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  • Staatsumbau - Versammlungsrecht unter Beschuss
    https://www.jungewelt.de/artikel/473532.staatsumbau.html

    Nous sommes exposés à une transformation de l’état bourgeois démocratique en quelque chose de profondément répressif.

    Déjà aujourd’hui chaque association avec d’autres personnes, chaque pensée ouvertement critique à propos du système de plus en plus imtolérant peut nous conduire en prison. Les actes de violence contre les étrangers indésirables comme la militarisation de l’état et de la société sont l’expression de la même volonté de défendre son pouvoir contre les défis prévisibles et craints par la classe dominante.

    Pour le moment nous jouissons encore de quelques droits démocratiques. On essayera de nous les prendra avec l’extension des zones de guerre. Il faut se préparer à la guerre surtout si on y est pour rien.

    16.4.2024 von Arnold Schölzel - In der vergangenen Woche machte das EU-Parlament, dem die wichtigsten Eigenschaften eines Parlaments – Haushaltsrecht und Gesetzesinitiativen – abgehen, aus dem Asylrecht Makulatur. Wer Grundrechte abschafft, dem darf unterstellt werden, dass er generell Willkür an die Stelle des Rechts setzen will. Der zeitgenössische bürgerliche Staat tendiert dorthin, in DKP-Dokumenten wird das präzise als »reaktionär-militaristischer Staatsumbau« beschrieben. Beispiele: Das Wiederaufleben der »Schutzhaft«, die nicht mehr so heißt, in deutschen Polizeigesetzen des vergangenen Jahrzehnts oder die Erfindung der »Clankriminalität« durch Innenminister und ihre Dienste sind Symptome. Krisen machen die Sicherheitsapparate nervös, bei Anordnung von Kriegstüchtigkeit aber werden Grund- und Bürgerrechte zunächst fallweise aufgehoben. Da bleibt noch Spielraum für eine Notstandsordnung, die längst in Planung ist. Wenn das Militär pflicht- und neigungsgemäß bereits die Zertrümmerung strategischer Ziele in Russland mit TAURUS-Marschflugkörpern durchspielt, haben die Polizeipräsidenten sich Gedanken über die »Ordnung« im Hinterland zu machen.

    Ein Probelauf war am Freitag die deutsch-hauptstädtische Variante des Verbots einer Versammlung in geschlossenen Räumen: Der Palästina-Kongress wurde zunächst in einen Polizeikongress umgewandelt, woraufhin die sich in der Mehrheit sehenden Uniformierten das Ende der Veranstaltung beschlossen. Straftaten hatte es nach ihren Angaben nicht gegeben, Verbote für Videovorträge haben keine gesetzliche Grundlage, Strom- und andere Versorgung abzusperren war zuletzt als Variante israelischer Kriegführung gegen Palästinenser genutzt worden, das Einreiseverbot für irgendwelche Ausländer, zumal Nichtweiße, wurde allerdings schon im Januar zur Rosa-Luxemburg-Konferenz geprobt. Das ist noch ausbaufähig. Nach dem Asylabschaffungsbeschluss des EU-Parlaments stehen demnächst 120.000 Haftplätze für solche Leute zur Verfügung, da ist dann mehr Platz. Überm Eingang könnte »Humanität und Ordnung« stehen, der Gruß Annalena Baerbocks für Rechtlose an EU-Grenzen.

    In Brüssel klappt das alles nicht so wie im deutschen Osten: Da hebt ein Gericht das Versammlungsverbot gegen eine Konferenz von Ultrarechten, das ein Bürgermeister ausgesprochen hat, einfach auf. Kann in Berlin nicht passieren, wo seit einem halben Jahr fortgesetzt das Recht, für Solidarität mit Palästina einzutreten, eingeschränkt und ausgehebelt wird. Auch wenns schwerfällt: Gut, dass die Brüsseler Versammlung stattfinden durfte. Die Rednerliste besagt: Unappetitlich und peinlich sagten sich guten Tag – Hans-Georg Maaßen, Kardinal Gerhard Ludwig Müller, Gloria von Thurn und Taxis usw. Was ist ein Auftritt dieser bräunlichen Würstchen gegen die Lieferung eines TAURUS nach Kiew oder die Stationierung von 5.000 deutschen Soldaten an der russischen Grenze? Jedenfalls kein Staatsumbau.

    #Allemagne #Europe #démocratie #guerre

  • Siedlerterror: Hass in den Augen
    https://www.jungewelt.de/artikel/473332.siedlerterror-hass-in-den-augen.html

    15.4.2024 von Anne Herbst, Ramallah - Siedlermobs morden und brandschatzen im Norden des Westjordanlands

    Dichte Rauchschwaden stiegen am Freitag nachmittag bei pogromartigen Ausschreitungen gegen palästinensische Dörfer auf. Bis an die Zähne bewaffnete Siedlerhorden fielen in Al-Mughayyir, Al-Mazra‘a ash-Sharqiya, Khirbet Abu Falah, Turmus Ayya und weitere Orte, darunter auch Flüchtlingslager wie Al-Jalazoon, im Regierungsbezirk Ramallah, und Al-Bireh ein. Sie eröffneten das Feuer und warfen Steine auf die Bewohner, zündeten Häuser und Autos an. Angriffe gab es auch in der Umgebung von Nablus. »Kinder, Alte und andere Bewohner flohen aus Angst vor dem Terror und übernachteten in der Kälte in den Bergen«, berichtet ein palästinensischer Aktivist, der seit Jahren zivilgesellschaftlichen Widerstand gegen die Besatzung organisiert, aus Tubas gegenüber jW.

    Sogar auf israelische Journalisten wurde Jagd gemacht. »Sie brachen mir die Finger und verbrannten meine Ausrüstung«, so Shaul Golan, ein Fotograf, der unter anderem für die Tageszeitung Jedi’ot Acharonot arbeitet, über Siedlerattacken in Duma. Die Angreifer warfen den 70jährigen Mann zu Boden, traten ihn gegen den Kopf und in den Magen. »Sie hatten Hass in ihren Augen«, sagt Golan. Als er israelische Soldaten um Hilfe rief, musste er feststellen, dass diese zu dem 20- bis 30-köpfigen Lynchmob gehörten. Kein Einzelfall. Dass die Siedler bei ihren Aktionen nicht mehr nur Rückendeckung von den Besatzungsstreitkräften bekommen, sondern mit diesen gemeinsam – häufig in IDF-Uniformen – agieren, wird seit Monaten verstärkt aus allen Teilen des Westjordanlands vermeldet.

    Einige Bewohner von Orten, die von Siedlertrupps, später auch von regulären israelischen Einheiten umzingelt oder gestürmt wurden, verbreiteten via Smartphonevideos verzweifelte Aufrufe zum militanten Widerstand. In der Nacht zum Sonntag rissen Palästinenser ein von der Besatzerarmee nach dem 7. Oktober errichtetes Eisentor nieder. Sie stießen über die Straße von Al-Bireh in Nachbarorte vor, um diese gegen die Siedler zu verteidigen.

    Bisher hat das Gesundheitsministerium der Palästinensischen Nationalbehörde zwei Tote registriert. Die Zahl der Verwundeten ist unbekannt, dürfte aber bei mehreren Hundert liegen – viele sollen Schussverletzungen erlitten haben. Die rechten Gewaltexzesse könnten sich in der gesamten Westbank wie ein Lauffeuer ausbreiten – die Siedler haben zum Sturm auf die Al-Aksa-Moschee in Jerusalem aufgerufen. »Die Angriffe sind geplant und organisiert, ihr eigentliches Ziel ist ethnische Säuberung«, meint Mustafa Barghouti, Generalsekretär der Palästinensischen Nationalen Initiative, der als Nachfolger vom Mahmud Abbas gehandelt wurde.

    Zwar gibt es mit dem Tod eines 14jährigen israelischen Hirtenjungen aus der zionistischen Siedleraußenposten Malachi Hashalom in der Nähe von Ramallah, der mutmaßlich von Palästinensern ermordet wurde (der israelische Geheimdienst Schin Bet ermittelt noch), einen Anlass für die Eskalation, doch seit die ultrarechte Netanjahu-Regierung mit Beteiligung von fanatischen Kahanisten an der Macht ist, findet eine Entgrenzung der Siedlergewalt statt.

    In Turmus Ayya gebe es wöchentlich Zwischenfälle, erklärte Lafe Shalapy, Bürgermeister des Dorfes im Interview mit jW. So hatte am 21. Juni 2023 ein Mob – den Anhängern der berüchtigten »Hügeljugend« zugerechneten – von 300 bis 400 Rechtsradikalen aus der benachbarten Siedlung Schilo 30 Häuser niedergebrannt, 60 Fahrzeuge abgefackelt, einen Mann erschossen und weitere 15 Bewohner verletzt. Er habe die zuständige israelische Polizei und Armee aufgefordert, die Gewalt zu stoppen. Aber statt die Zivilisten zu beschützen, hätten die Soldaten die Zufahrtswege blockiert und die Ambulanz und Feuerwehr an der Durchfahrt gehindert, so Shalapy. »Sie wollen uns das ganze Land wegnehmen, um darauf ihre Häuser zu bauen und Schilo auszuweiten.«

    Am Sonntag nachmittag waren noch einige Dörfer von der Armee eingeschlossen. Die Siedlerbanden haben sich aber weitgehend zurückgezogen. »Das ist nur vorübergehend wegen des Drohnen- und Raketenangriffs aus dem Iran«, so die Einschätzung von Nasser Sharayaa, Generaldirektor des Exekutivbüros des Volkskomitees für Flüchtlinge gegenüber jW. »Die Lage ist nach wie vor schlimm.«

    #Israël #Jordanie #Palestine #terrorisme #colons

  • Ruanda - Der Opfer gedacht
    https://www.jungewelt.de/artikel/472840.ruanda-der-opfer-gedacht.html

    Il y a 30 ans au Rwanda commence le massacre des Tutsis.

    8.4.2024 - Der ruandische Präsident Paul Kagame (Foto) hat am Sonntag bei der zentralen Gedenkfeier 30 Jahre nach dem Völkermord aufgerufen, Lehren aus der Tragödie seines Landes zu ziehen. Am 7. April hatten Hutu-Milizen nach einer monatelangen, von der Regierung gesteuerten Hasskampagne gegen die ethnische Minderheit der Tutsi mit dem Morden begonnen. Innerhalb von nur 100 Tagen wurden mindestens 800.000 Menschen getötet. Kagame, der seit knapp 24 Jahren an der Macht ist, regiert das rohstoffreiche ostafrikanische Land autoritär und pflegt beste Beziehungen zum Westen.

    #Rwanda #génocide

  • Cop Culture - Vorsicht vorm Reiter!
    https://www.jungewelt.de/artikel/467804.cop-culture-vorsicht-vorm-reiter.html


    Reiterstaffeln gehören in Deutschland seit 200 Jahren zum öffentlichen Erscheinungsbild der Polizei. Wer schon einmal bei einem Fußballspiel oder bei einer Demonstration war, weiß, wie gefährlich die auf dem Bild so nett und freundlich daherkommenden Damen und Herren hoch zu Ross sind (Hannoveraner Reiterstaffel)

    Cop Culture ist Gewalt. Taxikultur ist? Der Fachmann staunt, der Laie wundert sich, denn bislang gibt es Taxikultur nur als disparates Versatzstück. In diesem Artikel wird Cop Culture am Beispiel der Tierquälerei begangen an Dienstpferden vorgestellt.

    23.01.2024 von Michael Kohler - Tierquälerei gehört in der Ausbildung von Polizeipferden zum Alltag. Über ein besonderes Mittel staatlicher Repression und die dahinter stehende Kultur der Gewalt.

    In Mannheim stehen zwei Polizisten der lokalen Reiterstaffel »wegen Verdachts des Verstoßes gegen das Tierschutzgesetz« vor Gericht. Am Donnerstag, dem 7. Dezember 2023, hatte die Hauptverhandlung mit der Verlesung der Anklage begonnen, musste aber wegen Erkrankung einer Sachverständigen vertagt werden. Die Anklage bezieht sich nicht nur auf ein einzelnes Ereignis, sondern auf insgesamt fünf Taten zwischen Winter 2019 und Ende 2021.

    Während des »Einsatztrainings« der Pferde sollen die Beamten die Taten unabhängig voneinander an zwei Dienstpferden namens Camillo und Corleone begangen haben. In der Anklage ist die Rede von einer »gefühllosen und fremdes Leiden missachtenden Gesinnung«. Der Staatsanwalt nennt zunächst mindestens fünf gegen ein Dienstpferd »mit großer Kraft und Reichweite ausgeführte Schläge«, die bei dem Pferd »erhebliche Schmerzen« verursachten. Weiterhin kam es zu Schlägen mit der flachen Hand gegen den Hals, wobei dem Pferd »aus Rohheit erhebliche Schmerzen« zugefügt wurden. Einem Pferd wurde ein sogenannter Klappersack umgehängt, was ein »erhebliches Leiden« verursachte. Das Tier geriet in Panik und rannte »aus Angst ununterbrochen und bis zur Erschöpfung«. Schließlich wurde ein Futtertrog mehrere Tage lang mit Pfefferpaste eingerieben, um dem Pferd eine »Verhaltensauffälligkeit« abzugewöhnen. Das Pferd hatte an dem Trog geknabbert. Das letzte den Beamten vorgeworfenen Delikt sind mit großer Kraft ausgeführte Schläge mit der Reitgerte. Dadurch wurde das Pferd ebenfalls panisch, stellte sich auf die Hinterbeine und versuchte, durch eine Öffnung zu fliehen. Es konnte erst nach mehreren Tagen beruhigt werden.

    Wer die Anzeige stellte, ist nicht bekannt, es verlautete lediglich, dass es eine Beschwerde gab. Aber die Umstände lassen vermuten, dass diese Beschwerde aus den Reihen der Polizei selbst kam, dass irgendwann eine Kollegin oder ein Kollege die tierquälerischen Handlungen nicht mehr mit ansehen wollte oder konnte.

    Kein Disziplinarverfahren

    Zur Verhandlung kam es, weil beide Beamte Einspruch gegen erlassene Strafbefehle eingelegt hatten, über deren Rechtsfolgen keine Auskunft erteilt wurde. Bislang hat sich vor Gericht keiner zur Sache geäußert. Beide sind nach Mitteilung des Polizeipräsidiums noch bei der Mannheimer Reiterstaffel beschäftigt. Es wurde kein Disziplinarverfahren gegen sie eingeleitet. Das Polizeipräsidium teilte hierzu mit, das solle erst »nach Abschluss des strafrechtlichen Ermittlungsverfahrens abschließend geprüft« werden. Eine aus zwei Gründen suspekte Entscheidung: Erstens ist ja mit dem Erlass eines Strafbefehls die strafrechtliche Ermittlung zunächst abgeschlossen (auch wenn sie in der Verhandlung wieder aufgenommen werden kann). Und zweitens sind die beiden Pferde so weiterhin der Gefahr von Misshandlungen ausgesetzt.

    Die den Beamten vorgeworfenen Taten verstoßen gegen Paragraph 17 des Tierschutzgesetzes: »Mit Freiheitsstrafe bis zu drei Jahren oder mit Geldstrafe wird bestraft, wer ein Wirbeltier ohne vernünftigen Grund tötet oder einem Wirbeltier aus Rohheit erhebliche Schmerzen oder Leiden oder länger anhaltende oder sich wiederholende erhebliche Schmerzen oder Leiden zufügt.«

    Aus der im vergangenen Jahr abgeschlossenen Studie »Körperverletzung im Amt durch Polizeibeamt*innen«¹ ergibt sich, dass nicht einmal jeder tausendste Fall illegaler Polizeigewalt eine Verurteilung vor Gericht nach sich zieht. Diese Schätzung bezieht sich auf Zahlen aus dem Jahr 2021, in dem es bei 2.790 einschlägigen Verfahren in lediglich 27 Fällen zu einer Verurteilung kam. Nur etwa 14 Prozent der Fälle werden aber überhaupt angezeigt, und nur bei zwei Prozent der angezeigten Fälle wird Anklage erhoben. Es gibt keinen Grund, anzunehmen, dass die Verhältnisse anders liegen, wenn Polizeigewalt sich statt gegen Menschen gegen Tiere richtet.

    Im Westflügel des Mannheimer Schlosses, in dem die Verhandlung stattfand, ist auch die juristische Fakultät der Universität Mannheim untergebracht. Dort macht seit vielen Jahren Jens Bülte auf die »faktische Straflosigkeit institutionalisierter Agrarkriminalität« aufmerksam. Das Stichwort »Agrarkriminalität« vermag mancherlei Assoziationen zu wecken, Bülte aber geht es vor allem um Verstöße gegen das Tierschutzgesetz. Er stellt fest: »Eine ernsthafte Bekämpfung gravierender, systematischer, institutionalisierter und strafbarer Verletzungen des Tierschutzrechts, der organisierten Agrarkriminalität, findet noch nicht statt. (…) Wer eine Tierquälerei begeht, wird bestraft, wer sie tausendfach begeht, bleibt straflos und kann sogar mit staatlicher Subventionierung rechnen.«²

    Wenn also sowohl polizeiliche Gesetzesverstöße als auch Tierquälerei in aller Regel ohne rechtliche Folgen bleiben, wäre es erstaunlich, wenn die beiden Mannheimer Polizisten verurteilt würden. Aber selbst wenn das der Fall wäre, würden die zugrundeliegenden Problembereiche weiterhin bestehen:

    – Die Ausbildung, das Einsatztraining und der Einsatz von Polizeipferden sind mit dem Tierwohl völlig unvereinbar.

    – Reiterstaffeln sind historisch und kulturell Ausdruck eines reaktionären und repressiven, obrigkeitsstaatlichen Polizeiverständnisses. Sie führen zudem im Ernstfall eher zur Eskalation als zur Vermeidung von Gewalt.

    – Die »Cop Culture«, die Alltagskultur »handarbeitender« Polizisten, ist geprägt von einem kriegerischen, auf Dominanz und Durchsetzung ausgerichteten Selbstbild. Das begünstigt Gewaltaffinität und die Tendenz, dass legales und legitimes Verhalten nicht als deckungsgleich betrachtet werden und stellt somit eine weitere Gefahr für das Wohl sogenannter Dienstpferde (und -hunde) dar.

    – Auch falls künftig mehr auf das Wohlergehen von Polizeipferden geachtet werden sollte, würde die »Agrarkriminalität«, die millionenfache extreme Tierquälerei in der Massentierhaltung weiterhin bestehenbleiben.
    Grundlage der Ausbildung

    Pferde sind Fluchttiere. Es ist ihnen angeboren, entspricht ihrem Wesen und ihrer Art, bereits bei schwachen Reizen die Flucht zu ergreifen, sei es ein ungewohntes Rascheln, eine schwer einzuordnende Bewegung oder ein unbekanntes Geräusch. Derlei Reize führen bei einem Pferd unmittelbar zu einer enormen Stressreaktion mit Adrenalinausschüttung, die in kürzester Zeit den gesamten Bewegungsapparat, das Herz-Kreislauf- und das Atmungssystem auf Höchstleistung einstellt und das Tier dazu befähigt, die Fluchtreaktion auszuführen. Die Stressreaktion muss so massiv und abrupt erfolgen, weil in der Natur ein einziges »Versagen« den Tod bedeuten kann.

    Die Ausbildung dieser sehr sensiblen Tiere hat nur ein Ziel: Sie sollen ihre natürlichen, ihrer Art entsprechenden Fluchtreflexe unterdrücken und sich statt dessen dem Willen des 80 Kilo schweren Primaten unterordnen, der sich – was ebenfalls ihrer Natur und ihrer Art widerspricht – auf ihren Rücken gesetzt hat. Das »Training« führt nur dann zum Ziel, wenn das Tier einerseits lernt, Vertrauen zu einem Menschen zu entwickeln, und wenn andererseits die Intensität der angstauslösenden Reize, denen das Tier ausgeliefert wird, systematisch gesteigert wird. Zu diesem Zweck imitieren Polizisten das Verhalten von Fußballfans bzw. Demonstranten, sie schwenken Fahnen, brüllen, schlagen, trommeln, legen Feuer und setzen sogar Pyrotechnik ein. Die Polizisten geben selbst zu: »Die Böller sind für die Tiere am schlimmsten.«³ Sobald das Pferd seinem natürlichen Verhalten folgend zurückweicht, wird Zwang eingesetzt in Form von Schlägen mit der Gerte oder der flachen Hand. In offiziellen Darstellungen wird seitens der Polizei stets behauptet, die Ausbildung erfolge konsequent gewaltlos, gegenüber den Medien aber haben die Polizisten weniger Hemmungen und berichten offen, dass sie die Tiere schlagen, damit sie gehorchen. Dass die Pferde systematisch Lärm, Feuer, Böllern und anderen angstauslösenden und potentiell traumatisierenden Reizen ausgesetzt werden, wird offensichtlich weder von der Polizei noch von den Medien überhaupt als Gewalt angesehen. Physiologische Messungen zeigen: Auch wenn die Tiere äußerlich ruhig sind, ist ihre Angst ungemindert und der Spiegel der Stresshormone und die Herzschlagfrequenz sind entsprechend hoch. Auch körpersprachlich kommt das zum Ausdruck, etwa in angelegten Ohren, geweiteten Augen oder hochgezogenen Lefzen. Der Polizei ist dies nicht unbekannt. So sagte Hans-Peter Sämann, Leiter der Stuttgarter Reiterstaffel zur Stuttgarter Zeitung: »Innerlich sind die Pferde schweißgebadet, aber sie dürfen sich das niemals anmerken lassen.«⁴

    Ich glaub, mich tritt ein ...

    In den deutschsprachigen Ländern sind Reiterstaffeln Auslaufmodelle, deren Wert sich darauf zu beschränken scheint, als obrigkeitsstaatliches Prestigesymbol zu fungieren. Außerdem sind Reiterstaffeln teuer: Anschaffung, Unterbringung, Futter, ärztliche Betreuung und Transporte kosten viel Geld, vor allem aber schlagen Personalkosten zu Buche. Bevor sie einsetzbar sind, müssen die sogenannten Remonten ein bis zwei Jahre lang täglich »trainiert« werden und auch bei älteren Pferden findet jede Woche ein »Einsatztraining« statt, bei dem nicht nur die Reiterinnen – inzwischen sind es überwiegend Frauen – beschäftigt sind, sondern auch Gruppen von Beamten, die als »Demonstranten« oder »Fußballfans« Krawalle vorspielen.

    In Österreich gab es nach dem Zweiten Weltkrieg nur noch in Graz berittene Polizei, die jedoch schon 1950 aufgelöst wurde. Am 15. Juli 1927 starben beim Brand des Wiener Justizpalastes infolge des Einsatzes berittener Polizei mindestens 84 Arbeiter: Im Januar desselben Jahres waren bei einer Protestveranstaltung des sozialdemokratischen Schutzbundes gegen eine Veranstaltung rechtsextremer Frontkämpfer ein Kriegsinvalide und ein sechsjähriges Kind von Frontkämpfern erschossen worden. Die drei Schützen wurden umgehend verhaftet, am 14. Juli jedoch freigesprochen, was am nächsten Tag in Wien eine große, zunächst friedliche Demonstration auslöste, die aber von mit Gewehren bewaffneter berittener Polizei angegriffen wurde. Bei der dadurch ausgelösten Eskalation wurde der Justizpalast in Brand gesetzt.

    Im Jahr 2018 wollte der rechtsextreme FPÖ-Innenminister Herbert Kickl wieder eine Polizeipferdeeinheit gründen, was jedoch auf heftige und hartnäckige Proteste vor allem von Tierrechtsgruppen stieß. Als Generalsekretär der FPÖ geriet Kickl in den Strudel der Ibiza-Affäre um den FPÖ-Vizekanzler Heinz-Christian Strache und wurde als Minister entlassen. Damit endete auch das Prestigeobjekt Reiterstaffel, in dessen Vorbereitung bereits 2,5 Millionen Euro geflossen waren.

    In Deutschland gibt es neben einer Reiterstaffel der Bundespolizei mit 25 Pferden nur noch in sieben Bundesländern berittene Polizei: in Baden-Württemberg, Bayern, Hessen, Hamburg, Niedersachsen, Nordrhein-Westfalen und in Sachsen. In Bayern werden seit dem ersten Söder-Aiwanger-Kabinett 2018 gemäß dem Koalitionsvertrag die Reiterstaffeln ausgebaut, von damals 35 auf derzeit 68 »Dienstpferde«. Geplant sind 100.

    Wo die Pferde nicht nur zum Repräsentieren eingesetzt werden, kann es schnell sehr gefährlich für Mensch und Tier werden. Bei Protesten gegen den Castor-Transport im November 2011 im Wendland wurde mindestens ein Dutzend Demonstranten von Pferden überritten. Wie durch ein Wunder gab es keine Toten. Extrem gefährlich ist es, wenn mit Pferden durch eine Menschenmenge hindurchgeritten wird. Hierzu liegen Dutzende Berichte von schweren Verletzungen vor.

    »Cop Culture«

    Rafael Behr schob fünfzehn Jahre lang in Frankfurt Dienst als Polizist, bevor er damit begann, Soziologie zu studieren. Heute ist er Professor für Kriminologie und Soziologie an der Akademie der Polizei in Hamburg und einer der prominentesten deutschen Kriminologen und Polizeiwissenschaftler. Besonders bekannt wurde er durch den von ihm aus dem US-amerikanischen entnommenen Begriff der »Cop Culture«, den er auf seine Übertragbarkeit auf die deutsche Polizei überprüfte und weiterentwickelte. Er beruft sich dabei auch auf den von der feministischen Pädagogin, Psychologin und Rechtsextremismusforscherin Birgit Rommelspacher entwickelten Begriff der Dominanzkultur. Behr konstatiert eine »Renaissance aggressiver Maskulinität in der Polizei«,⁵ wobei er zwischen Polizeikultur und Polizistenkultur unterscheidet. Beide Kulturkonzepte beinhalten bestimmte, jeweils unterschiedlich gewichtete Tugenden wie Disziplin, Teamgeist, Toleranz, Loyalität usw. Sie implizieren auch unterschiedliche Vorstellungen darüber, wann und in welchem Ausmaß Gewalt angewendet werden darf oder muss.

    Polizeikultur ist ein Bündel von handlungsleitenden, aber eher abstrakten Wertvorstellungen, das in der Ausbildung gelehrt und für die intensiv betriebene PR und andere Formen der Außendarstellung verwendet wird. Sie orientiert sich strikt an der Legalität. Nach der Polizeischule begegnet der junge Polizist oder die junge Polizistin jedoch in der Regel der Aufforderung: »Jetzt vergiss mal alles, was du in der Ausbildung gelernt hast!« Nach dem Erlernen der offiziellen und eher abstrakten Polizeikultur beginnt die Ausbildung in der eher informellen und konkreten Polizistenkultur, die Rafael Behr auch »Cop Culture« nennt. Sie legitimiert sich aus einem sogenannten Alltagswissen oder Erfahrungswissen, das das sogenannte Bücherwissen der Ausbildung als weltfremd und wenig praxistauglich abwertet. In der »Cop Culture« gelten bestimmte Praktiken als legitim, die nicht mehr ganz legal oder sogar völlig illegal sind. Fast immer sind es Männer, die hier auch illegales Verhalten für angebracht halten. Bei polizeilichen Gewaltexzessen und Machtmissbräuchen geht es immer auch um Männlichkeitsnormen. In der »Cop Culture« geben diese vor, dass es in alltäglichen Einsatzsituationen um Sieg oder Niederlage geht, das ›polizeiliche Gegenüber‹ wird zum Gegner, dem unbedingt mit Dominanz und Überlegenheit begegnet werden muss, eventuell auch mit Hilfe von Demütigungen.

    Diese Polizistenkultur wird intensiv und kontinuierlich sowohl durch das Kollegium als auch durch Vorgesetzte an die jungen Polizistinnen und Polizisten herangetragen. Es ist so gut wie unmöglich, sich diesem Einfluss zu entziehen oder gar entgegenzustellen. Klassische sozialpsychologische Studien können uns ein Verständnis dafür vermitteln, wie weitgehend unter diesen Bedingungen sowohl das Verhalten als auch die Einstellungen bestimmt werden.

    Die Versuchsanordnung des sehr bekannt gewordenen Milgram-Experiments von 1961 beispielsweise bestand darin, dass ein »Lehrer« nach Anweisungen eines »Versuchsleiters« einem »Schüler« bei einem Fehler in schwierigen Rechenaufgaben Stromschläge versetzen sollte, deren Intensität nach jedem weiteren Fehler um 15 Volt gesteigert wurde. Die Stromschläge erfolgten nicht real, sowohl der »Versuchsleiter« als auch der »Schüler« waren Schauspieler, der die vermeintlichen Stromschläge verabreichende »Lehrer« war, ohne es zu wissen, die eigentliche Versuchsperson. Getestet werden sollte der Gehorsam gegenüber den Anweisungen einer Autorität, hier des »Versuchsleiters«. In dem Versuch wie auch in Dutzenden Wiederholungen und Variationen folgten erschreckende 95 Prozent der »Lehrer« den Anweisungen und dem Drängen des »Versuchsleiters« und steigerten die vermeintliche Stromstärke bis auf 450 Volt; obwohl die »Schüler« darum bettelten, abzubrechen, stärkste Schmerzen äußerten wie extreme Qualen zeigten und, schon bevor die 450 Volt erreicht wurden, überhaupt keine Lebenszeichen mehr von sich gaben.

    Mehr Härte

    Viele andere Versuche, wie etwa die von Solomon Asch zum Konformitätsdruck von 1951 oder das berühmt-berüchtigte Stanford-Gefängnis-Experiment von Philipp Zimbardo von 1971 und weitere Studien, die bis in die 1930er Jahre zurückgehen, liefern unabweisliche wissenschaftliche Belege dafür, dass und in welchem Ausmaß obrigkeitliche Macht dazu neigt, sich zu verfestigen, zu verselbstständigen und zu brutalisieren. Sie belegen eindringlich, wie unabdingbar es ist, staatliche Gewalt zu kontrollieren und einzugrenzen und potentielle Opfer zu schützen.

    »Cop Culture« breitet sich jedoch aus und verfestigt sich in Deutschland durch die seit einigen Jahren bestehende Tendenz, von der Polizei eine größere Härte zu verlangen. Schon 2018 veröffentlichte Spiegel online ein internes Strategiepapier der nordrhein-westfälischen Polizei, in dem u. a. ein »robusteres Auftreten« der Polizei gefordert wurde. In den 1980er und 1990er Jahren war die Devise gewesen: »Kommunikation, solange irgendwie möglich!« Sie wird nach und nach ersetzt durch die Devise: »Einschreiten, so konsequent wie möglich!« Wenn nötig eben auch mit Hilfe von Pferden.

    Anmerkungen

    1 https://kviapol.uni-frankfurt.de

    2 https://www.jura.uni-mannheim.de/media/Lehrstuehle/jura/Buelte/Dokumente/Veroeffentlichungen/Buelte__Zur_faktischen_Straflosigkeit_institutionalisierter_Agrark

    3 https://www.stuttgarter-zeitung.de/inhalt.training-der-reiterstaffel-in-stuttgart-boeller-sind-fuer

    4 Ebd.

    5 Rafael Behr: »Die Polizei muss … an Robustheit deutlich zulegen«. Zur Renaissance aggressiver Maskulinität in der Polizei. In: Daniel Loick (Hg.): Kritik der Polizei, Frankfurt/New York 2018, S. 165–178

    Michael Kohler schrieb an dieser Stelle zuletzt am 5. Januar 2024 über Polizisten, die zur Waffe greifen.

  • NATO 75 Jahre - Langzeitkrieg gegen Russland
    https://www.jungewelt.de/artikel/472615.nato-75-jahre-langzeitkrieg-gegen-russland.html

    L’OTAN c’est l’organisation responsable pour une guerre perpétuelle d’abord anticommuniste puis simplement impérialiste, d’abord froide puis chaude à partir de 1999. Nos dirigeants se félicitent de cette tradition, nous depuis 75 ans on paie pour leur armes.

    4.4.2024 von Arnold Schölzel - Vor 75 Jahren wurde das westliche Kriegsbündnis gegründet. Dessen Außenminister beraten über Zusatzhilfen für Kiew im Krieg gegen Russland

    Ihr 75. Gründungsjubiläum an diesem 4. April begeht die North Atlantic Treaty Organization (NATO) ähnlich wie 1949. Die damals zwölf Mitgliedstaaten – darunter das faschistische Portugal, Frankreich einschließlich der Kolonie Algerien und Großbritannien mitsamt der Kolonie Malta – ordneten sich dem US-Konzept des »Roll Back« unter. Die Ergebnisse des Zweiten Weltkriegs in Europa sollten rückgängig gemacht werden – auch mit Atomwaffen. Europa war zu jener Zeit und ist auch heute laut US-Doktrin als atomares Schlachtfeld vorgesehen – nun in einer möglichen Auseinandersetzung mit Russland. Der diente auch die Gründung der BRD wenige Wochen später im Mai 1949.

    Denn die NATO blieb nach Auflösung der Warschauer Vertragsorganisation und der Sowjetunion 1991 erhalten. Die USA, die sich nun als einzige Weltmacht sahen, bezogen spätestens 1999 beim völkerrechtswidrigen Krieg gegen die Bundesrepublik Jugoslawien, mit dem erstmals seit 1945 Grenzen in Europa mit Gewalt neu gezogen wurden, die sogenannten Verbündeten direkt in ihre endlosen Feldzüge ein. Seit jenem Jahr ist die NATO ein Kriegsführungspakt und rüstet entsprechend auf. Ihre heute 32 Mitgliedstaaten gaben 2023 für Militär rund 1,3 Billionen US-Dollar aus, die USA davon rund 880 Milliarden Dollar (Russland etwa 85 Milliarden, VR China rund 230 Milliarden, Welt laut SIPRI insgesamt 2,24 Billionen). Die USA unterhalten zudem bis zu 1.000 Militärbasen auf dem Globus, und die NATO erhebt Anspruch auf militärische Einmischung im Indischen und im Pazifischen Ozean.

    Im Zeichen solcher Aggression und Expansion versammelten sich am Mittwoch die NATO-Außenminister in Brüssel. An diesem Donnerstag kommen ihre Kollegen aus Neuseeland, Australien, Japan und Südkorea sowie der Ukraine hinzu. Im Mittelpunkt steht die Verlängerung des Stellvertreterkrieges gegen Russland auf unabsehbare Zeit. NATO-Generalsekretär Jens Stoltenberg bezeichnete vor Beginn des Treffens die militärische Lage für die Ukraine als »ernst« und schlug einen Fünf-Jahres-Fonds vor, dessen Umfang laut Medienberichten 100 Milliarden Euro betragen soll: »Wir müssen der Ukraine langfristig verlässliche und vorhersehbare Sicherheitshilfe gewähren, so dass wir uns weniger auf freiwillige Beiträge und mehr auf NATO-Verpflichtungen verlassen.« Polen und Kanada äußerten bereits Unterstützung, Bundesaußenministerin Annalena Baerbock (Bündnis 90/Die Grünen) erklärte, wichtig sei, »die Prozesse zwischen EU und NATO« nicht zu verdoppeln. Laut Stoltenberg wird die Ukraine auf jeden Fall NATO-Mitglied, es gehe nicht mehr um das »Ob«, sondern nur noch um das »Wann«.

    #OTAN #Russie #impérialisme #guerre

  • Broschüre »Mythos#Israel 1948« : »Das Papier ist reine Propaganda« 
    https://www.jungewelt.de/artikel/472419.brosch%C3%BCre-mythos-israel-1948-das-papier-ist-reine-propaganda.h


    Vertrieben : Frauen und Kinder aus dem arabischen Fischerdorf Tantura (1948)

    Le déni obsessionnel règne - à Berlin l’assemblée citoyenne (Bezirksverirdnetenversammlung) de l’arrondissement de Neukölln essaie d’imposer un pamphlet qui défend la thèse du pays sans peuple pour un peuple sans pays à l’enseignement scolaire. Comme par hasard Neukölln est la résidence de la plus grande communauté palestinienne d’Allemagne. On va emcore s’amuser avec ces amis de l’état sioniste.

    2.4.2024 von Jamal Iqrith - Berlin-Neukölln empfiehlt geschichtsverfälschende Broschüre zu palästinensischer Nakba für Schulen. Ein Gespräch mit Ahmed Abed

    Die Bezirksverordnetenversammlung, kurz BVV, von Berlin-Neukölln hatte am 21. Februar beschlossen, die Broschüre »Mythos#Israel 1948« an Schulen einsetzen zu lassen. Bei einer BVV-Sitzung vor zwei Wochen war sie erneut Thema. Worum ging es zuletzt?

    Wir haben als Linksfraktion nachgefragt, ob diese Broschüre tatsächlich vom Bezirksamt beworben wird. Zweitens wollten wir wissen, ob das Amt der Meinung ist, dass die Benennung des israelischen Landraubs »antisemitisch« sei, wie in der Broschüre behauptet wird. Die Antwort war, dass man das in der Tat so sehe. Daraufhin habe ich nachgefragt, ob noch auf andere Weise die rechte Landraubpolitik durch das Bezirksamt unterstützt wird und ob sich die Bezirksstadträtin Karin Korte an das Völkerrecht gebunden fühlt.

    Wie lautete die Antwort?

    Auf die Frage nach der Unterstützung des Landraubs durch die Berliner Behörde sagte sie »nein«, aber sie sei »auch nicht die Außenministerin«. Ob sie sich an das Völkerrecht gebunden fühlt, wollte sie nicht beantworten. Vielleicht hatte sie Angst.

    Ihre Fraktion fordert, die Verbreitung und Nutzung der Broschüre zu verhindern. Warum?

    Die Broschüre »Mythos#Israel 1948« liest sich so, als ob sie von den rechtesten israelischen Politikern geschrieben worden sei. Die Nakba, also die Katastrophe der Palästinenser im Zuge der israelischen Staatsgründung mit der Vertreibung von Hunderttausenden und Entrechtung, die bis heute andauert, wird geleugnet. Die Gewalt, die während der Nakba gegen Palästinenser ausgeübt wurde, wird verharmlost. Organisationen wie die terroristische »Hagana«, die zahlreiche Massaker beging und später in die israelische Armee eingegliedert wurde, werden als ganz normale Organisation dargestellt. Das ist ein reines Propagandapapier!

    Wer hat die Texte verfasst?

    Der Text kommt von Masiyot e. V., einem »gemeinnützigen« Verein. Die Leute dort kommen aus einem politischen Spektrum, wo Palästinenser nur als Störfaktoren behandelt werden. Die Berliner Landeszentrale für politische Bildung hat das Projekt gefördert, auf Nachfrage aber zugegeben, dass sie den Inhalt gar nicht geprüft habe. Trotzdem wird es für die Bildungsarbeit empfohlen …

    Was ist an dieser Broschüre so empfehlenswert?

    Die Diskussion in Schulen soll dahingehend beeinflusst werden, dass die völkerrechtswidrige Besiedlung palästinensischen Landes normalisiert wird. Die CDU hatte den Antrag gestellt, diese Broschüre sowohl bei diversen Jugendeinrichtungen zu benutzen, als auch in den Schulen. Der Jugendhilfeausschuss hat diese Broschüre abgelehnt, weil sie so unausgewogen ist.

    Was die BVV nicht davon abgehalten hatte, ihre Empfehlung auszusprechen.

    In der BVV haben die SPD und die CDU dafür gestimmt, sie trotzdem für Schulen zu empfehlen. Der Bürgermeister ist sowieso ganz stark dafür. Die Linke war dagegen.

    Ist es Usus, dass die BVV festlegt, welche Materialien an Schulen verwendet werden?

    Nein, so etwas hat es noch nie gegeben. Ich bin jetzt seit 2016 Bezirksverordneter. In diesen acht Jahren, gab keinen einzigen Versuch, derart Einfluss auf die Bildung in den Schulen zu nehmen. Allein bei dem Thema Palästina–Israel ist das der Fall. Das werte ich als Unterstützung der völkerrechtswidrigen israelischen Besatzung und der aktuellen ethnischen Säuberungen. Zudem steht der Text konträr zum Völkerrecht.

    Wie geht es in der Sache jetzt weiter?

    Ob die Schulen die Broschüre wirklich verwenden, ist noch unklar. Wir werden dagegen protestieren und versuchen, in den Schulen aufzuklären. Auch die Neuköllner Schüler und Eltern sind sehr aufgebracht und sauer, dass solche geschichtsverfälschenden Behauptungen in den Schulen verbreitet werden sollen. Viele Lehrer und Schüler sind auf uns zugekommen, als sie von dem Vorgang erfahren haben, und haben sich darüber beschwert, dass solch ein Unsinn offiziell verbreitet werden soll. Besonders vor dem Hintergrund des aktuellen Krieges gegen die Zivilbevölkerung im Gazastreifen ist es eine Schande, wie sich das Bezirksamt von Berlin-Neukölln verhält.

    Ahmed Abed ist Rechtsanwalt und für die Linkspartei in der Bezirksverordnetenversammlung von Berlin-Neukölln

    #Allemagne #Berlin #Neukölln #Palestine #philosemitisme #nakba

  • NATO-Angriff 1999 : Der Türöffnerkrieg
    https://www.jungewelt.de/artikel/471936.nato-angriff-1999-der-t%C3%BCr%C3%B6ffnerkrieg.html

    Aujourd’hui notre actuelle guerre fête ses 25 ans. Après une insupportable période de paix entre 1945 et 1999 l’Europe capitaliste put enfin renouer avec sa plus chère tradition : L’expansion à travers des interventions militaires. De 1813 à 1914 le royaume de Prusse oeuvra pour la création d’une grande Allemagne. Le projet échoua avec la perte des colonies entre 1914 et 1918. Le projet 33/45 fut un échec encore pire à cause de l’ascension de l’URSS au statut de super-pouvoir nucléaire. L’Allemagne dite libre fut réduite à un tier seulement de sa surface en 1918.

    Il y a 25 ans enfin on en finit avec cette situation humiliante. A nous les marchés de la République fédérale de Yougoslavie, ce reste de la Yougoslavie indépendante !

    Europa über alles ! Le capital ne connaît pas de patrie mais des espaces économiques. Qu’on les défende contre les slaves incultes et le péril jaune.

    Joyeux anniversaire !

    24.3.2024 von Arnold Schölzel - Der Krieg, den die NATO vor 25 Jahren gegen die Bundesrepublik Jugoslawien entfesselte, vollendete acht Jahre nach dem Ende der Sowjetunion die Niederlage des Sozialismus in Europa und die der Bewegung Blockfreier Staaten, die 1961 in Belgrad gegründet worden war. Die Zügelung des imperialistischen Faustrechts durch das Völkerrecht, insbesondere durch die UN-Charta, war vorläufig beseitigt. Die NATO erteilte sich selbst das Mandat zum Überfall, das heißt zum Staatsterror.

    Die durch den DDR-Anschluss vergrößerte Bundesrepublik machte mit. Darauf geht das Gedicht des Liedermachers und Schriftstellers Franz Josef Degenhardt (1931–2011) ein, das jW am Tag nach dem Überfall auf der Titelseite veröffentlichte. Erst 15 Jahre später räumte der damalige SPD-Kanzler Gerhard Schröder ein: »Da haben wir unsere Flugzeuge (…) nach Serbien geschickt, und die haben zusammen mit der NATO einen souveränen Staat gebombt – ohne dass es einen Sicherheitsratsbeschluss gegeben hätte.« Sein Nachfolger Olaf Scholz und dessen Außenministerin Annalena Baerbock sehen das völlig anders und können keinen Bruch des Völkerrechts erkennen.

    Das aber war die Zäsur, die von der NATO gesetzt wurde. Sie ist seitdem ein Kriegführungspakt. Die völkerrechtswidrigen Feldzüge gegen Afghanistan, Irak und Libyen, aber auch das illegale Eingreifen in Syrien, wo bis heute US-Truppen stationiert sind, die Völkerrechtsbrüche des NATO-Mitglieds Türkei in Syrien und im Irak sowie schließlich der insbesondere von den USA und der BRD gedeckte Genozid Israels in Gaza sind nur einige Stationen. Der Krieg von 1999 öffnete auch die Tür, durch die Russland 2022 beim Einmarsch in die Ukraine ging.

    Der Export von Menschenrechten und Demokratie, der zur Rechtfertigung der Abenteuer des Westens angeführt wird, setzt die Verneinung des Rechts auf Leben voraus. Hinzu kommt: Die Dämonisierung eines Staatsoberhaupts durch westliche Politiker und Medien ist seitdem ernst, nämlich tödlich gemeint. Slobodan Milošević wurde im niederländischen Gefängnis zu Tode gebracht, der Iraker Saddam Hussein und der Libyer Muammar Al-Ghaddafi wurden unter NATO-Aufsicht von einheimischen Kopfabschneiderbanden bestialisch ermordet. In westlichen Kriegsmedien waren die drei jeweils »Wiedergänger Hitlers«, »Schlächter« und »Faschisten«. Nur von den ukrainischen Anhängern des Faschisten Bandera, die im Auftrag der USA und auf Rechnung der EU 2014 in Kiew den frei gewählten Präsidenten der Ukraine stürzten, erfuhr westliches Publikum so gut wie nichts.

    Am 17. Februar 2008 erkannte die Mehrheit der NATO-Mitglieder die einseitige Unabhängigkeitserklärung des Kosovo an. Damit war das unmittelbare Ziel des Krieges von 1999 erreicht: die erste gewaltsame Grenzverschiebung in Europa seit 1945. Das Kosovo ist in Wirklichkeit ein NATO-Protektorat, in dem noch immer 4.800 NATO-Soldaten aus 28 Ländern stationiert sind. Im April soll das deutsche Kontingent wieder einmal aufgestockt werden.

    Jugoslawien wurde 1999 in 78 Bombentagen niedergerungen. In der Ukraine begannen die Putschisten 2014 ihre »antiterroristische Operation« gegen den Donbass-Aufstand. Der schnelle Durchmarsch scheiterte aber – es war die wahrscheinlich größte Niederlage des Imperialismus seit 1999. Die Zeiten ändern sich erneut.

    #Allemagne #OTAN #impérialisme #wtf

  • Pädagogik : Perfekt normal
    https://www.jungewelt.de/artikel/471659.p%C3%A4dagogik-perfekt-normal.html

    A propos de l’eugénisme dans la pédagogie arrièrrée de Maria Montessori. La pédagogue était proche de Mussolini qui regardait sa méthode comme élément de la création de l’homme fasciste idéal. Ce qu’on nous vend comme méthode Montessori aujourd’hui n’a rien à envier à l’obscurantisme anthroposophe.

    19.3.2024 von Christoph Horst - Eine Studie über Maria Montessori zeigt, wie stark deren Pädagogik von eugenischem und rassistischem Denken geprägt ist

    Maria Montessori wollte »die größtmögliche biologische Perfektion der Rasse« erreichen. Montessori-Kindergarten in Neapel (1930)

    Während von der Waldorfpädagogik als größter Alternative zum öffentlichen Erziehungssystem inzwischen weithin bekannt ist, dass ihre vermeintliche Orientierung am Kind nicht mehr als ein werbendes Schlagwort ist, genießt die Montessori-Pädagogik als ebenfalls breit etablierte pädagogische Alternative einen noch weitgehend guten Ruf. Beide eint, dass Kinder sich in ihrer Erziehungsideologie einem Plan unterordnen sollen und diese Unterordnung dann als Freiheit ausgegeben wird – bei Waldorf-Begründer Rudolf Steiner unter kosmisch-okkulte Gesetze, bei Maria Montessori unter die biologisch determinierte Macht des Normalen. Zu Montessori jedoch sind die kritischen Auseinandersetzungen nicht so zahlreich wie zur Waldorf-Pädagogik, so dass eine nun erschienene Monographie der Salzburger Erziehungswissenschaftlerin Sabine Seichter sehr hilfreich ist, dem Thema breitere Aufmerksamkeit zu widmen.

    Die Kritik an Montessori, die Seichter zusammenfasst, war bisher nicht unbekannt. Vor allem die vor bereits über 20 Jahren erschienenen Dissertationen der Pädagoginnen Christine Hofer und Hélène Leenders – letztere hat sich ausführlich mit Montessoris Paktieren mit dem italienischen Faschismus befasst – haben kritische Töne in die Diskussion um die Montessori-Pädagogik eingeführt. Die dadurch ausgelösten Debatten fanden allerdings lediglich in einem überschaubaren akademischen Zirkel statt. Einzelne kritische Veröffentlichungen in dezidiert säkularen Medien wurden ebenfalls wenig wahrgenommen. Bei Fachfremden und sogar in den pädagogischen Berufsausbildungen dominieren noch immer Erzählungen von Montessori als verständnisvoller und liebevoller Helferin der Kinder. Daher ist es verdienstvoll, dass Seichter nun mit einem Titel, der das Potential hat, ein größeres Publikum anzusprechen, ausbreitet, was man auch bei Montessori in den Originaltexten lesen kann.

    Angriffsflächen bietet Maria Montessoris Pädagogik zuhauf, denn das konkrete, individuelle Kind mit seinem jeweiligen Fühlen und Erleben ist ihr vollkommen egal. Wichtig ist für sie nur das abstrakte Kind, das Kind an sich als Träger eines kosmischen, über die Gene determinierenden Plans für die »Rasse«, der sich ungestört in ihm entwickeln soll. Wie in der Reformpädagogik üblich, wird das Kind als Träger einer neuen Zukunft überhöht, bei Montessori sogar zum »Messias« einer neuen Zeit vergöttlicht. Was sie mit ihren Bemühungen gesellschaftspolitisch erreichen wollte, waren »normale« Kinder. Dabei soll der Status der Normalität zugleich einen Optimierungs- und Perfektionierungsprozess durchlaufen.
    Bereitwillig gehorchen

    Der Normalitätsbegriff, der in Montessoris Pädagogik eine so wichtige Rolle spielt, schließt gleichzeitig das Un- oder Anormale kategorisch aus. Hofer formuliert, dass die zugrundeliegenden anthropologischen Vorstellungen »vom einzelnen Individuum abstrahieren und die biologische Norm eines einheitlichen Mittelmaßes anstreben«. Normalität entstehe, so Montessori, »wenn sich die tiefere Natur entwickeln kann und einen Typ hervorbringt, der fast einheitlich und gleichförmig in seinen Charakterzügen ist«. Montessori empfand vor diesem Hintergrund ein Übermaß an Phantasie und Kreativität – auf die sich viele vielleicht sogar gutmeinende Pädagogen in Montessori-Einrichtungen, die sich trotz vorgeschriebener weltanschaulicher Schulung nicht die Mühe einer vertieften Montessori-Lektüre gemacht haben, berufen – sogar als störend: »Wie stolz sind die Eltern und Erzieher auf ein Kind, das eine besonders starke Einbildungskraft besitzt. Sie sehen nicht, dass dies ein Symptom einer ungeordneten Intelligenz ist.« Das höchste Ziel der Normalisation sei das Aufgehen des Kindes in der normalen Welt durch inneres Wollen, durch »freudige(n) Gehorsam«, den Montessori mit der Unterwürfigkeit eines Hundes vergleicht:

    »Der Hund ist begierig darauf, Befehle zu erhalten, und läuft mit vor Freude wedelndem Schwanz, um zu gehorchen. Die dritte Stufe des Gehorsams des Kindes ähnelt diesem Verhalten. Gewiss aber gehorcht es immer mit überraschender Bereitwilligkeit.«

    Dieser Gehorsam wird in Montessori-Einrichtungen hergestellt, einerseits durch die vermeintlich exakt wissenschaftlich hergeleitete Herstellung der nahezu klinischen Umgebungsbedingungen sowie das berühmte Material, das durch seine Beschaffenheit und seine fordernde Omnipräsenz disziplinierend wirken soll, und andererseits durch die Autorität eines sich zwar zurücknehmenden, aber dennoch total herrschenden Lehrers, den das Kind als Führungsfigur zu akzeptieren hat. Dass Kinder spielen, ist dabei nicht vorgesehen. Montessori meinte anlässlich eines Besuchs in einem Kindergarten, dass kindliches Spiel zwar nett anzusehen wäre, aber keinen Nutzen habe. Zweckfreies Tun war ihr suspekt, jeder Moment der kindlichen Entwicklung soll dem pädagogischen Telos geopfert werden. Dem Lehrer fällt dabei die Rolle des dokumentierenden Lenkers zu. Er agiert wie der Versuchsleiter eines Laborexperiments.

    Die Allmacht des Lehrers und die Vereinzelung der Kinder waren auch die Kritikpunkte des Pädagogen John Dewey an Montessori. Er kritisierte die Unmöglichkeit des Montessori-Kindes, in Gemeinschaft lernen zu können und erkannte die Hilflosigkeit des Schülers im System Montessori. Kinder sollen sich nach Montessori nicht nur dem Bestehenden einfach unterordnen, sondern dieses aus tiefster Überzeugung bejahen. Der Begründer der antiautoritären Pädagogik Alexander Sutherland Neill, ein Zeitgenosse Montessoris, formulierte daher treffend, dass Montessori »das Kind dem Apparat anpassen« wolle.

    Am Punkt der Normalitätserwartung setzt auch Seichters Kritik an. Mit dem Instrumentarium Michel Foucaults – hier ausnahmsweise nicht weiter störend – zeigt sie, wie bei Montessori die Zurichtung bzw. sogar Züchtung »normaler« Kinder die Exklusion »anormaler« zwingend voraussetzt. Die stringente Beweisführung blamiert damit auch die pädagogische Praxis, wenn heutige Montessori-Einrichtungen sich besonders inklusiv geben. Wenn sie es sind, dann nicht wegen, sondern trotz der Ideen Maria Montessoris, die die weiße, italienische »Rasse« auf dem Umweg über das Kind zur höchsten Reinheit entwickeln wollte und forderte, dass schon über die Sexualhygiene (selbstverständlich in Verantwortung der Frau!) und strenge, politisch formulierte Fortpflanzungsrichtlinien »moralische und physische Monster« vermieden werden. Dazu maß Montessori, die sich immer wieder positiv auf den Begründer der Eugenik Francis Galton sowie auf den Physiognomiker Cesare Lombroso bezog, in ihrem Hauptwerk »Pädagogische Anthropologie« auch Schädel- und Gesichtsformen und teilte diese in höher- und niederwertige »Rassen« und Klassifikationen ein. Diese eugenischen und biologistischen Denkweisen sind das Fundament der Montessorischen Erziehung.
    Gottes Plan im Kind

    Ihr Konzept kommt dabei trotz eines vermeintlichen Szientismus nicht ohne Mystik aus – was sie auch für die katholische Kirche interessant machte, die allerdings einige Zeit brauchte, um Montessoris Pädagogik ihren Segen als christliche Vorzeigelehre zu geben. Eine angemessene kritische Darstellung der Herkunft Montessoris aus dem Katholizismus und ihrer Beziehungen zur katholischen Kirche steht noch aus. Aber aus ihrer Ergebenheit gegenüber katholischer Kirche und Lehre hat Montessori nie einen Hehl gemacht. Im Gegenteil schrieb sie religions­pädagogische Bücher, in denen sie Anweisungen gab, wie man Kinder an den richtigen Umgang mit Hostien, Heiligen, dem Abendmahl etc. heranführen soll. In »Kinder, die in der Kirche leben« erklärt sie auch ihre Überhöhung des Kindes christlich: »Wenn wir Christus und den Vater im Kind sehen, so wird unsere Ehrfurcht gegenüber den Kleinen tief und heilig sein.« Die Allianz zwischen Montessori-Bewegung und katholischer Kirche hält bis heute an. Im Oktober 2021 schickte Papst Franziskus eine Grußbotschaft an einen Montessori-Kongress und rief die Gläubigen dazu auf, sich an der Person Montessori zu orientieren.

    Montessori war der Überzeugung, dass die Entwicklung einer genetisch und »rassisch« bedingten Natur der Vollzug eines von Gott gegebenen kosmischen Plans im Kind sei – in ihren eigenen Worten: »Wenn man die Gesetze der Entwicklung des Kindes entdeckt, so entdeckt man den Geist und die Weisheit Gottes, der im Kind wirkt.«

    An diesem Punkt kommt die von heutigen Montessori-Pädagogen gelobte Freiheit ins Spiel. Das Kind sei frei, diesen im Moment der Zeugung eingepflanzten kosmischen Plan ohne eingreifende Störung durch den Erwachsenen entwickeln zu dürfen – aber nur, wenn das Kind sich in das Montessori-Schema füge: »Dem Kind seinen Willen lassen, das seinen Willen nicht entwickelt hat, heißt den Sinn der Freiheit verraten.« »Vom Kinde aus« könne also nur zugestanden werden, wenn der mächtige Lehrer es für richtig halte, dessen Hauptaufgabe in Montessoris Musterschule »Casa dei Bambini« (das ursprünglich passender »Labor für das Studium der kindlichen Entwicklung« heißen sollte) jedoch zum einen die Herstellung disziplinierter Ruhe war und zum anderen die positivistische Messung von Kinderkörpern und ihren Leistungen zur Auffindung und Aussonderung von Anormalität

    Im quantifizierenden Vermessen der Kinder ist Montessoris Herkunft aus der Naturwissenschaft, zeitgemäß geprägt von sozial missgedeuteter Evolutionstheorie, ablesbar. Nicht umsonst stellt Seichter ihrem Buch ein Zitat Montessoris voraus, in dem diese die Bezeichnung »Pädagogin« zurückweist. Auch der Montessori-Kenner und langjährige Präsident der Deutschen Montessori-Gesellschaft Winfried Böhm stellt sie in seiner populären »Geschichte der Pädagogik« als Evolutionsbiologin und Anthropologin vor und widmet ihr im übrigen nur wenige Zeilen. Montessori sah sich primär als naturwissenschaftlich an (!) den Kindern arbeitende Ärztin mit dem Auftrag, an der Schaffung einer körperlich und moralisch höherwertigen »Rasse« mitzuwirken bzw. in ihren Worten, damit »die größtmögliche biologische Perfektion der Rasse erreicht« werden könne.

    Prominent in ihrem Hauptwerk plaziert erklärt Montessori den ästhetisierten Körper des Menschen zum »rassischen« Ideal: »Die triumphierende Rasse, d. h. diejenige, die nicht zugelassen hat, dass das Territorium ihres Reiches oder der Fortschritt ihrer Kultur begrenzt werden, besteht aus weißen Menschen, deren Staturtyp mesatiskel ist, d. h. eine Harmonie der Formen bei allen Teilen des Körpers aufweist.« Die harmoniefördernde, vermeintlich sanfte Lenkung des Lehrers als starke Aufforderung zur Selbstlenkung entstehe überwiegend durch die Herstellung der Umgebung, »die den natürlichen seelischen Offenbarungen günstig ist«.

    Während ein Kind in einem öffentlichen Kindergarten vielfältige Gestaltungsmöglichkeiten hat, ist ein Kind an einer Montessori-Einrichtung frei, sich Montessori-Spielzeug auszusuchen. William H. Kilpatrick, der amerikanische Pädagoge des Pragmatismus, benannte schon 1914 in höflichen Worten, dass es sich dabei um langweilige Dinge handle: »Der so enge und begrenzte Rahmen der didaktischen Materialien kann das normale Kind nicht lange befriedigen. (…) Die Phantasie, ob sie sich im konstruktiven Spiel betätigt oder mehr ästhe­tischer Art ist, wird nur wenig eingesetzt.« Dieses innerhalb der Montessori-Szene völlig überschätzte Arbeitsmittel, das in Bezug auf moderne kindliche Experimentier- und Erfahrungsangebote eher konventionell wirkt, ist so hergestellt, dass die Kinder in klar abgegrenzten Entwicklungsphasen ihnen jeweils entsprechendes Material angeboten bekommen. Und dies streng innerhalb der Altersgrenzen. Kinder, die sich für Spielzeug außerhalb der vorgesehenen, »normalen« Phasen interessierten, waren Montessori suspekt wie jedes andere Verhalten, das auf Individualität hinwies. Ihr aus der Botanik abgeschriebenes Phasenmodell ist starr und alles andere als individuell. Die zugrundeliegenden entwicklungspädagogischen Ideen entstammen dem 19. Jahrhundert und wurden bis heute von ihren Anhängern nicht aktualisiert.

    Von Mussolini gefördert

    Ohnehin hat sich die Montessori-Bewegung mit Verweis auf die Gründungsfigur kaum weiterentwickelt und aus der akademischen Pädagogik nahezu verabschiedet. Heutige Werbung für Montessori-Einrichtungen verweist eher auf anekdotisches Erfahrungswissen als auf die tatsächlich zugrundeliegende Ideologie. Doch nicht nur heutige Montessori-Pädagogen tun sich schwer mit einem Blick auf die Wissenschaft. Schon Montessori selbst hatte zu ihr ein ambivalentes Verhältnis und bemühte lieber »geheimnisvolle und verborgene Quellen«, wenn sie einen »göttlich eingepflanzten Lebensdrang« behauptete: »Wir versuchen nicht, diese geheimnisvollen Kräfte zu ergründen, sondern wir achten sie als Geheimnis im Kind, das nur ihm alleine gehört.«

    Diesen religiös-irrationalen Aspekt Montessoris, der durchaus in einem gewissen Widerspruch zu anderen Teilen ihres Werks steht, stellt Seichter ein wenig zurück, um sie deutlicher als positivistische Menschenbildnerin zeigen zu können. Mit ihrem Bildungsverständnis, nach dem jedes Kind auf seinen vorgegebenen Platz in der Gesellschaft vorbereitet werde, konnte Montessori gut bei den italienischen Faschisten andocken. Benito Mussolini, selbst gelernter Grundschullehrer, wurde schon 1926 Ehrenpräsident der italienischen Montessori-Vereinigung und verstand sich immer als ihr Förderer. Ab 1927 propagierte das italienische Erziehungsministerium die Montessori-Methode als genuin faschistisch. Die pädagogische Historiographie steht auf dem Standpunkt, dass Montessori sich an die Faschisten anbiederte, diese aber ein eher instrumentelles Verhältnis zu ihr hatten und sich ihrer daher entledigten, als sie nicht mehr benötigt wurde, weil faschistische Pädagogen eine eigene idealistische Methode ausgearbeitet hätten. Mussolini war an Montessori nicht nur als Vertreterin einer »reinen« Erziehungslehre interessiert, sondern wollte sie auch als Koryphäe italienischer Geistesgröße präsentieren und nutzen. Montessori und auch ihr Sohn und späterer Mitarbeiter und Vermächtnisverwalter Mario, den sie zugunsten ihrer Karriere nicht selbst erzogen hat, waren Machtmenschen mit einem starken Willen zur weltweiten Durchsetzung ihrer Methode. Montessori diente sich den Faschisten sogar soweit an, dass sie neue Auflagen ihrer frühen Werke in ein faschistisches Vokabular umschrieb. Noch 1945 lobte sie Mussolini und sogar Adolf Hitler für deren pädagogischen Programme, weil beide so früh und so total auf das Kind zugriffen.

    Besonders die Eugenik verband Montessori und die Faschisten. Die Bemühung um die Reinheit und Höherentwicklung der exklusiven (Volks-)Gemeinschaft und die Ideologie vom Recht auf Weiterentwicklung nur für das Schöne und Starke sind die zentralen Schnittstellen montessorischen und faschistischen Denkens. Montessoris Behauptung, dass die kriminelle Laufbahn eines Kindes vom kosmischen Plan im Moment der Zeugung vorherbestimmt sei, liest sich wie eine Begründung für die Zwangssterilisationen im Nazifaschismus. Bei den italienischen Faschisten lief sie offene Türen ein mit der Forderung, dass »die Kriminellen, die Schwachsinnigen, die Epileptiker, dieser ganze menschliche Ballast, gar nicht erst entstehen« sollten.

    Seichter weist in ihrem Text ausführlich darauf hin, dass Montessori mit ihren eugenischen Ansichten in der Pädagogik nicht alleine steht. Unter anderem zeigt sie, wie Montessori von der schwedischen Schriftstellerin Ellen Key (1849–1926) beeinflusst wurde, die ebenfalls bis heute als den Kindern besonders zugewandt angesehen wird. Ihr viel rezipiertes Werk »Das Jahrhundert des Kindes« von 1900 holte die romantische Verklärung der Kindheit in die Pädagogik. Letztlich zielte aber auch Key nur am konkreten Kind vorbei auf eine »biologisch reine ›Rasse‹« über das vermeintliche Heilmittel der Erziehung. Seichter betrachtet dazu noch sehr genau Montessoris in die Gegenwart geworfenen »Schatten«, also die heutigen medizinischen Möglichkeiten pränatalen Modifizierens, aber auch neoliberale Methoden der lebenslangen Selbstvermessung und -optimierung.
    Zutiefst reaktionär

    Um einem berühmten Denkfehler zuvorzukommen: Die Kritik Montessoris oder auch eingangs Steiners bedeutet selbstverständlich nicht automatisch, dass andere pädagogische Entwürfe im simplen Umkehrschluss besser wären – auch heutige Montessori-Einrichtungen verweisen auf Probleme öffentlicher Bildung, als wären diese fern jeder Logik ein Argument für ihre Alternative. Es zeigt sich aber bei Montessori besonders gut die grundlegende Tendenz erzieherischen Denkens, das Kind einem pädagogischen Telos unterzuordnen. Und wenn diese Gerichtetheit auf eine zutiefst reaktionäre Ideologie verweist, besteht dringender Aufklärungsbedarf. Dies um so mehr, da, wenn Montessori in der Öffentlichkeit behandelt wird, kaum je über ihre eugenisch-»rassischen« Ideale gesprochen wird. Mario Montessori hatte durch unermüdliche Arbeit einen großen Anteil daran, dass seine Mutter fast ausschließlich wahrgenommen wird, wie er sie sah: »Wenn ich zurückblicke, erscheint es mir fast unglaublich, wieviel sie geleistet hat (…) als geniale Pädagogin.« Aber zur Wahrheit über die Begründerin so vieler bunt angemalter Kindergärten und Schulen gehört, wie gezeigt, eben auch, dass sie den Kern ihres Denkens prägnant auf eine Formel gebracht hat, die die Stigmatisierung von Andersartigkeit mythologisch begründet:

    »(…) die realen Menschen entwickeln sich zu unterschiedlichen Typen, die mehr oder weniger entfernt von den Idealen sind, so dass sie nicht die von der Natur bestimmten Rassetypen sind, sondern Typen von Deviation und Entwicklungsstillstand oder von anormalem Wachstum, und sie sind durch unsere gesellschaftlichen Fehler dazu geworden. Somit ist das zentrale Objekt der pädagogischen Anthropologie die normale Vollendung der Schöpfung.«

    Je mehr der Name Maria Montessori – von frühen Anhängern unterwürfig »Dottoressa« genannt – von den heutigen Einrichtungen nur noch als inhaltslose Werbeformel genutzt wird, desto besser für die dort betreuten Kinder.

    Sabine Seichter: Der lange Schatten Maria Montessoris. Der Traum vom perfekten Kind. Beltz-Verlag: Weinheim/Basel 2024, 195 S., 29 Euro

    Hélène Leenders: Der Fall Montessori. Die Geschichte einer reformpädagogischen Erziehungskonzeption im italienischen Faschismus. Klinkhardt-Verlag: Bad Heilbrunn 2001, 316 S., nur noch antiquarisch erhältlich.

    Die Schriften Maria Montessoris sind auf deutsch im katholischen Herder-Verlag erschienen und in jeder Hochschulbibliothek mit pädagogischen Studiengängen vorrätig.

    Christoph Horst ist Sozialarbeiter und Fachjournalist.

    #pédagogie #fascisme

  • Monatsmonitor Medienwirtschaft : Weniger, dafür teurere Bücher
    https://www.jungewelt.de/artikel/470458.monatsmonitor-medienwirtschaft-weniger-daf%C3%BCr-teurere-b%C3%BCch

    Crise du livre en Allemagne - les éditions vendent moins de livres et les prix augmentent.

    1.3.2024 von Gert Hautsch - Die Zahl der Personen, die Bücher kaufen, ist schon seit geraumer Zeit rückläufig

    »Trüber Jahresauftakt« schrieb der Börsenverein des Deutschen Buchhandels zu den aktuellen Geschäftszahlen der Branche. Der Grund: Im Januar 2024 sind 4,7 Prozent weniger Bücher verkauft worden als im Vorjahresmonat. Nur wegen der deutlich gestiegen Preise ergibt sich beim Umsatz ein nicht ganz so dunkles Bild. Die Summe der Verkaufserlöse lag um 1,2 Prozent unter dem Wert von vor zwölf Monaten. Das sorgt für Frust in der Branche, denn für das Gesamtjahr 2023 war immerhin noch ein Umsatzzuwachs um 2,9 Prozent gemessen worden, allerdings auch schon bei einem um 1,9 Prozent gesunkenen Absatz. Die stationären Buchhandlungen liegen mit ihren Zahlen noch darunter, wie der Börsenverein mitteilte.

    Zwei Entwicklungen sorgen in der Branche für Beunruhigung. Erstens: Die Zahl der Personen, die Bücher kaufen, ist schon seit geraumer Zeit rückläufig. So haben 2022 rund 25,8 Millionen Menschen mindestens ein Buch gekauft, im Jahr davor waren es 27,2 Millionen, 2013 gab es noch 36 Millionen Käufer. Wer Bücher kauft, gibt zwar im Durchschnitt mehr Geld dafür aus, das ändert aber nichts am Trend. Der war vom Börsenverein erstmals 2019 in einer Studie untersucht worden. Als Hauptgrund für das sinkende Interesse an Literatur war ein verändertes Medienangebot ermittelt worden. Leseerlebnisse verschwinden aus dem öffentlichen Diskurs, im persönlichen Gespräch werden sie durch Streamingserien oder Youtube-Videos verdrängt, die intensive Nutzung von Smartphones und Social Media sorgt für Ablenkung. Damit sieht sich die Buchbranche mit den gleichen negativen Tendenzen konfrontiert wie andere klassische Mediengattungen (Zeitungen, Magazine, Fernsehen), deren Nutzerzahl schrumpft.

    Zweitens: Nicht nur die Gesamtmenge der abgesetzten literarischen Werke verkleinert sich, sie konzentriert sich auch auf vergleichsweise weniger Titel. Nach Aussagen des Börsenvereins war 2021 der Buchabsatz insgesamt um drei Prozent gesunken, der der zehn meistverkauften Titel jedoch um 23,6 Prozent gestiegen. Bei belletristischen Werken waren es sogar fast 40 Prozent. Dabei spielten die pandemiebedingten Ladenschließungen (bis Mai 2021) eine Rolle, durch die Spontankäufe verhindert wurden, aber das war nicht der einzige Grund. Die Kundschaft orientiert sich stärker denn je an den Bestsellerlisten, weniger bekannte Werke und solche mit Nischenthemen haben das Nachsehen. Darunter leidet die Vielfalt des Angebots und letztlich der Reiz des Mediums Buch.

    Dabei sollte die Branche eigentlich stolz sein, denn sie konnte zwei ernsthafte Krisen besser als befürchtet bewältigen. Während der Pandemie waren die Buchhandlungen monatelang geschlossen. Das Publikum musste sich an den Zustand ohne Buchläden gewöhnen, der Onlinehandel hat die Lücke nicht schließen können. Trotzdem haben 2023 die Branchenumsätze um 1,6 Prozent über dem Niveau von 2019 gelegen – allerdings bei einem um 8,4 Prozent geringeren Absatz. Der Sortimentsbuchhandel hat 4,7 Prozent weniger umgesetzt als im Vorpandemiejahr, das befürchtete Ladensterben blieb aus.

    Die zweite Herausforderung war die Digitalisierung des Gewerbes. Nach dem Start von Amazons »Kindle« Ende 2009 war befürchtet worden, dass das elektronische Buch (E-Buch) das gedruckte Pendant verdrängen könnte. Der Anteil an Literatur als Datei am gesamten Buchumsatz stieg zwischen 2010 und 2018 von 0,5 auf fünf Prozent. Seither vergrößert er sich nur noch langsam und hat 2022 sechs Prozent erreicht. Von einem Trend weg vom gedruckten und hin zum digitalen Buch kann also keine Rede sein.

    Wie bei Büchern insgesamt schrumpft auch bei den E-Büchern das Lese­publikum. Haben 2020 noch 3,8 Millionen Personen mindestens ein Buch als Datei erworben, so waren es 2022 nur noch drei Millionen. Die Gründe dürften die gleichen sein wie bei gedruckter Literatur: Die Menschen wenden sich verstärkt den leichter konsumierbaren Angeboten auf Smartphones zu.

    Der Börsenverein sieht darin auch Lichtblicke. Social-Media-Plattformen spielen als Inspirationsquelle beim Literaturkonsum eine wachsende Rolle. Junge Leute (16 bis 29 Jahre) sind bei fast jedem fünften Euro, den sie für Bücher ausgegeben haben, Empfehlungen auf Tik Tok, Instagram oder anderen Plattformen gefolgt bzw. wurden dort dazu angeregt. Bei den 16- bis 19jährigen waren es sogar mehr als jeder vierte Euro. Vielleicht wird auf diesem Weg neues Interesse an Literatur geweckt.

  • China : Das eurasische Drehkreuz
    Vorabdruck.Reise in das Uigurische Autonome Gebiet Xinjiang
    https://www.jungewelt.de/artikel/470457.china-das-eurasische-drehkreuz.html

    Comprendre le Xinjiang et son histoire

    1.3.2024 von Moritz Hieronymi, Beijing

    Wir dokumentieren im folgenden eine redaktionell leicht gekürzte Reportage, die in Heft 3/2024 der Mitteilungen der Kommunistischen Plattform der Partei Die Linke erscheinen wird. Wir danken Autor und Redaktion für die freundliche Genehmigung zum Vorabdruck. Das Heft kann über kpf@die-linke.de bestellt werden. (jW)

    Über den dicht verzweigten Straßen der Altstadt Macaus ragen die Ruinen der São-Paulo-Kirche empor. Diese Jesuitenkirche war einst der Prachtschmuck der portugiesischen Kolonisatoren, die im 16. Jahrhundert die Inseln Taipa (in Chinesisch: Dangzai) und Coloane (Luhuan) im Delta des Perlflusses unter ihre Kontrolle brachten. Mit Hilfe der Aufnahme diplomatischer und wirtschaftlicher Beziehungen gelang es Portugal unter König Manuel I. nach Jahrzehnten der Verhandlungen, dem chinesischen Kaiserreich die Gebiete des heutigen Macaus abzuringen. Lissabon hatte dieses Gebiet als einen geeigneten Umschlagplatz für die in Europa begehrten Waren aus Fernost ausgemacht. Um jedem Konflikt mit dem Ming-Kaiser vorzubeugen, wurde das Reich der Mitte angemessen an den Geschäften beteiligt. Mit dem Niedergang Portugals wurden die Zahlungen spärlicher und blieben irgendwann ganz aus – dennoch hielt Lissabon an seinem Pachtland fest.

    Von der einstigen Größe der portugiesischen Krone ist heute neben dem Kolonialviertel und dem barocken Portal der São-Paulo-Kirche wenig übriggeblieben. Das Fatum der Geschichte hat ausgerechnet die Krypta der vormals größten katholischen Kirche in China unbeschadet belassen. Ein brachialer Glasbau führt heute in die Katakomben, wo die Gebeine christlicher Märtyrer, meist chinesischer Provenienz, der Öffentlichkeit zur Schau gestellt werden.

    Zurecht könnte sich der Leser fragen, wieso dieser Beitrag über die zentralasiatische Region Xinjiang an einem der südlichsten Punkte der Volksrepublik China beginnt. Bietet es sich von Macau nicht eher an, Überlegungen über die keine 1.000 Kilometer entfernte Insel Taiwan, die die Portugiesen Formosa – die »Schöne« – tauften, anzustellen? Welche Rolle kommt Xinjiang zu, wenn die Strategen aus Washington und Beijing doch längst die Hohe See als Schlachtfeld einer möglichen Konfrontation ausgemacht haben?

    Als im Jahr 1999 Macau der Volksrepublik China übergeben wurde, endete nicht nur eines der letzten Kolonialregime der Welt, sondern auch die Herrschaft des weißen Mannes über China. Seither verschieben sich die geopolitischen Kräfteverhältnisse mit gravierenden Folgen. Auch der für den BRD-Mainstream über jeden Zweifel erhabene Politologe Herfried Münkler kam kürzlich zu dem Schluss: Diejenigen, »die glaubten, die bisherige Weltordnung sei wiederherstellbar, lägen falsch«.¹ Die US-Hegemonie hat ihr Ende erreicht, während sich eine alternative Ordnung noch nicht herauskristallisiert hat. Die Folgen sind Friktionen in den verbliebenen internationalen Institutionen und Konflikte, denen vermehrt mit militärischen Mitteln begegnet wird.

    Dieses Interim ist von einer Konfrontationsgefahr zwischen Washington und Beijing geprägt, weswegen dem indopazifischen Raum eine herausgehobene Bedeutung beigemessen wird. Dennoch scheint eine direkte Konfrontation der beiden Supermächte aufgrund der unkon­trollierbaren Risiken gegenwärtig unrealistisch. So hatte der einstige US-Generalstabschef Mark A. Milley darauf hingewiesen, dass die Folgen eines amerikanisch-chinesischen Krieges, selbst wenn der unwahrscheinliche Fall des gegenseitigen Verzichts auf den Einsatz nuklearer und biochemischer Waffen eintrete, allein aufgrund der dichtbesiedelten Pazifikregionen in den USA und China katastrophal wären.²

    Stellt man sich in Washington eigentlich die Frage, wie es zur einer solch unkomfortablen Lage gegenüber China kommen konnte? Mehr als 50 Jahre, nachdem US-Präsident Richard Nixon Mao Zedong besucht hatte, ist der letzte Veteran und Architekt der US-Annäherung an die Volksrepublik, Henry Kissinger, gestorben. Nur wenige der Gäste seiner Totenmesse werden daran Anstoß genommen haben, dass dieser Mann die Ermordung Hunderttausender Zivilisten in Lateinamerika und Asien zu verantworten hatte, wohl vielmehr daran, dass seine China-Politik dem Aufstieg des Reichs der Mitte erheblichen Vorschub leistete. Während die Sowjetunion bereits unter der ideologischen und wirtschaftlichen Sklerose der Breschnew-Ära litt, verfolgten damals die USA die alte Weisheit: Der Feind meines Feindes ist mein Freund. Und schon Napoleon hatte gewusst: »China ist ein schlafender Löwe, lasst ihn schlafen! Wenn er aufwacht, wird er die Welt verrücken!« Nunmehr stehen die USA vor der Aufgabe, den von ihnen gekitzelten Löwen zu bezwingen, indem sie einen beispiellosen Wirtschafts- und Medienkrieg führen.

    Währenddessen steht China vor gravierenden Herausforderungen. Erstmalig in ihrer Geschichte muss die Führung des Landes sich zu einer Generation verhalten, bei der die eigene Karriere Vorrang vor der Gründung einer Familie hat. Die Gesamtbevölkerung schrumpft. Zugleich wächst die Zahl der 25 Millionen Muslime innerhalb der Volksrepublik. Die westlichen Nachbarn Chinas erleben derweilen ein nationalistisches Aufbegehren, von dem die Proteste von 2022 in Kasachstan erst der Beginn waren. »Xinjiang wird dir noch Kopfschmerzen bereiten«, warnte einst Stalin seinen chinesischen Konterpart, Mao Zedong.

    In den Fernen Westen
    Das Zugpersonal schaut irritiert, als es den »Wei Guo Ren« – den »Ausländer« – in der Schlange zur Ticketkontrolle für den Zug nach Ürümqi, der Provinzhauptstadt von Xinjiang, erblickt. Im Vorfeld hatten chinesische Freunde wenig begeistert auf meinen Plan reagiert, in das Uigurisch Autonome Gebiet zu reisen. Zu weit weg, Kommunikationsschwierigkeiten, vielleicht nicht ungefährlich. Und was willst du da überhaupt? Dass ich beabsichtigte, den Zug zu nehmen, ließ sie vollends an meinem Verstand zweifeln. Schließlich würde die Zugreise von 2.800 Kilometern Strecke nicht nur mehr als 30 Stunden dauern, sondern weckte auch traumatische Erinnerungen: Im Jahr 2014 war es in der Hauptstadt der Südprovinz von Yunnan, Kunming, zu einem Terroranschlag gekommen. Neun Personen hatten im Zentralbahnhof Fahrgäste mit Macheten angegriffen. Während dieses Massakers starben 31 Menschen, 143 wurden verletzt. Kunming war nur der Kulminationspunkt einer Serie von Anschlägen des uigurisch geprägten Islamismus. Zwischen 1990 und 2016 kam es zu mehreren tausend Terroranschlägen, bei denen das Massaker von Ürümqi mit 197 Toten und mehr als 1.700 Verletzten den traurigen Höhepunkt darstellte.

    Der Passagierzug ist ausgebucht. Die überwiegende Anzahl der Mitreisenden ist schwer bepackt; die braun-gegerbte Haut weist auf einen Arbeiterhintergrund hin. Diese von westlichen Medien so bezeichneten »Wanderarbeiter« sollen entrechtet und teilweise versklavt ihrem Schicksal ausgeliefert sein. Dabei unterschlagen dieselben Medienanstalten, dass sich in den vergangenen neun Jahren die chinesischen Durchschnittsreallöhne verdoppelt haben. Ebenso fehlt jede Berichterstattung über die Abkehr vom quantitativen und die Hinwendung zum qualitativen Wirtschaftswachstum seit dem 19. Parteitag der Kommunistischen Partei Chinas. Die Konsequenzen dieser Beschlüsse werden sichtbar, je weiter der Zug ins Landesinnere fährt. In den Provinzen Shanxi und Shaanxi haben die Kleinstädte ihren Charme aus der Mao-Ära noch nicht verloren. Die beigefarbenen Mietskasernen, die sich in den Mittelgebirgslandschaften drängen, sind in die Jahre gekommen. Unweit dieser kümmerlichen Siedlungskomplexe sind neue Wohnviertel gebaut worden. Entlang der Bahnstrecke ragen 20stöckige Gebäude in die Landschaft. Diese im Entstehen begriffenen Stadtviertel werden plangemäß an das Autobahn- und Bahnnetz angeschlossen. Neue Krankenhäuser, Schulen und Stadien entstehen.

    Zum Spätnachmittag füllt sich der Speisewagen. Entgegen der unzumutbaren Versorgung der Deutschen Bahn wird hier frisch gekocht und ein überraschend schmackhaftes Mahl serviert. Zum Essen gibt es Bier. Die Flachmänner, gefüllt mit »Roter Stern« – eine beliebte Marke des in China weitverbreiteten Hirse-Schnaps (Baijiu) –, gehen herum. Die Stimmung ist ausgelassen. Ein junger Mann aus Tianjin bietet sich mir als Übersetzer an. Er stammt aus einer Han-Familie, die seit der dritten Generation in Xinjiang lebt. Der Großvater wurde nach seiner Demobilisierung am Ende des Koreakrieges in die Westregion versetzt. Dieses Schicksal trägt eine große Anzahl chinesischer Veteranen des Koreakriegs, die zu den Pionieren der uigurischen Provinz werden sollten. Beispielhaft steht hierfür das Großprojekt der über 2.000 Kilometer langen Lanzhou-Schienenlinie durch den Hexi-Korridor³, wodurch Beijing mit der uigurischen Hauptstadt Ürümqi verbunden wurde. Heldenhafte Leistungen bei Temperaturen von bis zu minus 30 Grad Celsius im Winter und über 40 Grad Celsius im Sommer.

    Geostrategisches Experimentierfeld
    In diesen Zeiten hatte es aber auch hinsichtlich der Nationalitätenpolitik weitreichende Veränderungen gegeben. Nach Jahrhunderten rassistischer Diskriminierung der Minderheitenvölker von Xinjiang hatte Mao Zedong die Pekinger Funktionäre zum Ende des Han-Chauvinismus aufgefordert. Die Kaderpolitik der regionalen KP-Organisationen wurde angepasst und die Provinzministerien wurden mit Angehörigen der unterschiedlichen Volksgruppen besetzt. Prominentestes Beispiel ist Saifuding (auf Uigurisch: Seypidin Aziz), uigurischer Separatist und Bildungsminister der kurzlebigen zweiten ostturkestanischen Republik⁴, der in die Reihen der KP aufgenommen und mit ministerialen Funktionen ausgestattet wurde.

    Zum 70. Geburtstag Stalins im Dezember 1949 reiste Mao Zedong mit einer uigurischen Delegation nach Moskau. Der Grund für diese Zusammensetzung der Delegation ist heute fast in Vergessenheit geraten, er sollte vergessen werden.

    Beilage zu Feminismus am Mittwoch, 6. März am Kiosk
    In den 1930er Jahren, während des Höhepunkts des chinesischen Bürgerkriegs, schloss die sowjetische Xinjiang-Handelsgesellschaft (Sovsintorg) mit der lokalen Regierung von Xinjiang einen Kreditvertrag zur Finanzierung von Infrastruktur, zur Erschließung unterschiedlicher Ressourcen und zum Bau von Militäreinrichtungen und Krankenhäusern in Höhe von fünf Millionen Rubel ab. Der Ausbau eines Netzes von Niederlassungen und sowjetischen Handelsvertretungen wurde nötig und führte dazu, dass die Sowjetunion de facto administrative Befugnisse in allen Städten in Xinjiang ausübte.

    In den folgenden Jahren erzeugte die Paral­lelität zwischen sowjetischen und lokalen Strukturen ein Machtvakuum in Ürümqi. Rassistische Übergriffe gegen die Minderheiten und soziale Unruhen führten zum Ausbruch der Hami-Rebellion.⁵ Nachdem sich die Rebellen gegen sowjetische Einrichtungen und Staatsbürger gerichtet hatten, sah sich Moskau veranlasst, militärisch zu intervenieren. Mit Unterstützung der Guomindang, den Feinden der Kommunistischen Partei Chinas, ging die Sowjetunion siegreich aus dem Konflikt hervor und bildete mit den Nationalisten ein informelles Kondominium über Xinjiang. Ab Mitte der 1930er Jahre verloren die Chinesen zusehends an Einfluss über die Region. Die Sowjetunion hatte ihre wirtschaftliche Potenz in Xinjiang genutzt, um direkten Einfluss auf politische Entscheidungen zu nehmen. Beispielhaft steht hierfür die Berufung von Stalins Schwager, A. S. Swanidse, zum Wirtschaftsberater in Ürümqi.

    Ab 1940 verfolgte die UdSSR eine mehrgleisige Strategie: Zum einen unterstützte sie die offizielle nationalistische Lokalregierung unter Sheng Shicai. Zum anderen förderte sie separatistische Bewegungen bei der Errichtung der Zweiten Republik Ostturkestan. Dieses Vabanquespiel führte zu bürgerkriegsähnlichen Zuständen.

    Mit der Niederlage der Guomindang gegen die Kommunisten in den Jahren 1948/49 erhob Mao Zedong Ansprüche auf Xinjiang. Eine KP-Delegation sollte in der selbstproklamierten Republik Ostturkestan über die Wiedereingliederung verhandeln. Dazu kam es nicht. Ein Hinterhalt der Guomindang forderte den Tod aller Delegierten. Unter den Opfern war der kommunistische Diplomat Mao Zemin, der jüngere Bruder des Staatsgründers der Volksrepublik China. Das sowjetische Katz-und-Maus-Spiel sollte erst enden, als Mao Zedong der UdSSR exklusive Abbaurechte für Erdöl, Uran- und Beryllium-Erze in Xinjiang zubilligte. Ein Handel, der äußerst nachteilig für China ausfiel. Es scheint daher nicht verwunderlich, dass die erste und einzige persönliche Zusammenkunft zwischen Mao und Stalin unterkühlt verlief.

    Erst Ende der 1950er Jahre wurden die Verbindungsbüros der Firma Sovsintorg endgültig geschlossen. Zuvor war es zu einem Eklat zwischen Mao und Chruschtschow gekommen, als Letzterer fragte, ob Mao wirklich die Sowjetunion als roten Imperialisten betrachte. Die Antwort, die weder in das eindimensionale Schema mancher Linker noch in das bürgerlicher Historiker passt, lautete: »Da war ein Mann namens Stalin, der nahm uns Port Arthur und verwandelte Xinjiang und die Mandschurei in Halbkolonien (…). Das waren alles seine guten Taten.«⁶ Jahrzehnte später, mit der Öffnung der sowjetischen Archive, sollte sich herausstellen, dass selbst nach der Gründung der Volksrepublik China die Sowjetunion ihre Rauminteressen über Xinjiang nicht aufgegeben hatte. So war bis zu Stalins Tod in Planung, den Bürgern von Xinjiang vereinfacht die sowjetische Staatsbürgerschaft zu erteilen sowie die Ressourcenausbeutung produktiver voranzutreiben.

    Die Geschichte lebt
    Am Morgen des nächsten Tages fährt der Zug in die bezirksfreie Stadt Jiuquan in der Provinz Gansu ein. Die letzte Station vor Xinjiang befindet sich in einer Halbsteppe. Jiuquan hat internationale Berühmtheit erlangt, seit hier ein Kosmodrom errichtet wurde, von dem die Mehrzahl der »Shenzhou«-Raketen für den Bau einer chinesischen Raumstation gestartet wird. Während die Touristenscharen das chinesische Baikonur bestaunen, nutze ich den Kurzstopp, um die Grabstätte des legendären Heerführers Huo Qubing zu besuchen.

    Um 100 v. u. Z., während der westlichen Han-Dynastie, litt das kurzzeitig zweigeteilte chinesische Reich unter wiederholten Überfällen und Brandschatzungen durch die Xiongnu, die mutmaßlichen Vorgänger der Hunnen. Der junge General Huo hatte entgegen allen militärischen Doktrinen mit Hilfe einer Nadelstichtaktik – kurze Vorstöße und Terrorisierung der Zivilbevölkerung – die Barbaren wirksam eindämmen können. Die Grabstätte für den an der Pest verstorbenen General ist mit einem kitschigen Denkmal aus Sandstein versehen, das den Geehrten in der Mitte von Soldaten und Bauern zeigt. Der martialisch aussehende Huo macht zwischen den ergebenen Blicken des Volkes einen anachronistischen Eindruck. Vielleicht drückt sich hierin auch die Sorge über das Kommende aus. Schließlich wurden aus den Barbarenstämmen die Horden, denen die Kriegsherren Dschingis Khan und Tamerlan entstammen. Im Jahr 1271 ließ sich der Mongole Kublai Khan zum chinesischen Kaiser ausrufen. Aufgrund der Verwandtschaft des Kublai Khans mit dem Herrscher des Tschaghatai-Khanats⁷ wurde Xinjiang faktisch aufgegeben. Erst 500 Jahre später konnte der Qing-Kaiser Qianlong erfolgreich die Gebiete zurückerobern.

    Seither gehört die Region ununterbrochen zu China. Die islamisch geprägte Bevölkerung besteht aus Uiguren, Kasachen, Kirgisen, Hui, Mongolen, Xiben, Russen, Tadschiken, Usbeken, Tataren, Manchu und Dachuren. Die Uiguren stellen, anders als behauptet, keine ethnische Einheit dar. Der ethnonymische Begriff »Uigure« ist eine von den Chinesen verwendete Fremdbezeichnung für verschiedene Stämme in Zentralasien. Es galt lange Zeit als strittig, ob es sich bei den Uiguren um eine ethnische oder politische Zugehörigkeit handelte. Diese Zweifel wurden erst 1921 auf dem Ersten Gesamttürkischen Kongress in Taschkent beseitigt. Auf Druck Sowjetrusslands wurde damals unter Bezugnahme auf Stalins Nationalitätenpolitik den Uiguren der Volkscharakter zugebilligt. Dabei erscheint es äußerst fragwürdig, worin sich die Uiguren wegen ihres Taranqi-Dialektes von den anderen Erben der Köktürken unterscheiden sollen.

    Vor dem Himmlischen Gebirge
    Mit der Einfahrt in die autonome Provinz verändert sich die Landschaft schlagartig. Die schon vorher kahle Steppe ist einer Wüste gewichen. Ausschließlich der schmale Korridor zwischen den tibetischen und mongolischen Plateaus macht die Durchfahrt in der ansonsten lebensfeindlichen Umgebung möglich. Die zehnstündige Fahrt durch diese Mondlandschaft und durch endlose Baumwollplantagen endet in der Provinzhauptstadt Ürümqi. Die Gebirgslandschaft des Tian Shan (Himmelsgebirge) erstreckt sich unweit der uigurischen Metropole und schafft ein beeindruckendes Panorama. Dieser Gebirgszug trennt das Reich der Mitte von der einstigen Sowjetunion.

    In der kleinen Provinzhauptstadt, so die Worte des Taxifahrers, leben 1,6 Millionen Menschen. Der erste Eindruck hinterlässt ein positives Bild von einer modernen und sauberen Stadt, die sich hinsichtlich ihrer Quirligkeit kaum von den Provinzstädten des Südens unterscheidet. Mit dem Besuch des Großen Basars ändert sich mein Eindruck: eine Touristenmeile, an deren Ständen überteuerter Nippes dargeboten wird, wobei, zu meiner Überraschung, das händlertypische Feilschen verpönt ist.

    In dieser sino-orientalischen Kulisse sticht ein Militärcheckpoint hervor. Auf einem gepanzerten Fahrzeug stehen zwei Han-Soldaten, ihre Typ-95-Sturmgewehre mit aufgepflanztem Bajonett im Anschlag. Es bedarf keiner großen Vorstellungskraft, wie es einem deutschen Fernsehteam in den Fingern jucken würde, dieses Bild in der Totalen aufzunehmen. Dabei erinnern diese schmächtigen Soldaten eher an die Wachmannschaften vom Platz des Himmlischen Friedens. Im Allgemeinen erscheinen die Sicherheitsvorkehrungen denen in Beijing ähnlich. Beschränkungen oder gar Kontrollschikanen muss ich zu keinem Zeitpunkt zu erdulden. Im Gegenteil. Auf dem Internationalen Flughafen von Ürümqi fällt der laxe Umgang mit den Sicherheitsvorkehrungen auf – obwohl zu diesem Zeitpunkt die 19. Asienspiele in Hangzhou stattfinden.

    Die endlose Steppe
    Nachdem sich das kleine Passierflugzeug über den Tian Shan gemüht hat, erstreckt sich die endlose Steppe der zentralasiatischen Republik Kasachstan unter uns. Ich erinnere mich an ein Gespräch mit einer chinesischen Rechtsanwältin, die auf meine Frage, ob Taiwan im Vergleich zu Xinjiang nicht das kleinere Problem sei, mit Unverständnis antwortete: »Wir hatten immer Probleme in dieser Region, aber wir haben es jedes Mal wieder hinbekommen. Xinjiang gehört zu China.« In der Sowjetunion wird man wohl nicht minder selbstbewusst über die zentralasiatischen Republiken gesprochen haben, deren islamo-nationalistische Wiederbelebung mit großrussischer Überheblichkeit abgetan wurde. Dabei ist Xinjiang aufgrund seiner geographischen Lage, des Ressourcenreichtums und der militärischen Bedeutung eine der Schlüsselregionen im eurasischen Großraum. Mithin von strategischer Wichtigkeit für die Vereinigten Staaten von Amerika.

    Im Jahr 2018 hatte Oberst a. D. Lawrence Wilkerson, ehemaliger US-Stabschef in Afghanistan, eingeräumt, dass einer der drei Hauptgründe der Afghanistan-Besetzung – an Xinjiang angrenzend – in der Eindämmung der Volksrepublik China bestand.⁸ Da diese Strategie jedoch nicht aufgegangen sei, müsse China, so Lawrence, von innen statt außen destabilisiert werden. Dafür könnte die CIA Unruhen unter den Uiguren organisieren, um Druck auf Beijing zu erzeugen. Nach diesem Affront waren die westlichen Medien darauf bedacht, die Aussagen des Obersts als bedauerliche Einzelmeinungen oder gar als Fake News aus Beijing abzutun. Gleichzeitig blieb die Berichterstattung über Vorkommnisse in Xinjiang auffällig tendenziös. Grundsätzlich werden dortige Polizeimaßnahmen als unbegründet dargestellt, wird die Existenz von Konzentrationslagern behauptet⁹, während uigurische Terroristen als solche nicht benannt bzw. in Anführungszeichen gesetzt werden.

    In Anbetracht dieser geopolitischen Lage fragt sich, ob die schwadronierenden »Experten« in Washington, London, Brüssel oder Berlin sich überhaupt im Klaren sind, was sie mit ihrer verantwortungslosen Politik anrichten. Ist ihnen denn nicht bewusst, dass sie die Lunte an ein Pulverfass halten, das die gesamte Welt ins Chaos stürzen könnte?

    Anmerkungen

    1 Deutschlandfunk, 17.1.2024

    2 How to Avoid a Great-Power War, Foreign Affairs Podcast, 2.5.2023, https://t1p.de/Milley

    3 Der »Hexi-Korridor« ist ein schmaler, langgestreckter Landstreifen in Xinjiang, zwischen dem Kunlun-Gebirge im Süden und dem Tian-Shan-Gebirge im Norden. Der Begriff »Hexi« bedeutet »westlich der Pässe« und bezieht sich auf die historische Bedeutung als Durchgangsroute entlang der Seidenstraße. Diese Region spielte eine zentrale Rolle als Handels- und Kulturweg während der Ära der historischen Seidenstraße, aufgrund seiner strategischen Lage als Hauptverbindungsweg zwischen China und dem westlichen Teil des Kontinents.

    4 Die Zweite Ostturkestanische Republik erstreckte sich geographisch über den Nordwesten der Region Xinjiang. Diese unabhängige Republik, die von Uiguren und anderen muslimischen Gruppen beansprucht wurde, existierte von 1944 bis 1949.

    5 Soziale Aufstände in der Region Hami (Kumul) – später die großen Teile von Xinjiang – von 1931 bis 1934 führten zur Unabhängigkeitsbewegung unter Führung verschiedener Sufi-Orden.

    6 Cold War International History Project Bulletin, 12/13, 2001, S. 254, https://t1p.de/CWIHP

    7 Das Tschaghatai-Khanat war ein zentralasiatisches Khanat, das im 13. Jahrhundert gegründet wurde und ein Teil des Mongolischen Reiches war. Es erstreckte sich über Teile Zentralasiens.

    8 What Is The Empire’s Strategy?, Ron Paul Institute, 22.8.2018, https://t1p.de/wilkerson

    9 Vgl. Human Rights Foundation, What’s Happening In China’s Concentration Camps?, 13.4.2023, https://t1p.de/hrf

  • Lügnerische Träume
    https://www.jungewelt.de/artikel/470379.psychoanalyse-l%C3%BCgnerische-tr%C3%A4ume.html

    29.2.2024 von Barbara Eder - Margarethe Csonka war die erste und einzige lesbische Analysandin auf der Couch von Sigmund Freud. Eine »Fallgeschichte« aus Wien

    Markante Gesichtszüge, für die Moden der Zeit ungewöhnlich kurze Haare und ein scharfer Intellekt – das sind die ersten Eindrücke, die Sigmund Freud von Margarethe »Gretl« Csonka im Frühjahr des Jahres 1919 zu Papier bringt. Die 18jährige Frau aus großbürgerlichem Haus befindet sich nicht aus freien Stücken auf der Couch des Wiener Psychoanalytikers. Ihre regelmäßigen Treffen mit einer rund zehn Jahre älteren Frau, die Freud auch als »Dame ›aus der Gesellschaft‹«¹ bezeichnete, hatten ihren Vater Aspad Csonka dazu veranlasst, einen Arzt zu konsultieren. Das Oberhaupt der wohlsituierten Wiener Industriellenfamilie aus Lemberg fürchtet um sein Ansehen: Seine Tochter trifft sich seit mehr als einem halben Jahr mit der preußischen Gräfin Bertha Hermine Leonie von Puttkamer und küsst ihr vor jedem Abschied zärtlich die Hand.

    Sigmund Freud ist zu Beginn der Analyse nur wenig über sein Gegenüber bekannt. Aus der dürftigen Informationslage sollte dennoch eine psychoanalytische Meistererzählung werden, die im Jahr 1920 erstmals veröffentlicht wurde. Sie trägt den Titel »Über die Psychogenese eines Falles von weiblicher Homosexualität« und sieht Exkursionen in ein noch unbekanntes Territorium vor. Freud gesteht sich ein, dass er bislang über keinerlei therapeutische Erfahrung mit homosexuellen Frauen verfüge, der ihm unterbreitete Auftrag erscheint ihm nur bedingt als sinnvoll: »Im allgemeinen ist das Unternehmen, einen vollentwickelten Homosexuellen in einen Heterosexuellen zu verwandeln, nicht viel aussichtsreicher als das umgekehrte, nur dass man dies letztere aus guten praktischen Gründen niemals versucht«², heißt es bereits auf den ersten Seiten der »Psychogenese« – und es klingt wie ein frühes Resümee zu einem unmöglichen Versuch. Trotz erheblicher Zweifel lehnt Freud die ihm zugetragene Aufgabe nicht ab – in den kargen Jahren nach dem Ersten Weltkrieg ist auch er auf die in Aussicht gestellte Entlohnung angewiesen.

    Unheimliche Couch
    Für Margarethe Csonka hat das Therapiezimmer in der Berggasse 19 von Beginn an nichts Heimeliges an sich, ihre »Talking Cure« ist fremdverordnet. Der gesellschaftliche Druck zur heterosexuellen Norm erwies sich als so groß, dass Gretls Eltern selbst auf die Wirkung einer dazumal gering geschätzten Lehre vertrauten. Wo familiäre Autoritäten »die Machtmittel der häuslichen Disziplin«³ vergeblich gegen die eigene Tochter angewandt hatten, soll nun die Analyse Wunder bewirken. Bleibt sie ohne Effekt, droht die Zwangsverheiratung – als letztes Mittel, um die Tochter auf den gesellschaftlich geachteten Weg zurückzubringen.

    Sie selbst ist frisch verliebt und verspürt keinerlei Leidensdruck. Bei einem Sommerurlaub im Hotel Panhans am Semmering hat Margarethe ihre spätere Freundin Leonie von Puttkamer in Begleitung von Klara Waldmann erstmals gesehen. Zurück in Wien machte sie ihre Adresse ausfindig. Gretl wird Leonie fortan jeden Tag von der Kettenbrückengasse bis zum Naschmarkt begleiten, bei einem dieser Spaziergänge trifft das junge Paar unerwartet auf Margarethes Vater – und die Schwierigkeiten beginnen.

    Dass es Margarethe »ein dringendes Bedürfnis sei, von ihrer Homosexualität befreit zu werden«⁴, kann Freud nicht im Geringsten feststellen. In seinen Aufzeichnungen lässt er sie dahingehend immer wieder indirekt zur Sprache kommen: »Sie könne sich im Gegenteil gar keine andere Verliebtheit vorstellen, aber, setzte sie hinzu, der Eltern wegen wolle sie den therapeutischen Versuch ehrlich unterstützen.«⁵ Autoritäten sind schlechte Ratgeber – nicht nur in Gesprächen über psychische Tiefenschichten. Margarethe schweigt und ihr Schweigen hat gute Gründe. Sie wird Freud auch als »alten, stinkenden Mann« bezeichnen, seine Fragen findet sie zudringlich und indiskret zugleich. Denkwürdiger noch als Gretls bisherige Beziehungen zu Frauen, über die sie nur vage Auskünfte zu erteilen bereit ist, erscheint diesem ihre aktuelle. Freud nennt Margarethes Geliebte eine »Kokotte« und unterstellt dieser, »von der Preisgabe ihres Körpers«⁶ zu leben. In Gretes Verliebtheit sieht er anfangs nicht viel mehr als den Versuch, die Freundin aus falschen Verhältnissen zu befreien, ihre Zuneigung resultiere aus »einem großen Mitleid und in der Entwicklung von Phantasien und Vorsätzen, wie sie die Geliebte aus diesen unwürdigen Verhältnissen ›retten‹ könne«.⁷

    Realiter ist alles anders: Als Geliebte von Klara Waldmann und Mätresse von deren Ehemann Ernst findet Baronin Puttkammer, die einen ausufernden Lebensstil gewohnt ist, in einer Ménage à trois mehr als ein bescheidenes Auskommen. Zuerst lebt sie mit dem Ehepaar Waldmann in einem Haus in der Klöstergasse, später in einer ihr von Graf Apponyi zur Verfügung gestellten Wohnung am Arenbergring Nummer 12. Dort wird sie sich von Gretl aus Felix Saltens Roman »Josefine Mutzenbacher« vorlesen lassen, die troubadourhafte Pose der jüngeren Verehrerin imponiert. Freud bringt die Freizeitaktivitäten des lesbischen Liebespaares klischeehaft in Verbindung mit der Dekadenz des Fin de Siècle und stößt sich immer wieder am »schlechten Ruf der ›Dame‹«⁸ aus der Wiener Demimonde. Um ihre Liebe zur Gräfin wider Willen zu kurieren, muss Margarethe Csonka fünfmal pro Woche die therapeutische Praxis in der Wiener Berggasse aufsuchen. Nach jeder Sitzung trifft sie ihre Freundin Leonie heimlich im Café Herrenhof.

    Befreite Liebe
    Wo eine Vorliebe für mythologische Repräsentationen auf das narrative Medium der Fallgeschichte trifft, entstehen Bilder von Frauen, die mit Bühnenfiguren mehr gemein zu haben scheinen als mit realen Personen. Auf der Landkarte der Psychoanalyse verdichten sich Haustor und Trambahnhaltestelle zu einer Kartographie, die das Hier und Jetzt zufälliger Begegnungen nicht länger kennt. Freuds Detektivgeschichte über die Entstehung gleichgeschlechtlichen Begehrens stützt sich auch auf steckbriefartige Beschreibungen von Außenstehenden. Demnach soll Margarethe besonderen Gefallen daran gefunden haben, sich »öffentlich in belebten Straßen mit der anrüchigen Geliebten zu zeigen«.⁹

    Wo das Liebespaar sich nicht länger verstecken will, wittert Freud eine stark ausgeprägte Schau- und Exhibitionslust; der kurze Moment des Sichtbarseins hatte jedoch andere Ursachen – und fatale Folgen: Als Gretl und Leonie auf der Straße von Arpad Csonkas zornigem Blick taxiert werden, endet dieser Zwischenfall nahezu letal. Margarethe stürzt sich über eine Mauer der nahe gelegenen Wiener Stadtbahn und kommt mit gebrochenen Rippen und einem längeren Krankenhausaufenthalt davon. Die Liebenden dürfen sich nicht offen zeigen – die gesellschaftlichen Sanktionen sind zu groß. Unter dem Vorwand, seiner Analysandin weitere Beschämungen ersparen zu wollen, bedient Sigmund Freud sich eines technischen Tricks. Er versucht die bislang versperrten Wege zu einer latent vorhandenen Heterosexualität in Margarethes Psyche freizulegen – und er tut dies, indem er dort eine bisexuelle Orientierung annimmt, wo sich eine ausschließlich homosexuelle zeigt. Insgeheim hofft der Analytiker auf eine nur schwache Ausprägung der Liebe zu Personen des gleichen Geschlechts und plädiert in paternalistischer Manier dafür, »der homosexuell eingeengten Person den bis dahin versperrten Weg zum anderen Geschlechte frei machen«¹⁰ zu wollen. Gelingt dies, dann läge es nunmehr in Margarethes Hand, die heterosexuelle Lebensform für sich zu akzeptieren.

    Anders als angenommen, gestaltet sich das Freischaufeln unbewusster Verbindungen mehr als schwierig: Was verschollen geglaubt, lässt sich aus den Tiefenschichten der Psyche nicht ohne weiteres bergen. Angesichts des geringen Erfolges seiner Strategie gerät Sigmund Freud immer wieder in Erklärungsnotstand. Um darüber hinwegzutäuschen, bedient er sich eines rhetorischen Werkzeuges: Er setzt auf eine Art »Kippschalter«, mit dem man zwischen Bewusstem und Unbewusstem »switchen« kann. Legt man den Hebel im richtigen Moment um, sorgt dies für den fließenden Übergang zwischen unterschiedlichen Bewusstseinsniveaus. Freud durchforstet das Unbewusste seiner Analysandin fortan nach heterosexuellen Phantasien und Wunschvorstellungen und versucht, diese nachträglich dem Bewusstsein zu überführen. Er befragt Margarethe nach ihren Träumen und sie erfindet sie frei. Gretl spricht von einer bislang verborgenen Sehnsucht nach einer Familie und Kindern, die Erwartungshaltung ihres Gegenübers stellt sie damit mehr als zufrieden. Dem Anschein nach erfüllt sie alle Ansprüche von Eltern und Analytiker, allerdings mit dem Ziel, aus der Analyse endlich heraus- und in die freie Liebe zu einer Frau einzutreten.

    Freud fühlt sich von Margarethes Träumen anfangs angesprochen – und stellt auch gleich eine »Heilung der Inversion« in Aussicht. Als der Druck endlich nachlässt, verändert Gretl jedoch die Regeln des Spiels und revidiert alle bisherigen Ausführungen zu ihrem Traumleben. Heiraten würde sie nur, »um sich der Tyrannei des Vaters zu entziehen und ungestört ihre wirklichen Neigungen zu leben«¹¹; zudem habe sie von ihrer Geliebten gelernt, dass man sexuelle Beziehungen zu Männern und Frauen gleichzeitig unterhalten könne – ob verheiratet oder nicht. In Reaktion darauf muss Freud enttäuscht feststellen, wovon Margarethe in Wirklichkeit träumt. Er sieht sich betrogen und bezichtigt sie der lügnerischen Träume.

    Maskenball der Identitäten
    Margarethe kämpft um ihre Geliebte – und hält bis zum Ende der Analyse stand. Freud hingegen muss erkennen, dass nicht er die primäre Liebesadresse seiner Analysandin gewesen ist und sie den Traum vom heterosexuellen Familienleben nur fingiert hat. Sich nicht länger in der Position des Vaterstellvertreters wähnend, erklärt er die psychoanalytische Übertragungsreaktion für gescheitert – eine Kränkung, die er zur Folge einer verspäteten »Rachebefriedigung« Margarethes an ihrem Vater ummünzt. Alles Weitere sei Ausdruck eines handfesten »Männlichkeitskomplexes«: Im Zuge des Vergleichs der eigenen Genitalien mit denen ihrer Brüder habe Margarethe einen »mächtigen Penisneid entwickelt, dessen Abkömmlinge immer noch ihr Denken erfüllten«¹²; ein solcher sei infolge der Zurückweisung durch die Mutter, welche die Brüder bevorzuge, noch bestärkt worden und führe zu einem unglücklich konstellierten »Triebschicksal«: Nicht die Zuneigung zu einer anderen Frau, sondern die mit dem Liebesentzug der Mutter gepaarte Ablehnung des Vaters hätten aus Margarethe eine lesbische Frau gemacht; im gesellschaftlichen Spiel der Geschlechter nimmt sie fortan die männliche Rolle ein.

    Offenbar ist Homosexualität für Freud nichts, das man aus freien Stücken leben kann, eine ihrer Ursachen bestehe im »Trotz gegen den Vater«. Er trennt des Weiteren nicht zwischen dem sozialen Geschlecht, der geschlechtlichen Identifikation (Gender) und der sexuellen Orientierung einer Person, statt dessen entsteht ein fataler Kurzschluss: Freud versteht Homosexualität nicht als unabhängig vom »biologischen« Geschlecht (Sex), er vermutet sogar eine hermaphroditische Grundausstattung bei vielen Homosexuellen. Demnach erscheint ihm Margarethe auch in immer eigentümlicheren Maskeraden: »Sie wandelte sich zum Manne und nahm die Mutter anstelle des Vaters zum Liebesobjekt«¹³, schreibt Freud an einer Stelle der »Psychogenese«. Aus der geschlechterübergreifenden Identifikationen wird wenig später purer Drag: Zuerst ist die von Margarethe geliebte Frau eine, die den von ihrer Liebhaberin gehassten Bruder imitiert. Gretl selbst wird hingegen zu einer Tochter, die ihren Vater liebt, um anschließend zu einem Knaben zu werden, der eine Dame liebt. Auf diese Weise versuche sie, jene Person zurückzuerobern, die ihr der jüngere Bruder streitig gemacht habe: die Mutter. Gretls Geliebte wäre demnach nichts anderes als ein veritabler Ersatz für Vater und Mutter zugleich.

    »Lebhaft, rauflustig, durchaus nicht gewillt, hinter dem wenig älteren Bruder zurückzustehen«¹⁴ – diese Eigenschaften teilt Margarethe Csonka mit Tomboys und Frauen aus der Arbeiterklasse über die Jahrhunderte hinweg. Sie verstand sich zeitlebens auch als Frauenrechtlerin und stellte sich den Geschlechterungleichheiten und Diskriminierungen ihrer Zeit mutig entgegen. Ihre politische Überzeugung ist für Freud indes nicht viel mehr als ein innerpsychischer Effekt – für die sozialen Veränderungen seiner Zeit hatte er kein besonders ausgeprägtes Sensorium. Bereits in den Zwanzigerjahren des vergangenen Jahrhunderts zeichnete sich jedoch ein langsamer Abschied von einem dualistisch ausgerichteten Geschlechtermodell und dessen heteronormativen Beziehungsweisen ab. Im Gefolge einer erstarkenden Frauenbewegung und den homosexuellen Emanzipationsbestrebungen der aufkommenden Schwulenbewegung, erhielten bislang dominante Geschlechterbilder erste Risse. Mit der Gründung von Magnus Hirschfelds »Wissenschaftlich-humanitären Komitees« im Jahr 1897 und einem einschlägigen Institut für Sexualwissenschaft in Berlin, fand die Idee vom »dritten Geschlecht« zunehmend Verbreitung. Anstelle eines dualen Modells schlug Hirschfeld eines der sexuellen Zwischenstufen und polymorphen Übergänge zwischen den Geschlechtern vor, und setzte sich für die Abschaffung des in Deutschland auf die Kriminalisierung männlicher Homosexualität ausgerichteten Paragrafen 175 ein. Im Januar 1898 legte er gemeinsam mit August Bebel eine Petition zu einer dahin gehenden Veränderung des Strafrechtes im Reichstag vor.

    Fall- und andere Geschichten
    Die psychoanalytische Fallgeschichte ist Bestandteil einer Erzählpraxis, die sich aus der mündlichen Weitergabe von Geschichten entwickelt hat. Aus der Rekonstruktion von Ereignissen, Träumen und Begegnungen ist eine Textsorte entstanden, in der sich literarische und wissenschaftliche Verfahrensweisen immer wieder vermischen. Der positivistische Anspruch, eine Krankengeschichte möglichst lückenlos darzustellen, wird von phantastischen Szenarien und mythologischen Referenzen konterkariert, neben messbaren Daten verhandeln Fallgeschichten auch Obsessionen und Imaginationen. Sprachliche Vielschichtigkeit ist dabei nicht bloß ästhetische Zugabe, sondern eine der Voraussetzungen für das, was bis heute psychoanalytische Erkenntnisarbeit genannt wird.

    Freuds Schriften sind nicht nur von mythologischen Referenzen durchzogen. Er äußerte durchaus auch Vermutungen und Hypothesen, die sich vom heutigen Standpunkt aus als sexualwissenschaftlich progressiv einordnen lassen. In seinen »Drei Abhandlungen zur Sexualtheorie« von 1905 stellte Freud etwa Spekulationen darüber an, ob der »psychosexuelle Geschlechtscharakter« – also das gefühlte Geschlecht – und die Objektwahl – die sexuelle Orientierung einer Person – unabhängig voneinander existieren könnten, »Triebe« bezeichnete er darin auch als Abkömmlinge mythologischer Wesen.

    jW-Shop, Broschüre 75 Jahre junge Welt
    Diese und ähnliche Erkenntnisse blieben im Fall der »Psychogenese« ohne nennenswerte Konsequenzen. Margarethes therapeutische Sitzungen endeten nach einer Sommerpause am Semmering im September 1919, am Ende blieben die meisten Fragen offen. »Ich brach also ab, sobald ich die Einstellung des Mädchens zum Vater erkannt hatte, und gab den Rat, den therapeutischen Versuch, wenn man Wert auf ihn legte, bei einer Ärztin fortführen zu lassen«¹⁵, resümiert Freud die gescheiterte Analyse – und empfiehlt anderswo ihre Fortsetzung.

    Sigmund Freud hatte für die queeren Existenzweisen seiner Zeit kein ausreichendes Bewusstsein. Auch aus diesem Grund ermangelt es seiner »Fallgeschichte« nicht an sexistischen Implikationen und homophoben Unterstellungen. Die Charakterzeichnung seiner Analysandin reicht von dekadent bis latent heterosexuell. Homosexuelles Begehren bleibt darin an die Kategorie der »verfehlten Weiblichkeit« oder die des »männlichen Protests« gebunden – keineswegs aber ist sie normal und einfach da. Über die Positivität des Begehrens von Frauen verliert Freud in der »Psychogenese« nicht viele Worte, über die zeitgenössischen Codes lesbischer Liebe ebenso wenig. Für seine Interpretationen hatte die inzwischen 19jährige Gretl Csonka nur einen distanzierten Blick übrig. Fast gelangweilt reagierte sie auf die Erläuterungen des Analytikers, der sie durch das Weltmuseum der Psychoanalyse führte.

    Im September 1919 ordinierte Anna Freud noch nicht in einem der Nebenzimmer der Berggasse 19, und Margarethe Csonka, deren Geschichte unter dem Pseudonym Sidonie »Sidi« Csillag mehr als ein halbes Jahrhundert später der Öffentlichkeit bekannt wurde, hatte andere Sorgen. Am Vorabend der Machtübernahme der Nazis ist die homosexuelle Frau aus einer zum Katholizismus konvertierten Familie von Mehrfachdiskriminierungen betroffen, erst im Jahr 1940 gelingt ihr die Flucht aus dem seit 1938 zum »Dritten Reich« gehörigen faschistischen Österreich. Ihr Zuhause hat Margarethe Csonka auf einem Schiff für Auswanderer hinter sich gelassen – und mit ihm auch die Wiener Couchgeschichten.

    Exil in Kuba
    Erzwungene Nähe kann fatale Folgen haben, Seelenstriptease auch. Margarethe Csonka soll Freuds Couch in einer Mischung aus Erleichterung und Befreiung verlassen haben, rund zehn Jahre später zwingen sie die gesellschaftlichen Verhältnisse dennoch zur Heirat. Im Mai 1930 vermählen sich Margarethe Csonka und Eduard Rzemenowsky von Trautenegg in Wien, nach wenigen Wochen verlangt sie die Scheidung. Die Ehe wurde am Ende nicht geschieden, sondern annulliert: Am 13. September 1938 sorgte ein Dekret der Nazis für ihre Auflösung, demnach seien »Mischehen« ungültig, wenn einer der Ehepartner vor der Hochzeit dem anderen die Zugehörigkeit zur »jüdischen Rasse« verschwiegen hatte. Da die jüdische Geschichte ihrer Familie für Gretl nie Thema war, hatte sie mit ihrem Mann nicht darüber gesprochen. Und so war sie von einem Tag auf den anderen wieder unverheiratet.

    Leonie Puttkamer kehrte 1923 von Berlin nach Wien zurück. In Berlin hatte sie die Schauspielerin und Tänzerin Anita Berber kennengelernt, für die sich Margarethe Csonka später begeisterte. Auch Leonie ging eine Ehe ein, die nur von kurzer Dauer war. Nach den ersten Streitigkeiten wurde sie von ihrem Exmann Albert Geßmann, der als Präsident des österreichischen Landwirtschaftsamtes eine hohe politische Stellung innehatte, der versuchten Vergiftung bezichtigt. Im Jahr 1924 kam es zur Anklage, sie endete mit einem Freispruch für Leonie. Im August 1940 trifft sie Margarethe ein letztes Mal in Berlin, 1953 stirbt sie vor Ort.

    Bereits zu Beginn des Jahres 1940 hatte sich Margarethe Csonka-Trautenegg darum bemüht, einen Platz auf einem Schiff und ein Visum für Kuba zu bekommen. Sie sah sich dazu gezwungen, die Hilfe einer Auswandereragentur in Anspruch zu nehmen und erreichte im Dezember 1940 nach mehrmonatiger Reise die karibische Insel. Die Reise verlief ostwärts. Zuerst gelangte sie von Berlin nach Königsberg, später nach Moskau. Am 18. August 1940 bestieg sie die Transsibirische Eisenbahn, Wochen später kam sie in der Mandschurei an. Margarethe reiste weiter nach Japan und überbrückte dort eine längere Wartezeit. Am 24. Oktober schiffte sie sich ein, um den Pazifik zu überqueren, am 7. November erreichte sie Honolulu, am 17. November San Francisco; Anfang Dezember folgte Balboa am Panamakanal. Dort bestieg die Emigrantin aus Wien am 24. Dezember 1940 das vorerst letzte Schiff und kam drei Tage später in Havanna an.

    Die letzten Jahre des Naziregimes hat Margarethe Csonka also auf Kuba überlebt, wo sie auch ihr früheres Hobby, die Porträtmalerei, wiederentdeckte; 1949 kehrte sie über Paris nach Wien zurück und landete erneut in der Fremde. Sie hat nichts Eigenes, findet einige der von ihrem Exmann Eduard aufbewahrten Gegenstände und verkauft sie ans Dorotheum. Margarethe muss erstmals arbeiten, um zu überleben – sie gibt Sprachunterricht und lukriert kleine Einnahmen aus ihren Porträts.

    Die Freiheit, zu lieben
    Weite Teile ihres Lebensabends verbringt sie auf Reisen: 1966 landet sie in Florida, wo sie ihren Bruder Ernst trifft, 1976 reist sie nach Bangkok und dann erneut nach Kuba – ihre Liebe zu Frauen bleibt auch unterwegs bestehen, sie währt ein Leben lang. Anfang der Neunzigerjahre findet Margarethe Csonka mit Unterstützung von Freundinnen einen Platz in einer gemeinnützigen Einrichtung der katholischen Kirche in Wien-Schönbrunn. Im Caritas-Wohnheim für Rentnerinnen trifft sie sich mit Freundinnen und spielt Bridge, 1999 stirbt sie im hundertsten Jahr ihres Lebens.

    Gretl Csonkas Biographie erzählt von einem lesbischen Leben gegen alle Widerstände, von heimlichen Lieben und den heterosexuellen Tarnungsmanövern zwischendurch: Um sich freizuspielen, erfand sie Freud gegenüber einen lügnerischen Traum, der zum Ende einer unfreiwilligen Analyse führte. Oft wird Gretls Leben auf jene vier Monate reduziert, die sie zwangsweise auf Sigmund Freuds Couch verbrachte, ihre Homosexualität konnte auch er ihr nicht nehmen. Trotzig verteidigte sie ihr gleichgeschlechtliches Begehren gegenüber dem Analytiker und ihren Eltern, die allgemein ablehnende Haltung gegenüber Homosexuellen hatte jedoch auch Margarethe internalisiert. Die Drohungen durch den in Österreich erst im Jahr 1971 abgeschafften Paragraphen 129 Ib, mit dem »Unzucht wider die Natur« von Frauen und Männern mit bis zu fünf Jahren schweren Kerkers bestraft werden konnte, blieben fast ihr ganzes Leben lang aufrecht, und Gretl drängte dies immer wieder zu großer Vorsicht. »Freud war ein Trottel«¹⁶ – so lautete ihr abschließender Kommentar zu den Wiener Therapiegesprächen. Margarethe Csonka sollte damit das letzte Wort behalten – für ein Leben, in dem sie sich die Freiheit nicht nehmen ließ, zu lieben, wen sie wollte.

    Anmerkungen

    1 Sigmund Freud: Über die Psychogenese eines Falles von weiblicher Homosexualität (1920), in: ders.: Studienausgabe Band VII, hrsg. von Alexander Mitscherlich, Angela Richards und James Strachey. Frankfurt am Main 2000, S. 257–281, hier: S. 257

    2 Ebd., S. 261

    3 Ebd., S. 258

    4 Ebd., S. 263

    5 Ebd.

    6 Ebd., S. 271

    7 Ebd.

    8 Ebd., S. 270

    9 Ebd., S. 258

    10 Ebd., S. 260

    11 Ebd., S. 274

    12 Ebd., S. 278

    13 Ebd., S. 268

    14 Ebd., S. 278

    15 Ebd., S. 273

    16 Ines Rieder und Diana Voigt veröffentlichten im Jahr 2000 erstmals die Biographie von Margarethe Csonka, die Autorinnen sind für die Pseudonymisierung ihres Namens verantwortlich. Ihre Aufzeichnungen beruhen auf zahlreichen Interviews mit Gretl Csonka, aus denen auch dieses Zitat stammt. Vgl. Ines Rieder und Diana Voigt: Die Geschichte der Sidonie C. Sigmund Freuds berühmte Patientin, Wien 2012

    Barbara Eder ist Soziologin und Publizistin aus Österreich.

  • Westeuropa Sohn
    Poète maudit aus dem Ramschladen: Zum Tod des genialischen Popmusikers Kiev Stingl (1943 - 2024)
    https://www.jungewelt.de/artikel/470447.popgeschichte-westeuropa-sohn.html


    Wirrkopf, Sexist, Phantom: Kiev Stingl 1991 in seiner Berliner Arbeitsbibliothek

    Hart wie Mozart
    https://www.youtube.com/playlist?list=OLAK5uy_m7maem_mps4JZ34mSMDcUoqEV5_TjfODU

    1.3.2024 von Maximilian Schäffer - »Ab sofort verbiete ich, Kiev Stingl, der Sprecher der deutschen Schweinenation, sämtlichen Jugendlichen, Staatsnegern und sonstwem, den Keuchakt loszuficken.«

    Kiev Stingl (15.3.1943 bis 20.2.2024), Präsident im Reich der Träume, spricht in Zungen

    In der 1-Euro-Kiste vor dem Laden fand ich ihn, 2020. Unterste Bückware zwischen Volksmusik und Kinderhörspiel. Nicht einmal ins Abteil »Deutsch« hatten sie ihn gepfercht, noch ins Fach »NDW« verramscht. »Kiev Stingl – Hart wie Mozart« prangte auf dem Cover, das aussah wie eine Ausgabe des Spiegel von 1979. Geiler Name, geiler Titel. Wieso will den keiner, kennt den keiner? Ich legte den Euro auf den Tisch, und staunte noch mehr, als ich es zum ersten Mal hörte: »Es lebe die Sowjet­union, nieder mit dem Zar! (…) Ich bin Frank Sinatras Westeuropa Sohn!« Unbestreitbar eine Hymne, dazu erstklasssig aufgenommen und produziert. Diese Stimme aus Ethanol, Nikotin und Testosteron, die 40 Minuten lang nur Sex raunzt. Und hätte ich hundert Euro bezahlt gehabt – sowas hatte ich von der BRD nicht erwartet.
    Frühstücksangebot: RLK-Emaillebecher +Kaffee

    Kiev hingegen hatte von der BRD nichts zu erwarten. Seine Karriere versaute er gründlich und notwendigerweise aus purem individuellen Drang. Eine einzige Tournee versenkte er in allen möglichen Drogen. Im Hessischen Rundfunk rabulierte er gegen Feministinnen, warf Bierflaschen nach dem Aufnahmeleiter (siehe obiges Zitat). Nach Rock und Art-Punk wollte er auf einmal Disco machen, danach Post-Industrial mit der Hälfte der Einstürzenden Neubauten. Er sah gut aus und klang ebenso gut, hätte das Zeug gehabt, dem braven Genuschel eines Udo Lindenberg die Selbstverständlichkeit der eigenen Geilheit im Dienste von mindestens zwei Generationen Punks entgegenzusetzen. Das Messianische allerdings pflegte er eher im Halbprivaten, wollte lieber ein Phantom sein als Legende – so predigte er es mir noch letztes Jahr zu seinem 80. Geburtstag im Interview. Auch Raubtiere – Kiev Jaguar Stingl nannte er sich kurz selbst – sind die meiste Zeit nur scheue Katzen.

    Achim Reichel fand Stingl Mitte der 70er Jahre in Hamburg genauso unvorbereitet, wie ich ihn später in Berlin wiederfand. Im abgedunkelten Zimmer drosch er ihm was auf der Gitarre vor, von »Lila Lippen, Milchkuhtitten!« In seiner Autobiografie »Ich hab das Paradies gesehen« erzählt Reichel von diesem Damaskuserlebnis und seinen Folgen. Drei Alben fertigten sie zusammen: »Teuflisch« (1975), »Hart wie Mozart« (1979) und »Ich wünsch den Deutschen alles Gute« (1981). Reichel, der selbst als Solomusiker sowie mit den Rattles um ein Vielfaches erfolgreicher war als sein unmöglicher Star, hielt Stingl für genial, aber unberechenbar. Die Regisseure Klaus Wyborny, Heinz Emigholz und Christel Buschmann drehten Filme mit Kiev. Letztere setzte ihn in Ballhaus Barmbek neben Christa Päffgen alias Nico – das reale Aufeinandertreffen zweier großer Phantome. Im lange schon verblichenen Kaufbeurer Verlag Pohl ’n’ Mayer erschien 1979 sein Lyrikband »Flacker in der Pfote«, fünf Jahre später »Die besoffene Schlägerei« im Cyrano-Verlag. Sein Alterswerk, ein Dialog aus passionierter Hitlerei und Bumserei, erscheint posthum. »Roman ist fertig!« – war sein letzter Satz auf Whats-App, dann hatte er keinen Bock mehr auf Siechtum.

    Nun fehlt mir der Abstand, um für Zeitungsleser in glaubwürdigem Maße von der Großartigkeit seiner Musik berichten zu können. Natürlich kenne ich sie heute mantrisch auswendig – jeden Song, jede Zeile. Ich kann allerdings davon berichten, was passierte, als ich einst mein Umfeld mit Kiev Stingls Platten zu terrorisieren begann: keinerlei Widerstand. Innerhalb von Wochen bildete sich ein Privatfanclub aus Künstlern, Musikern, Autoren, Barkeepern und Handwerkern im Alter von 18 bis 60. In der Neuköllner Stammkneipe hängten wir bald sein Konterfei über den Tresen, direkt neben den gekreuzigten Messias. Der Chef, bald genervt: »Schon wieder Kiev!?« Aber auch solidarisch: »Wenigstens Kiev!« Wir waren nicht die einzigen, so fand ich heraus: Auch Flake von Rammstein, Dieter Meier von Yello und Hans Joachim Irmler von Faust zählen zu seinen ewigen Fans.

    Irgendwann fand ich mich in Stingls Wohnung wieder. Ein junges, hübsches Mädchen brachte ich ihm mit, das war ihm noch lieber als Cremeschnitten – auch Vanessa sollte später seine Urinflaschen ausleeren. In den vergangenen beiden Jahren sah ich den Berserker deutscher Coolness, den »Einsam Weiss Boy« vom alten Mann zum Greis werden. Wir stritten kokett über Hitler, ich leerte die Pissflaschen aus. Er scheuchte mich durch die zugestellte Altbauwohnung, ich ließ es irgendwie über mich ergehen. In den zartesten Momenten zweier sich halbwegs nahe gekommenen Männer mit 50 Jahren Altersabstand saßen wir uns gegenüber, hatten uns nichts zu sagen übers Leben. »No Erklärungen« heißt ein 2020 erschienener kurzer Dokumentarfilm über ihn. Kiev wusste zuviel, ich noch zuwenig. Ein paar Minuten Stille und Traurigkeit zusammen, weil auch er nicht vergessen werden wollte – so scheißegal ihm alles auch gewesen sein mochte. Kiev Stingl war das konsequent missachtete transgressive Genie der deutschen Popmusik und Beat-Literatur. Er starb am 20. Februar im Alter von 80 Jahren.

    https://de.wikipedia.org/wiki/Kiev_Stingl

    #Allemagne #musique #post-punk

  • Kriegsertüchtigung - Ampel zerlegt Sozialstaat
    https://www.jungewelt.de/artikel/469990.kriegsert%C3%BCchtigung-ampel-zerlegt-sozialstaat.html


    Lindner am Donnerstag abend bei »Maybrit Illner« : »Das Wichtigste ist, dass keine neuen Sozialausgaben dazukommen« 

    La situation est grave. La droite et les libéraux ne se gênent plus. Ils proclament : des canons ou du beurre, il faut choisir. La majorité des allemands paiera pour la guerre. So it goes.

    4.2.2024 von Raphaël Schmeller - Finanzminister Lindner will Aufrüstung mit Kürzungen finanzieren. Armutsforscher spricht von »sozialpolitischer Zeitenwende«

    Die Ampelkoalition will Deutschland kriegstüchtig machen. Und weil das ins Geld geht, führt für Finanzminister Christian Lindner kein Weg an Sozialkürzungen vorbei. Ein »mehrjähriges Moratorium bei Sozialausgaben und Subventionen« sei nötig, um mehr in die Aufrüstung investieren zu können, erklärte der FDP-Politiker am Donnerstag abend bei »Maybrit Illner«. Clemens Fuest, Präsident des kapitalnahen Ifo-Instituts und ebenfalls Gast der ZDF-Sendung, fügte zustimmend hinzu: »Kanonen und Butter – das wäre schön, wenn das ginge. Aber das ist Schlaraffenland. Das geht nicht. Sondern Kanonen ohne Butter.« Der Sozialstaat werde noch nicht abgeschafft, »aber er wird kleiner«, so ­Fuest. Auch die dritte in der Runde, die Grünen-Vorsitzende Ricarda Lang, sagte, Deutschland müsse mehr Geld in die Hand nehmen, um die Ukraine zu unterstützen und Europa bei der Verteidigung unabhängiger von den USA zu machen.

    In der vergangenen Woche hatte Bundeskanzler Olaf Scholz auf der Münchner Sicherheitskonferenz angedeutet, dass Kürzungen bei Renten und Sozialausgaben nötig sein könnten, um die Verteidigungsausgaben langfristig zu erhöhen. »Deutschland investiert dieses Jahr und auch in den kommenden Jahren, in den Zwanziger-, den Dreißigerjahren und darüber hinaus zwei Prozent seines Bruttoinlandsprodukts in die Verteidigung«, so Scholz auf der Konferenz. Er fügte hinzu: »Mein Ziel ist es, dass wir nach dem Auslaufen des Sondervermögens die Ausgaben für die Bundeswehr aus dem allgemeinen Haushalt finanzieren.« Nach Berechnungen des Spiegels würde das im Jahr 2028 Ausgaben von 107,8 Milliarden Euro bedeuten. Zum Vergleich: Der aktuelle Verteidigungsetat des Bundes beträgt 51,9 Milliarden Euro. Um diese Ausgaben zu decken, müsste also an anderer Stelle gekürzt werden – an welcher, hat Lindner nun bekanntgegeben.

    Der Armutsforscher Christoph Butterwegge verurteilte die »sozialpolitische Zeitenwende« der Ampelkoalition am Freitag gegenüber jW. »Was von Christian Lindner als Moratorium erklärt wird, läuft in Wahrheit auf eine Demontage des Wohlfahrtsstaates hinaus. Denn wenn die sozialen Probleme wie bereits seit geraumer Zeit deutlich zunehmen, die Ausgaben aber nicht mehr mitwachsen dürfen, handelt es sich um reale Kürzungen in diesem Bereich«, so Butterwegge. Deutschland stehe vor der Alternative: Rüstungs- oder Sozialstaat. »Setzen sich Bum-Bum Boris Pistorius, Marie-Agnes Strack-Zimmermann, Anton Hofreiter und Co. mit ihren Hochrüstungsplänen durch, wird sich die schon jetzt auf einem Rekordstand befindliche Armut noch verschärfen.«

    Auch der Bundestagsabgeordnete und BSW-Generalsekretär Christian Leye kritisierte Lindners Ankündigung scharf: »Während Rüstungskonzerne Dividendenpartys feiern, sollen Menschen, die ohnehin auf dem Zahnfleisch gehen, noch mehr bluten«, erklärte er gegenüber dieser Zeitung. »Dass sich Vertreter der Regierungsparteien am Wochenende gegen rechts auf die Straße trauen, obwohl sie den Rechten die Wähler von Montag bis Freitag in die Arme treiben, grenzt an Hohn.«

    Nach einem Bericht der Financial Times vom Freitag hat weltweit kein Rüstungskonzern so stark vom »Revival der europäischen Verteidigungspolitik« profitiert wie Rheinmetall. Die Düsseldorfer rechnen bis 2026 mit einer Verdoppelung des Umsatzes auf bis zu 14 Milliarden Euro.

    #Allemagne #guerre #austérité

  • 13.02.2024 Christine Buchholz : Warum ich das Bundestagsmandat nicht annehme
    https://christinebuchholz.de/2024/02/12/warum-ich-das-bundestagsmandat-nicht-annehme


    Christine Buchholz auf einer Kundgebung zum Antikriegstag (Berlin, 1.9.2013)

    Le parti Die Linke n’est plus le parti de la paix et ne représente plus les intérêts de la classe ouvrière. L’ancienne membre du Bundestag Christine Buchholz refuse d’y siéger à nouveau à la place de l’élu berlinois Pascal Meiser qui doit quitter le parlement après les élections de dimanche dernier.
    Une particularité du droit électoral allemand exige que la faible participation des Berlinois aux élections fasse perdre un siège à la ville mais pas au parti qui envoie alors à l’assemblée nationale un candidat d’un autre Land.

    Avec Pascal Meiser Berlin perd un député syndicaliste qui ne fait pas partie de la droite qui domine le « parti de gauche » à Betlin.

    Am 11. Februar fand in Berlin eine Wiederholungswahl statt. Aufgrund des bundesdeutschen Wahlsystems hat der Verlust des Mandats des Abgeordneten Pascal Meiser aus Berlin dazu geführt, dass ich ein Mandat erhalten habe. Ich werde dieses Mandat nicht antreten.

    Im Frühjahr 2021 hat mich die hessische LINKE zum vierten Mal für ihre Landesliste nominiert. Ich hatte in den 12 Jahren davor als Mitglied des Bundestags meinen Schwerpunkt in den Bereichen Krieg und Frieden sowie im Kampf gegen rechts, speziell in der Auseinandersetzung mit antimuslimischem Rassismus.

    Die Entwicklungen der letzten Jahre haben mich wiederholt in Konflikt mit der mehrheitlichen Linie der Partei und der Fraktion gebracht. Das betrifft sowohl einen defensiven Umgang mit der Kritik an der NATO und der deutschen Rolle im Krieg um die Ukraine als auch ihr Versagen in der Kritik der deutschen Unterstützung für Israels Krieg in Gaza. Gerade vor dem Hintergrund der Mobilmachung gegen das mit über einer Million Geflüchteten überfüllte Rafah an der Grenze zu Ägypten wird das tödliche Ausmaß dieses Versagens deutlich. DIE LINKE wird ihrer Aufgabe als Antikriegspartei in den aktuell entscheidenden Situationen nicht gerecht. Die Annahme des Mandats würde mich nun in einen ständigen Konflikt mit der Linie der Parteispitze und der Gruppe der LINKEN im Bundestag bringen. Ich sehe dort momentan keinen Raum für meine Positionen in diesen Fragen.

    Die Wagenknecht-Partei BSW ist für mich keine Alternative. Ihre Argumentation für eine Begrenzung der Migration knüpft an die „das Boot ist voll“-Rhetorik des rechten politischen Spektrums an. Ihr Standortnationalismus schwächt eine linke und internationalistische Perspektive in gesellschaftlichen Bewegungen, darunter insbesondere der Gewerkschaftsbewegung.

    Die Ablehnung des Mandats heißt nicht, dass ich mich aus der politischen Aktivität zurückziehe. Ich bringe meine Kraft und mein ehrenamtliches Engagement dort ein, wo ich außerhalb des Parlaments gemeinsam mit anderen aus der LINKEN und darüber hinaus gegen Krieg und das Erstarken des Faschismus wirken kann – zum Beispiel in der Antikriegskoordination in Berlin, bei Aufstehen gegen Rassismus und bei der Gruppe Sozialismus von unten.

    https://www.jungewelt.de/artikel/469237.christine-buchholz-warum-ich-das-bundestagsmandat-nicht-annehme.htm

    Christine Buchholz, die ehemalige Bundestagsabgeordnete der Partei Die Linke, begründete am Montag in einer auf ihrer Website veröffentlichten Erklärung, warum sie das erneute Bundestagsmandat infolge der Berliner Wiederholungswahl nicht antreten wird:

    Am 11. Februar fand in Berlin eine Wiederholungswahl statt. Aufgrund des bundesdeutschen Wahlsystems hat der Verlust des Mandats des Abgeordneten Pascal Meiser aus Berlin dazu geführt, dass ich ein Mandat erhalten habe. Ich werde dieses Mandat nicht antreten.

    Im Frühjahr 2021 hat mich die hessische Linke zum vierten Mal für ihre Landesliste nominiert. Ich hatte in den zwölf Jahren davor als Mitglied des Bundestags meinen Schwerpunkt in den Bereichen Krieg und Frieden sowie im Kampf gegen rechts, speziell in der Auseinandersetzung mit antimuslimischem Rassismus.

    Die Entwicklungen der letzten Jahre haben mich wiederholt in Konflikt mit der mehrheitlichen Linie der Partei und der Fraktion gebracht. Das betrifft sowohl einen defensiven Umgang mit der Kritik an der NATO und der deutschen Rolle im Krieg um die Ukraine als auch ihr Versagen in der Kritik der deutschen Unterstützung für Israels Krieg in Gaza. Gerade vor dem Hintergrund der Mobilmachung gegen das mit über einer Million Geflüchteten überfüllte Rafah an der Grenze zu Ägypten wird das tödliche Ausmaß dieses Versagens deutlich. Die Linke wird ihrer Aufgabe als Antikriegspartei in den aktuell entscheidenden Situationen nicht gerecht. Die Annahme des Mandats würde mich nun in einen ständigen Konflikt mit der Linie der Parteispitze und der Gruppe der Linken im Bundestag bringen. Ich sehe dort momentan keinen Raum für meine Positionen in diesen Fragen.

    Die Wagenknecht-Partei BSW ist für mich keine Alternative. Ihre Argumentation für eine Begrenzung der Migration knüpft an die »Das Boot ist voll«-Rhetorik des rechten politischen Spektrums an. Ihr Standortnationalismus schwächt eine linke und internationalistische Perspektive in gesellschaftlichen Bewegungen, darunter insbesondere der Gewerkschaftsbewegung. (…)

    #Allemagne #gauche #élections #Die_Linke

  •  »Aufstand« oder »Bürgerkrieg« ?
    Der 12. Februar 1934 in der österreichischen Erinnerungspolitik
    https://www.jungewelt.de/artikel/469130.%C3%B6sterreich-1934-aufstand-oder-b%C3%BCrgerkrieg.html

    Une discussion des positions actuelles par rapport au régime austro-fasciste

    12.2.2024 von Winfried R. Garscha - Die Zeiten, in denen in Österreich alle NS-Verbrechen »den Deutschen« zugeschoben wurden, sind endgültig vorbei. Die »Opferthese«, die der österreichischen Zeithistoriker Gerhard Botz einmal die »Lebenslüge« der Zweiten Republik nannte, vermag kaum mehr jemanden aufzuregen. Aber, wie aktuelle Stellungnahmen der letzten Tage zeigen, hat ein anderes Ereignis – der kurze Bürgerkrieg zwischen bewaffneten Formationen der Arbeiterbewegung und den vereinten Kräften von Polizei, Bundesheer und faschistischen »Heimwehren« vor 90 Jahren – durchaus das Potential, nach Jahrzehnten wieder zu einem umkämpften Gegenstand österreichischer Erinnerungspolitik zu werden.

    Vor allem die Vorgeschichte des 12. Februar 1934 lässt erschreckende Parallelen zu Entwicklungen in der Gegenwart erkennen: Statt durch einen offenen Umsturz erfolgte die Ausschaltung der Linken durch eine Regierung, die durch ein Bündnis reaktionärer Strömungen in der führenden konservativen Partei mit Rechtsextremen gebildet worden war. Die bevorzugte Methode war zunächst nicht der Verfassungsbruch, sondern die schrittweise Lahmlegung demokratischer Institutionen unter Anwendung von Geschäftsordnungstricks – sozusagen Scheibchen für Scheibchen, von denen keines für sich allein die große Auseinandersetzung rechtfertigen würde. »Salamitaktik« nannte man das in Österreich.

    In all den Auseinandersetzungen der letzten Jahre über den »österreichischen Anteil« an der Schoah und ganz allgemein über die Rolle der österreichischen Nazis sowohl im »eigenen« Land als auch in den eroberten Gebieten, wurde der österreichischen Diktatur, die der Annexion an Hitlerdeutschland im März 1938 voranging, lange Zeit wenig Aufmerksamkeit geschenkt. Nur in der Frage, ob diese Diktatur als »Austrofaschismus« bezeichnet werden darf, oder doch eher eine »Kanzlerdiktatur« oder überhaupt keine Diktatur, sondern ein »Ständestaat« war, gerieten nicht nur die politischen Parteien, sondern auch Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler aneinander. Auch der im Juli 1934 von Naziputschisten ermordete Bundeskanzler Engelbert Dollfuß, der 1933 Parlament und Verfassungsgerichtshof ausgeschaltet hatte, und sein Nachfolger Kurt Schuschnigg, der im März 1938 vor Hitler kapituliert hatte, mussten als Namensgeber herhalten: Als »Dollfuß-Schuschnigg-Diktatur« bezeichnet beispielsweise das in der Wiener Hofburg untergebrachte »Haus der Geschichte Österreich« das autoritäre Regime zwischen 1933 und 1938.

    Faschistisch, halbfaschistisch?
    Vor rund zwanzig Jahren begann eine Diskussion in den Zeit-, Rechts- und Sozialwissenschaften über die Notwendigkeit einer gründlicheren Analyse des politischen Systems des Austrofaschismus, das trotz seiner Kurzlebigkeit in mehreren Aspekten auch nach 1945 noch jahrzehntelang nachwirkte. Abseits parteipolitischer Einflussnahmen war es in dieser akademischen Diskussion möglich, alle Argumente für und gegen eine Definition der Diktatur als »faschistisch« oder »halbfaschistisch« abzuwägen. Dabei ging es immer auch darum, den Unterschied zum deutschen oder italienischen Faschismus herauszuarbeiten. Für österreichische Konservative, die sich ab 1938 in deutschen Konzentrationslagern wiederfanden, war das immer auch eine Frage der persönlichen Ehre – man wollte nicht mit den Nazis in einen Topf geworfen werden.

    Einigkeit herrschte in der Wissenschaft hinsichtlich der Schwäche des Regimes, das nur bei der katholischen Bauernschaft und bei Beamten über eine einigermaßen solide Massenbasis verfügte, wobei für Beamte die Mitgliedschaft in der Einheitspartei »Vaterländische Front« verpflichtend war. Da die katholisch-faschistische Regierungskoalition sich nur auf ein schwaches Drittel der Bevölkerung stützen konnte, regierte sie mit Notverordnungen. In Untergrundgruppen organisierten sich auf der Linken jeweils rund 16.000 Mitglieder der Revolutionären Sozialisten (die Nachfolgepartei der Sozialdemokratie) und der KPÖ (die durch Übertritte enttäuschter Sozialdemokratinnen und Sozialdemokraten ihre Mitgliederzahl vervierfacht hatte) und auf der Rechten 70.000 Anhänger des österreichischen Ablegers der NSDAP. Außenpolitisch war das Regime auf die Unterstützung des faschistischen Italiens angewiesen. Nach Bildung der »Achse« zwischen Berlin und Rom 1936 versuchte die Wiener Regierung zwei Jahre lang, sich mit Hitlerdeutschland zu arrangieren und musste tatenlos zusehen, wie die Nazipartei im eigenen Land immer stärker wurde – Ende 1937 zählte der »Reichsschatzmeister« schon 105.000 illegale Mitglieder in Österreich, darunter eine wachsende Zahl beim Bundesheer, bei der Polizei und der Gendarmerie.

    Die zweifellos wichtigste Untersuchung zum Thema ist die von dem Wiener Politikwissenschaftler Emmerich Tálos 2013 vorgelegte umfangreiche Studie »Das austrofaschistische Herrschaftssystem. Österreich 1933–1938«. Die Arbeit wurde relativ breit rezipiert, doch in erster Linie durch die Brille der Auseinandersetzung um den Begriff »Austrofaschismus«. Weniger beachtet wurde Tálos’ Widerlegung der bis heute von konservativer Seite kolportierten Behauptung, Dollfuß und Schuschnigg hätten mit ihrem »Ständestaat« in erster Linie ein Bollwerk gegen die Bedrohung durch Nazideutschland errichten wollen. Tálos zeigt an zahlreichen Beispielen, dass die Austrofaschisten eine politische Agenda verfolgten, die sich bezüglich der Herrschaftsmechanismen am italienischen Faschismus orientierte, die Zerschlagung der Arbeiterbewegung bezweckte und die Rückkehr zu vormodernen gesellschaftlichen Zuständen mit der katholischen Kirche als wichtigstem gesellschaftlichem Ordnungsfaktor anstrebte.

    Beginn der Kämpfe

    Ereignisgeschichtlich sind die Kämpfe im Februar 1934 in Publikationen, die 1974 und 1984, jeweils zu den Jahrestagen erschienen, einigermaßen gründlich untersucht. Bekannt ist auch, wer kämpfte: auf seiten der Aufständischen in erster Linie Männer des seit 31. März 1933 in die Illegalität gedrängten Republikanischen Schutzbundes, einer 1923 gegründeten paramilitärischen Formation der Sozialdemokratie, die die Republik gegen Angriffe der faschistischen Heimwehren nach dem Muster von Mussolinis »Marsch auf Rom« schützen sollte. Kommunisten wurden am Mitmachen gehindert, leisteten aber – ebenso wie mehrere Frauen – wichtige Dienste bei der Kommunikation zwischen den Kampfplätzen sowie der Herstellung von Flugblättern, bei der Versorgung von Verwundeten und ab dem letzten Tag der Kämpfe auch bei der Flucht über die tschechische Grenze. Auf Regierungsseite standen Bundesheer und Polizei. Die »Heimwehren« waren aus militärischer Sicht eine vernachlässigbare Größe, taten sich aber mit Brutalitäten an gefangenen Schutzbündlern hervor.

    Die Kämpfe begannen am Montag, den 12. Februar, um 7 Uhr in Linz an der Donau mit dem Überfall der Polizei auf das »Hotel Schiff«, die Zentrale der oberösterreichischen SP. Der oberösterreichische Parteisekretär Richard Bernaschek hatte am Sonntag mit Vertretern der Landesparteileitung vereinbart, dass eine neuerliche, als »Waffensuche« getarnte Demolierung eines sozialdemokratischen Parteiheimes mit bewaffneter Gegenwehr beantwortet werde – und den Parteivorstand in Wien durch Boten darüber in Kenntnis gesetzt. Die telefonisch durchgegebene Warnung vor einem Losschlagen wurde von der Polizei abgehört, die daraufhin beschloss, die Parteizentrale im »Hotel Schiff« anzugreifen. Der Wiener »Heimwehr«-Führer Vizekanzler Emil Fey verkündete derweil bei einem sonntäglichen Faschistenaufmarsch im niederösterreichischen Gänserndorf: »Wir werden morgen an die Arbeit gehen, und wir werden ganze Arbeit leisten!« Bernaschek gelang es noch, telefonische Anordnungen für die voraussichtlichen Brennpunkte der Kämpfe außerhalb von Linz – die Industriestadt Steyr und das Kohlerevier im Hausruck – durchzugeben und Wien zu benachrichtigen. Um 11.46 Uhr standen in der Hauptstadt mit einem Ruck alle Straßenbahnen still, weil ein Arbeiter in den städtischen Elektrizitätswerken den Hauptschalter umgelegt hatte. Das war das Signal für den Generalstreik, der allerdings selbst in Wien nur lückenhaft durchgeführt wurde, und für die Mitglieder des Republikanischen Schutzbundes, sich zu den Sammelplätzen zu begeben. Doch nur in wenigen Bezirken Wiens fanden sich dort auch die Parteifunktionäre ein, die über die Lage der Waffenverstecke Bescheid wussten. Brennpunkte der Kämpfe in Wien waren unter anderem im Bezirk Ottakring der große Gemeindewohnbau Sandleitenhof und das Arbeiterheim, im Bezirk Döbling der langgestreckte Karl-Marx-Hof, vor allem aber Floridsdorf – der große Arbeiterbezirk am linken Donauufer, wo die Kämpfe am 13. Februar den Höhepunkt erreichten. Hans Hautmann: »Was hier an diesem und am folgenden Tag geschah, gehört zu den hervorragendsten Beispielen in der Geschichte der großen bewaffneten Insurrektionen des internationalen Proletariats.«¹ Hauptkampfgebiete außerhalb Wiens und Oberösterreichs waren die Industriestädte der Obersteiermark und Graz. Im Laufe des 14. und 15. Februars brach der Aufstand zusammen. Die Ursachen hierfür sind vielfältig, die wichtigste ist jedoch, dass die Aufständischen nur vereinzelt Einrichtungen wie Polizeiwachstuben angriffen. Meist verschanzten sie sich in den Gemeindebauten und verteidigten sich gegen Polizei und Bundesheer. Die Schutzbündler mussten die schmerzliche Erfahrung machen, dass, wie Engels in »Revolution und Konterrevolution in Deutschland« schrieb, die »Defensive (…) der Tod jedes bewaffneten Aufstands« ist.

    Brutale Rache

    Die Rache der Sieger war brutal. Das von der Regierung verkündete Standrecht, das die Verhängung von Todesurteilen erlaubte, wurde erst aufgehoben, nachdem der sozialdemokratische Landesparteisekretär der Steiermark, Koloman Wallisch, der in den Kämpfen in Bruck an der Mur eine führende Rolle gespielt hatte, verhaftet werden konnte. Obwohl Wallisch gewählter Abgeordneter zum steiermärkischen Landtag und zum österreichischen Nationalrat war, wurde er zum Tode verurteilt und hingerichtet.

    Finissage, 29. Februar, Guernica-Gaza
    Der »Rechtsprechung« der Sieger hatte der deutsche Politikwissenschaftler Everhard Holtmann schon 1974 auf einer wissenschaftlichen Tagung zum 40. Jahrestag des Februar 1934 die »Bereitschaft, dem Regime bei der gewaltsamen und rechtswidrigen Ausschaltung der sozialdemokratischen Arbeiterbewegung mittels tendenziöser Rechtsprechung zu assistieren« bescheinigt.²

    Erstaunlicherweise war die Geschichtsschreibung jahrzehntelang nur an den neun Hinrichtungen interessiert gewesen; erst 2004 publizierte der heutige österreichische Bildungsminister, der Rechtshistoriker Martin Polaschek, eine umfassende Untersuchung der Standgerichtsbarkeit des Februar 1934. Die Einbeziehung der 14 begnadigten Verurteilten zeigt Ausmaß und Tendenz der Terrorjustiz des angeblich so »gemütlichen« Austrofaschismus.

    Relativ spät widmete sich die akademische Geschichtsschreibung der Frage der Opfer der Februarkämpfe 1934. Während das Dokumentationsarchiv des österreichischen Widerstandes seit den 1990er Jahren die Namen der österreichischen Holocaust­opfer recherchiert und auf dem Denkmal im Wiener Ostarrîchi-Park inzwischen mehr als 64.000 der mutmaßlich 66.500 Ermordeten verzeichnet sind, war die namentliche Erfassung der rund 360 Toten des Februars 1934 (wovon die 112 auf seiten der Regierungskräfte bereits bekannt waren) bis vor wenigen Jahren kein Thema gewesen. Es war wohl das Festhalten an der historischen Legendenbildung in den ersten Wochen nach den Kämpfen über angeblich Tausende Opfer des Bürgerkriegs gewesen, die ein simples Nachzählen der in Archivakten dokumentierten Toten verhindert hatte.

    Sowohl die Forschungsergebnisse zum Austrofaschismus als auch die 2019 als Sensation und »Entzauberung« linker »Mythen« präsentierten tatsächlichen Opferzahlen, die angeblich eine Neubewertung der Februarkämpfe erfordern würden, fanden kurzfristig ihren Weg auch in Zeitungsfeuilletons und soziale Medien. Ihr Einfluss auf die breite Öffentlichkeit und auf die Erinnerungspolitik der politischen Parteien blieb jedoch beschränkt.

    Dollfuß’ Verteidiger

    Das änderte sich 2022. Nach dem Rücktritt von Sebastian Kurz im Dezember 2021 wurde Innenminister Karl Nehammer Bundeskanzler. Nehammers Nachfolge als Innenminister trat Gerhard Karner an, ein bis dahin wenig bekannter niederösterreichischer Lokalpolitiker, der sich zunächst als Scharfmacher in Asyl- und Migrationsfragen positioniert hatte und bald darauf auch international auffällig wurde, als er namens der österreichischen Regierung den Beitritt von Rumänien und Bulgarien zum Schengen-Raum blockierte.

    Vor seiner Ernennung zum Minister war Karner Bürgermeister in Texingtal gewesen, einem Dorf mit nicht einmal 2.000 Einwohnern und einem kleinen Museum: Hier befindet sich das Geburtshaus von Engelbert Dollfuß, das Familienangehörige mit Unterstützung durch Funktionäre des niederösterreichischen Bauernbunds, einer Teilorganisation der ÖVP, mit diversen Devotionalien gefüllt und 1998 an die Gemeinde verpachtet hatten. Schon viele Jahre bevor Karner Bürgermeister geworden war, hatte die Gemeinde in dem Haus ein – allerdings wenig besuchtes – Museum eingerichtet. Eine Tafel neben dem Eingang ließ keinen Zweifel an der politischen Ausrichtung: »Geburtshaus des großen Bundeskanzlers und Erneuerers Österreichs Dr. Engelbert Dollfuß«. Das Museum wurde zwar Anfang 2022 zugesperrt, doch ließ sich nicht mehr verhindern, dass Innenminister Karner mit der »Huldigungsstätte« für den Diktator identifiziert und damit als Apologet des Austrofaschismus »entlarvt« wurde. Es gab kaum eine Zeitung in Österreich, die nicht darüber berichtete. Es nützte auch nichts, dass ÖVP-Chef Nehammer schon im Dezember 2021 in einem Fernsehinterview nicht nur die »Justizmorde« der Standgerichte »unerträglich« gefunden hatte, sondern auch die Frage, warum er sich so schwertue, das Dollfuß-Regime Austrofaschismus zu nennen, pariert hatte, indem er Austrofaschismus und Austromarxismus in einem Atemzug nannte und meinte, »im Kontext der Zeit« könnte man Dollfuß als »Austrofaschisten« bezeichnen.

    Angesichts des Medienrummels fühlten sich einige Altvordere der Österreichischen Volkspartei verpflichtet, zur Verteidigung auszurücken – aber nicht, um zu betonen, dass die heutige ÖVP nichts mehr mit der Christlichsozialen Partei der Zwischenkriegszeit zu tun habe, sondern um Bundeskanzler Dollfuß als Getriebenen hinzustellen, dem angesichts des Drucks von Mussolini und des Erstarkens der NSDAP bei Landtags- und Gemeinderatswahlen gar nichts anderes übriggeblieben sei, als »autoritär« zu reagieren. Andreas Khol, von den 1970er- bis in die 1990er Jahre Leiter der Parteiakademie und 1999 Architekt der Koalition zwischen Volkspartei und Jörg Haiders »Freiheitlichen«, gab die neue Linie vor (Kurier, 4.2.2024): Früher habe er die Bezeichnung »Bürgerkrieg« für die Februarkämpfe übernommen, das sei auch eine Möglichkeit gewesen, »mit der Linken über dieses Thema ins Gespräch zu kommen«. Doch diese »gemeinsame Gesprächsbasis ist weitgehend verloren gegangen«. Dass Dollfuß das Parlament ausgeschaltet habe, könne man ihm doch nicht vorwerfen. Das »verantwortungslose« Parlamentspräsidium habe im März 1933 den Nationalrat selbst lahmgelegt. Dollfuß hat diese Situation »ausgenutzt«, weil er »ganz offensichtlich« stark unter dem Eindruck der Gemeinderatswahlen in Innsbruck stand: »40 Prozent für die Nationalsozialisten im katholischen Tirol!« Außerdem gab es ringsum in Europa »einen Schwund der Demokratie«, ganz so wie heute. Doch »die Zeit ist längst über diese Dinge hinweggegangen. Wer immer hier noch auf diesem Klavier spielt, macht das nicht in der Absicht des Gedenkens, sondern in der Absicht, die Geschichte als Keule zu verwenden, um dem anderen auf den Schädel zu schlagen.« Gleichzeitig legte Khol Kanzler Nehammer die Bemerkung in den Mund, es sei »egal, ob man das Dollfuß-Regime ›austrofaschistisch‹ nennt oder nicht, es sei jedenfalls abzulehnen«. Und weiter: »Die Historisierung des Februaraufstands ist nur zu erreichen, wenn man auch über Dollfuß größere Klarheit gewinnt – und auch eingesteht, dass es eine Diktatur war.«

    Die Mär von der Mitschuld

    Andreas Khol ist nur die prominenteste Stimme der Konservativen, die das rückgängig zu machen versuchen, was als Ergebnis der erwähnten wissenschaftlichen Untersuchungen auch von ÖVP-Politikern eingestanden worden war: Dass die »Schuld« am Bürgerkrieg des Februar 1934 und der Errichtung der Diktatur eben nicht – wie man es zu Zeiten der Großen Koalition in den 1950er und 1960er Jahren gemacht hatte – gleichmäßig auf Linke und Rechte verteilt werden kann, sondern Ergebnis bewussten Handelns jener war, die in der parlamentarischen Demokratie ein Hindernis für die Erreichung ihrer politischen Ziele sahen. Dieser Backlash hat vor einigen Jahren Unterstützung durch einen Historiker bekommen, dem Khol die Erkenntnis verdankt, dass es kein Bürgerkrieg war: Kurt Bauer, der die Namen der Februaropfer recherchierte, hat 2019 ein Buch mit dem Titel »Der Februaraufstand 1934. Fakten und Mythen« vorgelegt. Khol: »Ich habe da meine Meinung im Lichte der Publikation von Kurt Bauer geändert.«

    Kurt Bauers Buch wurde breit rezipiert und wird auch jetzt, zum 90. Jahrestag der Februarkämpfe, wieder als angeblich objektive Darstellung gelobt und damit zum Teil der Erinnerungspolitik. Dabei verrät schon der Stil der Schilderung der historischen Ereignisse, bei wem die Sympathien des Autors sind und auf welche Quellen er sich vornehmlich stützt. Die Verlegung einer Bundesheer-Einheit ins Hausrucker Kohlerevier liest sich beispielsweise so: »Durch tiefen Schnee kämpften sich die Soldaten über den Berg Richtung Holzleithen.« Ganz anders die Schilderung der Bewegungen der Aufständischen. Der steirische Arbeiterkammersekretär Josef Stanek hatte »einen fatalen Fehler begangen: Er war nicht wie die anderen sozialdemokratischen Funktionäre sofort von der Bildfläche verschwunden, sondern hatte sich stundenlang bei den Aufständischen herumgetrieben.« Die Funktionäre der Arbeiterbewegung lügen, übertreiben maßlos und betreiben Greuelpropaganda. Die Regierung hingegen macht »unkluge« Dinge und ergreift »überzogene« Maßnahmen wie diese »überhasteten, schlampig durchgeführten« Standgerichtsprozesse: »Verurteilte, die möglicherweise durchaus verwerfliche Taten begangen hatten (…), wurden wegen der drakonischen Urteile mit einem Mal zu Märtyrern der Arbeiterbewegung.« Verbrechen der Heimwehr wie die Erschießung von Arbeitersanitätern in Holzleithen im Hausruck werden nicht zur faschistischen politischen Einstellung der Täter in Bezug gesetzt: »Das unbestreitbare Faktum des besonders brutalen Vorgehens der Heimwehren dürfte darauf zurückzuführen sein, dass es sich im Grunde um eine bunt zusammengewürfelte Truppe handelte. Die Heimwehrleute waren schlechter ausgebildet als die Angehörigen der Polizei, Gendarmerie und des Bundesheeres, und in der Regel verhielten sie sich auch wesentlich undisziplinierter.« Zu dieser Verharmlosung passt, dass in Zeitungsartikeln, die sich mit dem bevorstehenden Jahrestag beschäftigen, die »Heimwehren« entweder gar nicht erwähnt werden – oder ihr faschistischer Charakter unterschlagen wird, als ob das irgendwelche Heimatvereine gewesen wären. Auf diese Weise wird aus dem Abwehrkampf gegen die faschistische Machtübernahme eine parteipolitisch motivierte Revolte gegen eine legitime Regierung.

    Dass der versuchte Aufstand nach nicht einmal vier Tagen mit einer kompletten Niederlage endete, führte dazu, dass zu Recht darüber diskutiert wird, ob man die Kämpfe überhaupt als Bürgerkrieg bezeichnen kann. Der rasche Zusammenbruch lag vor allem an zwei Faktoren: dem Fehlen einer einsatzbereiten und fähigen Leitung auf Seiten der Aufständischen und dem Einsatz von Artillerie gegen Wohnhäuser, der die Kämpfenden zur Aufgabe der bedrohten Objekte manchmal schon veranlasste, bevor das Bundesheer den ersten Schuss abgefeuert hatte. Dennoch gaben die Kämpfe in Österreich dem Kampf gegen die faschistische Offensive auch anderswo in Europa neuen Aufschwung.

    Keine kampflose Niederlage

    Dass Dollfuß jeglichen Einfluss der Linken mit Brachialgewalt brechen und ein autoritär-faschistisches Regime errichten wollte, war angesichts der faschistischen Machtübernahme in Deutschland und der aggressiven Außenpolitik der Mussolini-Diktatur keine Kleinigkeit. Es ging schließlich nicht um eine Auseinandersetzung um Details der Budgetpolitik, sondern um Demokratie oder Diktatur, die Aufrechterhaltung eines wenngleich prekären Friedens oder das Taumeln Europas in den nächsten Weltkrieg – mit Österreich an der Seite des faschistischen Italiens. In diesem Abwehrkampf, dessen Erfolg das Gemetzel des Zweiten Weltkrieges und die Schoah verhindern hätte können, brauchte es positive Anknüpfungspunkte. Dass zumindest Teile der österreichischen Arbeiterschaft sich bewaffnet gegen die faschistische Machtübernahme aufzulehnen versuchten, war nach der kampflosen Niederlage der deutschen Arbeiterbewegung durch die Machtübernahme Hitlers von nicht zu unterschätzender Bedeutung.

    Eine persönliche Nachbemerkung: Anfang 1984 veröffentlichte der Berliner Dietz-Verlag ein von Hans Hautmann und mir verfasstes Taschenbuch über den Februar 1934 in Österreich. Wenige Wochen später, vom 28. Februar bis 1. März 1984 nahm ich an einer Konferenz in Sellin (Rügen) teil, die sich mit Fragen der Faschismusforschung beschäftigte. In einer Konferenzpause kam ein DDR-Kollege auf mich zu – er hielt das Taschenbuch in der Hand und wollte wissen, ob wir als Autoren denn keine Schwierigkeiten gehabt hätten, den Band im parteieigenen Dietz-Verlag zu veröffentlichen. Denn das Buch könne als versteckte Kritik an der Politik der KPD-Führung in den Tagen der Machtübernahme durch die Nazifaschisten gelesen werden. Schließlich hätten österreichische Sozialdemokraten etwas zustande gebracht, wozu KPD und SPD im Jahr zuvor nicht in der Lage gewesen seien.

    Anmerkungen

    1 Winfried R. Garscha/Hans Hautmann: Februar 1934 in Österreich, Berlin 1984, S. 131

    2 Everhard Holtmann: Politische Tendenzjustiz während des Februaraufstands 1934. In: Das Jahr 1934: 12. Februar, München 1975, S. 49

    Winfried R. Garscha ist Historiker und langjähriger Mitarbeiter des Dokumentationsarchivs des österreichischen Widerstands.

    #Autriche #histoire #fascisme

  • Blockade von Leningrad : »Die schlimmen Zeiten sind nicht vergessen« 
    https://www.jungewelt.de/artikel/468044.blockade-von-leningrad-die-schlimmen-zeiten-sind-nicht-vergessen.ht


    Verteidiger der Stadt während der Blockade : Sowjetische Panzer auf der Urizkistraße (30.10.1942)

    Un entretien avec un des derniers survivants du siège de Léningrad. Le 27 janvier marque le quatre vingtième anniversaire de la fin de cet acte de barbarie allemand.

    Aujourd’hui en Allemagne on préfère commémorer la libération du camp d’Auschwitz exactement un an plus tard en évitant autant que possible de parler des soldats de l’armée rouge. On plaint les juifs assassinés et passe sous silence le crime contre les citoyens de l’Union Soviétique qui a couté la vie à vingt fois plus d’hommes, femmest et enfants.

    27.1.2024 von Arnold Schölzel - Sie haben die Leningrader Blockade überlebt. Wie viele Überlebende gibt es in Berlin?

    Allein hier sind wir 40 bis 45 Menschen, in der Bundesrepublik etwa 300. Wir haben uns in der Vereinigung »Lebendige Erinnerung« zusammengeschlossen und arbeiten mit dem »Club Dialog« im Wedding und der Stiftung »Erinnerung, Verantwortung und Zukunft« zusammen. Bis zur Pandemie feierten wir den Jahrestag der Befreiung Leningrads stets im Haus der Russischen Kultur, aber das ist jetzt nicht mehr möglich. Einige wenige fliegen auch in diesem Jahr auf Einladung des Gouverneurs von St. Petersburg dorthin, um den 80. Jahrestag der Befreiung Leningrads zu feiern. Überlebende der Blockade leben überall auf der Welt.

    Wie begehen Sie im »Club Dialog« den Jahrestag?

    Wir hören dort ein Fragment der »Leningrader Sinfonie« von Dmitri Schostakowitsch, die er zu Beginn der Blockade komponiert hat und die am 9. August 1942 in Leningrad aufgeführt wurde. Wir gedenken vor allem der Toten. Niemand weiß, wie viele es letztlich waren. Die Schätzungen reichen von 600.000 bis 1,2 Millionen Menschen. Sie starben durch Hunger, Kälte, Bomben und viele andere Ursachen. Heute wissen hier allerdings viele junge Menschen kaum noch, dass St. Petersburg und Leningrad dieselbe Stadt sind.

    Sie waren am 22. Juni 1941 zwölf Jahre alt. Wie haben Sie den Kriegsbeginn erlebt?

    Ich war an jenem Tag in einem Pionierferienlager, gut 20 Kilometer von Leningrad entfernt. Es war für Kinder von Mitarbeitern der großen Leningrader Textilfabrik »Rotes Banner«. Dort arbeitete mein Großvater, denn ich lebte bei meinen Großeltern. Meine Eltern waren unterwegs auf Großbaustellen des sozialistischen Aufbaus, vor allem in den großen Kraftwerken am Wolchow und am Swir. Bis 1936 war ich im Sommer manchmal zwei Monate bei ihnen, dann ging es zurück zu Opa und Oma. 1936 sollte ich auf einmal bei den Eltern bleiben und zur Schule gehen, das war in Staraja Russa. Als ich einen Monat lang die Schule geschwänzt hatte, durfte ich zurück. Ich hatte vier Klassen absolviert, als der Krieg kam.

    Was passierte im Ferienlager?

    Es herrschte Chaos. Nach einigen Tagen kamen viele Mütter und holten unter Klagen und Weinen ihre Kinder ab, zurück blieben ungefähr zehn bis 15 Kinder, darunter ich. Zu mir kam niemand, und ich war sehr unglücklich. Die Lagerleiter erklärten uns nichts, wir hatten nur Zeitungen. Irgendwann entschloss ich mich, allein nach Leningrad zu fahren. Wir waren ja nicht weit weg, aber für mich als Kind war das eine lange Reise. Zum Glück holte mich mein Opa am Bahnhof ab, meine Oma war leider im Januar 1941 gestorben.

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    Meine Mutter sah ich erst nach zehn Jahren 1946 wieder. Sie lebte damals in Wologda, nördlich von Moskau. Von den Behörden hatte sie die Mitteilung erhalten, dass mein Vater bei der Verteidigung Leningrads drei Tage vor dem Ende der Blockade, am 24. Januar 1944, getötet worden war. Er hatte in Jelisawetino, etwa 70 Kilometer südwestlich der Stadt, eine Artilleriestellung kommandiert. Sie erhielt einen Volltreffer, alle fünf Soldaten waren tot. Meine Mutter bekam eine sehr kleine staatliche Unterstützung und arbeitete als Grundschullehrerin. Aber es reichte nicht, um meine drei jüngeren Geschwister zu ernähren. Sie lebten in einem Kinderheim.

    Der Winter 1941/42 war mit bis zu minus 40 Grad extrem kalt. Wie haben Sie und Ihre Familie überlebt?

    Uns halfen vor allem eine Cousine und ein Onkel, der beim Militär war: Sie teilten ihre Lebensmittelrationen mit uns. Aber es war schwer: Im November kam der Befehl, alle Holzzäune und Holzhäuser für Heizung zur Verfügung zu stellen. Wir mussten das Haus, in dem wir wohnten, aufgeben, und zogen alle zusammen in ein Zimmer. Zum Glück waren einige wegen ihrer militärischen Verpflichtungen nur selten da. Das Zimmer war Teil einer Gemeinschaftswohnung, einer Kommunalka, und wurde von einer Granate getroffen, die zwar nicht explodierte, aber es in der Kälte unbewohnbar machte. Wir zogen ein Haus weiter – es gab bereits viele leerstehende Wohnungen. Ich wurde im Februar 1942 zusammen mit meiner Tante und deren Kindern in ein sibirisches Dorf evakuiert, 120 Kilometer südlich der Gebietshauptstadt Tscheljabinsk in der Nähe der kasachischen Grenze. Dort arbeiteten alle in einer Molkerei und ich von Mai bis Ende September als Schafhirte. 1944 hatte ich die Verantwortung für 533 Schafe. Im Kolchos sagten sie, ich müsse das übernehmen, weil ich ein belesener Mensch sei – ich war ständig mit einem Buch unterwegs.

    Die Blockade beendete Ihre Schulbildung?

    Es gab in Leningrad nur wenige Schulen, die weiterarbeiten konnten – vor allem für Jüngere. Ende 1944 hörte ich eines Tages in unserem Dorfrundfunk, der täglich zweimal jeweils 30 Minuten sendete, einen Aufruf: Moskauer und Leningrader Bildungseinrichtungen fordern dazu auf, sich im Januar und Februar 1945 für die ersten Kurse einzuschreiben. Wir erhielten eine Genehmigung, nach Leningrad zu fahren, und kamen im Februar 1945 dort an. In der Marineschule, für die ich mich beworben hatte, gab es aber eine böse Überraschung: Bei der Musterung stellte der Augenarzt bei mir Astigmatismus fest, eine Hornhautverkrümmung. Das war’s.

    Unserer Regierung war aber klar, dass nach dem Krieg Zehntausende, wenn nicht Hunderttausende Kinder und Jugendliche ihre unterbrochene Bildung und Ausbildung fortsetzen wollten. Ich wurde schließlich von einer Fachschule, die Funktechniker ausbildete, angenommen. Der Unterricht und die Ausbildung dort waren allerdings hart, sehr hart, ein halbes Jahr militärischer Ausbildung gehörte dazu. Dort erhielt ich 1949 mein erstes Abschlusszeugnis.

    Sie machten weiter?

    Ich wollte zur Hochschule. Das hieß: Arbeit und zugleich Studium. Das allein war schon anstrengend, aber hinzu kamen die schlimmen Wohnverhältnisse. 1952 heiratete ich meine Frau, stand aber noch bis 1955 auf der Liste der Wohnungssuchenden. Plötzlich erhielten wir ein Zimmer in einer Kommunalka. Zu den Schwierigkeiten gehörte auch: Menschen jüdischer Herkunft waren in den 50er Jahren bestimmte Arbeitsbereiche, gerade in der Nachrichtentechnik und der Militärtechnik insgesamt, verschlossen. Auf mich kam aber irgendwann ein Freund zu und forderte mich auf, in seinem Forschungsinstitut anzufangen. Es stellte sich heraus, dass es um Funktechnik zur Steuerung und Abwehr von Raketen ging, also ein Gebiet, das strenger Geheimhaltung unterlag, auf dem aber Tausende Menschen arbeiteten.

    Vom Blockadekind und Schafhirten zum Spitzenwissenschaftler?

    In den 60er Jahren begann ich eine Aspirantur, das war in der Sowjetunion ein Weg zur Promotion, wurde Dozent und schließlich Professor, erhielt viele Auszeichnungen. Nach meinem 60. Geburtstag und der Pensionierung wollten meine Frau und ich unserem Sohn nach Berlin folgen, ich nicht so sehr, aber meine Frau hatte hier eine ihr nahestehende Cousine, die in der DDR Generaldirektorin der Nachrichtenagentur ADN gewesen war. 1993 konnten wir ausreisen. Übrigens habe ich auch hier vor einem Jahr für meine ehrenamtliche Tätigkeit einen Orden erhalten, das Bundesverdienstkreuz. Das ist unter uns ehemaligen Sowjetbürgern selten.

    Wie empfinden Sie den Umgang mit dem Zweiten Weltkrieg und der Blockade Leningrads in der Bundesrepublik?

    Das ist nicht einfach. Ich habe dazu nicht wissenschaftlich gearbeitet und kann nur meine persönliche Meinung sagen: Die Leute in Deutschland wissen zumeist nichts davon und verstehen auch nichts. Jetzt herrscht dieser Krieg in der Ukraine, und ich höre, dass die Ukraine ihn gewinnen muss. Ich vermeide, darüber zu sprechen, denn die Menschen, die diesen Krieg führen, haben die schlimmen Ereignisse und Zeiten von damals vergessen. Wir Überlebende hören junge Leute sagen: »Die Krim gehört uns.« Ich finde das alles nicht richtig. Ich bin gegen Krieg, alle Menschen sollten in Frieden leben können, sollten Arbeit und Erholung haben. In unserem »Club Dialog« erzählen Zeitzeugen wie ich zu den Jahrestagen des Zweiten Weltkrieges davon. Wir arbeiten weiter, denn niemand ist vergessen und nichts ist vergessen.

    Leonid Berezin wurde 1929 in Sibirien geboren, kam aber als Kleinkind nach Leningrad. Er überlebte die Blockade der Stadt und arbeitete dort Jahrzehnte im Zentralen Forschungsinstitut für Schiffsinstrumente an Waffentypen, über die der Westen nicht verfügte. Seit 1992 lebt er in Berlin

    Siège de Léningrad
    https://fr.m.wikipedia.org/wiki/Si%C3%A8ge_de_L%C3%A9ningrad

    #URSS #Alkemagne #guerre #histoire

  • Ikone des Widerstands - Rosen für Angela
    https://www.jungewelt.de/artikel/468226.ikone-des-widerstands-rosen-f%C3%BCr-angela.html


    Nous avon raté le quatre vingtième anniversaire d’Angela Davis

    27.1.2024 von Nick Brauns - Am 26. Januar 1971 starten die Freie Deutsche Jugend und die Junge Welt die Kampagne »Eine Million Rosen für Angela Davis« zum 27. Geburtstag der Kommunistin. Die Philosophiedozentin war mit dem konstruierten Vorwurf der Terrorunterstützung inhaftiert worden. Ihr drohte unter Kaliforniens Gouverneur Ronald Reagan die Todesstrafe. Nicht nur aus der DDR trafen körbeweise Postkarten im Gefängnis ein, weltweit kämpften Millionen für die junge Afroamerikanerin. Mit Erfolg. Davis wurde 1972 in allen Anklagepunkten freigesprochen.

    Die erfahrene Solidarität war für ihr politisches Leben ebenso prägend wie die Erfahrung rassistischen Terrors durch den Ku-Klux-Klan und Apartheid in ihrer Kindheit in Alabama. Nach kurzer Mitgliedschaft bei den Black Panthers trat sie 1968 der kommunistischen Partei bei. Anstatt Identitäts- gegen Klassenpolitik zu stellen, zeigte sie in ihrem Buch »Women, Race & Class« (1981) den Zusammenhang zwischen verschiedenen Unterdrückungs- und Ausbeutungsformen auf und plädierte für entsprechende politische Koalitionen.

    Bis heute ist Angela Davis politisch aktiv – etwa gegen das Gefängnissystem, in der »Black Lives Matter«-Bewegung und für die Freiheit von Palästina. Am Freitag ist sie 80 Jahre alt geworden. Junge Welt gratuliert und wünscht noch viele gesunde und kämpferische Jahre.

    #USA #communistes #féminisme

  • Tödliche Staatsgewalt : »Sie werden oft nicht als Teil der Gesellschaft gesehen« 
    https://www.jungewelt.de/artikel/466788.t%C3%B6dliche-staatsgewalt-sie-werden-oft-nicht-als-teil-der-gesell

    Le patient pique une crise, le médecin appelle la police, la police tue le patient. Ce n’est pas extraordinaire. Dans le cas présent le patient se rend tout seul à la police pour demader de l’aide car son médecin l’a trahi. La police le tue quand même. Sans l’intervention du médecin dans la vie du patient il serait encore vivant. On ne les remarque pas souvent, mais les médecins y sont toujours pour quelque chose quand les patients meurent.

    Exposition en ligne : https://initiative-2mai.de/ichwilleinenrichter/Onlineausstellung-ichwilleinenrichter-2023.09.09.html

    16.1.2024 von Kristian Stemmler - Psychisch Erkrankter stirbt in Mannheim bei Polizeieinsatz. Prozessauftakt gegen Beamte. Ein Gespräch mit Chana Dischereit

    Prozessbeginn gegen zwei Polizisten, die Ante P. auf dem Gewissen haben (Mannheim, 12.1.2023)

    Gegen die beiden Polizeibeamten, die am 2. Mai 2022 im Zentrum von Mannheim einen psychisch erkrankten Mann so brutal traktierten, dass er starb, hat am Freitag der Prozess begonnen. Wie kam es damals zu der Situation?

    Unser Wissensstand aktuell ist: Ante P. erschien zum vereinbarten Termin bei seinem behandelnden Arzt; er sollte in die Psychiatrie eingewiesen werden. Entgegen dem Rat des Arztes, bei dem er sich eigentlich gut behandelt wusste, wollte er sich dann doch nicht einweisen lassen und suchte eine Polizeistation auf, die in dem sehr belebten Viertel rund um den Marktplatz liegt. Er ging dort aber auch wieder weg. Der Arzt rief dann zwei Polizisten hinzu. Etwa 70 Zeugen sahen, wie die Polizei Ante mit Pfefferspray attackierte, ihm die Arme auf den Rücken band, ihn auf den Boden drückte und ins Gesicht schlug. Er bekam keine Luft mehr. Auf den Videos ist zu hören, wie Ante mehrfach nach einem Richter ruft, ein Richter, der ihn vor einer Zwangseinweisung hätte bewahren können. Das waren seine letzten Worte.

    Wie bewerten Sie das Verhalten der Beamten?

    In dem Viertel kam es in der Vergangenheit oft zu Racial Profiling (rassistisch motivierte Polizeikontrollen, jW) und brutalem Polizeivorgehen. Es kann sein, dass Ante migrantisch gelesen wurde. Es kann auch sein, dass auf Menschen wie Ante eine prinzipiell »gefährliche« Schablone gestülpt wird, wie jemand, der beseitigt werden müsse. Menschen mit psychischen Erkrankungen werden oft nicht als Teil der Gesellschaft gesehen, das hat leider Kontinuität. Die deutsche Gesellschaft beschäftigte sich in der Nazizeit explizit mit »Euthanasie«, mit der Ausrottung der psychisch Kranken. Es war von vornherein zu erkennen, dass es sich hier um einen Schutzbefohlenen handelte. Statt dessen handelte die Polizei, als habe sie einen Schwerverbrecher mit Waffe vor sich. Das Vorgehen der Beamten ist nicht zu entschuldigen.

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    Was wissen Sie über die persönliche Lebenssituation von Ante P. ?

    In unserer digitalen Ausstellung »Ich will einen Richter« haben wir versucht, Ante kennenzulernen. Er war ruhig, rauchte in den Arbeitspausen gerne Zigaretten. Seine Freunde und Arbeitskollegen beschreiben ihn als extrem hilfsbereit. Er wohnte im vierten Stock, pflanzte Erdbeeren, hörte dabei vielleicht die Band »Queen«. Er träumte davon, Kroatien zu besuchen. Mit seiner Krankheit hat sich Ante schon seit seinem vierzehnten Lebensjahr auseinandergesetzt. Er wuchs mit seiner Schwester zusammen bei seiner Mutter auf. Und er führte über Jahrzehnte ein selbstständiges Leben, trotz seiner Erkrankung. Es gibt ein Foto mit ihm und dem Bürgermeister von Mannheim bei seiner Einbürgerung.

    Laut Statistik gibt es nach derartigen Einsätzen nur selten Verurteilungen von Polizisten. Hoffen Sie, dass es diesmal anders kommt?

    Wir haben uns nunmehr fast zwei Jahre lang darum bemüht, dass Ante nicht in Vergessenheit gerät und es zu einem Prozess gegen die Polizeibeamten kommt. Es gab 2022 einen Toten unter ähnlichen Umständen in Mannheim – Untersuchung eingestellt – und nun vor wenigen Wochen wieder. Es ist vor allem den Zeugen zu verdanken, dass es zur Anklage gekommen ist. Wir hoffen, dass dieses Verfahren zu einer breiten öffentlichen Debatte führt, die weitreichende Konsequenzen in Bezug auf die Behandlung solcher Menschen wie Ante durch die Polizei hat. Das wünscht sich auch seine Schwester.

    Wie begleitet die »Initiative 2. Mai« den Prozess?

    Während der Dauer des Verfahrens rufen wir zu Mahnwachen auf. Symbolisch möchten wir durch unsere Anwesenheit der Familie und den Zeugen Trost spenden. Es wird gebeten, einen Gedenkort am Marktplatz, an dem Platz, an dem Ante starb, entstehen zu lassen und Blumen niederzulegen. Im Gerichtssaal werden wir mit vielen Ehrenamtlichen den Prozess kritisch begleiten und auswerten.

    #patients #police #iatrocratie #assassinat #euthanasie

  • #RLK24: »Das Endspiel des Kapitalismus ist in vollem Gange«
    https://www.jungewelt.de/artikel/467694.rlk24-das-endspiel-des-kapitalismus-ist-in-vollem-gange.html

    13.10.2024 - Das Referat des aus Kopenhagen angereisten Torkil Lauesen auf der XXIX. Internationalen Rosa-Luxemburg-Konferenz gehört zu den wohl am heißesten erwarteten Beiträgen an diesem Sonnabend im Berliner Tempodrom. Der Däne gehörte in den 1970er Jahren einer kommunistischen Gruppe an, die Geldtransporter überfiel, um mit der Beute sozialistische Befreiungsbewegungen im globalen Süden zu unterstützen.

    In seinem Referat stellte er die Frage, »wie wir Sand in das Getriebe der kapitalistischen Maschine bekommen«, um auf ihren Trümmern ein »gleichberechtigtes und friedliches Weltsystem« aufzubauen. Dass dies angesichts des im globalen Norden weit verbreiteten Pessimismus bei Revolutionären denkbar wird, liegt laut Lauesen an den Krisen des neoliberalen Kapitalismus. Dabei hat er in erster Linie den aktuellen Niedergang der US-Hegemonie auf der einen, sowie den von China angeführten, aufstrebenden Nationen des Südens, die eine multipolare Weltordnung errichten, auf der anderen Seite, vor Augen.

    Dieser »Hauptwiderspruch« ermögliche ein Fenster für eine antimperialistische Praxis. In der Metropole sei eine solche aus zwei Gründen geboten: Erstens habe unsere »imperiale Lebensweise« die ökologische Klimakrise verursacht, zweitens verfügten unsere Staaten über Massenvernichtungsmittel, die das »Endspiel des Systems in eine Katastrophe verwandeln könnten«. Die treibende Kraft der Transformation werde jedoch der globale Süden sein. Diesen gelte es »konkret zu unterstützen«, unter anderem, indem der internationale Arbeiterkampf entlang von globalen Produktionsketten, in der Klima- sowie der Antikriegsbewegung gefördert werde.

    Antiimperialisten die sich im Norden an diesem Kamp beteiligen, so Lauesen, werden eine Minderheit in unserer Gesellschaft sein, aber eine wichtige Minderheit: »Wir werden als Landesverräter gelten – aber das ist besser, als ein Klassenverräter zu sein«. Zum Abschluss warnte der Referent: Auf die kommende Kriminalisierung der Bewegung solle man sich vorbereiten, sowohl auf persönlicher als auch auf organisatorischer Ebene. (kan)

    #capitalisme #crise #répression

  • Mobilitätswende: Staatlich finanzierter Lohndrücker
    https://www.jungewelt.de/artikel/466925.mobilit%C3%A4tswende-staatlich-finanzierter-lohndr%C3%BCcker.html

    9.1.20224 von Gisela Sonnenburg - Hamburg: Subventionierter Sammeltaxianbieter Moia wegen schlechter Arbeitsbedingungen in der Kritik

    Die Fahrer verdienen bei Moia nur 13 Euro pro Stunde

    Der Arbeitsmarkt ist im Wandel, und das nicht zum besten. In Hamburg zeigt die 100prozentige VW-Tochter Moia, was moderne Ausbeutung ist. Moia bietet schicke Elektrokleinbusse als Sammeltaxen an. Seit fünf Jahren kutschieren diese bis zu sechs Personen pro Fahrt durch Hamburg. Moia gibt sich digital: Nur über eine App, ganz ohne Anruf, fragt man nach den Kosten für die gewünschte Fahrt. Drei Angebote bieten garantierte Festpreise an. Sollte eine Fahrt länger dauern, weil ein Stau das Fortkommen verzögert oder weil die Route für einen anderen Fahrgast komplizierter ist als geplant, zahlt man keinen Cent mehr. Für konventionelle Taxiunternehmen ist Moia eine harte Billigkonkurrenz: Durchschnittlich nur sechs Euro zahlen die Kunden, die am häufigsten zum Flughafen, zum Hauptbahnhof oder auf die Reeperbahn gefahren werden.

    Das geht zu Lasten der Dienstleistenden. Die Fahrer verdienen bei Moia nur 13 Euro pro Stunde (plus Zuschläge). Versuche der IG Metall (IGM) im letzten Herbst, einen Haustarif zu erarbeiten, sind gescheitert. Besonders sauer ist die Gewerkschaft, weil Moia überhaupt nicht mehr verhandeln will. Dafür gibt es dort eine auffallende Häufung von Kündigungen, die jetzt David Stoop, Fachsprecher für Gewerkschaftspolitik bei der Partei Die Linke in Hamburg, auf den Plan rief.

    Auf Stoops Anfrage bei der Bürgerschaft in Hamburg hin wurde bekannt, dass seit 2019 mehr als 140 arbeitsrechtliche Verfahren gegen Moia in der Hansestadt angelaufen sind. Zumeist geht es darin um Kündigungen und Zahlungsversäumnisse, manchmal auch um so demütigende Themen wie Toilettenpausen.

    VVn-VdA

    Alles in allem scheint Moia genau das zu sein, wovor aufgeklärte Zeitgenossen die Arbeitswilligen warnen: Unberechenbare Kündigungen sorgen für einen hohen Druck und eine hohe Fluktuation. Ein Gekündigter klagt, man habe ihm übelgenommen, dass er sich für einen gehörlosen Fahrgast eingesetzt hatte. Ständige Stellenausschreibungen erhöhen zudem das Gefühl bei den unter Vertrag Stehenden, nicht genug zu leisten. Unterbezahlung, Unsicherheit und Unterdrückung von Widerspruch – beim angeblich fortschrittlichen Moia-Projekt feiern die bekanntesten schlechten Tugenden des Kapitalismus fröhliche Urständ.

    Den Staat melkt Moia gleich doppelt. Zum einen erhält die VW-Tochter vom Bund eine Fördersumme von 26 Millionen Euro: für das Ziel, einen fahrerlosen Shuttleservice zu entwickeln. Bis zu 10.000 fahrerlose, sogenannte autonom fahrende Elektrokleinbusse sollen bis 2030 laut Moia die Straßen Hamburgs »sicherer« machen. Arbeitsplätze werden so angeblich nicht nur erhalten, sondern auch neu geschaffen. Was Moia nicht sagt: Fahrgäste von anderen Taxiunternehmen abzuwerben schafft keine Arbeitsplätze, sondern verlagert sie nur in einen anderen Betrieb.

    Zum zweiten will Moia seinen »Ride­pooling-Service« auch als lizenziertes Konzept verkaufen: an andere Verkehrsunternehmen, an Städte und Gemeinden. In Hamburg hat Moia es bereits geschafft, auf einer Strecke – zwischen Hammerbrook und Veddel – faktisch Teil des öffentlichen Nahverkehrs zu werden. Mit dem Lizenzverkauf wird der Einfluss der VW-Tochter bundesweit wachsen. Der deutsche Staat kauft Moia somit etwas ab, für dessen Entwicklung er bereits Millionen hinblättert. »Logischer wäre es, wenn mit den staatlichen Mitteln auch eine staatliche Beteiligung einhergehen würde. Um einerseits zu sichern, dass Gewinne nicht nur bei VW landen, und um andererseits das Projekt im Sinne des Gemeinwohls steuern zu können«, sagte der Fachmann Stoop dazu am Montag gegenüber junge Welt.

    Aber von solchen Zielsetzungen ist der aktuelle Hamburger Senat wohl weit entfernt. Verkehrssenator Anjes Tjarks (Bündnis 90/Die Grünen) schwärmt vielmehr davon, die Nutzung von Autos generell zu verringern. Bis 2030 sollen 80 Prozent der Wege in Hamburg nicht mit dem Privatauto zurückgelegt werden. Derzeit sind es übrigens schon 70 Prozent. Wie Moia dazu gebracht werden kann, den Markt nicht weiter mit Lohndrückerei aufzumischen, sagt der Verkehrssenator nicht.

    #Hamburg #Fahrdienst #Arbeit #Ausbeutung