geht mehr oder weniger zugrunde, wenn die Alten gehen“, sagt Willms. „Würden wir nicht angelernt und übernommen werden, könnten wir das Werk nicht halten.“

    „Halten“ ist ein Wort, das sie in Dortmund häufig benutzen. Es offenbart den Fatalismus, der viele Azubis umgibt. Bewahren, was geht. Weitermachen, wie immer. Wenn Willms ihren Kollegen von Versammlungen erzählt, auf denen Gewerkschafter Strategien gegen Sparpläne und Fusion erörtern, dann hört sie oft: „Können wir eh nichts dran ändern, also was soll’s.“ Zum letzten Streik in Duisburg seien sie mit drei Bussen gefahren, sagt Willms. „Eigentlich hätten wir 20 vollmachen müssen.“
    Wie damals in Rheinhausen

    Angst um ihre persönliche Zukunft hat die 21-Jährige nicht. Die Ausbildung bei Thyssen ist gut, sie fände wohl auch anderswo einen Job, erst einmal wird sie als JAV-Mitglied sowieso fest übernommen. Ohnehin wurden in den letzten Jahren alle Azubis übernommen. Bei einer Fusion wird das kaum so bleiben.

    Auf den Stufen des stillgelegten Duisburger Stahlwerks sagt Peter Römmele: „Die MLPD hat sich immer für die Übernahme aller Azubis und Arbeitszeitverkürzungen bei vollem Lohnausgleich eingesetzt und sich für entsprechende Tarifverträge engagiert.“ Große Teile der IG Metall sehen das anders. „Wir haben noch nie erlebt, dass die MLPD auch nur irgendetwas gelöst hätte“, heißt es aus Betriebsratskreisen. Die Azubi-Übernahme etwa sei nur möglich gewesen, weil im Gegenzug auf vollen Lohnausgleich verzichtet worden sei. Die MLPD wiederum fühlt sich mit einem „antikommunistischen Bannstrahl“ belegt und bezichtigt Betriebsräte der Gewerkschaft, sie betrieben „Co-Management“ – mit diesem Argument sammelte etwa eine MLPD-nahe Betriebsrätin zuletzt in Dortmund Unterschriften dagegen, dass ihr die Mehrheit des Gremiums keinen eigenen Betreuungsbereich zugesteht. IG-Metall-Betriebsräte antworteten mit einem Schreiben an die Belegschaft, in dem sie der Frau vorwarfen, die Parteidoktrin der MLPD sei ihr anscheinend wichtiger als die Vertretung der Interessen der Kollegen. Und von wegen „Co-Management“: Ihre Umsetzung auf Frühschicht bei kompletter Entgeltabsicherung samt Diensthandy durch den Arbeitgeber habe sie selbst ja „wohlwollend“ angenommen. Immer wieder entsteht Streit: Gewerkschafter verlassen den Saal, wenn MLPDler zu reden beginnen. Beim Stahlaktionstag im Mai in Duisburg mit 7.500 Beschäftigten gab es Furore, weil moderate Gewerkschafter MLPD-Leute ausschließen wollten.

    Eigentlich sind sich beide Kräfte einig, was sie wollen: gegen Sparpläne und Stellenabbau kämpfen. Nur bei der Umsetzung bröckelt die Einheit. Die MLPD setzt auf rigorosen Arbeitskampf. „Mit den üblichen Mitteln, die das Betriebsverfassungsgesetz vorsieht, wird es nicht gehen“, sagt Römmele. „Ich brauche keine Angst davor zu haben, dass die Belegschaft auf die Straße geht und sich vielleicht nicht an alles hält, was vom Bürgerlichen Gesetzbuch noch erlaubt ist.“ Die Arbeit der MLPD sei eine „Gefahr für den Konsens“, heißt es dagegen bei der IG Metall.

    Römmele will keinen Konsens, vorerst zumindest nicht. Wenn er von Arbeitskampf redet, kommt er oft auf Rheinhausen zu sprechen und meint damit die Wochen im Winter 1987/88: Die Krupp AG hatte die Schließung des Hüttenwerks in Duisburg-Rheinhausen verkündet – was folgte, war ein Arbeitskampf, der bis heute für viele Stahlarbeiter legendär ist: Gewerkschafter bildeten Menschenketten, errichteten Straßensperren und stürmen die Tagung des Aufsichtsrats. Im Februar 1988 spielten die Toten Hosen, Rio Reiser, Herbert Grönemeyer und Klaus Lage vor 47.000 Menschen im Walzwerk. Nach 160 Tagen endete der Arbeitskampf. Fünf Jahre später schloss Rheinhausen. Ein Sieg war es trotzdem.

    Zum einen, weil niemand arbeitslos wurde. Zum anderen, weil Rheinhausen einen Mythos begründete, von dem Gewerkschafter bis heute zehren. Der zeige, dass jeder Arbeitskampf mit Aufklärung über den Kapitalismus verknüpft sein müsse, sagt Römmele. „Wer sind die Eigentümer der Produktionsmittel? Wieso werden sie nicht enteignet und die Produktionsmittel in Gemeineigentum überführt? Wieso bestimmen nicht die Arbeiter?“

    Angesichts der drohenden Fusion mit Tata will auch Julia Willms den Arbeitskampf bis zum Ende führen. Um eine bessere Einigung zu finden, könne man nie genug streiken. Mit der MLPD will sie trotzdem nichts zu tun haben. Es gebe wichtigere Probleme als ideologische Grabenkämpfe. Dann lacht sie. „Die meisten haben doch ohnehin so gut wie abgeschlossen“, sagt Willms und blickt aus dem Fenster auf das riesige Areal der Westfalenhütte. Eigentlich eine schöne Joggingstrecke.

    #Allemagne #industrie #travail

  • Interview ǀ „Ein schillernder Irrsinn“ — der Freitag
    https://www.freitag.de/autoren/juloeffl/ein-schillernder-irrsinn

    Die Freiheit der Meere ist Geschichte. Hier kommt die Festlandsockelkommission ins Bild. Es handelt sich um eine der UNO unterstehende Kommission und um die größte Landvergabe auf dem Planeten, die derzeit ohne demokratische Kontrolle und Wissen der Öffentlichkeit stattfindet.

    Das müssen Sie genauer erklären.
    In New York sitzen 21 Menschen ohne Handys in einem abgesicherten Raum und entscheiden anhand geologischer Daten über die territorialen Grenzen. Über Vermessungen des Meeresbodens wird entschieden, welcher Staat wie viel Küstengebiet als Territorium beanspruchen kann. Letztlich geht es dabei um ökonomische Interessen, etwa fossile Rohstoffe. Viele Mitglieder der Kommission sind jedoch Geologen aus den antragstellenden Ländern.

    Was weiß man über sie?
    Niemand kennt die tatsächlichen Namen der Mitglieder und sie haben absolutes Sprechverbot. Die Filmemacher Max Mönch und Alexander Lahl haben darüber eine Doku gedreht und führen in der Installation ein Expertengespräch zu dem Thema. Frankreich etwa hat aus der Kolonialzeit viele Inselgruppen und beansprucht deshalb Gebiete unter dem Meer, die dreimal so groß sind wie die französische Landmasse. Und es gibt diese kleine Insel in Japan, Okinotorishima, die droht, im Meer zu versinken. Dort werden nun künstlich wachsende Korallen angesiedelt, denn wenn die Insel untergeht, verliert Japan den Anspruch auf das Territorium.

    ZUR PERSON

    Hannah Hurtzig war künstlerische Leiterin von Kampnagel und Dramaturgin an der Volksbühne in Berlin. Seit 2004 arbeitet sie mit der von ihr gegründeten Mobile Academy an alternativen Formen der Wissensvermittlung.

    #océan #énergie #accaparement_des _eaux

  • Was läuft ǀ Greinende Götter — der Freitag
    https://www.freitag.de/autoren/sarah-khan/greinende-goetter

    Pastor Streges Lichtbildvortrag konfrontierte uns kleine Geschöpfe mit den Kinderbibel-Illustrationen des niederländischen Malers Kees de Kort. Seine bunten, großflächigen Bibelszenen zeigten Menschen, die sich allesamt ähnelten und deren jeweilige Gefühlslagen schnell zu erfassen waren. Die für Kees de Kort so typischen Figuren trugen bunten Kaftan, Sandalen und oft Bart. Jesus war sofort identifizierbar, von seinem Gesicht ging eine leicht verblödete Freude aus, und die Augen waren immer ein wenig größer als bei anderen. Das Beeindruckendste aber war, dass Pastor Strege mit der Projektor-Fernbedienung den dramatischen Ablauf der Geschichte anhalten konnte, damit wir jede einzelne Handlungsstufe in Ruhe besprachen. Mit einer großen Portion Fassungslosigkeit und einem Nachrichtenreporterton in der Stimme wiederholte er die Geschehnisse, als müsse er sich selbst etwas laut erklären, um es zu begreifen.

    „Dirk, wie hieß der Engel?“ – „Erzengel?“ – „Ja, der Erzengel! Aber woher kam der, der Erzengel, Meike?“ – „Aus dem Himmel?“ – „Ja, Meike. Aus dem Himmel kam der. Aber Amir, wer schickte den Erzengel?“ – „Gott?“ – „Richtig, Gott! Und was machte der Mann in der Ecke, ist der lustig oder traurig, oder ist der vielleicht krank? Zorana?“ – „Traurig ist der! Weil er blind ist!“ – „Richtig, Zorana. Der ist ja blind, und deshalb so traurig.“

    #religion #wtf #bullshit #medias

  • Chatbots ǀ Digitaler Besserwisser — der Freitag
    https://www.freitag.de/autoren/digtator/digitaler-besserwisser

    Wir ermöglichen Verlagen und Marken, auf Facebook Nachrichten an Nutzer zu senden, als wären sie Freunde.

    Ihr habt spectrm in deinem Elternhaus gegründet. Wie kamt ihr auf die Idee?

    Unser Co-Founder Jendrik und ich haben gemerkt, dass wir immer weniger Nachrichten lesen. Unser Gedanke war: Das liegt daran, weil die Publisher immer unwichtiger werden. Der einzelne Journalist sollte stärker in die öffentliche Wahrnehmung rücken. Ursprünglich wollten wir also eine Plattform für Lieblingsautoren bauen.

    Eine Kurations-Seite?

    Genau. Aber wir hatten keinen Beweis für unsere Hypothese. Auf der Republica haben wir mit vielen Medienvertretern geredet, die nicht an diese Personalisierung glaubten. Um unsere Idee zu prüfen, entschlossen wir uns, einen Prototyp zu bauen. Unser Prototyp ging durch die Decke, und wir haben gemerkt: Das liegt nicht an den Journalisten, sondern an der Distributionsart. Der Online-Journalismus hat kein Content-Problem. Er hat ein Distributionsproblem.

    Wie meinst du das?

    Viele Medienhäuser erreichen ihre Leser nicht mehr, weil sich die Nachrichtenkanäle verschoben haben. In den USA konsumiert mittlerweile die Mehrheit der Bürger ihre News via Facebook. Die neuen Publisher sind dank innovativer, digitaler Distribution erfolgreich.

    #médias #presse #facebook

  • Gefängnisbriefe ǀ Gruß in den Knast — der Freitag
    https://www.freitag.de/autoren/christian-fueller/gruss-in-den-knast

    Gefängnisbriefe Erich Honecker schrieb einer unbekannten Frau aus Westdeutschland aus dem Gefängnis. Es entwickelte sich eine persönliche Geschichte

    Liebe Eva. Erich Honeckers Gefängnisbriefe Erich Honecker, Eva Ruppert, Mit einem Vorwort von Frank Schumann, edition ost 2017, 160 S., 9,90 €

    Als die hessische Gymnasiallehrerin Eva Ruppert von einer Kuba-Reise kommend in Berlin landet, erfährt sie, dass Erich Honecker der Prozess gemacht wird. „Jetzt muss ich was unternehmen“, sagt sich die 57-Jährige – und beschließt, ihr Idol im Gefängnis zu besuchen.

    der Freitag: Frau Ruppert, Sie haben Erich Honecker 1992 im Gefängnis besucht – obwohl Sie ihn gar nicht kannten. Was hat Sie dazu bewogen?

    Eva Ruppert: Ich war von Kollegen aus dem „Solidaritätskomitee Erich Honecker“ in Essen dazu eingeladen worden. Aber ich hatte schon vorher in Moskau versucht, ihn zu sehen.

    Wie kam das?

    Ich war als Touristin in Moskau und las, dass er hier behandelt wird. Also habe ich mich, zusammen mit einem russischen Bekannten, auf den Weg gemacht, um ihn zu finden. Das war ein bisschen verrückt. Wir sind stundenlang von Klinik zu Klinik gefahren. Quer durch tiefe russische Wälder. Ich habe dann nach Honecker gefragt ...

    … aber Sie können doch gar kein Russisch.

    Ja, das machte aber nichts. Chonekker kannte jeder. Wir fanden ihn trotzdem nicht. Aussichtslos.

    Wie viele Krankenhäuser haben Sie abgeklappert?

    Ich weiß nicht, vier oder fünf.

    Frau Ruppert, noch mal, was hat Sie bewegt, ihn zu besuchen? Sie waren eine Gymnasiallehrerin aus Bad Homburg, die vorher nie Kontakt zu Erich Honecker hatte.

    Ich habe diesen Mann bewundert. Er hat den besseren deutschen Staat mit aufgebaut. Und dafür sollte er nun ins Gefängnis und von der gesamtdeutschen Siegerjustiz abgeurteilt werden? Man hat ihn aus seinem Land gejagt. Das fand ich ungerecht. Das wollte ich ihm zeigen.

    Wie war Honecker bei Ihren Begegnungen?

    Beeindruckend. Ein aufrechter Mann, im Wortsinne aufrecht. Honecker trat wie ein Staatsmann auf, nicht wie ein Gefangener. Er ließ sich nicht beugen, obwohl er enttäuscht war. Aber er klagte darüber nicht. Er war sehr freundlich und warmherzig mit mir. Er stellte nicht sich, sondern mich in den Mittelpunkt des Gesprächs. Ich habe von ihm etwas gelernt.

    Was war das?

    Positiv zu denken, auch im Moment der Verzweiflung. Er hat mir Mut gemacht.

    Wie oft waren Sie bei Honecker?

    Ich weiß es nicht mehr, fünf oder sechs Mal.

    So oft?

    Ja, beim ersten Besuch in Berlin ging es ja sehr schnell. Da war kaum Zeit. Wir waren insgesamt zu viert, plus ein Justizbeamter, der aufpasste. Wir gratulierten ihm zum 80. Geburtstag. Erst bei meinen späteren Besuchen konnten wir eine halbe Stunde allein sein – bis auf den Justizbeamten, der immer im Hintergrund saß.

    Über was haben Sie gesprochen?

    Über Politik, über Literatur, über die Musik und die Briefe, die wir gewechselt hatten. Viel mehr ist da schwer möglich, weil man sich immer beobachtet fühlt. Deswegen habe ich auch Briefe geschrieben. Einmal habe ich sogar einen Kassiber ins Gefängnis geschmuggelt.

    Einen Zettel mit einer Botschaft?

    Ja, ich war sehr nervös. Und dann ist mir der gefaltete Zettel auch noch auf den Boden gefallen, als ich ihn Honecker zustecken wollte.

    Hat der Beamte das gemerkt?

    Nein, ich habe den Zettel unauffällig aufgehoben. Und dann Erich gegeben.

    Verraten Sie mir, was da draufstand?

    Das weiß ich doch heute nicht mehr, das ist 25 Jahre her!

    Frau Ruppert, Sie bringen Honecker einen Kassiber in den Knast – und wissen nicht mehr, was draufstand?

    Habe ich vergessen.

    War es eine politische Botschaft? Oder haben Sie einfach geschrieben: Ich liebe Dich?

    Nein, solche blöden Sachen habe ich nicht geschrieben. Das stand nicht in meinen Briefen.

    Frau Ruppert – verzeihen Sie –, waren Sie vielleicht verliebt in Erich Honecker?

    Was soll ich dazu sagen? Das würde ich nicht so ausdrücken. Natürlich war da Sympathie.

    Was zog Sie sonst an? Ruhm? Macht? Teilnehmen an Geschichte?

    Nein, auch wenn ich es als einen großen Moment empfunden habe, diesem wichtigen Mann der deutschen Geschichte gegenüber zu sitzen. Vielleicht, um ein bisschen von dem Unrecht auszugleichen, das ihm widerfuhr?

    Honecker war allerdings kein Opfer. Sondern Staatsratsvorsitzender eines Landes mit Mauer, Schießbefehl und einem ausgeklügelten Unterdrückungsapparat. Haben Sie darüber mit Honecker gesprochen?

    Nein.

    Haben Sie ihm nicht auch eine kritische Frage gestellt?

    Nein, darum ging es nicht. Ich wollte ihm helfen. Ihm zeigen, dass es Menschen gibt, die zu ihm stehen.

    Wie standen Sie zur DDR?

    Positiv. Ich bin 1987 dorthin gereist, ich war in Weimar, Leipzig und Dresden. Ich fand die Menschen sehr aufgeschlossen und hilfsbereit. Ich war angetan von der Menschenfreundlichkeit. Es hat mir viel Freude bereitet.

    Haben Sie einmal darüber nachgedacht, in die DDR überzusiedeln?

    Nein, dafür war es zu spät. Ich hatte einen Beruf, ich hatte einen Mann und drei Kinder. Ich konnte nicht alles stehen und liegen lassen.

    Wie ging es Ihrem Ehemann damit, dass Sie immer wieder zu einem anderen ins Gefängnis fuhren und ihm fast täglich Briefe schrieben?

    Das war dem egal.

    Wie geht das? Plötzlich beginnt eine Frau, deren Leben in ruhigen Bahnen verläuft, viele, auch tiefsinnige Briefe zu schreiben.

    Mein Leben verlief nie in ruhigen Bahnen. Das können Sie vergessen. Ich habe immer wieder verrückte Aktionen unternommen. Zum Beispiel, um 1980 im Erdbebengebiet im süditalienischen Potenza wochenlang zu helfen. Mein Mann hat das immer geduldet. Er hat mir in beruflichen Dingen immer viel Freiheit gelassen.

    Aber war das mit Erich Honecker denn beruflich? Sie bauten eine persönliche Beziehung zum Staatsratsvorsitzenden auf.

    Ja, ich habe mich sehr gefreut über die schönen persönlichen Briefe, die mir Erich Honecker schrieb. Ich glaube, dass auch ihm das Kraft gegeben hat.

    Waren Sie enttäuscht, als Genosse Erich aufhörte, Ihnen Briefe zu schreiben? Das war ja abrupt vorbei, als seine Knastzeit endete.

    Er war ja sehr krank. Es ging ihm nicht gut, als er nach Chile kam. Aber ich war natürlich traurig. Plötzlich war diese persönliche Beziehung zu Ende. Aber Margot hat mir weiter Briefe geschrieben, bis zu ihrem Tod.

    Margot Honecker hat den Briefwechsel übernommen, als der Haftbefehl aufgehoben und Honecker nach Chile entlassen wurde. Was ist eigentlich aus Ihren Briefen geworden, Frau Ruppert?

    Das weiß ich nicht. Vielleicht hat er sie mit nach Chile genommen, vielleicht sind sie auch im Gefängnis geblieben. Ich hätte sie heute gern noch mal gelesen.

    –---

    Die Honecker-Odyssee 1989 – 1994

    Berlin
    Nach seinem Sturz am 18. Oktober 1989 muss Erich Honecker bald auch die Prominentensiedlung Wandlitz verlassen. Der Einzug in eine Wohnung in Berlin-Friedrichshain scheitert. Ende November wird Honecker wegen eines Nierentumors operiert und aus der Charité heraus unter dem Vorwurf des Amtsmissbrauchs verhaftet, verhört und wegen Haftunfähigkeit wieder entlassen.

    Lobetal
    In Berlin quasi obdachlos, nehmen Margot und Erich Honecker auf Vermittlung des Rechtsanwalts Vogel Ende Januar 1990 eine Art Kirchenasyl in Anspruch. Sie wohnen drei Monate im Privathaus von Pastor Uwe Holmer von den Hoffnungstaler Anstalten in Lobetal. Ein Besucher ist der damalige DDR-Premier Modrow, der die Übersiedlung in ein Gästehaus anbietet.

    Beelitz
    Proteste der Bewohner des Ortes Lindow verhindern einen Einzug der Honeckers in der Unterkunft der Regierung, so dass nur die Rückkehr nach Lobetal bleibt. Ende April 1990 ist ein sowjetisches Militärhospital in Beelitz bei Berlin die nächste Station. Inzwischen ist in der DDR nach den Wahlen vom 18. März 1990 eine von der CDU geführte Regierung im Amt. Deren Innenminister Diestel besucht Honecker am 14. Juli 1990, um Wohnungs- und Sicherheitsfragen zu klären.

    Moskau I
    Mit einer Militärmaschine und dem Wissen von Präsident Gorbatschow werden Margot und Erich Honecker im März 1991 nach Moskau ausgeflogen. Die Regierung Kohl protestiert nur verhalten, da der Oberste Sowjet den Zwei-plus-Vier-Vertrag noch nicht ratifiziert hat. In Moskau wird bei Erich Honecker Leberkrebs diagnostiziert. Die russische Regierung fordert die Honeckers Ende 1991 auf, das Land umgehend zu verlassen.

    Moskau II
    Die chilenische Botschaft in Moskau wird zum Asyl. Missionschef Clodomiro Almeyda wurde nach dem Pinochet-Putsch 1973 in der DDR als Emigrant aufgenommen und revanchiert sich, indem er die Honeckers nicht abweist. Dann aber erhöht die Bundesregierung den Druck auf Chiles Präsidenten Aylwin wie den Kreml, so dass Erich Honecker Ende Juli 1992 ausgewiesen, nach Berlin ausgeflogen und im Gefängnis Berlin-Moabit in Haft genommen wird.

    Berlin
    Vor dem Landgericht Berlin beginnt im November 1992 der Prozess gegen Honecker wegen des Schießbefehls an der Westgrenze der DDR. Seine schwere Erkrankung lässt damit rechnen, dass er das Ende des Verfahrens nicht mehr erlebt. Im Januar 1993 hebt das Berliner Verfassungsgericht den Haftbefehl auf. Honecker fliegt zu seiner Frau nach Chile, wo er am 29. Mai 1994 verstirbt.

    Lutz Herden

    #Allemagne #DDR #histoire