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  • Mobilitätswende: Staatlich finanzierter Lohndrücker
    https://www.jungewelt.de/artikel/466925.mobilit%C3%A4tswende-staatlich-finanzierter-lohndr%C3%BCcker.html

    9.1.20224 von Gisela Sonnenburg - Hamburg: Subventionierter Sammeltaxianbieter Moia wegen schlechter Arbeitsbedingungen in der Kritik

    Die Fahrer verdienen bei Moia nur 13 Euro pro Stunde

    Der Arbeitsmarkt ist im Wandel, und das nicht zum besten. In Hamburg zeigt die 100prozentige VW-Tochter Moia, was moderne Ausbeutung ist. Moia bietet schicke Elektrokleinbusse als Sammeltaxen an. Seit fünf Jahren kutschieren diese bis zu sechs Personen pro Fahrt durch Hamburg. Moia gibt sich digital: Nur über eine App, ganz ohne Anruf, fragt man nach den Kosten für die gewünschte Fahrt. Drei Angebote bieten garantierte Festpreise an. Sollte eine Fahrt länger dauern, weil ein Stau das Fortkommen verzögert oder weil die Route für einen anderen Fahrgast komplizierter ist als geplant, zahlt man keinen Cent mehr. Für konventionelle Taxiunternehmen ist Moia eine harte Billigkonkurrenz: Durchschnittlich nur sechs Euro zahlen die Kunden, die am häufigsten zum Flughafen, zum Hauptbahnhof oder auf die Reeperbahn gefahren werden.

    Das geht zu Lasten der Dienstleistenden. Die Fahrer verdienen bei Moia nur 13 Euro pro Stunde (plus Zuschläge). Versuche der IG Metall (IGM) im letzten Herbst, einen Haustarif zu erarbeiten, sind gescheitert. Besonders sauer ist die Gewerkschaft, weil Moia überhaupt nicht mehr verhandeln will. Dafür gibt es dort eine auffallende Häufung von Kündigungen, die jetzt David Stoop, Fachsprecher für Gewerkschaftspolitik bei der Partei Die Linke in Hamburg, auf den Plan rief.

    Auf Stoops Anfrage bei der Bürgerschaft in Hamburg hin wurde bekannt, dass seit 2019 mehr als 140 arbeitsrechtliche Verfahren gegen Moia in der Hansestadt angelaufen sind. Zumeist geht es darin um Kündigungen und Zahlungsversäumnisse, manchmal auch um so demütigende Themen wie Toilettenpausen.

    VVn-VdA

    Alles in allem scheint Moia genau das zu sein, wovor aufgeklärte Zeitgenossen die Arbeitswilligen warnen: Unberechenbare Kündigungen sorgen für einen hohen Druck und eine hohe Fluktuation. Ein Gekündigter klagt, man habe ihm übelgenommen, dass er sich für einen gehörlosen Fahrgast eingesetzt hatte. Ständige Stellenausschreibungen erhöhen zudem das Gefühl bei den unter Vertrag Stehenden, nicht genug zu leisten. Unterbezahlung, Unsicherheit und Unterdrückung von Widerspruch – beim angeblich fortschrittlichen Moia-Projekt feiern die bekanntesten schlechten Tugenden des Kapitalismus fröhliche Urständ.

    Den Staat melkt Moia gleich doppelt. Zum einen erhält die VW-Tochter vom Bund eine Fördersumme von 26 Millionen Euro: für das Ziel, einen fahrerlosen Shuttleservice zu entwickeln. Bis zu 10.000 fahrerlose, sogenannte autonom fahrende Elektrokleinbusse sollen bis 2030 laut Moia die Straßen Hamburgs »sicherer« machen. Arbeitsplätze werden so angeblich nicht nur erhalten, sondern auch neu geschaffen. Was Moia nicht sagt: Fahrgäste von anderen Taxiunternehmen abzuwerben schafft keine Arbeitsplätze, sondern verlagert sie nur in einen anderen Betrieb.

    Zum zweiten will Moia seinen »Ride­pooling-Service« auch als lizenziertes Konzept verkaufen: an andere Verkehrsunternehmen, an Städte und Gemeinden. In Hamburg hat Moia es bereits geschafft, auf einer Strecke – zwischen Hammerbrook und Veddel – faktisch Teil des öffentlichen Nahverkehrs zu werden. Mit dem Lizenzverkauf wird der Einfluss der VW-Tochter bundesweit wachsen. Der deutsche Staat kauft Moia somit etwas ab, für dessen Entwicklung er bereits Millionen hinblättert. »Logischer wäre es, wenn mit den staatlichen Mitteln auch eine staatliche Beteiligung einhergehen würde. Um einerseits zu sichern, dass Gewinne nicht nur bei VW landen, und um andererseits das Projekt im Sinne des Gemeinwohls steuern zu können«, sagte der Fachmann Stoop dazu am Montag gegenüber junge Welt.

    Aber von solchen Zielsetzungen ist der aktuelle Hamburger Senat wohl weit entfernt. Verkehrssenator Anjes Tjarks (Bündnis 90/Die Grünen) schwärmt vielmehr davon, die Nutzung von Autos generell zu verringern. Bis 2030 sollen 80 Prozent der Wege in Hamburg nicht mit dem Privatauto zurückgelegt werden. Derzeit sind es übrigens schon 70 Prozent. Wie Moia dazu gebracht werden kann, den Markt nicht weiter mit Lohndrückerei aufzumischen, sagt der Verkehrssenator nicht.

    #Hamburg #Fahrdienst #Arbeit #Ausbeutung

  • Kuba : 65 Jahre Kubanische Revolution
    https://www.jungewelt.de/artikel/466178.kuba-65-jahre-kubanische-revolution.html


    Fidel Castro bei einer Rede in Havana (ohne Datum)
    La résistance contre le super-puissances est possible. Aujourd’hui nous fêtons les 65 années de socialisme au Cuba.

    30.12.2024 von Volker Hermsdorf - Am Montag feiert das Land das Ende der Diktatur von Fulgencio Batista

    Millionen Kubaner feiern diesen Montag auch den 65. Jahrestag ihrer Revolution. Wie üblich, werden das neue Jahr und das Revolutionsjubiläum zu Silvester um Mitternacht auf der Festung San Carlos de la Cabaña über der Hafeneinfahrt der Hauptstadt mit 21 Salutschüssen begrüßt. Neben zahlreichen Aktivitäten im ganzen Land findet eine zentrale Feier im Céspedes-Park von Santiago de Cuba statt. Dort hatte Revolutionsführer Fidel Castro am 1. Januar 1959 von einem Balkon den Sieg der von ihm angeführten Rebellenarmee über das Regime des US-freundlichen Diktators Fulgencio Batista verkündet.

    »Wir können sagen, dass wir in den vier Jahrhunderten, seit unsere Nation begründet wurde, zum ersten Mal völlig frei sein werden«, erklärte Castro dort. Als ahnte er die kurz darauf beginnenden Angriffe von US-Regierungen auf die Unabhängigkeit und Souveränität seines Landes, fügte er hinzu: »Die Revolution beginnt jetzt. Sie wird keine einfache Aufgabe sein, sondern eine harte und gefahrvolle Unternehmung.«

    Seitdem unterliegt das erste sozialistische Land auf dem amerikanischen Kontinent der längsten und umfangreichsten Wirtschafts-, Handels- und Finanzblockade, die je gegen ein Volk verhängt wurde. Trotzdem verfügt Kuba seit Jahrzehnten über das politisch stabilste System der Region. Während viele Länder Lateinamerikas in den vergangenen Jahrzehnten unter meist US-freundlichen Diktatoren litten, die ihre Macht mit Todesschwadronen, Folter, »Verschwindenlassen« und Morden an Oppositionellen zu sichern versuchten, verteidigte Kuba mit Erfolg die Ziele der Revolution. In wenigen Jahren gelang es, die bis dahin im Bildungs- und Gesundheitsbereich rückständige Insel zum ersten vom Analphabetismus befreiten Land der Region zu machen. Und trotz US-Blockade verfügt Kuba weiterhin über die größte Anzahl von Ärzten und medizinischen Einrichtungen in Lateinamerika.

    Obwohl »die Last des Mangels« in vielen Bereichen auch an diesem Jahresende weiterbestehe, gebe es Errungenschaften, »die uns nicht einmal die schlimmsten Naturgewalten oder das Imperium nehmen konnten«, so Präsident Miguel Díaz-Canel in der letzten Parlamentssitzung des Jahres am 22. Dezember. »Feiern wir unsere Unabhängigkeit, unsere Souveränität und unsere Freiheit!«

    #Cuba #Révolution #Socialisme

  • Siedlerkolonialismus : Israels industrielle Reservearmee
    https://www.jungewelt.de/artikel/465412.siedlerkolonialismus-israels-industrielle-reservearmee.html
    A propos de l’économie politique de l’occupation

    16.12.2023 von Lena Schmailzl, Ramallah - Westjordanland: Jeden Tag müssen Hunderttausende palästinensische Lohnarbeiter Ausbeutung und Marginalisierung in Kauf nehmen

    Wer die palästinensischen Arbeiter auf ihrem Weg zu den Baustellen des Landes begleiten will, muss früh aufstehen. Zwischen drei und vier Uhr morgens machen sich die ersten auf den Weg. Noch bevor die Sonne aufgeht, beginnt die Rushhour auf vielen Straßen im besetzten Palästina. Die Autos haben nur eine Richtung: zum nächsten Checkpoint. Auch in den Dörfern um Nilin, etwa 20 Kilometer westlich von Ramallah, fährt Wagen um Wagen vorbei, jeder vollbesetzt mit Männern in Arbeitskleidung. Am Straßenrand stehen weitere Arbeiter, die auf eine Mitfahrgelegenheit hoffen. Aus palästinensischer Richtung kommend, ist das erste sichtbare Zeichen des Checkpoints hier ein riesiger provisorischer Parkplatz. Um 5.30 Uhr morgens steht er schon weitgehend voll.

    Etwa 200.000 palästinensische Arbeiter pendeln täglich hinter die Mauer oder in israelische Kolonialsiedlungen, um dort ihre Arbeitskraft zu verkaufen. Nicht wenige von ihnen arbeiten dabei auf Land, für das ihre Familien die Besitzurkunden haben. Modiin Illit, die Siedlung hinter dem Checkpoint Nilin, wurde nachweislich zu 44 Prozent auf Land gebaut, das Privatbesitz palästinensischer Familien ist und vor allem landwirtschaftlich genutzt wurde. Ihres Landes und ihrer Produktionsmittel beraubt, erhöht sich der Druck auf Palästinenser, ihre Arbeitskraft zu verkaufen – zur Not auch an dieselbe Besatzungsmacht, die für den Landraub verantwortlich ist. Marx bemerkte zutreffend, der Prozess der ursprünglichen Akkumulation müsse eigentlich als ursprüngliche Expropriation bezeichnet werden und sei in seinen Methoden »alles andere, nur nicht idyllisch«, sondern von »Eroberung, Unterjochung, Raubmord – kurz: Gewalt« bestimmt. Es ist diese Gewalt eines Prozesses der andauernden Enteignung, die den Alltag in Palästina, insbesondere im besetzten Westjordanland, bestimmt. Palästinensische Arbeiter errichten buchstäblich die Städte, die auf ihrem gestohlenen Land stehen.

    Als die Arbeiter an diesem Morgen am Checkpoint ankommen, haben sie bereits viele Stunden der Erniedrigung und des Wartens hinter sich. Um legal in Israel arbeiten zu können, müssen sie ein repressives Genehmigungssystem durchlaufen. Dieses beinhaltet einen sogenannten Sicherheitscheck durch die Ziviladministration der besetzten Gebiete und teils horrende Gebühren. Außerdem sind sie gezwungen, eine Vielzahl biometrischer Daten (inklusive Augenscan) an die israelische Besatzungsmacht abzugeben – ohne nachverfolgen zu können, was weiter mit den Daten passiert. Künstliche-Intelligenz-Systeme benötigen eine Vielzahl an Daten, um trainiert zu werden. Checkpoints, die täglich von Tausenden Menschen überquert werden müssen, sind aus dieser Sicht eine Goldgrube an Daten.

    Amnesty International (AI) dokumentiert in einem Bericht zur »Automatisierten Apartheid«, dass tausend Palästinenser täglich zu unfreiwilligem Trainingsmaterial von Gesichtserkennungssystemen wie »Wolf Pack«, »Blue Wolf« und »Red Wolf« werden. Zwei Konzerne, die niederländische Firma TKH Security und der chinesische Staatskonzern Hikvision, stellen die Überwachungstechnik der israelischen Checkpoints. Das dortige Sicherheitspersonal überprüft, ob die Zuordnung der Systeme korrekt ist, so dass sie fortlaufend weiter trainiert werden. So wurden etwa Soldaten in Hebron angewiesen, mit Hilfe ihrer Smartphones »so viele Palästinenser wie möglich« zu scannen: »Das gamifizierte biometrische Überwachungssystem bewertet Militäreinheiten je nach Anzahl der aufgenommenen Bilder und schafft so Anreize, Palästinenser unter ständiger Überwachung zu halten«, heißt es dazu bei AI.

    Neben den Firmen, die Überwachungstechnik stellen, haben auch Unternehmen, die Sicherheitsdienstleistungen stellen, ein sehr konkretes Profitinteresse am Checkpoint. Wenn man den Checkpoint in Nilin betritt, sieht man keine Soldaten. Wer einem statt dessen mit schweren Waffen ausgerüstet entgegentritt, sind Angestellte einer kommerziellen Sicherheitsfirma. Wie die meisten israelischen Checkpoints ist Nilin inzwischen privatisiert. Als meiner Tochter und mir der Durchgang verweigert wurde, drohte mir die Mitarbeiterin nicht etwa mit der leitenden Offizierin, sondern kündigte an: »Ich hole die Managerin.« Die firmengeführten Checkpoints sind bekannt dafür, dass sie deutlich restriktiver sind als die von der Armee betriebenen. Es gilt schließlich zu beweisen, dass sich das Outsourcen der Besatzung an private Firmen lohnt.
    Teil der Masse

    Auch an diesem Tag wird einigen Arbeitern der Durchgang verweigert. Warum, erfahren sie nicht. Sie laufen zurück, vorbei an den Gittern des Checkpoints, an dem sich inzwischen die Menschen stauen. Eng aneinandergepresst, schieben sie sich durch die Gitter des Checkpoints, während über ihnen der Sicherheitsdienst patrouilliert, der diesen Checkpoint betreibt. Etwa 15.000 Arbeiter passieren den Checkpoint täglich, schätzt Mahmud, der seit zwei Uhr nachts auf den Beinen ist, um an einem Stand vor dem Checkpoint frisches Brot zu verkaufen. Einige klettern über die Abgrenzungen, um schneller an die Drehkreuze zu gelangen. Andere rauchen erst noch in Ruhe eine Zigarette, bevor sie sich zu den anderen stellen, Teil der Masse werden, die durch Gitterstäbe und Drehkreuze geschoben wird. Der Begriff einer industriellen Reservearmee – morgens um sechs Uhr am Checkpoint von Nilin ist er greifbar.

    Über die konkreten Interessen einzelner Unternehmen, die mit Überwachungstechnik und Sicherheitsdienstleistungen ihr Geld verdienen, hinaus hat das Genehmigungssystem zwei sehr grundlegende Funktionen für die israelische Ökonomie der Besatzung: Es wirkt repressiv auf Palästinenser und profitsteigernd für die herrschende israelische Klasse.

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    Die Genehmigungen werden branchenspezifisch und in Zusammenarbeit mit israelischen Unternehmen ausgestellt. Das ermöglicht es, Arbeiter gezielt in Bereiche zu schicken, in denen ein Mangel an Arbeitskräften herrscht, durch Erteilung oder Entzug von Genehmigungen kann die Arbeitskraft je nach Konjunktur angezapft werden. Sie arbeiten in körperlich harten, schmutzigen und gefährlichen Jobs und unter besonders prekären Umständen – Bedingungen, unter denen kaum Israelis bereit sind zu arbeiten.

    Eine Studie der Rosa-Luxemburg-Stiftung in Palästina verwendet ein anschauliches Bild, um die zentrale Funktion palästinensischer Arbeiter in der Ökonomie der Besatzung zu beschreiben: »Einschränkungen der Bewegungsfreiheit stellten sicher, dass palästinensische Arbeitskraft eine Art ›Wasserhahn‹ wurde, der an- und abgestellt werden konnte, je nach ökonomischer und politischer Lage und Bedarf der israelischen Wirtschaft.« Genehmigungen werden für bis zu sechs Monate erteilt, können aber sowohl von Unternehmen und »Arbeitgebern« als auch den Besatzungsbehörden jederzeit annulliert werden. In der Pandemie waren die palästinensischen Arbeiter die ersten, die von einem Tag auf den anderen ihre Jobs verloren. Der Entzug der Arbeitsgenehmigung oder die Drohung damit werden gezielt eingesetzt, um Lohnforderungen der Arbeiter sowie alle Ansätze gewerkschaftlicher Organisierung anzugreifen.

    Der unbegründete Entzug von Genehmigungen zielt darüber hinaus darauf ab, jede Form von politischer Organisierung gegen die siedlerkoloniale Besatzungsmacht zu unterbinden. Nicht nur Personen, denen unterstellt wird, politisch aktiv zu sein, droht der Entzug der Arbeitsgenehmigung, sondern auch ihren Familienangehörigen. Teils werden als kollektive Strafe sogar ganzen Dörfern und Ortschaften die Genehmigungen entzogen. Sicherheitsargumente der Besatzungsmacht, der Kampf gegen Arbeitsrechte und Profitinteressen der herrschenden Klasse gehen Hand in Hand.

    Die Arbeit in den Siedlungen und von Israel annektierten Gebieten zielt auf eine Spaltung der palästinensischen Arbeiterschaft, ideologisch und praktisch. Während sich ein Teil aus Prinzip weigert, für die Besatzer zu arbeiten, nehmen andere die tägliche Erniedrigung hin, um sich und ihre Familien versorgen zu können. Als ich im Sommer 2023 mit den Arbeitern den Checkpoint passiere, liegt die letzte, mehrere Tage anhaltende Invasion in Dschenin erst wenige Wochen zurück. Im Westjordanland wurde in Solidarität mit Dschenin ein Generalstreik ausgerufen, Schulen, Universitäten und Geschäfte blieben geschlossen. Als ich einen Verkäufer frage, ob sich auch die Arbeiter hier am Streik beteiligt hätten, lacht er nur bitter: »Sie kamen aus Dschenin und Tulkarem hierher, um zur Arbeit zu kommen.« Weil die Checkpoints im Norden geschlossen oder durch streikende Palästinenser blockiert waren, fuhren die Arbeiter einmal quer durch das Westjordanland, um an ihre Arbeitsplätze zu kommen. Schon ohne solche Sonderfälle verlängert sich der Arbeitstag durch die Mauer und Checkpoints für viele auf 16 Stunden. Übermüdung und weite Arbeitswege erhöhen das Risiko von Unfällen, immer wieder mit tödlichen Folgen für die Arbeiter.
    Ökonomie der Besatzung

    So wenig wie die Mauer eine Grenze zwischen zwei völkerrechtlichen Gebieten darstellt, markiert sie eine Grenze zwischen zwei getrennten Ökonomien. Etwas wie eine eigenständige palästinensische Wirtschaft gibt es nicht. Umgekehrt ist die Realität der Besatzung in vielfacher Hinsicht zentraler Bestandteil der israelischen Ökonomie. Der Checkpoint und die Grenzlinie, an der er errichtet ist, markieren nicht etwa die Grenze zwischen zwei ökonomischen Räumen, sondern sind selbst Kristallisationspunkte einer Ökonomie der Besatzung.

    Dabei hat die palästinensische Arbeitskraft aus israelischer Sicht mehrere Vorteile gegenüber israelischen oder aus anderen Ländern importierten Arbeitskräften: Die Lebenshaltungskosten in den besetzten palästinensischen Gebieten sind deutlich geringer, daher sind auch die Löhne palästinensischer Arbeiter niedriger. Dennoch liegen die Gehälter auf israelischen Baustellen etc. weit über dem palästinensischen Durchschnittslohn. Die Lebenshaltungskosten in den besetzten Gebieten betragen das Vierfache des Mindestlohns, die Erwerbslosigkeit ist hoch, jeder vierte Arbeitende ist arm trotz Arbeit. Niedrige Löhne und hohe Erwerbslosigkeit sichern einen ständigen Nachstrom an Arbeitskräften. Ein Bauarbeiter in Israel verdient doppelt soviel wie eine verbeamtete Lehrkraft an einem Gymnasium in Palästina. Anders als bei israelischen Arbeitern müssen auch die Reproduktionskosten der Arbeiter als Klasse nicht durch den israelischen Staat gedeckt werden. Zahlreiche Investitionen wie Straßenbau, Schulbildung, Infrastrukturmaßnahmen und die Gesundheitsversorgung werden von Einrichtungen der Vereinten Nationen und internationalen NGOs übernommen.

    Ein zentrales Dokument in diesem Zusammenhang ist das »Protokoll über wirtschaftliche Beziehungen zwischen der Regierung des Staates Israel und der PLO« vom 29. April 1994, oft auch als »Pariser Protokoll« bezeichnet (nachzulesen in deutscher Übersetzung auf den Webseiten der Deutsch-Palästinensischen Gesellschaft, jW). Das Protokoll schreibt vor, dass Israel alle Außengrenzen in Israel/Palästina vollständig kontrolliert. Das führte dazu, dass etwa 2005 73,9 Prozent aller Importe in den besetzten Gebieten aus Israel stammten. Die Löhne, die die Arbeiter in Israel verdienen, geben sie gezwungenermaßen zu einem großen Teil für israelische Produkte aus, so dass ein relevanter Teil des Geldes wieder in die israelische Ökonomie zurückfließt.

    Shir Hever schreibt in seinem Buch »Die Politische Ökonomie der israelischen Besatzung. Unterdrückung über die Ausbeutung hinaus« (2014), dass eine »räumliche wirtschaftliche Unterscheidung zwischen den BPG (besetzten palästinensischen Gebieten, L. S.) und Israel weitgehend künstlich« sei. Denn: »Es gibt kein Gebiet in Israel/Palästina, das frei von israelischer Kontrolle ist und in dem andere wirtschaftliche Gesetze gelten.« Allerdings betont er die rassifizierte Hierarchisierung dieser Ökonomie: »Es gibt (…) eine Unterscheidung, die Menschen und nicht Gebiete betrifft. Palästinensische Nichtstaatsbürger, die in den BPG leben, fallen unter ein gesondertes System von Regeln und Bestimmungen, leiden unter extremer Armut und Arbeitslosigkeit und erhalten nicht dieselben Dienst- und Sozialleistungen wie israelische Staatsbürger. Man kann von zwei Ökonomien sprechen, die unter israelischer Kontrolle koexistieren.«

    Diese Hierarchie wird im Checkpoint in Beton und Stahl gegossene Realität. Oben entlang führt die Straße, auf der Autos mit israelischen Kennzeichen fahren dürfen. Sie ist neu asphaltiert, beleuchtet. Unten die Wege der Palästinenser, großteils nicht asphaltiert, staubig und mit großen Steinen auf dem Weg, die von Tausenden Stiefeln schon so glattgetreten sind, dass man leicht auf ihnen ausrutscht. Sie dürfen den Checkpoint ausschließlich zu Fuß überqueren. Selbst wenn sie in einem Auto mit israelischem Kennzeichen mitgenommen wurden, müssen sie kurz vor dem Checkpoint aussteigen.

    Sinnbildlich zeigt sich hier ein zentraler Widerspruch des Siedlungskolonialismus: Indigene Arbeitskraft soll im Siedlerstaat, anders als im herkömmlichen Kolonialismus, nicht vor allem ausgebeutet, sondern beseitigt werden. Lorenzo Veracini zeigt in seiner Einführung in den Siedlerkolonialismus »Settler Colonialism. A Theoretical Overview« (2010), dass Ausbeutung und Beseitigen der indigenen Bevölkerung faktisch jedoch immer wieder eng miteinander verwoben sind. Er fasst die Position der Siedlerkolonisatoren zusammen in der Forderung: »Du, arbeite für mich, während wir darauf warten, dass du verschwindest.« Und so sind es palästinensische Arbeiter, von denen dieser Checkpoint am meisten genutzt wird, doch alles am Checkpoint ist darauf ausgerichtet, ihnen den Durchgang so beschwerlich wie möglich zu gestalten. Und ihnen Morgen für Morgen ihren Platz zuzuweisen: ganz unten in der Hierarchie.

    #Palestine #Israël #économie #exploitation #travail

  • Palästina : Eingesperrt in Gaza
    https://www.jungewelt.de/artikel/465781.pal%C3%A4stina-eingesperrt-in-gaza.html

    Cet article confirme l’information que les ambassades allemandes ont cessé de soutenir les citoyens du pays.

    21.12.2023 von Jakob Reimann - Krank und ständiger Gefahr ausgesetzt: Zwei deutsche Staatsbürger hoffen weiter auf Evakuierung. Sohn erhebt Vorwürfe gegen Behörden

    Im Juni fuhren die beiden zu Besuch in die Heimat nach Gaza und wollten im November zurück nach Deutschland, in die zweite Heimat. Als am 7. Oktober der Krieg begann, folgten Alya (68) und Mohammed Elbasyouni (75) der Aufforderung der israelischen Armee an über 1,1 Millionen Bewohner im Norden des Gazastreifens und flohen in den vermeintlich sicheren Süden. Ihre Verwandten im Ausland registrierten die zwei Deutschen für eine erhoffte Evakuierung aus dem Kriegsgebiet bei den deutschen Behörden. »Wir befolgten alle Anweisungen des Auswärtigen Amtes«, erklärt Loay Elbasyouni, der Sohn des Ehepaares, am Mittwoch gegenüber junge Welt, »doch Tage vergingen ohne eine Antwort«. Bis heute bleibt das Auswärtige Amt diese schuldig.

    Loay wohnt in Santa Monica in Kalifornien und arbeitet als Ingenieur für die Weltraumagentur NASA und das private Weltraumunternehmen Blue Origin. Er hat an der Helikopterdrohne »Ingenuity« mitgebaut, die seit 2021 spektakuläre Bilder der Marsoberfläche aufnimmt, und entwirft gegenwärtig die Raketenmotoren für die bemannte Mission »Blue Moon«, über die ab 2029 der Südpol des Mondes erkundet werden soll. Um Druck aufzubauen und Hilfe für seine Eltern zu erhalten, kooperierte Loay mit internationalen Medien, um eine Stellungnahme deutscher Behörden zu erhalten, erzählt er im Gespräch. Doch auch über diese Kanäle gab es keine Reaktion. Nach Dutzenden Telefonaten und E-Mails sei zwar schließlich ein Kontakt zur deutschen Botschaft in Tel Aviv zustande gekommen, doch blieb auch der erfolglos. Eine Anfrage von jW mit Bitte um Stellungnahme ließen sowohl das deutsche Vertretungsbüro in Ramallah als auch das Auswärtige Amt in Berlin unbeantwortet.

    Alya und Mohammed Elbasyouni gingen in den 1980ern nach Deutschland. Mohammed studierte in Marburg Medizin und arbeitete als Chirurg unter anderem in Lüdenscheid. Die beiden gingen zurück nach Gaza, wo Mohammed eine Zeitlang als Chef der Chirurgie am Al-Schifa-Krankenhaus in Gaza-Stadt tätig war. Im November wurde das größte Krankenhaus des Gazastreifens, in dem auch Tausende Vertriebene Schutz suchten, über Tage hinweg von der israelischen Armee angegriffen und ist seitdem außer Betrieb. Als Teil der vom israelischen Verteidigungsminister Yoaw Gallant angekündigten »finalen Säuberung« drangen israelische Truppen am Dienstag in Tunnel der Hamas im Norden des Gazastreifens ein und griffen zwei der letzten noch funktionsfähigen Krankenhäuser in der Region an, berichtet AP am Mittwoch. Im Al-Ahli-Krankenhaus wurde demnach die Frontwand zerstört und die meisten Angestellten festgenommen. Lediglich zwei Ärzte und vier Pflegekräfte seien nicht inhaftiert worden, erklärte ein Pfarrer der anglikanischen Kirche, die das Krankenhaus betreibt. Diese müssten sich ohne fließend Wasser und Strom um mehr als 100 schwerverletzte Patienten kümmern. Nachdem Israel am Dienstag erneut Dschabalija im Norden der Enklave bombardiert und mindestens 27 Getötete hinterlassen hatte, hieß es am Mittwoch vom Gesundheitsministerium, dass seit dem Morgen 46 Leichen und 110 Verwundete ins medizinische Zentrum gebracht worden seien. Der gesamte Norden Gazas sei »in ein Ödland verwandelt« worden, kommentierte AP.

    Das Ehepaar Elbasyouni machte sich nach Kriegsbeginn aus der nördlichen Grenzstadt Beit Hanun zu Fuß auf den Weg nach Süden. »Wie durch ein Wunder« überlebten sie mehrere Artillerieeinschläge in ihrer Nähe, schrieb ihr Sohn auf X. Beide sind nur schwer zu Fuß unterwegs. Loays Vater hatte im vergangenen Sommer eine Rückenoperation und leidet unter Bluthochdruck und Diabetes. Alya hat ein Herzleiden und musste sich einer Hüftoperation unterziehen. Die Medikamente des Vaters »gehen zur Neige«, so Loay gegenüber jW, bei dem sich Verzweiflung über den Gesundheitszustand seiner Eltern mit Wut über die Untätigkeit der deutschen Behörden mischen. Es gäbe keine Bemühungen, die beiden Deutschen in Sicherheit zu bringen. »Wir wurden im Stich gelassen«, so Loay weiter, »niemand kümmert sich um uns«.

    #Allemagne #Palestine #Gaza #diplomatie

  • Krieg gegen Gaza : »Wenn ich sterben muss« 
    https://www.jungewelt.de/artikel/465222.krieg-gegen-gaza-wenn-ich-sterben-muss.html

    Mahnwache für den getöteten Dichter Refaat Alareer aus Gaza (New York City, 8.12.2023)

    L’assassinat ciblé du poète Refaat Alareer et de sa famille est l’épisode particulièrement insupportable parmi tant d’actes insupportables qui montre que l’état d’Israël n’est plus un état de droit démocratique mais un minuscule Leviathan qui se comporte comme s’il faisait partie des grands méchants dont la bassesse abyssale est dépouvue de conséquences jusqu’au jour où ils s’auto-détruisent.

    Je plains les derniers pacifistes et défenseurs d’une cohabitation paisible de jufs et palestiniens. Il faudra leur offrir un refuge où il seront protégés de la catastrophe en cours.

    14.12.2023 von Jamal Iqrith - Refaat Alareer (Rif’at al-Ar’ir) war Dichter und Literaturprofessor an der Islamischen Universität von Gaza. Er hat zudem zahlreiche Publikationen herausgegeben, zum Beispiel »Gaza writes back« (2013), eine Anthologie mit Kurzgeschichten von 15 Schriftstellern aus der Enklave, und das Projekt »We are not Numbers« mitgegründet, das jungen palästinensischen Schriftstellern Schreibworkshops auf Englisch vermittelt.

    Am 6. Dezember gegen 18 Uhr wurde der 44jährige durch einen mutmaßlich gezielten israelischen Luftangriff zusammen mit seinem Bruder und dessen Sohn sowie seiner Schwester und ihren drei Kindern in Schujaija, im Osten von Gaza-Stadt, ermordet. Wie die Menschenrechtsorganisation »Euro-Mediterranean Human Rights Monitor« am 8. Dezember berichtete, wurde die Wohnung, in der Alareer und seine Familie untergebracht waren, nach bestätigten Augenzeugen- und Familienberichten aus dem Gebäude, in dem sie sich befand, »chirurgisch herausgebombt«. Wochenlang hatte der Schriftsteller demnach online und per Telefon Todesdrohungen erhalten, abgeschickt von israelischen Accounts und Nummern.

    Bereits vor seinem Tod wurde »die Stimme von Gaza« zu einem Symbol des palästinensischen Widerstands gegen die Besatzung, was Alareer wohl schlussendlich zum Verhängnis wurde. Mehrfach gab er internationalen Nachrichtensendern Interviews über die Situation im Gazastreifen und forderte die Weltöffentlichkeit zum Handeln auf. Tage vor seinem Tod heftete der Dichter eines seiner Gedichte an die Spitze seines Profils auf dem Kurznachrichtendienst X, das mit den Worten endet: »Wenn ich sterben muss, lass es Hoffnung bringen, lass es eine Geschichte sein«. Als Berichte über seine Ermordung bekanntwurden, ging das Gedicht um die Welt. Demonstranten zeigten bei propalästinenischen Kundgebungen Alareers Konterfei auf Plakaten. Der Nachrichtensender CNN, dem er zuvor in einem Interview gesagt hatte, dass er und seine Familie »nirgendwo anders hingehen« könnten, sowie andere große Medien, berichteten über den Tod des Schriftstellers. In einem seiner letzten Interviews mit dem Internetportal Electronic Intifada hatte er am 9. Oktober erklärt, als Akademiker sei das Gefährlichste, was er besitze, wohl ein Textmarker, den er aber »benutzen würde, um ihn auf israelische Soldaten zu werfen«, sollten sie einmarschieren. Am 10. Oktober, drei Tage nach Beginn des Krieges, sprach er mit junge Welt über die Situation im Gazastreifen.

    Schon zu diesem Zeitpunkt beklagte er die Hetze »israelischer Beamter, Politiker und Aktivisten überall in den sozialen Netzwerken und in den Mainstreammedien, die buchstäblich dazu aufrufen, Palästinenser mit Bomben zu bewerfen und Hunderttausende von Palästinensern als Kollateralschaden zu töten«. Dies geschehe überdies vor den Augen der Weltöffentlichkeit, und es gebe keine Gegenrede aus dem Ausland, das sich durch sein Schweigen an den Verbrechen gegen die Menschheit in Gaza mitschuldig mache: »Seit Jahrzehnten werden Palästinenser durch Israel getötet. Wenn wir sterben, hören wir kaum ein Wort«, so Alareer.

    Die »Aufrufe zum Völkermord« kamen laut dem Dichter jedoch nicht nur von israelischen Politikern, wie dem Verteidigungsminister Joaw Gallant, der »die Sprache der Nazis verwendet, um die Palästinenser als ›Tiere‹ zu entmenschlichen«, sondern ebenso von »amerikanischen und europäischen Politikern, die sich zu einem Massenritual beeilen«, das er als »Treuebekenntnis zu Israel und Netanjahu« bezeichnete.

    Der Lyriker erklärte weitsichtig, für die Palästinenser in Gaza gebe es keine Möglichkeiten zur Flucht: »Sie werden getötet, egal, wer sie sind, wo sie sind oder wie alt sie sind.« Da der Gazastreifen abgeriegelt sei, gebe es »keinen Ausweg«. Selbst wenn man »durch Bomben gezwungen sei, die eigenen Häuser zu verlassen und in die Stadtzentren und andere Schutzräume zu gehen«, nehme die Armee die Menschen ins Visier.

    Bereits am 10. Oktober war er überzeugt: »Die israelische Regierung arbeitet daran, Gaza in die ›Steinzeit‹ zu schicken«. Alareer befürchtete »Hunderttausende von Kollateralschäden im Gazastreifen, in dem rund die Hälfte der Bevölkerung unter 18 Jahre alt ist«. Die israelischen Regierungen hätten noch »nie ein Versprechen an die Palästinenser gehalten, es sei denn, sie versprachen Zerstörung und Tod«. Inzwischen sind laut »Euro-Mediterranean Human Rights Monitor« in gut zwei Monaten durch die Bomben über 23.000 Menschen getötet worden, mehr als 9.000 davon Kinder.

    Die Angriffe der Hamas vom 7. Oktober und den daran angeschlossenen Kampf anderer bewaffneter palästinensischer Fraktionen kommentierte er mit den Worten: »Alle Versuche, diplomatisch und friedlich von Israel die Freiheit wiederzuerlangen, sind gescheitert. Die israelische Regierung greift die BDS-Bewegung (»Boycott, Divestment and Sanctions«, jW) an und schießt auf friedliche Demonstranten. Die Palästinenser wurden in eine Ecke gedrängt, in der sie nichts zu verlieren haben. Nun tut die Welt überrascht, wenn sich das Ghetto gegen jahrzehntelange Unterdrückung, Verdrängung und Besatzung erhebt.«

    #Gaza #Israël #guerre #exécution_extrjudiciaire #assassinat #poésie #Zivilisationsbruch

  • Deutsch-israelische Beziehungen : »Seelische Bereinigung« 
    https://www.jungewelt.de/artikel/464628.deutsch-israelische-beziehungen-seelische-bereinigung.html


    Wussten um die braunen Kontinuitäten des westdeutschen Staates. Protest gegen den Bundeskanzler und dessen Staats­sekretär Hans Globke 1966 am Ben-Gurion-Flughafen bei Tel Aviv während Adenauers Staatsbesuch in Israel Michael Maor/picture alliance

    Tout le monde connait Eichmann. Son véritable patron, le commanditaire personnel de la déportation de 20.000 juifs grecs à Auschwitz, était sécretaire d’état à Bonn et éminence grise derrière Adenauer et n’a jamais été poursuivi pour ses crimes.

    Hans Globke a tout arrangé pour empêcher Eichmann de témoigner sur sa relation avec lui. Dans les protocoles du procès contre Eichmann son nom n’existe pas. L’état juif a sciemment collaboré avec ce bourreau pour des raisons pragmatiques. Globke et Adenauer payaient des millions à l’Israël et faisaient désormais partie du même racket anticommuniste comme la jeune nation juive.

    Ils avaient besoin l’un de l’autre, les allemands pour obscurcir la responsabilité des nouveaux maîtres à Bonn et le petit Israel pour renflouer ses caisses. Cette histoire d’amour inconditionnel cintinue jusqu’aujourd’hui. L’actuel gouvernement d’extrême droite à Tel Aviv cultive un état d’esprit assez proche de celui des nazi co-fondateurs de l’état ouest-allemand.

    5.12.2023 von Stefan Siegert - In einem alten Schwarzweißfilm kommt ein Mann auf die Kamera zu. Ein grauer Wintertag in den 1960er Jahren. Der Mann, geschätzt Anfang sechzig, geht nah am Kameraauge vorbei. Im Schatten der Krempe eines honorigen Filzhuts eine randlose Brille, im Ausschnitt eines grauen Wollmantels ein dunkler Kaschmirschal. Aus der Nähe wirkt es, als bemerke er niemanden außer sich selbst, das täuscht. Aktentasche links, geht er die Straße hinab. Sein Gang wie alles an ihm: nicht steif, aber kontrolliert, unerschütterlich korrekt, durch und durch ein Beamter. Er geht auf ein Gerichtsgebäude zu, schlüpft durch eine Hintertür hinein. Bis ganz zuletzt hat es dieser Mann geschafft, bei Gericht immer nur als Zeuge aufzutreten.

    »Ein Mann mit Vergangenheit«, hat ein Kenner in Hans Maria Globkes Zeit über ihn gesagt. Als der Publizist Reinhard M. Strecker die bis dahin bekanntgewordenen Bruchstücke der Vergangenheit Hans Globkes aufdeckte – der Deutschlandfunk stellte zuletzt noch 2021 fest, die Akten zum Fall Globke seien »bis heute nicht zugänglich« – und als dessen Buch über einige Dinge im Leben Hans Globkes 1961 schließlich herauskam, prozessierte Globke dagegen. Der Prozess endete mit einem Vergleich, das gerichtlich leicht beanstandete Buch überlebte seine erste Auflage nicht.

    Mann mit Vergangenheit

    Globke war ein mächtiger Mann. Als Chef des Bundeskanzleramts ab 1953 war er der höchste Beamte, er war der personalpolitische und geheimdienstliche Strippenzieher im Staate BRD. In allen westdeutschen Berichten über ihn steht zu lesen, Bundeskanzler Konrad Adenauer habe Globkes Können benutzt und zugleich den perfekten Verwaltungsjuristen und in Machtausübung erfahrenen politischen Berater wegen dessen Vergangnenheit stets in der Hand gehabt. Bei dieser Ansicht wird darüber hinweggesehen, dass es in den Hierarchiespitzen des kapitalistisch-liberalen Demokratietyps wenige, in der Öffentlichkeit weitgehend unsichtbare, außerhalb demokratischer Prozesse stehende Machthaber gab und gibt, welche die jeweiligen Bundeskanzler wenn nicht in der, so doch gut an der Hand haben: die CEOs der großen deutsch-internationalen Energie-, Chemie-, Technologie- und Finanzkonzerne. Sie führten Globke schon auf den Listen ihrer »Freundeskreise«, als es noch der Vorgänger von Konrad Adenauer im deutschen Kanzleramt war, der sich bis 1945 Globkes zweifellos überragender Fähigkeiten bediente. Irgendwo hat jemand diese Fähigkeiten klug auf den Punkt gebracht: »Hans Maria Globke konnte erbarmungslos schweigen.«

    Dieser Staat BRD, der es für geboten hält, die Sicherheit des Staates Israel zur bundesdeutschen »Staatsraison« zu erklären, weiß sich dem Staatsbeamten Globke gegenüber so dankbar, dass dessen Porträt bis heute im Bundeskanzleramt hängt. Ohne dass es viele wissen, ist allerdings seit langem bekannt und gut belegt: Hans Globke, 1898 als Sohn eines wohlhabenden Tuchhändlers in Düsseldorf geboren, hat bereits ab 1929 in seiner Eigenschaft als Regierungsrat im preußischen Innenministerium sein ganz besonderes Verhältnis zu den Juden Wirklichkeit werden lassen. So entstand im Oktober 1932 unter Globkes Federführung die »Verordnung über die Zuständigkeit zur Änderung von Familiennamen und Vornamen vom 21. November 1932«, die erste verwaltungstechnische Maßnahme zur gesonderten Erfassung aller deutschen Juden. 1937 sorgte der nunmehrige Ministerialrat Globke ganz oben im Reichsinnenministerium unter Wilhelm Frick – der am 16. Oktober 1946 in Nürnberg gehängt wurde – per Verordnung dafür, dass deutschen Juden, damit sie nicht mehr entwischen konnten, ein »J« in ihre Pässe eingeprägt wurde. Damit deutsche Menschen, denen ein »J« aufgeprägt war, nicht länger deutsche Namen beschmutzten, ersann im Herbst 1938 Hans Globke die Regelung, in ihre Pässe einen zweiten Vornamen eintragen zu lassen: Alle jüdischen Wilhelme oder Friedrichs des Deutschen Reichs hießen künftig »Wilhelm Israel« oder »Friedrich Israel«, alle deutschen Elfrieden oder Augustes jüdischer Abstammung hießen künftig »Elfriede Sara« oder »Auguste Sara«.

    Bereits 1936 hatte Globke die Nürnberger Rassengesetze der deutschen Reichsregierung dahingehend zur praktischen Anwendung empfohlen, dass es künftig für Deutschlands Volksgenossen galt, sich »im Blut rein« zu erhalten. Die kurze, aber heftige juristische Karriere des Straftatbestands »Rassenschande« geht auf Hans Globke zurück. Den Beteiligten war schon 1938 klar, dass solche Maßnahmen einer bewussten Vorbereitung der physischen Vernichtung der deutschen Juden dienten, nicht nur der deutschen Juden. Um die Umsetzung dieses Ziels machte sich Globke tatkräftig auch in den während des Krieges von der Naziwehrmacht besetzten Ländern verdient. Aus seit 1961 öffentlich zugänglichen CIA-Unterlagen geht hervor, dass Globke »möglicherweise« auch für die Deportation von 20.000 Juden aus Nordgriechenland in deutsche Vernichtungslager im besetzten Polen verantwortlich war. So hatte es Max Merten ohne Benutzung des Wörtchens »möglicherweise« zu Protokoll gegeben, der Verwaltungsoffizier der in Griechenland ihr Unwesen treibenden Heeresgruppe E. Daraufhin hatte der hessische Oberstaatsanwalt Fritz Bauer ein Ermittlungsverfahren gegen Globke eröffnet. Es wurde im Mai 1961 auf Intervention Adenauers an die Staatsanwaltschaft Bonn abgegeben, dort stellte man die Sache »mangels hinreichenden Tatverdachts« ein.
    Streng katholisch

    Um Hans Globkes sich geradezu sadistisch austobende Judophobie nachvollziehen zu können, gilt es, neben der über die ganze Welt verteilten religiösen und kulturellen Ethnie der Juden eine andere Religion ins Auge zu fassen, den römischen Katholizismus. Der Zweitname Globkes, Maria, deutet es an: Globke war nach Erziehung und Selbstverständnis das, was man verharmlosend »streng katholisch« nennt. Das lässt sich in dem, was er getan hat, bis in die Leibfeindlichkeit des Begriffs »Rassenschande« zurückverfolgen. Es war der CDU, deren Geld, darunter die üppigen Parteispenden aus der Industrie, Globke treulich verwaltete, es war derselben Partei, deren Geschicke er – eine Art früher CDU-Generalsekretär – aus dem Hintergrund lenkte und deren Werte er für die Zukunft prägte, es war der gesamten Rechten bis heute wichtig zu betonen, Hans Globke sei »kein Nazi« gewesen.

    Ein interessanter Gedanke. Globke war von 1922 bis zu deren Auflösung 1933 Mitglied der katholischen Zentrumspartei, einer ihrer führenden Repräsentanten war der Kölner Oberbürgermeister Konrad Adenauer. Diese Partei stand in engstem Kontakt mit dem 1939 als Pius XII. zum Papst aufgestiegenen ehemaligen vatikanischen Nuntius im Deutschen Reich, Eugenio Pacelli. Ein toxischer Kommunistenfeind, seit er 1917 von Revolutionären der bayerischen Räterepublik mit dem Revolver bedroht worden war (Globke hatte noch in den Adenauer-Jahren Pacellis »Rundschreiben über den atheistischen Kommunismus« auf dem Nachttisch). Berliner Statthalter dieses Papstes war zu Nazizeiten der Bischof Graf von Preysing, ein antikommunistischer Gegner Hitlers. Globkes Mitwirkung am »Widerstand«, auf die er sich nach dem Krieg herausredete, bezog sich vermutlich auf diesen Bischof und sein Umfeld. Preysing unterhielt 1944 auch Kontakte zu bürgerlich-aristokratischen Hitler-Gegnern: Globke unterrichtete also aus dem Innenministerium den Bischof von Preysing und über diesen den Papst über die Absichten der Nazis. Die Nazis nahmen dafür 1943 Globke auf seinen Antrag hin nicht in ihre Partei auf, mehr an »Widerstand« war nicht.

    Nazis oder Katholiken – für die Juden kam es aufs selbe heraus. Hans Globke konnte als faktischer Doppelagent gegen Ende des Krieges nicht mehr falschliegen. Egal, ob er faschistisch oder katholisch funktionierte: Er war auf der Seite derer, welche aus sehr unterschiedlichen Gründen die Kommunisten und die Juden hassten und beide ausrotten wollten. Die Nazis haben, wie von ihrem Führer in seinem Zwangsbestseller versprochen, das Ausrotten im 20. Jahrhundert wahrgemacht. Das Papsttum in Rom brauchte für ähnlich erschreckende Dimensionen knapp zweitausend Jahre. Das Christentum, Eugen Drewermann hat es faktenreich erzählt, ist Erfinder des Antijudaismus, viele seiner katholischen Anhänger waren für Jahrhunderte seine mörderischen Praktiker. Aber: Hat der Vatikan deswegen – wozu er mindestens so schlechte Gründe hatte wie die Bundesregierungen seit Angela Merkel – die Sicherheit Israels zu seiner Staatsraison erklärt? Und würde sich die römische Kurie endlich entschließen, sich für ihren Völkermord an den Juden unmissverständlich zu entschuldigen, sie müsste sich nicht nur an die Juden im Staat Israel wenden: Sie hätte bei der um vieles größeren, bis heute über den Erdball verstreuten und immer wieder verfolgten jüdischen Diaspora sehr ernsthaft und sehr lange um Vergebung zu bitten.
    Gehlens Mithilfe

    Spätestens an dieser Stelle müssen die Vereinigten Staaten ins Bild. Von der CIA war im Zusammenhang der Information über Globkes Mitwirkung an der Vernichtung von 20.000 nordgriechischen Juden bereits die Rede. Der sehr spezielle US-Geheimdienst trat im Fall Globke erstmals 1945 in Aktion. Der damalige CIA-Chef, Allen Dulles, saß schon im Winter 1944/45 an den Telefonen, Funkgeräten und Fernschreibern seines damaligen Hauptquartiers in Bern. Er muss gute Beziehungen zu den reichsdeutschen Eliten gehabt haben, er hatte den Überblick. Monate vor Ende des Krieges war er damit beschäftigt, die richtigen Leute für die künftig freiheitlich-demokratische Grundordnung Deutschlands zu rekrutieren.

    Als Volltreffer neben Hans Globke (CIA-Deckname »Causa«) erwies sich dabei Reinhard Gehlen (CIA-Deckname »Utility«), Hitlers Kommunistenjäger Nummer eins; Gehlen war als Chef der Abteilung »Fremde Heere Ost« Spezialist für die Ausrottung sowjetischer Kommunisten. Für die CIA baute General Gehlen nach Kriegsende einen deutschen Geheimdienst auf, die »Organisation Gehlen«. Globke integrierte sie 1949 als »Bundesnachrichtendienst« in den tiefen Staat Adenauers. Gehlen bedankte sich mit Gefälligkeiten wie der kostenlosen Bespitzelung von CDU-Konkurrenten; er jagte wie gewohnt die auch in den drei Westzonen immer noch regen Kommunisten.

    Maigalerie junge Welt, 7. Dezember 2023

    Wer im Internet den kurzen »Wochenschau«-Ausschnitt vom ersten Besuch Adenauers 1951 bei Pius XII. in Rom gesehen hat, wird für immer wissen: Auch dieser Katholik schwamm zuverlässig im Kielwasser der Spitze seiner Glaubensrichtung. Nie ward ein Achtzigjähriger gesichtet, der im Frack derart katzenartig leicht den Kratzfuß vollführte, bevor er seinem gleichaltrigen Heiligen Vater Lippe auf Knochen die Hand küsste. Die so besondere Beziehung der BRD zum nach dem Krieg entstandenen Staat Israel gehört wie die Aussöhnung mit Frankreich und die Festlegung Westdeutschlands auf die NATO zu den Grundpfeilern Adenauerscher Außenpolitik, der vatikanische Grundpfeiler bleibt ausgeblendet.

    Wie außerordentlich – mehr »fragwürdig« als »besonders« – die Beziehungen der Bundesrepublik zum Staat Israel sind, wird mit der Wahrnehmung deutlich, dass es bei wichtigen Entscheidungen wie dem Wiedergutmachungsabkommen mit Israel ausgerechnet der Staatssekretär Globke war, bei dem der Bundeskanzler, so Wikipedia, »auf gemeinsamen Spaziergängen im Garten des Kanzleramtes seinen Rat« einholte. Der Judenhasser Globke hat dieses Abkommen gehorsam und gewissenhaft maßgeblich mitgestaltet. Es diente laut Adenauers Bekundungen vor dem Bundestag in unnachahmlichem Deutsch der »seelischen Bereinigung unendlichen Leides«. Israel waren die vereinbarten bundesdeutschen 3,5 Milliarden US-Dollar hilfreich, sie waren abrufbar als Dienstleistungen und Warenlieferungen, heimliche Waffengroßlieferungen inklusive. Zu den »Dienstleistungen« gehörte des Generals Gehlen kompetente Mithilfe beim von der CIA verantworteten Aufbau der Keimzelle aller israelischen Geheimdienste, des Mossad. Neben den geopolitischen Nahostvorstellungen der Vereinigten Staaten war es vor allem die prekäre Finanzlage des jungen Staates Israel, die es der Regierung Ben Gurion 1950 geraten erscheinen ließ, mit den Deutschen zu reden. Die antideutschen Proteste in der jüdischen Bevölkerung Israels waren daraufhin gewaltig, das waren, in proarabischer Argumentation, auch die Proteste der westdeutschen Rechten, allen voran der sehr junge Bundestagsabgeordnete Franz-Josef Strauß.

    Da legten zwei so fundamentalistische Judenfeinde wie Reinhard Gehlen und Hans Globke für den Staat Israel ihren Antisemitismus beiseite. Es war Kalter Krieg. Die Karten wurden neu gemischt. Die Juden als Weltfeind waren out. Das Abendland sollte hinfort nur noch vor den Kommunisten gerettet werden.

    Als nötig erwies sich die Eingliederung der Schoah ins neue Weltbild: Der Adenauer-Staat musste moralisch und – ein für alle Mal! – auch materiell entschuldet, die »seelische Bereinigung unendlichen Leides« musste ins Werk gesetzt werden – aber bitte, ohne dabei den Pelz nass zu machen. Vielleicht war es der kühle Kopf Hans Globkes, dem die Idee entsprang: Man entledigte »Auschwitz« seines komplexen historischen Hintergrunds und machte die Schoah zum isoliert-monolithischen Mythos der Schuld. Dem entgegen kam die bedingungslose Unterstützung leider nicht aller Juden in der Welt, sondern nur die Unterstützung aller israelischen Regierungen bis heute. So könnte es gewesen sein, so könnten die israelischen Regierungen viel später zur »deutschen Staatsräson Israel« gekommen sein. Das hatten sich Globke und die Seinen so gedacht – noch ohne »Staatsräson« freilich, die machte erst Angela Merkel 2008 in einer Rede vor der Knesset erstmals öffentlich¹.
    Unvollständige Aufklärung

    Dann aber kam das Jahr 1960. Da saß seit dem 23. Mai ein gewisser Adolf Eichmann in israelischem Gewahrsam, es erwies sich: Der so sorgsam trockengewaschene Pelz drohte als die ganze Zeit triefend nass erkannt zu werden, es ließ sich nicht leugnen – man musste mit den Israelis über Hans Globke sprechen. Denn es bestand seitens der Bundesregierung die dringende Befürchtung, es könnte vor der versammelten internationalen Öffentlichkeit Globkes Verhältnis zu dem bald in Jerusalem vor Gericht stehenden Organisator des ersten industriellen Genozids der Weltgeschichte zur Sprache kommen.

    Ben Gurion hätte – wäre es öffentlich geworden – heftige Auseinandersetzungen im eigenen Land und in der Diaspora riskiert, hätte er sich auf Adenauers Drängen eingelassen, den Namen Globke im Prozessverlauf nicht in Erscheinung treten zu lassen. Auf welche Weise die Herren einig wurden, wird man, wenn alles gutgeht, in vielleicht 50 Jahren wissen, wenn die vollständigen Akten vorliegen. Fest steht: Der Name Globke fiel zwischen dem 11. April und dem 15. Dezember 1961 während des ganzen Jerusalemer Prozesses gegen Adolf Eichmann nicht ein einziges Mal in Erscheinung (Allen Dulles, so ist aus den Akten der CIA zu erfahren, habe zur selben Zeit persönlich die Erwähnung Globkes in einem Artikel des US-Magazins Life verhindert).

    Es ist, als werde in diesem Moment, wie in einem Brennglas, der Geburtsfehler des US-amerikanisch-deutsch formatierten deutsch-israelisch praktizierten Verhältnisses sichtbar. Die israelische Regierung muss einfach gewusst haben, mit wem sie da in einer besonderen Beziehung stand. Sie kann sich keine Illusionen gemacht haben über den geistigen Leviathan der Judenvernichtung mit Namen Hans Globke, dessen Existenz sie 1961 in Jerusalem vor der Weltöffentlichkeit verbarg. Wie konnten sich Juden nach all dem mit solchen Leuten einlassen?

    Man stelle sich vor: Der Staat Israel hätte 1961 aus Anlass des Eichmann-Prozesses vor den in Jerusalem versammelten Medien der Welt die vollständige Geschichte der Schoah erzählt. Man träume, er hätte den geschichtlichen Hintergrund und Zusammenhang der Vernichtungslager enthüllt, es hätte dem Gründungsmythos des Staates Israel entsprochen. So aber die Bilanz: das Grauen – enthüllt. Die den Juden (vom Verbrecherstaat Deutsches Reich) auferlegte, für die Nachlebenden unvorstellbare Marter mit ihrem millionenfachen Ende im Gas – enthüllt. Nicht enthüllt: das Netzwerk hinter Auschwitz, welches Globke verkörperte.

    Die DDR hat diese Enthüllung ab Juni 1963 in einem aufwendigen Prozess in Leipzig² vorgenommen. Dessen zeitgeschichtliches Substrat und seine im Kern sachliche, akribisch belegte Richtigkeit ignorierte der Westen mit den üblichen Schubladenfloskeln von wegen »Halbwahrheiten« und »Propanda-Show«: Das Netzwerk der Globkes und Gehlens und ihrer, dem erwähnten demokratieenthobenen Milieu entstammenden Weisungsbefugten sollte unsichtbar bleiben. Es sollte die Vorbereiter und Profiteure, die Finanziers von Auschwitz und Nazis nie gegeben haben. Nur den letzten Mosaikstein ihrer Beweiskette mussten die DDR-Juristen schuldig bleiben: einen direkten Beleg für die persönliche Kooperation von Adolf Eichmann und Hans Globke. Es gab eine erdrückende Fülle eindeutiger Indizien. Nur noch das Dokument, auf dem Eichmann den Namen des Bonner Staatssekretärs direkt erwähnte, fehlte.

    An dieser Stelle kommt Reinhard Streckers Buch über Globke erneut ins Spiel. Eichmanns Verteidiger brachte seinem Mandanten ein frischgedrucktes Exemplar in die Zelle nach Jerusalem mit. Eichmann las es, er machte sich auf vierzig engbeschriebenen Seiten Notizen. Von diesen Notizen wusste man, ihre Existenz war belegt. Seit 2006 sind sie wieder da. Sie fielen in den Tiefen des Koblenzer Bundesarchivs zufällig zwei Historikern in die Hände. Man hatte in den Bundesarchiven, wo sie hingehören, schon gar nicht mehr nach ihnen gesucht, so verschwunden waren sie; das Gros der Globke-Akten liegt ohnehin wohlverwahrt und unerreichbar in den unergründlichen Ablagen der Konrad-Adenauer-Stiftung. Im Internet sind Eichmanns Notizen in der Arte-Doku »Globke – ein Nazi in der BRD« zu sehen.³ Wer 2023 danach im Internet recherchiert, wird sich wundern, sie wirken abermals recht verschwunden.

    Mit ihnen aber hat die Welt die neben und über Eichmann welthistorische Rolle Hans Globkes nun schwarz auf weiß. Eichmann betont auf 40 Seiten mehrfach seine »Befehlsabhängigkeit« von den Verordnungen des Innenministeriums, er fordert die Vorladung Globkes, der das alles als der Verantwortliche zu seiner, Eichmanns, Entlastung bestätigen könne. »Die Deportationsdienststellen«, kritzelte Eichmann auf den Block, »brauchten in die Kommentare (zu den Nürnberger Gesetzen, St. S.) ja nur Einblick zu nehmen, um zu wissen, ob die Person zu dem vom Innenministerium festgestellten Personenkreis gehörte oder nicht«. Globke, das ist seitdem gesichert, war der Herr über Leben und Tod der Juden. Eichmanns Schlussfolgerung über seinen ehemaligen unmittelbaren Vorgesetzten trifft ins Braune: »Hier Staatssekretär einer Regierung – da zum Tode verurteilt!« Erst kommt das Fressen, dann die Doppelmoral.

    Die Juden, bliebe zusammenzufassen, sind nicht das Problem. Nicht etwa die jüdischen Staatsbürger Israels oder die vielen Millionen jüdischen Opfer in der Diaspora. Ihr Martyrium, ihre Aschegräber werden schändlich missbraucht von einer Regierungspolitik Israels, die, neben allem anderen, worüber zu reden wäre, in einem historisch entscheidenden Moment die Aufklärung verweigert hat über die Vorgeschichte und das historische Umfeld der ­Schoah. Aufklärung nicht, um mit irgend etwas recht zu behalten, Aufklärung, damit sich die Schoah nicht irgendwann irgendwo auf der Welt wiederholt. Die Schuldigkeit der damaligen israelischen Regierung gegenüber dem bald zweitausend Jahre weltweit befeindeten Volk der Juden wäre Aufklärung gewesen über die vollständige Geschichte der Schoah. Sie hat sich statt dessen für ein Bündnis mit der Welt der Globkes entschieden.

    Die aggressiv expansive Regierungspolitik Israels auf der einen – das zum Himmel schreiende Schicksal der Juden auf der anderen. Beides wird derzeit im Westen fälschlich gleichgesetzt.

    Anmerkungen

    1 Die »Sicherheit Israels« war im April 2004 erstmals in einem Essay des damaligen deutschen Botschafters in Israel als bundesdeutsche »Staatsräson« bezeichnet worden, sein Name: Rudolf Dreßler, bis heute verschweigt dieser uns als linker Sozialpolitiker in guter Erinnerung gebliebene SPD-Politiker, was ihn dazu bewog. Der Begriff selbst wurde von Niccolò Machiavelli geprägt, der Chefideologe absolutistischen Machthabens, ein demokratischen Denkens extrem unverdächtiger Mensch.

    2 Auf der Seite des MDR befindet sich ein Beitrag mit Originaltönen vom Globke-Prozess der DDR: Der Fall Globke – Adenauer und die Nazis. www.mdr.de/geschichte/ns-zeit/zweiter-weltkrieg/nachkriegszeit/hans-maria-globke-staatssekretaer-adenauer-100.html

    3 www.youtube.com/watch?v=AuEIpcMASic

    #Allemagne #Israël #histoire #shoa #gaza

  • Ausbeutung des globalen Südens: »Lula ist umgeben von Marktradikalen«
    https://www.jungewelt.de/artikel/464680.ausbeutung-des-globalen-s%C3%BCdens-lula-ist-umgeben-von-marktradik

    6.12.2023 von Gitta Düperthal - EU-Mercosur-Abkommen: Brasiliens Präsident unter Druck der Großgrundbesitzer. Ein Gespräch mit Bettina Müller

    Das EU-Mercosur-Abkommen zwischen den Staaten Argentinien, Brasilien, Paraguay, Uruguay und der Europäischen Union steht schon lange in der Kritik, da es Natur und Menschenrechte gefährdet – inwiefern?

    Autos, Maschinen und andere verarbeitete Produkte aus der EU könnten aufgrund der abgesenkten Zölle leichter gehandelt werden. Dadurch würde die Deindustrialisierung im Mercosur verschärft. Zugunsten der EU veränderte Herkunftsregeln würden zu einem Verlust von Arbeitsplätzen, etwa im südamerikanischen Textilsektor, führen. Denn europäische Konzerne könnten mit ihren zum großen Teil in Asien genähten Textilien auf den brasilianischen und argentinischen Markt drängen, womit deren Textilarbeiterinnen in den ausbeuterischen Wettbewerb hineingezogen würden. Die Folge wären schlechtere Arbeitsbedingungen und Lohndumping. Mit günstigeren Einfuhrregelungen in die EU wüchsen Monokulturen, etwa bei der Fleisch-, Soja- oder Zuckerrohrproduktion, in den Mercosur-Ländern an. Das wäre nur für die Großgrundbesitzer von Vorteil. Zudem wären der Regenwald in Brasilien und der Gran Chaco, der sich durch Paraguay und Argentinien zieht, zunehmend von Abholzung bedroht, was auch zur Vertreibung der dort lebenden indigenen Gemeinden führen würde.

    Wie kommt es, dass Brasiliens Präsident Luiz Inácio Lula da Silva, aktuell zu Besuch bei Bundeskanzler Olaf Scholz, dennoch darauf drängt, das Abkommen abzuschließen?

    Seit 1999 wird das Abkommen verhandelt, in Lulas vorherigen Amtszeiten wurde es immer wieder auf Eis gelegt. Erst jetzt, nach seiner erneuten Wiederwahl, drängt der sozialdemokratische Präsident Brasiliens, es zu verabschieden. Großgrundbesitzer üben Druck auf ihn aus. Mit der Wahl des rechten Präsidenten Javier Milei, der in Kürze sein Amt in Argentinien antritt, ist er umgeben von Marktradikalen. Lula befürchtet, das Mercosur-Wirtschaftsbündnis könnte platzen. Aus unserer Sicht würde aber ein solches Handelsabkommen die Wirtschaft in Südamerika und damit den Wirtschaftsblock stark schwächen.

    Wem gehört die Welt? - Jetzt die junge Welt abonnieren.

    Welche Rolle spielt der argentinische Regierungswechsel bei den Widerständen gegen das Abkommen?

    Argentiniens scheidender peronistischer Präsident Alberto Ángel Fernández wollte nachverhandeln, das Abkommen so nicht unterschreiben. Gewerkschaften, Kleinbäuerinnen und Kleinbauern und die indigene Bevölkerung der Mercosur-Staaten waren aus genannten Gründen stets dagegen. Bauern und ihre Verbände in der EU sehen es ebenso kritisch, im Gegensatz zur Chemie- und Autoindustrie.

    Am Sonntag abend war an die Fassade des Bundeskanzleramts die Losung »Kein Kuhhandel auf Kosten von Klima und Menschenrechten – Stoppen Sie EU–Mercosur« projiziert worden. Am Montag folgten weitere Proteste.

    Die Bestrahlung dauerte nur etwa zehn Minuten, weil die Polizei auftauchte und uns ein Bußgeld aufbrummte. Am »Haus der Deutschen Wirtschaft«, wo Lula, Scholz und Robert Habeck mit Unternehmensvertretern zusammentrafen, war unsere Forderung länger zu sehen. Zudem überreichte Greenpeace Lula einige Willkommensgeschenke, die mit dem Abkommen einhergehen würden, darunter ein aus Plastikmüll gepresster Kubus, da mit dem Abkommen auch der Export von Plastikbesteck vereinfacht würde. Zudem gab es auch ein Pestizidfass und einen Verbrennungsmotor. Bundeskanzler Scholz und Wirtschaftsminister Habeck belächelten das. Eine Vielzahl von Grünen-Politikern hat seine ursprünglich ablehnende Haltung zum Abkommen nach und nach revidiert, seit sie in Regierungsverantwortung sind.

    ATTAC Deutschland, das Umweltinstitut München und »Powershift« fordern, sich in der EU-Handelspolitik neu zu orientieren. Was erwarten Sie von der Bundesregierung?

    Ein künftiges Kooperationsabkommen muss Klima- und Menschenrechtsschutz ins Zentrum stellen. Und wir müssen grundlegend über eine Neuausrichtung unseres Wirtschafts- und Handelssystems und unseren übermäßigen Verbrauch an Rohstoffen und Primärgütern anderer Länder sprechen.

    Bettina Müller ist Referentin für Handels- und Investitionspolitik bei Powershift e. V.

    #Brésil #Union_Européenne #économie #libéralisme

  • Tag der Entscheidung
    https://www.jungewelt.de/artikel/464411.tag-der-entscheidung.html

    Als einziger Abgeordneter des Reichstags stimmte Karl Liebknecht am 2. Dezember 1914 gegen Kriegskredite

    2.12.2023 von von Sevim Dagdelen - Der 2. Dezember ist der Tag der historischen Entscheidung zwischen Militarismus und Antimilitarismus in Deutschland. 1914 stimmte der SPD-Abgeordnete Karl Liebknecht an diesem Tag als einziger Abgeordneter im Reichstag gegen die Kriegskredite zur Finanzierung des Feldzugs gegen Frankreich, Großbritannien und Russland. Es gehe um einen Verteidigungskrieg, ja um einen Befreiungskrieg Europas vom Joch des russischen Zarismus, tönte es damals allseits, gerade auch beim linken Flügel der Sozialdemokratie. Liebknecht nahm in seiner Stimmerklärung auf dieses Element der Kriegspropaganda Bezug: »Die deutsche Parole ›Gegen den Zarismus‹ diente (…) dem Zweck, die edelsten Instinkte, die revolutionären Überlieferungen und Hoffnungen des Volkes für den Völkerhass zu mobilisieren.«

    Die Kriegskredite von damals sind die Waffen- und Finanzhilfen an die Ukraine heute, sind die Entbehrungen des Wirtschaftskriegs gegen Russland und die schier schrankenlose Aufrüstung im Rahmen eines Stellvertreterkrieges von NATO und USA. Liebknechts Widerstandsgeist ist Vorbild, heute »Nein« zu sagen zu Deutschlands Weg in eine Kriegsbeteiligung gegen Russland.

    Bedingungslose Kriegsunterstützung für die Ukraine mit nunmehr 50 Milliarden Euro Steuergeldern, Sanktionen gegen Russland, die den höchsten Reallohnverlust für Beschäftigte in der Geschichte der Bundesrepublik mit sich brachten, und eine Haushaltsplanung, die für 2024 mit 90 Milliarden Euro mehr als 20 Prozent für Militär und Waffen vorsieht. Es gibt nicht eine Fraktion im Deutschen Bundestag, die sich gegen diesen toxischen Politikmix der Ampel stellt. Entweder werden Aufrüstung, Wirtschaftskrieg und Überweisungen an Kiew befürwortet oder Waffenlieferungen in ein Kriegsgebiet als Verteidigung legitimiert und Sanktionen gegen russische Oligarchen in Stellung gebracht, die am Ende aber doch die gesamte Wirtschaft und damit die Bevölkerung treffen.

    Der Stellvertreterkrieg der NATO an der Seite der USA in der Ukraine ist ein Krieg für finstere geopolitische Zwecke, ein Krieg für eine Weltordnung, die auf Ausbeutung, Neokolonialismus und Unterdrückung des globalen Südens setzt. Verbunden ist dieser Krieg mit einem sozialen Angriff der Bundesregierung auf die eigene Bevölkerung, die die Zeche für einen neuen Militarismus zahlen soll. Über 5,5 Millionen Menschen können in Deutschland nicht mehr angemessen heizen, eine Verdoppelung seit Beginn der Energiesanktionen gegen Russland. Der Aktienwert von Rheinmetall dagegen ist seit Amtsübernahme der Ampel um über 250 Prozent gestiegen. Es ist Zeit für einen Tag der Entscheidung. Zeit, den Kriegstreibern im Land, die auf Durchhalteparolen, Mästung der Rüstungskonzerne und Steigerung des Elends der Beschäftigten setzen, in den Arm zu fallen.

    Sevim Dagdelen vom »Bündnis Sahra Wagenknecht« ist Mitglied des Deutschen Bundestages.

    #Allemagne #guerre #histoire #politique #Ukraine #1914-1918

  • Austerität im Ruhrgebiet : »Selbst der Suppenküche strich man die Zuschüsse« 
    https://www.jungewelt.de/artikel/464120.austerit%C3%A4t-im-ruhrgebiet-selbst-der-suppenk%C3%BCche-strich-ma

    Les municipalités d’Allemagne vont mal. On ne le sent pas encore trop dans les Länder riches du sud comme la Bavière et le Bade-Wurtemberg, ailleurs les villes ne peuvent plus payer que les dépenses obligatoires.

    Il n’y a plus assez d’argent pour l’entretien des infrastructures publiques comme les gares et écoles. Le culturel et le social en pâtissent d’abord.

    Ce sont les dépenses pour l’armement et la guerre qui sont à l’origine du désastre de plus en plus dramatique. Les flux nécessaires d’argent du haut (le Bund) vers le bas (les Länder, Bezirke et communes) manquent de fiabilité et sont en train de diminuer alors qu’il faudrait investir pour contrer la crise et assurer le bien aller des simples gens comme nous.

    Les atlantistes au pouvoir nous consacrent sur l’autel de l’alliance divine occidentale (westliche Wertegemeinschaft) contre l’ennemi diabolique à l’Est. Les patrons de mes grand parent nazis l’appellaient "Ivan" et "communiste", nos dirigeants le surnomment "Poutine". Au fond c’est pareil. Le capital mène sa guerre sous n’importe quel prétexte qu’on arrive à faire avaler au peuple.

    Cette histoire ne touche pas encore sa fin. Bienvenu aux portes de l’enfer libéral.

    28.11.2023 von Henning von Stoltzenberg - NRW: In Bottrops Haushalt klafft eine Lücke von 60 Millionen Euro. Kommunen sind strukturell unterfinanziert. Ein Gespräch mit Sven Hermens

    In der Ruhrgebietsstadt Bottrop gibt es derzeit ein Haushaltsdefizit von 60 Millionen Euro. Wirft die Stadt etwa mit dem Geld nur so um sich?

    Es ist nicht so, dass Bottrop millionenschwere Ausgaben neu getätigt hätte. Wir haben ein strukturelles Einnahmeproblem. Das konnte man lange mit Einsparungen und Rechentricks wie eine schwarze Null aussehen lassen. Doch nun ist die Lage so gravierend, dass sie sich nicht mehr schönrechnen lässt. Die Kommunen bekommen seit Jahren viel zu wenig Geld. Ein Investitionsstau hat sich aufgebaut, den wir nicht bewältigen können. Kosten für Bauprojekte und nötige Klimaanpassungen werden jährlich größer. Versprochene Mittel vom Land werden hingegen ständig auf die Zukunft verschoben und bleiben ungewiss.

    Welche Bereiche sind besonders betroffen?

    Bottrop musste bereits zehn Jahre lang seinen Haushalt »sanieren« – also de facto alles kürzen, was geht. Selbst der Suppenküche hatte man die Zuschüsse gestrichen. Jetzt muss wieder ein sogenanntes Sanierungskonzept erarbeitet werden, bevor wir überhaupt einen Etat beschließen können. Das bringt uns mindestens ein halbes Jahr in die vorläufige Haushaltsführung: Quartierszentren etwa können erst einmal nicht finanziert und betrieben werden. Nur noch das Allernötigste darf bezahlt werden wie die Feuerwehr oder Kitas. Einige fordern einen krassen Stellenabbau in der ohnehin unterbesetzten Verwaltung. Aber im wesentlichen ist kaum noch etwas übrig, das gekürzt werden könnte.

    Für die Situation muss jemand politisch verantwortlich sein. Wen können Sie da nennen?

    Die Verantwortung trägt hier die Landesregierung in NRW. Ob »Rot-Grün«, »Schwarz-Gelb« oder wie aktuell »Schwarz-Grün«: Sie alle haben die Kommunen ausbluten lassen. Doch das aktuelle Kabinett Wüst/Neubaur agiert endgültig als Abrissbirne. Für 2024 war endlich eine Lösung für die hohen Altschulden der Kommunen angekündigt. Viele haben sich darauf verlassen. Die vermeintliche Lösung wurde nun erst einmal um mindestens ein Jahr verschoben.

    Vor allem aber verletzt das Land seine verfassungsmäßige Aufgabe, die Kommunen auskömmlich zu finanzieren. Bei der derzeitigen Inflation und Baukostensteigerungen in hohen zweistelligen Prozentbereichen will die Landesregierung unsere Mittel für das kommende Jahr um nur 0,9 Prozent erhöhen. Selbst der Deutsche Städtetag sagt, dass die Kommunen vom allgemeinen Steueraufkommen dauerhaft ein größeres »Stück vom Kuchen« brauchen. Dass wir überhaupt bei all den jährlich nötigen Investitionen die schwarze Null einhalten sollen, ist absolut fatal. Es wird Zeit, diesen neoliberalen Fetisch zu verbannen.

    Sieht es in den Nachbarstädten ähnlich katastrophal aus?

    Der Großteil des Ruhrgebiets ist pleite. Unsere Nachbarn in Oberhausen müssen ein Defizit von 100 Millionen Euro bewältigen. Das läuft auf einen flächendeckenden Kahlschlag in der Infrastruktur hinaus. Wir wissen nicht einmal, wie wir dringend benötigte Feuerwachen finanzieren sollen oder wie wir geflüchtete Kinder in unsere ohnehin überfüllten Schulklassen bekommen.

    Und was bleibt einer Kommune noch, um sich zu wehren?

    Möglichst viele müssen sich zusammentun und die Finanzierung einklagen. Vor einigen Jahrzehnten wurde dies von einzelnen Kommunen als aussichtsreich geprüft. Aber viele Bürgermeister und Ratsmehrheiten stellen sich nicht gegen die Landesregierung, wenn ihre eigenen Parteien an dieser beteiligt sind. Es braucht Mut, sich nicht weiter dem Spardiktat zu unterwerfen.

    Dauerhafte Defizite dürften nicht ohne politische Folgen bleiben. Welche Forderungen ergeben sich für Sie daraus?

    Jetzt muss eine Klage gegen das Land vorbereitet werden. Der weitere Verfall der sozialen Infrastruktur wird den Rechtsradikalen enorm in die Karten spielen. Dem wollen wir entgegenwirken, beispielsweise mit sozialem Wohnungsbau durch die Stadt, kostenlosem Schulessen oder selbstverwalteten Räumen für Schülerinnen und Schüler. Wie wir schon 2020 sagten: »Wer nicht in die Jugend investiert, wird in Knäste investieren müssen.« Und wie es aussieht, wollen SPD, CDU, Grüne, FDP und AfD viel lieber Knäste bauen.

  • Immobilienspekulation : Für Signa wird es eng
    https://www.jungewelt.de/artikel/464103.immobilienspekulation-f%C3%BCr-signa-wird-es-eng.html


    L’insolvabilité du spéculateur immobilier Signa met en danger les emplois de tous les employés des grands magasins Karstadt. En même temps s’ouvre la perspective de l’achat des grands magasins historiques par la ville de Berlin qui pourra les transformer en espaces culturels adaptés aux besoins de sa population croissante. On a le droit de rêver, non ?

    28.11.2023 von Gudrun Giese - Deutsche Tochter des angeschlagenen Immobilienkonzerns insolvent. Angeblich bis zu 600 Millionen Euro für Sanierung nötig

    Signa hat alle Bauvorhaben in Berlin gestoppt – unter anderem das Projekt um das Karstadt-Haus am Hermannplatz

    Mindestens eine halbe Milliarde Euro benötigt die seit Wochen kriselnde Signa-Gruppe des österreichischen Investors René Benko. Das berichten seit vergangener Woche verschiedene Medien in Deutschland und Österreich.

    Am Freitag hatten Vertreter der Tochtergesellschaft Signa Real Estate Management Germany GmbH (Signa REM) beim Amtsgericht Berlin-Charlottenburg Insolvenz angemeldet. Die Gesellschaft ist Teil der Signa Prime Selection und fungiert als Dienstleister für einen Teil des Immobilienportfolios, wie das Handelsblatt am Montag berichtete. Eigene Gebäude besitzt die Tochter nicht. Im Jahr 2021 hätte die ­Signa REM mit 139 Beschäftigten einen Umsatz von knapp 54 Millionen Euro erwirtschaftet und damit einen für den Konzern eher kleinen Beitrag zur Gesamtbilanz geleistet. Der Insolvenzantrag zeige aber, dass Signa drastische Probleme bei der Finanzierung laufender Projekte habe und die Prime Selection nicht genügend Mittel zur Verfügung stellen könne, um eine Insolvenz abzuwenden, so das Handelsblatt.

    Nach diversen Insolvenzen in den Handelssparten der Signa-Gruppe, die z. B. während der Coronapandemie zweimal die Warenhaustochter Galeria Karstadt-Kaufhof und zuletzt die Tochtergesellschaften von Signa Sports United trafen, Verkäufen von Unternehmen wie den Möbelketten Kika/Leiner in Österreich sowie dem Stopp von Bauprojekten wie dem »Elbtower« in Hamburg sollte eigentlich der als Insolvenzverwalter bekannt gewordene Wirtschaftsprüfer und Steuerberater Arndt Geiwitz aus Neu-Ulm den Gesamtkonzern sanieren. Laut einer Signa-Pressemitteilung von Anfang November sollte er inzwischen längst die Zügel in der Chefetage übernommen haben, was nach einem Bericht der Lebensmittelzeitung vom Wochenende aber noch nicht geschehen ist. Er sei immer noch Berater. Geiwitz selbst äußerte sich dazu nicht.

    Offenbar steht und fällt alles mit der Zusage, erhebliche Finanzmittel für Signa zu beschaffen. Davon habe der Insolvenzexperte seinen Einstieg in die Geschäftsführung abhängig gemacht, weil er sonst sein in Grundzügen bereits ausgearbeitetes Sanierungskonzept nicht umsetzen könne. An der Beschaffung der als notwendig erachteten Summe von 500 bis 600 Millionen Euro sind das Bankhaus Rothschild und die Anwaltskanzlei White & Case beteiligt.

    Die Gespräche mit potentiellen Investoren laufen auf Hochtouren. Das Handelsblatt berichtete in der vergangenen Woche von Verhandlungen mit dem auf Restrukturierungsfinanzierungen spezialisierten Investor »Attestor«. Die österreichische Nachrichtenagentur APA berichtete am Montag, bei Signa werde ein Mezzanine-Investor gesucht, der bereit sei, gegen extrem hohe Zinsen und wenig direktes Mitspracherecht eine gute halbe Milliarde Euro zur Verfügung zu stellen. Mezzanine-Kapital ist eine Mischform aus Eigen- und Fremdkapital. Zinsen und zusätzliche Gebühren könnten Kreditkosten von zwanzig Prozent pro Jahr bedeuten, also 100 Millionen Euro.

    Unterdessen erwägt Klaus-Michael Kühne, Logistikunternehmer und bereits Großinvestor der Signa-Gruppe, die komplette Übernahme des Hamburger Prestigeprojekts »Elbtower«. Laut Handelsblatt habe Kühne dazu erste Gespräche mit Vertretern der Hamburger Landesregierung geführt. Er selbst äußerte sich nicht dazu. Am »Elbtower«, dessen Baukosten auf insgesamt 960 Millionen Euro geschätzt werden, ruhen seit Wochen die Arbeiten, weil Signa die Rechnungen für den bisher rund 100 Meter hohen Rohbau nicht beglichen hat. Auch andere Bauprojekte ruhen oder wurden erst gar nicht begonnen, wie etwa das auf dem Gelände der ehemaligen Gänsemarkt-Passagen in Hamburg. Sorgen machen sich auch die Betreiber der geschrumpften Warenhauskette Galeria Karstadt-Kaufhof, die nach zwei Insolvenzen in zweieinhalb Jahren eigentlich wieder rentabel fortgeführt werden sollte. Doch auch bei dieser Tochter ist die Liquidität knapp. Ohne eine kräftige Finanzspritze für Signa könnte es für das gesamte Firmenkonglomerat bald sehr düster aussehen.

    #Allemagne #Berlin #spéculation_immobilière

  • Gert Wunderlich: »Wenn die Sonne tief steht, werfen selbst Zwerge lange Schatten.«
    https://www.jungewelt.de/artikel/463451.ddr-grafik-meister-der-form.html

    18.11.2023 von Peter Michel - Eine Erinnerung an den Plakatkünstler, Typographen, Buch- und Schriftgestalter Gert Wunderlich anlässlich seines 90. Geburtstages

    »Die Meisterung der Form, wenn sie keine leere Virtuosität, sondern eine wahre ­Meisterschaft sein soll, kommt aus einer ­Disziplin, die den ganzen Menschen ergreift.«, Johannes R. Becher

    Am 15. August 2023 verstarb Gert Wunderlich. Er war international geachtet und anerkannt. Gemeinsam mit seiner Frau Sonja sorgte er bis in die Gegenwart dafür, dass Maßstäbe einer anspruchsvollen Gebrauchsgrafik nicht aus dem Gedächtnis verschwinden. Seinen 90. Geburtstag erlebte er nicht mehr. Am 8. September 2023 wurde er auf dem Leipziger Südfriedhof beigesetzt.

    »Überklebt – Plakate aus der DDR« war der Titel einer Ausstellung, die 2008 in der Galerie der Gesellschaft zum Schutz von Bürgerrecht und Menschenwürde (GBM) stattfand, kuratiert von der Kunsthistorikerin Sylke Wunderlich. Auch ihr Vater, Gert Wunderlich, war zur Eröffnung am 22. Oktober erschienen. So sahen wir uns nach vielen Jahren wieder. Er gehörte zu den Lesern und Unterstützern unserer Zeitschrift Icarus.¹ Wir erinnerten uns an die gemeinsame Arbeit im Künstlerverband und an die jährlichen Ausstellungen der besten Plakate. Wir waren uns darin einig, dass die Plakatkunst in der DDR eigenständig war, dass sich – wie Friedrich Dieckmann in einem Katalogtext schrieb – an der Spitze der Zunft ein künstlerischer Eigensinn behauptet hatte, »der wusste, was in der Welt an relevanter Plakatgrafik produziert wurde, in Polen und in Japan, in Frankreich, Westdeutschland oder den USA, und ihr eine Kunst humaner Differenzierung, des intrikaten Effekts, der malerischen Figur, auch der vehementen Collage entgegensetzte, fast verträumt manchmal, dann wieder scharfzüngig oder auf ernsthafteste Weise verspielt«.²

    Der Leipziger Verlag Faber & Faber hatte im selben Jahr in seiner Reihe »Die Graphischen Bücher« einen Band mit einem Text des Wuppertaler Ästhetikprofessors Bazon Brock herausgegeben. Dieses Buch trug den Titel »Kotflügel. Sprechmaschine nackt im Damenjournal«. Brock war als Provokateur bekannt, er hielt auf dem Kopf stehend Vorträge, warf seine Schuhe in den Ätna und gründete ein Institut für Gerüchteverbreitung. Er war an Happenings mit Joseph Beuys beteiligt, bemühte sich, der öffentlich verbreiteten Ideologie entgegenzusteuern und hatte auf die Künstlergeneration der »Neuen Wilden« entscheidenden Einfluss. Gert Wunderlich gestaltete dieses Buch, legte jedem Exemplar acht schon 2006 geschaffene Originaltypographiken auf Transparentfolie bei und schrieb in eine der Ausgaben: »Wenn die Sonne tief steht, werfen selbst Zwerge lange Schatten.« Hier übertraf wohl eine Ironie die andere. Als die Weimarer Ausstellung »Aufstieg und Fall der Moderne«, in der es 1999 um die Diskriminierung in der DDR entstandener Kunst ging, von allen Seiten heftig kritisiert wurde, hatte sich auch Bazon Brock eingemischt. Im Deutschlandradio Berlin äußerte er, angesichts dessen, was Ausstellungen und Kunstmarkt den Künstlern im Westen zugemutet hätten, sei die Kritik an der Weimarer Ausstellung lachhaft.³ Er war es also gewöhnt, dass man Kunst wie Müll behandelt.

    Die transparenten Originaltypographiken von Gert Wunderlich verstehe ich demgegenüber als Zeugnisse des Bestehens auf einer künstlerischen Leistung, die unwiederholbar ist und die man achten muss. Wunderlich spielte mit Schriften, farbigen und schwarzen, winzigen und großen Typen, mit geometrischen Formen, die die Funktion von Schriftzeichen übernehmen, mit spannungsvoll komponierten Flächen, mit herausfordernden Verrätselungen – und wenn man die Grafiken gegen das Licht hält, entstehen Assoziationen zu den Sprachblättern von Carlfriedrich Claus. Das sind Werke eines Künstlers, der sein typographisches Handwerk perfekt beherrschte und der solche Spiele – die natürlich ihren Eigenwert haben – braucht, um klare Botschaften ebenso meisterhaft unter die Leute zu bringen.
    »affiche directe«

    Sein Plakat »Hemmungsloser Maximalprofit tötet Moral« aus der Serie »affiche directe«, das 2008 entstand, ist ein Beispiel dafür. Der Begriff »Maximalprofit« steht schwer, schwarz und blockhaft im Zentrum. Die roten Schriftzüge bilden die weitergehende Aussage: »Profitgier tötet«, wobei die kalligrafisch scheinbar schnell hingeworfene und die massige Blockschriftzeile in ihrer Gegensätzlichkeit jeweils nach oben oder unten weisen und nach links einen Keil bilden. Es werden Bezüge zur frühen nachrevolutionären russischen Kunst deutlich. Die Serie »affiche directe« entstand seit den 1970er Jahren zu gesellschaftspolitischen Themen, die national und international von entscheidender Bedeutung waren – und noch sind. Hier stellten Gert und Sonja Wunderlich ihre eindeutige Haltung in einer breiten Öffentlichkeit aus. Sie stießen die Betrachter mit ihren Plakaten und Postkarten sehr direkt auf aktuell brennende Probleme, provozierten ein Weiterdenken und forderten zum Handeln auf. Sie nutzten dafür typographische, schriftgrafische und fotografische Mittel. Auf einem Plakat aus dem Jahr 1999 sind auf schwarzem Grund das NATO-Symbol und das Hakenkreuz miteinander verzahnt; darüber in Gelb das Wort »Aggressoren« und oben die Jahreszahlen 1939 und 1999 mit schlagwortartigen Schriftzügen: »Überfall deutscher Truppen auf Polen: 1.9.1939« und »Bombenkrieg der NATO gegen Serbien. Ohne UN-Mandat: 24.3.1999«.
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    Gert Wunderlich/Stiftung Plakat OST (2)

    Gert Wunderlich: Nie wieder Faschismus, Plakat (2006)

    Einige Postkarten dieser Serie schickte Gert Wunderlich an uns. Meist sind sie mit persönlichen Widmungen versehen. Wir bewahren sie als Zeugnisse unserer Freundschaft. »Kriege sind vom Aussterben nicht bedroht … Megaprofite, imperiale Gewalt und religiöser Fanatismus sind gegenwärtig«, steht auf einer dieser Postkarten aus dem Jahr 2014. Auf einer anderen wird davor gewarnt, Russland permanent als »Reich des Bösen« zu diffamieren. Auf der Rückseite einer Postkarte zur anhaltenden inneren Spaltung der Deutschen zitiert Gert Wunderlich eine Äußerung Stefan Zweigs aus dem Jahr 1938 über den Hass zwischen Systemen, Parteien, Klassen, »Rassen« und Ideologien. Anlässlich der V. Internationalen Plakatausstellung in Leipzig 2022 entstand sein Plakat mit dem Text des Gedichtes »Das große Karthago …« von Bertolt Brecht. Im selben Jahr beteiligten sich Sonja und Gert Wunderlich an einem japanischen Plakatwettbewerb gegen den Krieg und nutzten dafür die Nationalfarben der Ukraine.

    Das schöpferische Spiel mit der Schrift ist typisch für Gert Wunderlichs Plakatkunst. Als er das Plakat für die Internationale Buchkunstausstellung in Leipzig schuf, ordnete er die vierfach wiederholten Schriftzeichen der Abkürzung »iba« spiegelbildlich um eine senkrechte Mittelachse. Für die Thomas-Mann-Ehrung 1975 sind auf einer dunkelblauen Fläche drei Schriftzeilen an den oberen und unteren Rand sowie in die Mitte gestellt, so dass unter dem Wort »Mann« die Fliege genügt – die der Schriftsteller gern anstelle einer Krawatte trug –, um den Betrachter darauf zu stoßen, worum es geht. Beinahe monumental ist auf einem Plakat für eine Aufführung des »Rings des Nibelungen« die blockhafte Masse der schweren Typen auf einen Bühnenboden gestellt – als ein Zeichen für die Gewalt der Wagnerschen Musik. Ebenso symbolisiert ein kräftiger Punkt mit auf- und abschwellenden Linien die Kunst der Grafik auf einem Plakat für die Ausstellung »100 ausgewählte Grafiken 1977«. Solche Klarheit des Aufbaus bestimmte auch ein Schriftplakat zur Abrüstung 1983 und ein Plakat mit kyrillischer Schrift für eine Ausstellung grafischer Arbeiten der Leipziger Hochschule für Grafik und Buchkunst 1989 in Moskau. Fast alle diese Arbeiten sind Kulturplakate. Der Blickfang ist auf weite Sicht konzipiert, die notwendigen weiterführenden Informationen sind klein gedruckt. Wer neugierig geworden ist, tritt an das Plakat heran.
    Konsequenter Lebensweg

    Gert Wunderlich wurde am 18. November 1933 in Leipzig geboren. Er erlernte in den Deutschen Grafischen Werkstätten den Beruf des Schriftsetzers und studierte anschließend an der Hochschule für Grafik und Buchkunst Leipzig (HGB) bei Irmgard Horlbeck-Kappler, Wolfgang Mattheuer und Elisabeth Altmann im Grundstudium. Sein Fachstudium absolvierte er bei den Designern, Kalligraphen und Typographen Albert Kapr, Oskar Zech und Otto Erler. Nach dem Diplom arbeitete er bis 1960 als Buchgestalter in der Druckerei »Fortschritt« Erfurt. 1959 wurde Wunderlich in den Verband Bildender Künstler aufgenommen. Seine erste große internationale Aufgabe war die Tätigkeit als Sekretär der Internationalen Buchkunstausstellung in Leipzig. Das dafür geschaffene Plakat machte ihn über die Grenzen der DDR hinaus bekannt. 1966 wurde er Aspirant bei Albert Kapr, 1967 Assistent, 1968 Oberassistent und 1971 Dozent. Der Bund Deutscher Buchkünstler, der seinen Sitz in Offenbach am Main hat, nahm ihn im selben Jahr als Mitglied auf. 1979 übertrug man ihm eine Professur mit künstlerischer Lehrtätigkeit sowie die Leitung der Abteilung Buchgestaltung/Gebrauchsgrafik an der HGB. 1982 wurde Wunderlich zum Vorsitzenden des DDR-Zweigs des International Council of Graphic Design Associations (Weltdachverband für Grafikdesign und visuelle Kommunikation, Icograda) gewählt. Eine erste Gastdozentur im Ausland führte ihn 1988 an die Akademie für Kunst und Design nach Beijing. Von 1991 bis 1999 bildete er Meisterschüler aus. 1992 erfolgte die Berufung als Professor neuen Rechts an der Leipziger Hochschule, bis 1999 leitete er dort die Fachklasse für Typographie, Buch- und Plakatgestaltung. Nach seiner Emeritierung ging Wunderlich 1999 noch einmal als Gastdozent für praktisch-künstlerischen Unterricht nach Beijing und hielt Vorträge an der Universität Xiamen und an der Kunsthochschule Suzhou. Er arbeitete in zahlreichen nationalen und internationalen Jurys mit und war von 1992 bis 2011 Mitglied des Kuratoriums zur Verleihung des Gutenberg-Preises der Städte Leipzig und Mainz.

    Gert Wunderlich gehörte zu den Typographen, die bis heute Maßstäbe setzen. Die klassische Ausbildung, die er nach dem Zweiten Weltkrieg in Leipzig erhielt, ist heute nicht mehr allgemein üblich. Sie schloss Offenheit gegenüber anderen Kunstbereichen ein. Schon in den 1950er Jahren – als das noch nicht selbstverständlich war – beschäftigte er sich mit dem Erbe des Expressionismus und des Bauhauses. Bewährtes und Neues zusammenzuführen, war Wunderlich wichtig. Stets war er der Auffassung, dass die typographische Form dem Inhalt entsprechen müsse; er wählte Formen, die es ermöglichen, einen Text dauerhaft erlebbar zu machen und zugleich die Lesbarkeit zu sichern. Das ist ohne gestalterische Disziplin nicht möglich; visuelles Marktgeschrei verbietet sich.

    Wunderlich entwickelte neue Schriften, darunter die »Antiqua 58«. Die von ihm geschaffene Linear-Antiqua »Maxima« gehörte wegen ihrer guten Lesbarkeit, ihrer Formschönheit und Ausdruckskraft in den 1980er Jahren zu den meistgenutzten Groteskschriften in der DDR und wurde für alle Buchgenres, aber auch zum Beispiel im Berliner Nahverkehr genutzt.
    Eigene Buchkunsttradition

    Die von Wunderlich gestalteten Bücher sind kaum zählbar. Wolfgang Hütts Bücher über Lea Grundig und Willi Sitte gehören dazu, der Sammelband »Weggefährten. 25 Künstler der DDR«, die vom Künstlerverband herausgegebene Publikation »Gebrauchsgrafik in der DDR«, Günter Meißners Buch über Werner Tübke, das Gert Wunderlich und seine Frau Sonja gestalteten, und andere. Gemeinsam mit den beiden älteren Buchgestaltern Albert Kapr und Walter Schiller gilt Gert Wunderlich als Vertreter einer Buchkunsttradition, die sich seit den 1950er Jahren in der DDR herausbildete – oft unter materiellen Schwierigkeiten und begleitet von kulturpolitischen Auseinandersetzungen. Die Zusammenarbeit mit Grafikern und Illustratoren war ihm stets wichtig, um ein ganzheitliches buchkünstlerisches Werk zu schaffen. Zwischen 1991 und 2011 schuf er zum Beispiel für den Leipziger Bibliophilen-Abend vorbildhaft gestaltete Bücher und Buchkassetten mit Holzstichen von Karl-Georg Hirsch, Lithographien und Steindrucken von Jiří Šalamoun und Rolf Münzner, Holzschnitten, Kupferstichen und Radierungen von Baldwin Zettl, Hans Ticha, Joachim John, Rolf Kuhrt und anderen. Seine Arbeiten zu Texten von Edgar Allan Poe, Bertolt Brecht, Volker Braun, Hermann Kant, Rolf Hochhuth, Lothar Lang und anderen sind Meisterwerke, die ihresgleichen suchen. Viele Verlage schätzten Gert Wunderlich als einfühlsamen, maßstabsetzenden Gestalter. Wenn man solche Bücher in die Hand nimmt und sieht, wie alle Teile zusammenspielen, wie komplizierte Texte und unterschiedliche grafische Elemente ein Ganzes geworden sind, wird einem die ästhetische Verarmung der Gegenwart bewusst. Aus dem Kulturgut Buch ist in vielen Fällen ein Wegwerfartikel geworden, eine Ware wie jede andere.
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    Gert Wunderlich/Stiftung Plakat OST

    Gert Wunderlich: Plakat für den Wettbewerb »100 Ausgewählte Grafiken« 1977 (1977)

    Bis kurz vor seinem Tod bestritt Wunderlich unzählige Einzel- und Gruppenausstellungen und wurde vielfach ausgezeichnet. Seine Arbeiten sind in Sammlungen auf der ganzen Welt zu finden. Der 1933 Geborene konnte auf das Erreichte stolz sein. Es machte ihn sympathisch, dass er bei alledem bescheiden auftrat und nicht vergaß, woher er kam. Wir trafen uns im Sommer 2013 zum letzten Mal. Der Anlass war traurig und unser Treffen war zufällig. In der Menschenmenge vor der Feierhalle auf dem Gertraudenfriedhof in Halle sahen wir uns, als wir von Willi Sitte Abschied nahmen.

    Der Grafikdesigner Kurt Weidemann schrieb: »Wer Typographie macht, dem muss es völlig wurscht sein, ob er im Trend liegt, up to date ist oder nicht. Wer dauernd neuen Idolen dient oder sie nur abkupfert, verliert seine Identität. Wer Angst davor hat, als altmodisch bezeichnet zu werden, darf seinen Kontrahenten Ahnungslosigkeit und Unkenntnis der Geschichte vorwerfen.«⁴ Gert Wunderlich besaß dieses Selbstbewusstsein. Und die Anmerkung Kurt Weidemanns betrifft wohl nicht nur die Typographie.

    Anmerkungen

    1 Icarus, Zeitschrift für soziale Theorie, Menschenrechte und Kultur, herausgegeben von der Gesellschaft zum Schutz von Bürgerrecht und Menschenwürde

    2 Friedrich Dieckmann: Eigensinn und Eigenart. Plakate aus der Deutschen Demokratischen Republik. In: Überklebt – Plakate aus der DDR, Schwerin 2007, S. 9

    3 Gespräch mit Bazon Brock, Deutschlandradio Berlin, Mai 1999. Siehe auch: Peter Michel: Ankunft in der Freiheit. Essays gegen den Werteverlust der Zeit, Berlin 2011, S. 42

    4 Kurt Weidemann: Typografen sind Dienstleute. In: Sonja und Gert Wunderlich: Graphik-Design, herausgegeben von der Stiftung Plakat Ost, Leipzig 2013, S. 94

    #art #DDR

  • XYZ : Heine in Kinshasa
    https://www.jungewelt.de/artikel/463466.xyz-heine-in-kinshasa.html

    18.11.2023 von Enno Stahl - Die Entscheidung hatte ich mir nicht leichtgemacht. Kinshasa wirkte auf mich zunächst wie meine »eigene Frage als Gestalt«. Dunkel, bildlos, irgendwie sehr problematisch vom ersten Moment an: Man trifft dort ein, wird am Flughafen tatsächlich jemand warten und mich abholen, wie vereinbart? Was, wenn nicht? Das Handy geht erst mal nicht, ohne kongolesische SIM-Karte kann man nicht einmal jemanden anrufen. Dann steht man dort mit all dem Bargeld, das man mitschleppt, mitschleppen muss, da unklar ist, ob die Karten dort überhaupt funktionieren. Was dann, wie weiter? Es ist kompliziert.

    Nun, ich habe es gewagt. Denn es geht um die Literatur, einen Roman, der sich nur fortsetzen lässt, wenn ich die Stadt einmal leibhaftig gesehen habe. Und Kinshasa musste es sein, nicht Accra, nicht Dakar, nicht Nairobi. Viele Monate Arbeit hatte ich im vorhinein investiert, um ein Netzwerk zu flechten, denn das ist an solchen Orten alles. Sonst ist man aufgeschmissen, buchstäblich verloren. Ich fand tolle Leute, die mir die Ängste nahmen und die Gestalt der Frage veränderten. Kinshasa bekam nach und nach eigene Konturen, wurde anschaulich, beinahe real. So ist es letztlich recht einfach gewesen. Dass alle Sorge umsonst gewesen wäre, kann man allerdings nicht sagen: Die Mühe musste schon sein, und die Karten, zum Beispiel, funktionierten tatsächlich nicht.

    Jedenfalls bin ich nun hier. Mein Guide und Fahrer Cedrick kümmert sich zuverlässig um mich. Er ist weltgewandt, kennt sich aus, sogar mit der aktuellen deutschen Politik. Aus Kinshasa weg will er nicht. Er sagt: Ich bin jung, ich bin stark, ich will hier etwas bewegen! Neben einem Studium des Umweltingenieurwesens betreibt er in Eigenregie das freie Kulturzentrum »Mokili na Poche« (Die Welt in der Tasche) als Anlaufstelle für Straßenkinder, die dort mit Unterkunft und Nahrung versorgt werden, aber auch kulturpädagogische Angebote erhalten. Sie kreieren etwa Recyclingrucksäcke aus dem allgegenwärtigen Kunststoffmüll. Ein paar Jungs versuchen sich als Rapper, das nötige Equipment finden sie hier. Unlängst haben die Nachrichtenagentur Reuters, TV 5 und France 24 über sie berichtet. Cedrick finanziert das alles aus seiner eigenen Tasche, 800 Dollar monatlich, allein für die Miete, mit dem Geld, das er von Leuten wie mir bekommt. Darüber hinaus sind Spenden hoch willkommen.

    Die allgemeine Infrastruktur ist unvorstellbar heruntergerockt. Im Viertel Bandal, in dem ich wohne, ist andauernd Stromausfall, manchmal nur kurz, manchmal für Stunden. Auch das Wasser bleibt weg. Zur Sicherheit füllt man große Eimer auf Vorrat. Wenn die Dusche nicht funktioniert, gießt man daraus kellenweise Wasser über sich, das geht auch. Im Verkehr sieht es nicht anders aus. Nur die großen Straßen sind asphaltiert. Sobald man sie verlässt, gerät man in ein Labyrinth aus unwegsamen Pisten. Deutsche Feldwege sind bequem dagegen. Schlaglöcher, kopfgroße Steine, Pfützen, die Autos rumpeln da durch, mit nie mehr als fünf oder zehn Kilometern pro Stunde. Der Verkehr auf den Magistralen ist wahnsinnig, alle fahren durcheinander, überall, wo gerade Platz ist, Millimeterarbeit, kaum ein Wagen ohne Blechschaden. Dazwischen wimmeln kreuz und quer Motorradtaxis, meist mit drei Personen, die sich von den Kühlern der Autos abstoßen. Auch hier kommt man nur langsam voran mit 20, 30 Kilometern pro Stunde. Das Fahren erfordert immense Geschicklichkeit, ich würde es mir im Leben nicht zutrauen. Cedrick beherrscht es mit gelassener Souveränität.
    Legendäre Dandys

    Besonders heiß ist es nicht, 27 Grad. Kaum mehr als in Deutschland zur selben Zeit. Die Luftfeuchtigkeit ist allerdings hoch. Jetzt in der Trockenzeit lässt sich die Sonne nicht allzu oft sehen, meist ist es diesig, leicht bewölkt. Richtigen Sonnenschein gibt es in der Regenzeit, lerne ich, da wird es unter der Äquatorialsonne sehr heiß, worauf sturzflutartige Regenfälle folgen.

    Die Menschen stehen in einem unsagbar harten Existenzkampf. Kinshasa ist nicht billig, nicht einmal für Europäer. Bezahlt werden muss in harten Dollars. Die erarbeiten sich Myriaden von fliegenden Händlern, Männer, Frauen und Kinder, indem sie tagein, tagaus Waren durch die Stadt schleppen, auf dem Kopf oder den Schultern. Wasserflaschen, Taschentücher, Kunsthandwerk, Baguettes, Obst, Snacks, Zigaretten. Andere schieben schwere Karren, Männer mit Handwagen, mitten im Verkehr. Die meisten Polizisten sind korrupt. Niemand hält an roten Ampeln, aus Angst, von ihnen ausgeraubt zu werden. Die Fenster von Massentaxis sind stark vergittert – aus demselben Grund. Das ist schlimm und dennoch nicht völlig unverständlich, weil die Staatsbediensteten unregelmäßig oder gar nicht bezahlt werden.

    Das, was ich in Kinshasa erledigen will, ist in wenigen Tagen getan. Ich treffe mich mit einer Gruppe von Sapeurs, diesen inzwischen schon legendären Dandys, die sich trotz Armut mit exquisiter Kleidung hervortun. Unter dem Diktator Mobutu, der afrikanische Dresscodes gesetzlich vorschrieb, waren sie so etwas wie die Punks in der westlichen Welt – nur unter umgekehrten Vorzeichen. Ich spreche mit dem Vertreter einer traditionell-afrikanischen Kirche, der mir deren kosmologische Vorstellungen näherbringt, wir sitzen zweieinhalb Stunden mitten in der Sonne, ohne Wasser, er redet ein Gemisch aus Lingala und Französisch, es ist sehr anstrengend.

    Daneben tausche ich mich mit vielen Kongolesen über mein Projekt aus, jeder hat etwas zu ergänzen und zu korrigieren, es nimmt immer genauere Formen an. Die Leiterin des Goethe-Instituts, Astrid Matron, hat mir dankenswerterweise einen Auftritt in der sehr gut eingeführten Lesungsreihe »Café littéraire de Missy« im Bistro des Institut français vermittelt. Missy ist eine freundliche Mittvierzigerin, die diese Veranstaltung blendend organisiert hat. Es ist viel Publikum da, weil ein Auszug aus einem Roman namens »Lumumba« angekündigt wurde. Ganz so ist der Arbeitstitel nicht, und das Buch handelt auch nicht unmittelbar von Lumumba, aber eine gewisse Rolle spielt er schon. Für die Kongolesen besitzt sein Name weiterhin große Strahlkraft, daher der rege Besuch. Nicht alle sehen ihn positiv. Manche denken, dass Lumumba die Unabhängigkeit zu schnell, zu planlos eingeführt habe, ähnlich, wie das auch der belgische Historiker David Van Reybrouck in seinem großen Buch »Kongo. Eine Geschichte« analysiert. Die Diskussion ist lang und heftig. Auch ich werde attackiert, manch einer fragt sich, warum ausgerechnet ich denn ein Buch über Lumumba schreiben sollte. Andere wiederum begrüßen das ausdrücklich. Die Moderatorin eilt mir ein ums andere Mal eloquent zur Hilfe; als ich ihr nachher dafür danke, sagt sie nonchalant, das sei für sie normal, im Hauptberuf sei sie Anwältin, und Leute zu verteidigen sei nun mal ihr Job.

    Auch diese Diskussion, von der ich im nachhinein sogar noch eine schriftliche Zusammenfassung erhalte, ist sehr nützlich, sie erlaubt Einblicke in die historische Selbstwahrnehmung der Kongolesen. Damit aber sind sämtliche Verpflichtungen abgegolten, die ich mir zur Beförderung des Romanprojekts auferlegt hatte. Doch es gab noch etwas anderes in Kinshasa zu tun.

    Zu Hause arbeite ich im Heinrich-Heine-Institut Düsseldorf. Als sich die Reisepläne konkretisierten, fragte man mich, ob ich meinen Aufenthalt dort nicht nutzen könnte, um in geeigneter Form auf das Heinrich-Heine-Stipendium hinzuweisen. Diese Förderung für internationale Studierende wird von der Heinrich-Heine-Universität angeboten, finanziert von der Stadt Düsseldorf, betreut unter anderem durch das Heine-Institut. Junge Forscherinnen und Forscher aus aller Welt, die eine Qualifizierungsarbeit über Heine schreiben, können sich dafür bewerben. Der oder die ausgewählte Glückliche erhält für fünf Monate eine großzügige Projektförderung. Bislang stammten die Stipendiaten aus China, Holland oder Kanada, noch nie aus Afrika. Daher würden Bewerbungen von dort besonders begrüßt.
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    Michael Runkel/IMAGO/robertharding

    Ein solches Angebot im Gepäck zu haben gefiel mir. Es war eine Chance, etwas zurückzugeben, wenigstens einer Person, wenn es denn jemandem aus Kinshasa gelänge, in den Genuss dieses Stipendiums zu gelangen. Monatelange bemühte ich mich vergeblich um Kontakt zu interessierten Hochschullehrern. Keiner meiner Gewährsleute konnte mir jemanden empfehlen. Auf der Webseite der Université de Kinshasa war ausgerechnet der Link zu den Belles Lettres tot, weder Kontaktdaten noch die Struktur entsprechender Studienseminare waren zu eruieren.

    Doch zwei Wochen bevor ich fuhr, klappte doch etwas. Man empfahl mir, mich an Professor André Yoka vom ­Institut National des Arts (INA) zu wenden, einer über den Kongo hinaus bekannten Hochschule für darstellende Künste. Yoka war Rektor der INA, inzwischen emeritiert, doch weiterhin dort aktiv. Er antwortete sofort. In Kinshasa kommt es zum Treffen mit ihm und dem Professor Yoris Ngaki. Beide sind neben ihrer Lehrtätigkeit selbst als Autoren tätig und zeigen sich sehr interessiert an dem Stipendienprogramm. Von Heine allerdings haben sie noch nie etwas gehört. Das ist seltsam, da dieser doch der frankophile deutsche Autor par excellence ist, als »Henri Heine« geradezu Teil der französischen Literaturgeschichte! Bereits zu Lebzeiten, als er noch nicht einmal 40 war, erschien eine erste französische Werkausgabe.
    Warum nicht Heine?

    Ich erzähle viel über ihn, seine Biographie, seinen Humanismus, sein Stück »Almansor«, das für Religionsfreiheit eintritt, in dem der berühmte Satz sich findet: »Dort wo man Bücher verbrennt, verbrennt man auch am Ende Menschen.« Das gefällt ihnen. In zwei Tagen soll es soweit sein – eine kleine Präsentation des Heinrich-Heine-Stipendiums in der INA. Das ist ein Samstag. Ich denke, dass dies eigentlich kein guter Tag für eine Veranstaltung mit Studierenden ist, und äußere das auch. Doch die Professoren wiegeln ab, nein, das sei kein Problem.

    Tatsächlich ist die Theateruni sehr belebt am Samstag morgen, offensichtlich ein normaler Studientag. Die INA ist ein wenig rumpelig, aus grobem Beton, aber nicht ohne Charme. Aktuell wird ein großzügiger Neubau erstellt – von chinesischen Bauherren. Chinesen investieren bekanntlich seit einigen Jahren in großem Maßstab im Kongo. Die einen sichern sich seltene Erden mit Waffen oder Intrigen, der chinesische Weg geht eben so.

    Die INA-Studierenden sind lässig, oft ungewöhnlich gekleidet, sie stechen heraus unter den Jugendlichen, die man hier auf den Straßen sieht. Ein smarter Bohemientyp mit Pepitahut, Professor Nzey van Musala, empfängt uns und sagt, dass es bald anfangen werde. Auch er ist Dramatiker. Mit Heine hat er sich vertraut gemacht. Es gibt einen sehr umfangreichen französischen Wikipedia-Artikel, nicht viel kürzer als der deutsche Eintrag. Nzey ist ziemlich angetan und versteht gar nicht, wieso ihn im Kongo keiner kennt: Goethe, Büchner, ja – aber warum nicht Heine? Besonders gefällt ihm, dass Heine viele politische Gedichte geschrieben hat, das sei ihm persönlich auch sehr wichtig. Er fragt, ob ich ihm eine Auswahl davon schicken könne – er würde gerne eine Revue mit dessen politischen Texten realisieren. Das sage ich gerne zu.

    Rund 50 Studierende finden sich ein, um meinen Ausführungen über das Heine-Institut, Heine selbst sowie das Stipendium zu lauschen. Professor Ngaki, der zu uns gestoßen ist, übersetzt alles, was ich sage – wegen »meines europäischen Dialekts«, der es den Zuhörern schwermache, mich zu verstehen. Ich hoffe, dass das keine Umschreibung dafür ist, wie schlecht meine französische Aussprache ist. Manche der Studierenden scheinen ohnehin nicht recht zu wissen, was das mit ihnen zu tun haben soll, andere sind sehr aufmerksam und schreiben alles mit. Das Stipendium ist sehr hoch dotiert. Allerdings muss man sich in seriöser und profunder Weise mit Heine beschäftigen.

    Die Stimmung ist sehr gut. Die beiden Professoren bestätigen die Studierenden, wo sie können. Ich habe die Bewerbungsformulare ins Französische übersetzt, biete mich zur Betreuung von potentiellen Interessenten an, auch von Deutschland aus. Wir werden sehen. Zum Abschluss werden Gruppenfotos geschossen, ein Teil der Studierenden und die Professoren. Danach lädt uns Nzey van Musala auf ein Bier am Stand um die Ecke ein. Wir sitzen unter einem Sonnenschirm im Sand, und Professor Nzey sinniert: Ja, so habe es einst mit Goethe in Kinshasa angefangen. Nun sei Heine an der Reihe, die Rezeption werde jetzt starten. Ich finde es nett, dass er das sagt, glaube aber natürlich nicht daran. Wir verabschieden uns freundlich. »Bis zum nächsten Mal.« Ich habe keine Ahnung, ob ich jemals wieder nach Kinshasa komme, obwohl sich hier so vieles aufgetan hat. Mein Versprechen, Nzey van Musala mit Texten zu versorgen, bekräftige ich und halte es auch.
    Französische Übersetzungen

    Bücher – per Post oder so – kann man leider nicht schicken, sie kämen nie an. Also suche ich verstärkt nach Internetquellen. Französische Übersetzungen gibt es in Hülle und Fülle. Ich beschaffe Professor Nzey einigen Lesestoff, scanne zudem Auszüge aus der Düsseldorfer Heine-Ausgabe. Er ist besonders interessiert an Theaterstücken. Viele hat Heine nicht geschrieben, zu seinen Lebzeiten wurde nur »Almansor« ein einziges Mal aufgeführt, es war ein Riesenmisserfolg. Aber die INA ist nun mal eine Theateruni, so gesehen.

    Wir bleiben in Kontakt. Er berichtet vom Plan, ein »Centre Heinrich Heine« in Kinshasa zu eröffnen. Dann von weiteren Fortschritten auf dem Weg dorthin. Ich kann es nicht fassen, es ist erst einen Monat her, dass ich Kinshasa verlassen habe, da hat er bereits ein Büro im Vorort Kinkolé aufgetan, wo er in Kürze mit jungen Studierenden dieses wahrscheinlich erste afrikanische Heine-Zentrum betreiben möchte. Soviel zu meinen Vorurteilen.

    Das Vorhaben nimmt Formen an. Die offizielle Eröffnung findet am 13. Dezember 2023 statt, Heines Geburtstag. Am 17. Februar 2024, Heines Todestag, will Nzey van Muzala mit der Compagnie Marabout Théâtre, als französischsprachige Uraufführung, Heines Stück »William Ratcliff« auf die Bühne bringen. Es wurde, lange nach Heines Tod, nur sehr vereinzelt in kleineren deutschen Theatern gespielt. Und jetzt das: Heine in Kinshasa, es ist zu verrückt! Ein winziger Stein, große Wellen.

    #Allemagne #Congo #RDC #lettres #culture #bourse

  • Arbeiterklasse: »Wir leben in einem Ausnahmezustand«
    https://www.jungewelt.de/artikel/463462.arbeiterklasse-wir-leben-in-einem-ausnahmezustand.html

    18.11.2023 von Dieter Reinisch - Über die Ursachen des Ukraine-Kriegs, die Möglichkeiten eines Auswegs und den Zustand der Meinungsfreiheit. Ein Gespräch mit Raúl Sánchez Cedillo

    In Ihrem Buch schreiben Sie, dass der Ukraine-Krieg eine lange Vorgeschichte hat und weder im Februar 2022 noch 2014 begonnen hat. Was ist die Vorgeschichte?

    Die Ukraine war immer schon eine ungelöste Frage in Europa, das zieht sich seit Jahrhunderten, aber wurde besonders akut nach dem Ersten Weltkrieg. Schon vor dem Ende des Zweiten Weltkriegs gab es fünf Kriege in dem Land: Die Rumänen, Griechen, Deutschen, Bolschewiki und viele andere waren in Kämpfe involviert. Der Kampf für die Unabhängigkeit wurde von Beginn an von diesem Umfeld geprägt. Der Krieg gegen die Sowjetunion (der russische Bürgerkrieg, jW) war damals bereits im Entstehen, und ukrainische Nationalisten nahmen daran teil. Sie nahmen auch daran teil, nachdem die deutsche Wehrmacht einmarschiert war, und diese Episode macht die ganze Sache sehr problematisch und ist daher sehr wichtig für das Verständnis des ukrainischen Nationalismus nach dem Zusammenbruch der Sowjetunion 1989 und 1991.

    Was meinen Sie damit?

    Die Idee des ukrainischen Nationalismus entstand bereits in der Habsburger Monarchie, als die Ungarn, Tschechen und andere Nationalitäten auch Rechte forderten. Er war aber nicht erfolgreich, und das führte zu sehr problematischen Ressentiments und vor allem Antisemitismus. Nach dem Ersten Weltkrieg war die Ukraine in einer schwachen Situation. Die Sowjets waren in der Donbassregion gut etabliert, aber nicht im Westen, der Region Galizien. Daher gab es Widerstände gegen die Sowjets. Der Charakter dieses Widerstands war rechts. Und dann kam 1932 die Hungersnot. Als dann die Naziinvasion mittels der »Operation Barbarossa« begann, gab es einen großen Drang von seiten der Organisation Ukrainischer Nationalisten (OUN), mit den Nazis zu kollaborieren.

    Wie ging es dann nach dem Ende der Sowjetunion weiter?

    Auch die Phase nach 1989 konnte diese Probleme nicht lösen. Es entstand ein Land, das zwischen Osten und Westen gespalten war. Die wirtschaftliche Schocktherapie etablierte eine nicht geeinte Oligarchie. In Russland konnte durch den Nationalismus von Putin und seinem Krieg gegen Tschetschenien die Oligarchie geeint werden. In der Ukraine wurde das nicht geschafft, und so blieb die Spaltung bestehen. Die Ukraine blieb also sehr vulnerabel und konnte weder westlicher noch russischer Manipulation standhalten.

    Diese Kräfte waren bereits 2004 während der sogenannten Orangen Revolution im Spiel. Besonders sichtbar wurden sie dann mit dem Aufstand am Maidan 2014. Das war ein populärer Volksaufstand gegen die prorussischen Oligarchen um die Partei der Regionen. Bereits da ist aber die Spaltung zwischen prowestlichen demokratischen und rechtsextremen, reaktionären Elementen sichtbar. Sieger dieser Auseinandersetzungen war der »Rechte Sektor«.

    Zugleich entstand der Bürgerkrieg, in dem sich beide Seiten vorgeworfen haben, Faschisten zu sein. Dieser Bürgerkrieg diente zur Vorbereitung des Kriegs ab 2022. Doch niemanden hat es interessiert. In Westeuropa hat das niemand beachtet.

    Welchen Charakter hat dieser Krieg?

    Er hat drei Dimensionen. Erstens, die nationale Befreiung der Ukraine. Zweitens, der innerimperialistische Krieg zwischen dem neoimperialistischen Russland und dem transatlantischen Imperialismus. Drittens, die systemische Krise der westlichen Hegemonie durch den Wettbewerb mit China. Diese drei Dimensionen zusammen führen dazu, dass es keinen Frieden, aber auch keinen Sieg am Schlachtfeld geben kann. Die Ukraine wird diesen Krieg nicht gewinnen, und auch Russland kann militärisch nicht gewinnen.

    Der Krieg kann noch lange dauern. Ich weiß nicht, wann und ob er enden wird. Er wird sich hinziehen, und die Ukraine wird zerstört. Es ist gut möglich, dass das Land die größten Zerstörungen in seiner Geschichte erleben wird, vielleicht sogar mehr als im Ersten und im Zweiten Weltkrieg. Der Oberbefehlshaber der ukrainischen Armee sagt nun, dass es ein Grabenkampf wie damals im Ersten Weltkrieg sei. Das ist eine klare Botschaft: Wir brauchen mehr Waffen, weil wir nicht vorankommen. Von einigen Seiten gibt es daher die Rufe, vielleicht doch zu einem Waffenstillstand zu gelangen, aber das wird nicht erfolgreich sein.

    Wir erkennen mit dem neuerlichen Beginn der Kämpfe in Palästina, dass das Schlachtfeld ein globales wird, zumindest aber ein transkontinentales. Das ist die schreckliche Situation, in der wir uns derzeit befinden.

    Vor allem seit 2014 sind Sie in engem und ständigen Kontakt mit ukrainischen Aktivisten.

    Ich treffe sie sehr oft bei politischen Zusammenkünften vor allem in Südeuropa. Ich kann mich erinnern, es gab eine große Konferenz im Reina-Sofia-Museum in Madrid, als Russland die Krim einverleibte. Spanische Politiker und Aktivisten aus der Ukraine waren da, und so war es eine Möglichkeit, den Euromaidan zu problematisieren. Ich kannte die Aktivisten, und ich persönlich stand dem Euromaidan damals durchaus positiv gegenüber. Da war eine Bewegung, die gegen eine autoritäre Regierung auftrat und als Gegner einige extreme Rechte hatte. Es hing aber alles an der Frage: Wer wird gewinnen? Und manche (in der ukrainischen Linken, jW) verstanden das nicht. Da war Wassil Tscherepanin, der heutige Direktor der Kiew Biennale, und heute ist er völlig im Selenskij-Lager. Damals kannte Selenskij jeder nur als Schauspieler.

    2016 wurde Wassil von diesen Leuten (aus dem Umfeld von Selenskij, jW) fast getötet. Es gab einen Anschlag auf ihn. Irgendwie haben wir den Kontakt verloren. Zu dieser Zeit gingen viele andere Sachen vor sich, wie »Brexit« und Syriza in Griechenland, und in Spanien lag der Fokus von uns Aktivisten einfach woanders, obwohl ich versuchte, die Situation zu verfolgen. Es kam dann in diesen Jahren zu einer Umgruppierung, und die Leute, die sich damals politisch gegenübergestanden haben, haben sich zu einer Art nationalen Front zusammengeschlossen, die aus den Rechtsextremen und den prowestlichen Demokraten besteht.

    Das macht die ganze ukrainische Sache aus der Perspektive der antisystemischen Bewegungen in Europa so schwierig. Wir waren in der Vergangenheit gewöhnt daran, die NATO zu bekämpfen. Wir haben heute die Situation, dass wir gleichfalls den NATO-Imperialismus und den Neoimperialismus von Russland bekämpfen müssen, und dann sagen mir meine Genossen in der Ukraine: Wir müssen gemeinsam mit den Faschisten von »Asow« kämpfen. Das sind Leute, die Nazikollaborateure rehabilitieren möchten und Naziverbrecher als Nationalhelden feiern, die Hunderttausende Bolschewiki, Juden und Russen in den zwei Jahren, als Bandera mit den Nazis zusammenarbeitete, ermordet haben.

    Das ist die schlimme Lage, in die wir heute geworfen sind. Ich nenne es »Campismus«: Entweder du bist im NATO-Lager oder im russischen Lager. Daher ist die Lage vielleicht fataler als im Ersten Weltkrieg.

    Aber nicht nur in der Ukraine, auch in vielen westeuropäischen Ländern verhalten sich linke Aktivisten ähnlich. Es wirkt fast so, als wäre die prinzipielle Ablehnung imperialistischer Kriege in der europäischen Linken verlorengegangen. Manche, etwa in der Partei Die Linke, gehen sogar so weit und fordern Waffenlieferungen an die Ukraine.

    Ich möchte hier zwischen der deutschen Linken und den Grünen und den vergleichbaren Parteien in Spanien unterscheiden. Was die Grünen in Deutschland sind, wäre in Spanien etwa Sumar und Politiker wie Ada Colau. Die sind in privaten Gesprächen sehr klar links und lehnen den Krieg ab. Aber die Realpolitik von ihnen sieht anders aus, da sie sagen, dass die spanische Wirtschaft von den Unterstützungen der EU-Kommission abhängt. Die Geldtöpfe in Brüssel seien so wichtig, und daher meinen sie: Konzentrieren wir uns auf Innenpolitik, und sagen wir in anderen Fragen nur ein Minimum. Konzentrieren wir uns darauf, was wirklich wichtig ist. Dann würde man Brüssel weiterhin zufriedenstellen.

    Podemos ist anders. Sie waren von Beginn an gegen diese Politik. Podemos war von Beginn an gegen Waffenlieferungen, denn Russland kann von der Ukraine nicht militärisch besiegt werden. Hier steht der Ukraine eine Atommacht gegenüber, und wenn die in eine existentielle Krise schlittert, wird Putin natürlich alles daransetzen, seinen Hintern zu retten. Es geht also in Richtung einer Katastrophe. Nach zwei Jahren Vertreibungen von Millionen von Menschen und mehr als hunderttausend toten Soldaten insgesamt sind beide Seiten immer noch genau dort wie im Februar 2022.

    In Ihrem Buch schreiben Sie, dass eine neue emanzipatorische Politik notwendig ist. Wie kann das erreicht werden, in der schwierigen Situation, in der die Linke derzeit ist, wie Sie es darlegen.

    In Europa sind Kriegsregime entstanden. Die Kriege werden aber außerhalb der eigenen Grenzen geführt: in der Ukraine, Afrika und Palästina. Zugleich wird im Inneren die Demokratie abgebaut. Das ist nicht so dahingesagt, sondern passiert ganz konkret mit der Einschränkung der Versammlungsfreiheit in den letzten Wochen. Es ist Interesse da, politisch aktiv zu sein, aber die Atmosphäre ist vergiftet. Wir leben in einem Ausnahmezustand. Es ist gefährlich, seine Meinung zu äußern.

    Schauen wir uns die Reden von Robert Habeck an, in denen er zuletzt immer wieder ein falsches Verständnis von Antisemitismus gezeigt und dann auch noch dazu Antisemitismus direkt mit subalternen Subjekten in Verbindung gesetzt hat: Araber, Türken, Kurden – nur weil sie propalästinensisch und muslimisch sind. Dadurch schaffen die liberalen Politiker in Europa die Bedingungen für Diktaturen im Namen des Kampfs gegen die Diktatur. Sie bewerben protofaschistische Tendenzen, und dadurch sind diese Politiker unsere Hauptfeinde. Es ist ein Ausdruck der Krise des nordischen Kapitalismus, der nicht mit den ökologischen Limitierungen kapitalistischer Entwicklung zurechtkommt.

    Was ist demzufolge zu tun?

    Wir müssen der Krise des Kapitalismus – deren Ausdruck diese Kriege sind – dringend etwas Positives entgegensetzen: eine Synthese aus den unterschiedlichen Strömungen. Ich glaube, konstituierende Republiken in Europa zu schaffen wäre eine Möglichkeit. Die Zusammenführung von Revolten, Protesten und Klassenkämpfen, die neue Zusammensetzung der Arbeiterklasse, die in Europa nicht mehr weiß, männlich und industriell repräsentiert ist. Die neue Arbeiterklasse ist weiblich, transsexuell, prekär, informell. Die muss mit der weißen Arbeiterklasse in den Kämpfen gegen alle Formen der Ausbeutung in jedem Bereich des Lebens verbunden werden. Klassenkampf ist nicht nur für Löhne, sondern auch Rechte, Räume und Institutionen.

    Ich glaube, eine kommunistische Entwicklung sollte das sozialistische Stadium abwerfen. Der Übergang zum Sozialismus bedeutet ein Erstarken des Staats an der Stelle von Demokratie. Ich glaube aber, dass die neue Struktur der Arbeit und die neuen gesellschaftlichen Bedingungen es erlauben, einen schwachen Staat und eine neue Verteilungsdemokratie zu etablieren. Diese wäre in der Lage, sich zu verteidigen, die Produktion zu regeln und finanzielle Transaktionen zu kontrollieren. Ich stelle mir eine gemeinsame Produktionsweise basierend auf den Kommunen vor. Die wichtigste Aufgabe der Produktion und Reproduktion muss das Leben selbst sein: die Erhaltung von Leben und Ökosystemen über Generationen hinweg. Bildung, Gesundheit, ökologische Veränderung, globale Gerechtigkeit, Energiewirtschaft, niedriges Wachstum, usw. Es bedeutet aber auch Enteignung von Kapital. Der Klassenkampfcharakter darf nicht vernachlässigt werden.

    Wir müssen die Enteigner enteignen, bevor jeder stirbt. Aber zugleich bedeutet das nicht, dass wir zurück zum alten sozialistischen Bild eines produktivistisch hochstilisierten Modells kommen, das uns alle zurück in die Fabrik schickt. Es muss statt dessen eine subalterne, ökologische, feministische, aber auch humane Produktionsweise sein. Wir sind in der Lage, eine Produktionsweise zu etablieren, die das Leben in den Mittelpunkt stellt und ganz einfach ausgedrückt ein gutes Leben ermöglicht, so wie es die ecuadorianischen und bolivarischen Verfassungen vorzeigen. Das Ziel der Politik muss ein gutes Leben für jeden sein. Ich glaube, das sollte der Inhalt jeder kommunistischen Politik heute sein.

    Und wie kommt man dahin?

    Das kann nur erreicht werden, wenn es zumindest ein transeuropäisches Projekt ist. Aber es muss auch ein nichtweißes Projekt sein, denn es muss verstehen, dass wir in einer globalen Gesellschaft leben. Der Krieg hat bereits begonnen, und überall wächst der Einfluss von faschistischen Kräften. Die alten, progressiven und sozialdemokratischen Kräfte sind bereit, mit der extremen Rechten auf EU-Ebene zu koalieren, das wird sich nach den EU-Wahlen 2024 zeigen. In dieser Situation brauchen wir ein neues Projekt, dass Hoffnung gibt und Interesse und Wünsche schaffen kann. Wir werden nichts erreichen, wenn wir um das kleinste Übel kämpfen, in anderen Worten: wenn wir einfach dafür kämpfen, den bestehenden Mist zu konservieren.

    Die Menschen im globalen Süden haben bereits verloren. Die können nicht, wie es bei uns Grüne und Progressive sagen, die Ausuferungen des Systems minimieren, damit es nicht zu einem »autoritären Wandel« kommt. Die Migranten in unserer Gesellschaft leiden unter den Entwicklungen im globalen Süden. Diese Menschen können sich nicht mit irgendwelchen Projekten identifizieren, die das Bestehende erhalten wollen.

    Im Buch fordern Sie einen »konstituierenden Frieden«. Was meinen Sie damit?

    Es hängt mit dem zusammen, was ich gerade gesagt habe: Im Krieg kann es keine Demokratie geben. Aber Frieden ist nicht genug, sondern nur die Speerspitze unserer Forderungen, die eine konstituierende Plattform schaffen. Auch bei den Bolschewiki war es so. Ihre Forderung war Frieden und Brot. Solche Forderungen brauchen wir auch, ich denke an ein globales bedingungsloses Grundeinkommen, Reisefreiheit für die Arbeiterklasse und die subalterne Klasse. Dafür bedarf es eine Wiederaneignung der Produktionsmittel, um eine kommunenbasierende Produktionsweise aufzubauen.

    Um das zu erreichen, braucht es aber eine neue Koalition, ein neues politisches Subjekt, das nur aus den Kämpfen heraus entstehen kann. Taktische Plattformen sind keine Lösung. Die Grünen in Deutschland sagen, wenn die AfD und die Neonazis geschlagen sind, dann leben wir im Paradies. Das ist völliger Blödsinn. Das Problem ist, dass die Demokratien oligarchisch geworden sind und einen großen Teil der nichtweißen, aber auch der weißen Bevölkerung ausschließen. Das ist die neue Verfassung der liberalen Demokratie. Das ist nicht temporär, sondern der neue Charakter des Kapitalismus. Die großen liberalen Errungenschaften des Kapitalismus von 1945 bis zum Maastricht-Europa sind vorbei. Die Demokratie ist verfault. Ich glaube, dagegen ist der »konstituierende Frieden« eine Losung, um eine Diskussion anzustoßen, um neue Wege zu finden, jenseits der etablierten Parteien, Institutionen und Strukturen.

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    Leserbrief von Istvan Hidy aus Stuttgart (19. November 2023 um 22:09 Uhr)

    Was bedeutet der Begriff »Ukraine« im einführenden Satz des Artikels? Zitat: »Die Ukraine war immer schon eine ungelöste Frage in Europa, das zieht sich seit Jahrhunderten, aber wurde besonders akut nach dem Ersten Weltkrieg.« Welche Bedeutung gibt der Autor dem Begriff »die Ukraine«? Bezieht er sich auf das Grenzgebiet als Begriff an sich? Die Verwendung und Formulierung seiner Aussage sind problematisch, da sie suggerieren, dass es seit Jahrhunderten eine »Ukraine« geben sollte, was historisch nicht korrekt ist! Erst nach der Oktoberrevolution von 1917 erklärte die Zentralna Rada, ein ukrainisches politisches Organ, die Unabhängigkeit der Ukrainischen Volksrepublik. Es stimmt, jedoch ohne kulturellen, traditionellen und festen territorialen Umfang! Während ihrer kurzen Existenz (1917–21) kämpfte die junge Ukrainische Volksrepublik schon gegen verschiedene Gegner, darunter die Rote Armee, die Weiße Armee und Polen. Die territoriale Ausdehnung der Ukrainischen Volksrepublik variierte schon auch erheblich während ihrer kurzen Existenz und umfasste im Allgemeinen nur die mittleren Gebiete der heutigen Ukraine. Gleichzeitig wurde Westukraine, einschließlich Galizien, von Polen annektiert. Letztendlich wurde sie von den Bolschewiki besiegt, und die Ukraine wurde Teil der Sowjetunion. Es ist wichtig festzustellen, dass die Grenzen der Ukraine, wie sie 1991, nach der Auflösung der Sowjetunion entstanden sind, historisch niemals existierten und auch in Zukunft höchstwahrscheinlich nicht wieder auftauchen werden.

    Leserbrief von Onlineabonnent/in Joachim S. aus Berlin (18. November 2023 um 10:07 Uhr)

    Liest man dieses Interview genauer, fasst es fast genau all jene »allmenschlichen« Illusionen zusammen, gegen die die jW seit Jahr und Tag anschreibt. Die Klassen sind verschwunden und damit auch die geopolitische Komponente des Kampfes des Kapitals mit ihnen. Imaginäre Kräfte bewegen die Welt und moralisierende Kräfte werden sie verändern. Damit sind wir wieder auf dem Erkenntnisstand des frühen Christentums von vor zweitausend Jahren. Natürlich darf ein »linker spanischer Philosoph« so denken. Sehr hilfreich ist das allerdings nicht. Ganz im Gegenteil.

    #Ukraine #histoire #impérialisme #révolution_mondiale #antiracisme

  • Krise der Linkspartei : Alles im Griff
    https://www.jungewelt.de/artikel/463483.krise-der-linkspartei-alles-im-griff.html

    Le parti Die Linke abandonne simultanément son électoriat prolétaire et son identité socialiste. La notion d’une société à l’économie démocratique connue comme socialiste figure encore au programme du parti mais son programme électoral n’en fait plus mention. Le weekend dernier les délégués au congrès du parti ont refuté chaque tentative d’inscrire dans le programme pour les élections européennes de 2024 des revendications comme la socialisation des banques et des producteurs d’énergie.

    Fondé en 2007 comme organisation unifiée des socialistes de l’Est et de l’Ouest d’Allemagne le parti a perdu sa raison d’être initiale sans avoir trouvé une nouvelle mission. L’organisation s’est par exemple révélée incapable d’une modernisation de ses structures suivant l’esprit d’innovation et d’ouverture du parti pirate et n’a su adoper des buts écoligiques qu’une fois son propre déclin faisait s’agripper ses fonctionnaires au moindre élément prometteur voué pourtant à l’échec.

    Après le départ des populistes pragmatiques autour de Wagenknecht Die Linke n’est plus qu’une carcasse à laquelle les vers donnent un semblent de vie en grignotant de grandes bouchées de sa chair. Ça sent la pourriture opportuniste quand ses fonctionnaires nourris par les subventions de l"état capitaliste s’entrainent au concours du meilleur démocrate européen.

    Ils ont fait foirer le projet socialiste qu’ils étaient chargés de populariser. Qu’ils disparaissent enfin pour faire place à une gauche digne de ce nom.

    J’ai des regrets pour les biens appartenant au prolétariat allemand qui seront bientôt bradés dans la contexte de la faillite prévisible du parti. La maison Karl Liebknecht et le siège du journal Neues Deutschland ont survécu la contre-révolution de 1989/1990. Là pendant les deux ou trois périodes législatives à venir sans présence du parti au Bundestag sa situation financière se dégradera au point où on verra leur transformation en copropriété privée ou en espace bureaux hors de prix.

    20.11.2023 von Nico Popp - Ohne Grundsatzkritik und Sozialismus-Begriff: Linke-Parteitag billigt Europawahlprogramm. Schlagabtausch zum Krieg in Nahost

    Die Linkspartei mag sich in einer existentiellen Krise befinden – Parteitage organisieren kann sie immer noch. Der Bundesparteitag in Augsburg rollte ohne große Komplikationen und substantielle inhaltliche Auseinandersetzungen ab; die Parteitagsregie hatte die Lage jederzeit im Griff. Die Frage ist freilich, ob das ein gutes oder ein schlechtes Zeichen für die Zukunft der Partei ist.

    Der Austritt der zehn Bundestagsabgeordneten um Sahra Wagenknecht und die bevorstehende Gründung einer Konkurrenzpartei spielten in den Reden und Debatten allenfalls am Rande eine Rolle. Fraktionschef Dietmar Bartsch, der lange als »Verbündeter« Wagenknechts galt, ritt am Sonnabend noch die heftigsten Attacken gegen die ehemaligen Genossinnen und Genossen.

    Die Parteispitze war bemüht, Aufbruchstimmung zu vermitteln. Die beiden Parteivorsitzenden stellten am Sonnabend eine Kampagne zur »Erneuerung« der Partei vor, die unter dem Motto »Eine Linke für alle« steht. Die Kovorsitzende Janine Wissler verwies auf 700 neu eingetretene Mitglieder in den vergangenen Wochen.

    Noch mehr als der Parteitag in Erfurt im Juni vergangenen Jahres trug der in Augsburg über weite Strecken Züge eines Selbstgesprächs von Funktionären, Mitgliedern der Vorstände und Mandatsträgern aller Ebenen. Die Funktionäre dominierten auch die Generaldebatte, die bereits am Freitag mit Verweis auf den aus den Fugen geratenen Zeitplan von 120 auf 90 Minuten bei gleichzeitiger Beschränkung der Redezeit auf zweieinhalb Minuten eingedampft wurde. Ein Einspruch von Ellen Brombacher (Kommunistische Plattform) wurde von der Mehrheit der Delegierten zurückgewiesen.

    Immer wieder wurden in der General- und Antragsdebatte dennoch kritische Stimmen hörbar. Festgestellt wurde etwa, dass im Entwurf des Europawahlprogramms, der über 80 Seiten lang ist, das Wort Sozialismus nicht ein einziges Mal vorkommt. Kritisiert wurde auch, dass eine stundenlange Debatte über Detailfragen geführt wurde, ohne wenigstens kurz über den Charakter der Europäischen Union zu diskutieren.

    Hitzig wurde die Debatte aber nur am späten Freitag abend, als über den Krieg im Nahen Osten geredet wurde. Dazu hatte die ehemalige Bundestagsabgeordnete Christine Buchholz zuvor bereits in der Generaldebatte Position bezogen. Ihre Kritik am Vorgehen der israelischen Regierung wurde eher kühl aufgenommen. Als dann gegen Mitternacht gesondert über das Thema diskutiert wurde und der Delegierte Nick Papak Amoozegar von »ethnischen Säuberungen« und einem »Genozid« im Gazastreifen sprach, reagierten mehrere Delegierte mit Gebrüll.

    Der ehemalige Berliner Kultursenator Klaus Lederer nannte umgekehrt die Massaker an israelischen Zivilisten einen »Akt eliminatorischer Enthemmung« und eine »genozidale Gewaltorgie«. Am 7. Oktober sei etwas geschehen, was »seit 1945 so nicht mehr stattgefunden hat«. Gegen die gedankliche Verbindung der Gewalt der islamistischen Hamas mit den Naziverbrechen erhob sich kein hörbarer Protest. Auch Parteichef Martin Schirdewan wurde von Lederer angegriffen: Er, Lederer, habe »sich geschämt«, dass Schirdewan »offen antisemitische Äußerungen« eines spanischen linken Europaabgeordneten in seiner Rede »unwidersprochen« gelassen habe. Angenommen wurde mit großer Mehrheit schließlich ein vorab ausgehandelter »Kompromissantrag«.

    In der Debatte zum Wahlprogramm hatten die vom Parteivorstand aufgebotenen Gegenredner keine Schwierigkeiten, politisch nicht erwünschte Änderungsanträge abschmettern zu lassen. Anträge, die auf Korrekturen hinausliefen, ohne dabei den verdünnten Reformismus des Programms zu konterkarieren, wurden dagegen zum Teil übernommen bzw. mit Mehrheit gebilligt, darunter die Erhöhung der Mindestlohnforderung von 14 auf 15 Euro und die Koppelung des Mindestlohns an einen jährlichen Inflationsausgleich. Aber sogar dafür fand sich ein Gegenredner, der vor einer »Lohn-Preis-Spirale« warnte.

    Aufklärung über den politischen Standort der Delegiertenmehrheit brachte ein Änderungsantrag, dessen Einbringer die Forderung nach der Überführung aller Konzerne im Energiebereich in öffentliches Eigentum in das Programm einfügen wollten. Dagegen sprach für den Vorstand Bundesschatzmeister Harald Wolf. Er wolle »wegkommen von diesem Schlagwortsozialismus«. Dabei folgte ihm die Mehrheit der Delegierten: 172 stimmten für, 195 gegen den Änderungsantrag.

    Das Wahlprogramm, in dem sich keine Grundsatzkritik an der EU findet, wurde schließlich ohne wesentliche Änderungen mit großer Mehrheit beschlossen.

    Der Delegierte Thomas Kachel kritisierte anschließend die Inhalte und das Verfahren in einer persönlichen Erklärung. Er sprach von einer »friedenspolitischen Hypothek« und einem »autoritären Durchregieren« des Parteivorstandes. In dem Wahlprogramm gebe es einmal mehr »verordnete Einseitigkeit in Sachen Ukraine und Agieren der NATO« und eine Zustimmung zu Sanktionen »sogar gegen unseren eigenen Beschluss in Erfurt«. Die sichtbar wütende ehemalige Berliner Landesvorsitzende Katina Schubert, die in der Tagungsleitung saß, schnitt Kachel schließlich das Wort ab.

    #gauche #Die_Linke #Allemagne #hybris

  • Sozialreform in Deutschland: Dem Umsturz vorbauen
    https://www.jungewelt.de/artikel/461153.sozialreform-in-deutschland-dem-umsturz-vorbauen.html


    Dem Staatsgebäude ein paar stützende Säulen einziehen, um es vor dem Einsturz zu bewahren. Karikatur zur Sozialreform in der sozialdemokratischen Satirezeitschrift Der wahre Jakob, Januar 1884

    Le bougeois sous le Kaiser comprenaient qu’il leur fallait freiner la montée du parti social-démocrate. Il nous ont légué une association de bienfaiteurs le Verein für Socialpolitik VfS.

    24.10.2023 von Ingar Solty - Kathedersozialliberale. Vor 150 Jahren wurde der Verein für Socialpolitik gegründet.

    Die immer stärker werdende Arbeiterbewegung in den 1870er Jahren zwang das Bürgertum zu einer Reaktion. Die Kombination aus Erster Internationale (1864–1872) und Pariser Kommune 1871 hatte den Herrschenden das Herz in die Hose rutschen lassen. Der Beginn einer weltumspannenden kapitalistischen Krise verstärkte 1873 die Angst vor einer sozialistischen Revolution. Der Aufstieg der Sozialdemokratie zur Massenpartei schien diese Angst zu bestätigen. Die Reaktion der Herrschenden zeigte zwei verschiedene Tendenzen: einerseits die buchstäbliche Reaktion, die eine demokratische Mobilisierung der Arbeiterklasse mit dem althergebrachten Mitteln aus Unterdrückung und ideologischer Ablenkung im Keim ersticken sollte. Andererseits der weitgefasste »Sozialliberalismus« (Reinhard Opitz), der den Arbeitern entgegenkam, um ihnen den umstürzlerischen Wind aus den Segeln zu nehmen.

    Die erste Strömung setzte auf Demagogie: Die 1876 gegründete Deutschkonservative Partei, die evangelische Kirche unter dem Berliner Domprediger Adolf Stoecker und die »Berliner Bewegung« mobilisierten den Antisemitismus. Das verfing vor allem bei den Grundbesitzern, weil die ökonomische Wut über globalisierte Agrarkonkurrenz, Deflation und Kreditnot sich als Judenhass kanalisieren ließ. Zugleich sollte der Antisemitismus auch die Arbeiter gewinnen. In diesem »Präfaschismus« (Hans-Jürgen Puhle) waren bereits wesentliche Elemente der faschistischen Bewegung herausgebildet.

    Die zweite Strömung entstand in den ideologischen Staatsapparaten. Es brauchte praktische Integrationsangebote, um die mit dem Kapitalismus entstandenen Unsicherheiten einigermaßen abzufedern und die widerspenstige Arbeiterklasse davon zu überzeugen, dass das kapitalistische System und die althergebrachten undemokratischen Hierarchien doch tolerabel seien. Die Geschichte vereint Elemente beider Strömungen, wobei die »Ordnungspartei« dominant blieb: Bei Bismarcks »Zuckerbrot-und-Peitsche«-Politik war das Parteiverbot (»Sozialistengesetz«, 1878–1890) entscheidend und ging auch der Einführung der eingeschränkten Sozialversicherung von 1884 voraus.

    Sozialkonservative Bündnispläne

    Im Geist der Reform von oben zur Verhinderung der Revolution von unten wurde vor 150 Jahren der einflussreiche und bis heute existente »Verein für Socialpolitik« (VfS) gegründet. Lange bezeichnete man die dort Organisierten als »Kathedersozialisten«. Das Attribut »Katheder« verweist auf deren universitäre Verankerung. Sozialismus nannten die Herrschenden in dieser Zeit indes alles, was von der wirtschaftsliberalen Orthodoxie abwich. In Wahrheit handelte es sich bei der Hauptströmung im VfS um Sozialliberale. Sie stellten den krisenhaften Kapitalismus nicht prinzipiell in Frage, sondern diskutierten, welche Sozialpolitik – Regulierung, Redistribution, Staatsinterventionismus – nötig sei, um ihn zu stabilisieren. Es entstand so unter dem Druck von unten und in der Krise der liberalkapitalistischen Weltordnung die Theorietradition der Institutionellen Politischen Ökonomie zwischen Marxismus einerseits und der sich herausbildenden altwirtschaftsliberalen Neoklassik andererseits. Zu ihr zählen letztlich John Stuart Mill, die Historische Schule der Nationalökonomie, Werner Sombart, Max Weber, John Maynard Keynes, John K. Galbraith, u. a.

    Die Bemühung um eine Sozialreform war indes älter. Die Sozialkonservativen im Umfeld von Bismarcks Geheimrat Hermann Wagener und der von ihm herausgegebenen Berliner Revue hatten schon in den 1860er Jahren die weltgeschichtliche Bedeutung der Arbeiterbewegung erkannt und versucht, den Agrarier Bismarck für ein Bündnis der konservativen, kapitalistisch gewordenen Grundbesitzerpartei mit der Industriearbeiterklasse zu gewinnen. Dies entstand im antirevolutionären Geist des »sozialen Königtums« (Lorenz Stein). Es sollte zugleich den Reichskanzler, dessen Machtbasis eine »Klassensymbiose von Junkertum und Bourgeoisie« (Lothar Machtan/Dietrich Milles) war, aus der Abhängigkeit vom liberalen Bürgertum befreien, das parlamentarisch die Mehrheit bildete. Bismarck hatte sich, wie auch sein Briefwechsel mit Lassalle zeigt, hierfür zunächst offen gezeigt.

    Ein solches Bündnis wäre freilich zwangsläufig auf Kosten der Landarbeiterklasse gegangen. Denn die ostelbischen Großgrundbesitzer, die sich im Zuge der »Bauernbefreiung« sukzessive das Agrarland der Kleinbauern unter den Nagel gerissen hatten, waren nicht bereit, sich auf die Vorschläge der Berliner Revue für einen Normalarbeitstag für Landarbeiter einzulassen.

    Daraus ergaben sich aber neue Widersprüche. Mit der Krise des Junkertums wurden sie offensichtlich. Die kleinen sozialkonservativen Kreise beschäftigten sich mit der Agrarfrage weniger aus Sorge um die Landarbeiter, sondern aus Angst vor der Agrarmonopolisierung und ihren Folgen. Sie erschien ihnen aus staatspolitischen Gründen heikel, weil sie eine doppelte Abwanderung zur Folge hatte: nach Nordamerika und in die Städte. Damit verbunden war die Angst vor landwirtschaftlichem Arbeitskräftemangel, der Polonisierung der östlichen Kolonialgebiete (vor allem Ostpreußens), der Wehrunfähigkeit im Osten und des Verlusts der Ernährungssouveränität. Die Abwanderung in die Städte ließ zudem einen Bedeutungszuwachs der Arbeiterbewegung und des Sozialismus auch im Militär befürchten.

    Das kleine und mittlere Grundeigentum sollte aus all diesen Erwägungen heraus erhalten werden. Es entzündete sich eine Debatte über dessen Konkurrenzfähigkeit gegenüber dem agrarischen Großgrundbesitz. Die Abwanderung verschärfte sich dabei in dem Maße, wie die »Große Depression« auch Ergebnis der Globalisierung der Agrarmärkte war, was eine »Große Deflation« und einen entsprechenden Abwertungsdruck für die Landarbeit sowie intensivierten Rationalisierungsdruck für die ostelbisch-gutsherrschaftliche Landwirtschaft bedeutete. Insofern aber die Finanzkrise bei den Banken eine restriktive Politik des Geldverleihs bewirkte, verteuerten sich die für die Rationalisierung nötigen Kredite. Diese »Kreditnot des Grundbesitzes« (Karl Rodbertus) war die Triebkraft des Antisemitismus, weil die Konservativen die Wut auf das Finanzkapital gegen die Juden richteten.

    Die Angst vor der Arbeiterbewegung wiederum war die Triebfeder der »Eisenacher Versammlung zur Besprechung der sozialen Frage« vom 6. bis 8. Oktober 1872. Aus ihr ging ein Jahr später der »Verein für Socialpolitik« hervor. Mitten in diesem Prozess ereignete sich allerdings die bis dahin größte Krise des Kapitalismus. Seit dem Winter 1872/73 gab es die ersten Warnsignale. Schließlich kam es zwischen dem 23. April und dem 1. Mai zum Wiener Börsencrash mit Kursverfall und Panikverkäufen. Im Juni erreichte die Finanzkrise Berlin. Am 15. September brach die New Yorker Bank Jay Cooke & Co. zusammen, die den Eisenbahnbau finanziert hatte. Es folgte die »Große Depression« (Hans Rosenberg), die bis 1896 anhielt.

    Die Krise warf neue Fragen auf. Sie war eine »organische« (Antonio Gramsci), insofern sich in ihr ausdrückte, dass der bisherige Entwicklungstyp des Kapitalismus an seine inneren Grenzen gestoßen war. Mit der Entstehung der großen Konzerne vollzog sich der Übergang vom Konkurrenz- zum Monopolkapitalismus. Die Überakkumulation produzierte Überschusskapital auf der Suche nach profitablen Anlagesphären und intensivierte internationale Spannungen. Aus diesem Grund forderten die neu entstandenen Verbände von Großgrundbesitz und Industriekapital nun Schutzzölle. Zugleich drängten die nationalen Bourgeoisien zur Gewährleistung von Kapitalexport und zum Schutz von Auslandsinvestitionen ihre Staaten in Richtung Kolonialismus. So war die Weltwirtschafts- auch eine Transformationskrise. Auf dem Weg des Krisenmanagements verwandelte sich der alte liberale Konkurrenzkapitalismus im Rahmen der freihändlerischen »Pax Britannica« in den »Organisierten Kapitalismus« (Rudolf Hilferding) der zwischenimperialistischen Rivalitäten in einem fragmentierten Weltmarkt der Kolonialreiche. Der Kurs in Richtung Erster Weltkrieg war damit gesetzt.
    Ideologie der nachholenden Nation

    Der Umbruchprozess war notwendigerweise auch ein intellektueller. In den Diskussionen im VfS lässt sich die krisengetriebene Theoriegeschichte der politischen Ökonomie nachvollziehen. Dazu gehört, wie Sozialreform und Staatsinterventionismus, die ursprünglich der Revolutionsabwehr dienen sollten, sich im Kontext der Krise mit einer Orientierung auf einen auch nach außen starken Staat vermengten. Überhaupt besteht seit Cecil Rhodes und Joseph Chamberlain ein enger Zusammenhang zwischen bürgerlicher Sozialreform und Imperialismus, weil dieser als die einzige nichtrevolutionäre Lösung der sozialen Frage erschien. In Deutschland verkörpert diese Verbindung wohl niemand prominenter als Max Weber, der eine tragende Rolle im VfS spielte und sowohl Abhilfe gegen die »Marktabhängigkeit« der Lohnarbeiter wie auch einen starken Staat anstrebte, etwa gegen die »Polonisierung« im Osten.

    1872/73 war die Situation jedoch noch offen. Der zugespitzte Gegensatz von Kapital und Arbeit und die Krise offenbarten die Notwendigkeit einer Reform. Die allgemeine Tendenz in der Wirtschaftswissenschaft der Zeit bestand darin, die angelsächsische liberale Orthodoxie zu hinterfragen und die Rolle des Staates in der Wirtschaft neu zu verhandeln. Die Frage war, wie stark der Bruch ausfallen sollte. Die »Historische Schule« von Bruno Hildebrand und ihrem wichtigsten Schüler Gustav Schmoller wandte sich gegen abstrakten Utilitarismus und betonte das Historische, Institutionelle, Kulturelle, Besondere. Allgemeine Annahmen über den liberalen »Nachtwächterstaat«, den Freihandel usw. als Nonplusultra für alle Zeiten und alle Staaten seien abzulehnen. An die Stelle des theoretischen Abstraktionismus und seiner in Frage gestellten Annahmen setzte man empirisch-induktive Verfahren. Joseph Schumpeter und die zeitgleich entstehende neuliberale Österreichische Schule warfen der Historischen Schule daher Theorielosigkeit vor. Auch aus marxistischer Sicht ist festzustellen, dass sie als Teil der Institutionellen Politischen Ökonomie kaum mit dem Wirtschaftsliberalismus bricht, sondern den kapitalistischen Markt zum Ausgangspunkt nimmt, um dann mehr oder weniger starke Ausnahmen zu definieren.

    Die Kritik der angelsächsischen Ökonomik blieb dabei freilich nicht nur wissenschaftliche Auseinandersetzung. Vielmehr handelte es sich um die ideologische Entsprechung des Konflikts zwischen britisch-imperialem Herzland und einem nachholend sich entwickelnden »hobbesschen Randstaat« (Kees van der Pijl). Zu Recht verwies die Historische Schule gemeinsam mit dem Marxismus auf die Tatsache, dass die Marktvergötterung der Angelsachsen verschweige, dass der Staat durchaus eine wesentliche Rolle in der Entstehung des englischen Kapitalismus gespielt hatte, und zwar sowohl in der gewaltsamen Herstellung von »doppelt freien Lohnarbeitern« während der ursprünglichen Akkumulation als auch in der merkantilistischen Abschottung der Wirtschaft in der kapitalistischen Frühentwicklung. Entsprechend suchte die Historische Schule die notwendige Staatslenkung im nachholenden Deutschland zu begründen.

    Allerdings würde es zu kurz greifen, den VfS nur als Indikator einer nationalen Kurskorrektur anzusehen. Im Kontext von Revolutionsfurcht, zugespitzter internationaler Konkurrenz und Krise war er auch Ausdruck der »Großen Transformation« (Karl Polanyi) und dem damit einhergehenden Paradigmenwechsel. Als solcher wurde er auch von seinen Feinden erkannt. So schrieb Friedrich August von Hayek in »Der Weg zur Knechtschaft« (1944) zutreffend: »Über zwei Jahrhunderte hatten englische Ideen ihren Weg ostwärts genommen (…). Um das Jahr 1870 (…) setzte eine rückläufige Bewegung ein (…). Von nun an wurde Deutschland zum Zentrum, von dem die Ideen, die die Welt im 20. Jahrhundert regieren sollten, nach Osten und Westen ausgingen«: Hegel, Marx, List, Schmoller, Sombart, Mannheim.

    Die Positionen im VfS waren indes kaum einhellig. Es gab heftige Richtungsstreitigkeiten. Sie erfolgten insbesondere zwischen Historischer Schule und den stärker kapitalismuskritischen Sozialkonservativen. Deren wesentliche theoretische Vertreter waren Karl Rodbertus, in Eisenach vertreten durch den Berliner Revue-Redakteur Rudolf Meyer, und der Nationalökonom Adolph Wagner. Es ist Dieter Lindenlaubs Schrift »Die Richtungskämpfe im Verein für Socialpolitik« (1966) zu verdanken, dass die nachträgliche Homogenisierung des VfS entmythologisiert wurde. Sie ergab sich durch die Niederlage der Sozialkonservativen während der Gründungsphase. Die Krise von 1873 hatte deren »Staatssozialismus« noch verstärkt. Standen bis dahin regulatorische Vorhaben wie die Fabrikinspektion, der Arbeiterschutz, der Normalarbeitstag zur Behandlung der Arbeiterfrage sowie das Rentenprinzip von Rodbertus und die Grundentschuldung zur Behandlung der Agrarfrage im Vordergrund, so änderte sich dies mit der Krise, weil sich nun auch sehr viel stärker gesamtwirtschaftliche Steuerungsfragen aufdrängten: für oder gegen den Schutzzoll, für oder gegen staatliche Rettungen privatwirtschaftlicher Akteure, für oder gegen Verstaatlichungen?

    Projekt Staatssozialismus

    In diesem Kontext radikalisierten die Sozialkonservativen ihre »staatssozialistischen« Vorstellungen und operierten mit frühen Formen der makroökonomischen Wirtschaftssteuerung. Die Bezeichnung »Kathedersozialismus« als Gegenprinzip zum Manchesterkapitalismus ist insofern nicht ganz falsch, als sie sich, auf ein Kontinuum Markt – Staat bezogen, stärker in Richtung Staat bewegt. Dies erkannte selbst der dem alten Wirtschaftsliberalismus zugeneigte Lujo Brentano an: Alle »Kathedersozialisten« seien »zu neuer Anerkennung der Berechtigung der Staatseinmischung in das Wirtschaftsleben« gekommen. Damit ist aber noch nicht ausgesagt, wie stark und zu welchem Zweck.

    Die Sozialkonservativen plädierten für ein Bündnis von Grundbesitz und Arbeiterklasse in Gegnerschaft zu den Bürgerlich-Liberalen, die genau das zu verhindern trachteten. Artikuliert wurde der Konflikt in Form der Frage nach der Tiefe der Korrekturen an der kriselnden liberalen Orthodoxie. Die konservativen »Staatssozialisten« Wagener und Meyer befanden sich im Richtungsstreit indes in der strukturell unterlegenen Position. Es war von daher nicht verwunderlich, dass in Eisenach neben Meyer (als Zögling von Rodbertus und Wagener) zwischenzeitlich noch zwei weitere Akteure auftraten: Adolph Wagner, seit 1870 Professor für Nationalökonomie in Berlin, und Hermann Roesler, Professor für Staatswissenschaft in Rostock.

    Wagner hatte am 12. Oktober 1871 auf der freien kirchlichen Versammlung evangelischer Männer in Berlin einen vielbeachteten Vortrag gehalten, der 1872 als »Rede über die soziale Frage« publiziert wurde. In ihm stellte er sich grundsätzlich gegen die liberale Wirtschaftstheorie. In der Folge hatte er auch Tuchfühlung zu den Sozialkonservativen aufgenommen. Seither kooperierten sie eng, was Wagner auch stärker mit Rodbertus verband, der sich von außen in den Konstituierungsprozess des VfS einschaltete.

    Meyer reiste zusammen mit Wagner nach Eisenach. Rodbertus zeigte sich in einem Brief an Meyer vom 17. September 1872 zuversichtlich, dass man hier würde reüssieren können. Der Brief belegt, wie sehr Rodbertus die Gegensätze zwischen »staatssozialistischen« Sozialkonservativen und sozialliberalen »Kathedersozialisten« bewusst waren: »Seit dem Frühjahr (…) glaubte ich, die Kathedersocialisten würden unter sich sein. Nun sehe ich an den andern Namen (…), dass die ganze Angelegenheit ihrem Chef W[agener] in die Hände gespielt ist.« Meyer merkte dazu später an: »R[odbertus] war, nicht mit Unrecht misstrauisch, allein hier ging er zu weit. Die Kathedersocialisten handelten nicht unter den Impulsen Wageners sondern der [liberalen] Delbrückclique (…). Wageners Stellung war schon damals unhaltbar, da er die ganze liberale Bureaukratie gegen sich und Bismarck nur noch hie und da für sich hatte.« Er selbst sei »in Eisenach (…) sofort in die heftigste Opposition zum Gros der Kathedersocialisten« geraten. Diese Einschätzung Meyers teilte auch Brentano, neben Schmoller und Wagner der prominenteste Eisenacher. In seinen Lebenserinnerungen weist auch er auf die isolierte Stellung der Sozialkonservativen hin: »Wagner erwartete vom preußischen Königtum die Förderung (der) kulturhistorischen Entwicklung« der »Verminderung des (Privat-)Eigentumsumfangs als leitendes Prinzip im Kulturgang der Rechtsentwicklung«. In Eisenach habe »1872 nur (…) Meyer (…) diesen Anschauungen Sympathie entgegengebracht.«

    Die erheblichen Unterschiede zwischen Sozialliberalen und »Staatssozialisten« offenbarten sich in ihren Auffassungen über Pläne für die Fabrikinspektion, die Einführung von Mindestlöhnen, einer Sozialversicherung und progressiven Einkommenssteuer, für öffentliche Beschäftigungsprogramme, Verstaatlichungen und den Rechtsschutz für gewerkschaftliche Lohnverhandlungen und Tarifverträge. Am heftigsten tobte der Konflikt über die Besteuerung der großen Einkommen, Verstaatlichungen und die Stärkung von Gewerkschaftsrechten. Dabei nahmen die Sozialkonservativen in all diesen Fragen die »sozialistischere« Position ein, was Rodbertus im Brief an Meyer zu der Aussage führte: »Wie kann man Sie aber die äusserste Rechte in der socialen Frage nennen? Sie repräsentiren ja die äusserste Linke.«

    Auch Brentano bestätigt in seinen Erinnerungen, dass man sich im VfS über die Differenzen bewusst war: »Wagner (…) stimmte in dem, was er wollte, weder mit meiner Auffassung noch mit der von Schmoller und Gneist überein (…). (E)r wollte die soziale Reform prinzipiell und in allen ihren Teilen aufrollen (…). Die Zeit sollte nun bald zeigen, welche Auffassung berufen sei, dem Verein das Gepräge zu geben (…). Auf dem Kongress von 1875 erschien nun Rudolf Meyer allein, um einen von ihm und von Rodbertus unterzeichneten Antrag zu stellen, dem Reichskanzler das Ersuchen auszusprechen, der deutschen Industrie sowie den bei derselben beteiligten Unternehmern und Arbeitern sowohl nach außen wie nach innen den Schutz zu gewähren bzw. zu verschaffen, welcher in Anerkennung des Wertes der Arbeit und der eigengearteten Stellung der deutschen Industrie als das alleinige Mittel erscheint, unsere in Frage gestellte Konkurrenzfähigkeit auf dem Weltmarkt und den sozialen Frieden auf dem heimischen Markt wiederzugewinnen. Meyer wünschte, dass sein Antrag an einem dritten Kongresstage verhandelt werde, um bis dahin soviel Sukkurs heranzuziehen, dass der Antrag angenommen worden wäre. Mit seiner Annahme wäre der Verein (…) Wagener ausgeliefert gewesen. Um dies zu verhindern, habe ich (…) auf Grund (…) unserer Geschäftsordnung, dass jeder Antrag drei Wochen vor der Versammlung bekannt zu geben sei, beantragt, Meyers Antrag als unzulässig abzuweisen. So geschah es. Meyer stampfte vor Wut und verließ zornig den Saal.« Kein Wunder, dass Meyer Brentano fortan als Erzfeind bezeichnete.

    Die »Staatssozialisten« blieben mit ihren Forderungen nach »Nationalisierung der wichtigsten Dienstleistungsindustrien, insbesondere derjenigen, welche bereits unter beinahe monopolistischen Bedingungen arbeiteten wie z. B. auf den Gebieten der Transport- und Kommunikationsmittel, des Bank- und Versicherungswesens, der Kraftwerke und öffentlichen Versorgungsbetriebe« letztlich isoliert.

    So konsequent nun aber Wagner wirtschaftlich war, so eng verknüpft blieb sein Staatssozialismus mit der »Staatsräson«. Er pries den »preußischen Kameralismus« und redete dem Machtstaat das Wort. Dazu gehörte die Propagierung des Kolonialismus. Die Demokratie lehnte er ab. So oder so: Wagner und die Sozialkonservativen unterlagen. Nicht lange danach verließ Wagner den Verein.

    Im »Nationalen« unterschied sich Wagner kaum von Schmoller. Während dem Liberalen Brentano die Nachahmung des englischen Liberalismus vorschwebte, der Arbeiterforderungen über die Gewerkvereine in die liberale Partei integriert hatte, wollte Schmoller die Gesellschaft durch Sozialreformen einen, als Voraussetzung für eine Machtstaatpolitik nach außen.

    Meyer wiederum ging nach der Niederlage im VfS auch mehr und mehr zum Reichskanzler auf Distanz, als sich abzeichnete, dass dieser in Richtung Schutzzoll, Sozialistengesetz und (Kolonial-)Imperialismus gehen würde, womit sich die Hoffnung auf den »staatssozialistischen« Cäsaren zerschlagen hatte. 1877 warf er Bismarck in »Politische Gründer und die Corruption in Deutschland« persönliche Vorteilsnahme vor. Mit Wagner entzweite er sich später in der Frage der Agrarzölle und des Kolonialismus. In »Die Ursachen der amerikanischen Concurrenz« (1883) attackierte er ihn auch in einem Atemzug mit den »Kathedersocialisten, welche (…) noch immer glauben, Fürst Bismarck sei ein socialer Reformator«. Wagners national-sozial-imperialistischen Kurs wollte er nicht mittragen: Er wende sich »mit Abscheu von jenem Chauvinismus ab, der von der Tribüne des Parlaments einer Großmacht (…) mit jener Macht und Größe prahlt, welche wir 1866 und 1870 zwei Nachbarn gegenüber bewiesen haben.«
    Das Elend der Neoklassik

    Der Richtungsstreit von einst kennzeichnet den VfS heute nicht mehr. Dabei gäbe es für Kontroversen ausreichend Grund. Insofern als Ergebnis des Siegs der neoliberalen Konterrevolution jedoch der Druck von unten fehlt, ist er dieser Tage ein homogen dem Wirtschaftsliberalismus und der Neoklassik verschriebener Zusammenschluss. Man könnte auch von einer Versammlung der Kathederneoliberalen sprechen, und insofern wäre der Name »Verein gegen Socialpolitik« passender. Zu den Vorsitzenden gehörten in jüngerer Zeit der Marktdoktrinär Hans Werner Sinn und die aktuelle Vorsitzende der »Wirtschaftsweisen« der Bundesregierung, Monika Schnitzer, die sich u. a. für die Rente mit 70 und viele weitere »alternativlose« Sozialkürzungsmaßnahmen stark macht.

    In jedem Fall hat sich der VfS von seinem Gründungskonsens zum Scheitern wirtschaftsliberaler Politik weit entfernt. Streit findet heute in getrennten Organisationen statt. Im Nachgang der globalen Finanzkrise, die das Elend und den Autismus der Neoklassik und ihrer Annahmen zu »homo oeconomicus«, Gleichgewichtstheorem usw. offenbarte, entwickelte sich der Widerstand heterodoxer Ökonomen. 2012 gipfelte er in einer Gegenkonferenz. Die Kritiker forderten »Theorienvielfalt statt geistiger Monokultur«, »Methodenvielfalt statt angewandter Mathematik« und »Selbstreflexion statt unhinterfragter, normativer Annahmen«. Konsultationen, die eine Erweiterung des Spektrums ergeben sollten, scheiterten.

    Die angesichts der heutigen Systemkrise anstehende Erneuerung des wirtschaftstheoretischen Denkens dürfte sich jenseits des VfS vollziehen. Vielleicht trifft sich die alternative politische Ökonomie irgendwann noch einmal in Eisenach. Von dort kam ja auch nicht das schlechteste Programm der sozialistischen Arbeiterbewegung, das im Bürgertum für ein solches Fracksausen sorgte, dass der VfS überhaupt entstehen konnte.

    #histoire #Allemagne #aide_sociale #counterinsurgency #VfS

  • Wagenknecht und Abgeordnete treten aus Linkspartei aus. Hier ihre Erklärung
    https://www.telepolis.de/features/Wagenknecht-und-Abgeordnete-treten-aus-Linkspartei-aus-Hier-ihre-Erklaerun
    https://www.youtube.com/watch?v=sNFozK4bGzc


    Pour Sarah : Jacques Dutronc "L’opportuniste"

    Le parti de gauche allemand Die Linke va mal. Son membre le mieux connu et le plus populaire Sarah Wagenknecht annonce la fondation d’un nouveau parti ni de gauche ni de droite. L’ancienne communiste s’est muée en ordolibérale nostalgique du Wirtschaftswunder , les Trente Glorieuses version allemande. Elle aspire à la réintroduction de l’économie du type soziale Marktswirtschaft cheval de Troie du néolobéralisme d’avant sa version décomplexée et meurtrière réalisée par les Chicago Boys de Milton Friedman.
    https://de.wikipedia.org/wiki/Ordoliberalismus#Ordoliberalismus_und_Soziale_Marktwirtschaft_(Alfred_
    https://fr.wikipedia.org/wiki/Ordolib%C3%A9ralisme
    https://fr.wikipedia.org/wiki/Chicago_Boys

    Conférence de presse de Sarah Wagenknecht avec d’anciens membres du parti Die Linke du 23.10.2023
    https://www.youtube.com/watch?v=avR8qxj1Fvs


    Avec la traduction automatique de Youtube on peut se faire un idée de l’esprit du nouveau parti à venir sans avoir appris l’Allemand.

    L’état du parti Die Linke se montre dans les phrases dépourvues de sens sur ses pages web. Voici un exemple de ses convulsions idéologique absurdes dignes des grands auteurs du mouvement Dada.

    10.6.2023 Unser Plan 2025 : Comeback einer starken LINKEN

    Beschluss der Parteivorstandsberatung vom 10. Juni 2023
    ...
    Sie (Die Partei) arbeitet auf allen Ebenen, in der Opposition wie in Regierungen, im Parlament wie auf der Straße, in der Kommune und den Ländern wie mit ihren europäischen und internationalen Partnern, für fortschrittliche Veränderung. Ihre zentrale Leitplanke ist und bleibt der demokratische Sozialismus.

    C’est aussi intraduisible que les critiques de théâtre d’avant-garde.

    La notion politique essentielle du gauchiste allemand sans repère s’appelle Leitplanke = glissière de sécurité. C’est une image métaphorique autrement appelée « ligne rouge ». Dans la phrase citée elle est censée nous toucher au centre ("zentrale Leitplanke"). De par mon expérience d’automobiliste je sais que c’est un événement qui ne peut être que mortel.

    Conclusion : Pour les socialistes et militants de gauche encore capables d’analyser la situation il est temps de quitter le bateau qui coule et de monter dans les canots de sauvetage pas encore occupés par Frau Wagenknecht-Lafontaine et ses acolytes.

    Il ne faut pas se tromper sur la personne. Sarah Wagenknecht a raison avec prèsque tout ce qu’elle reproche au fonctionnaires du parti de gauche. Je confirme que ce groupe s’est fait acheter par le système capitaliste et poursuit une ligne politique qui ne sert que ses propres intérêts au prix de ruiner le projet d’une gauche socialiste d’envergure. Die Linke ne défend plus les intérêts des pauvres, des ouvriers et des gens vraiment défavorisés. Il n’en conserve que les mots dans un programme bafoué par sa nomenklatura et ranimé pour les beaux discours de dimanche dans les prospectus distribués par sa « base » naïve et méprisée par ses propres élus. Le parti est tout sauf le bras parlementaire du prolétariat.

    Sarah Wagenknecht ne fait pas partie du camps de la droite allemande et refusera (vraisemblablement) toujours de s’allier à la droite du type AfD. Elle est nationaliste mais d’une façon adoucie sans les pogroms qui sont typiques pour le nationalisme de droite. Pourtant elle s’engage pour l’industrie capitaliste allemande et néglige le fait que le capital n’a pas de patrie ne serait-ce que les îles très discrètes aux taux d’imposition énigmatiques. Son projet est plein de bon sens ("gesunder Menschenverstand") mais il souffre déjà d’une amnésie historique aiguë qui contredit tout prognostique prometteur. Tôt ou tard son parti verra le destin de chaque projet politique dépourvu de raison d’être solide.

    Pour celles et ceux qui comprennent l’Allemand il y a deux textes en accès libre qui expliquent dans le détail la signification du projet de Sarah Wagenkecht.

    23.10.2023 Peter Nowak : Warum die Wagenknecht-Partei eine Rechtsabspaltung wird
    https://www.telepolis.de/features/Warum-die-Wagenknecht-Partei-eine-Rechtsabspaltung-wird-9340986.html

    16.10.2023 Ingar Solty : Dem Umsturz vorbauen, Kathedersozialliberale. Vor 150 Jahren wurde der Verein für Socialpolitik gegründet
    https://www.jungewelt.de/artikel/461153.sozialreform-in-deutschland-dem-umsturz-vorbauen.html

    #Allemagne #politique #gauche #scission


  • #Gaza, 11.10.2024

    EIN PFERD KLAGT AN

    Ich zog meine Fuhre trotz meiner Schwäche
    Ich kam bis zur Frankfurter Allee.
    Dort denke ich noch: O je!
    Diese Schwäche! Wenn ich mich gehenlasse
    Kann ’s mir passieren, daß ich zusammenbreche.
    Zehn Minuten später lagen nur noch meine Knochen auf der Straße.

    Kaum war ich da nämlich zusammengebrochen
    (Der Kutscher lief zum Telefon)
    Da stürzten aus den Häusern schon
    Hungrige Menschen, um ein Pfund Fleisch zu erben
    Rissen mit Messern mir das Fleisch von den Knochen
    Und ich lebte überhaupt noch und war gar nicht fertig
    mit dem Sterben.

    Aber die kannt‘ ich doch von früher, die Leute!
    Die brachten mir Säcke gegen die Fliegen doch
    Schenkten mir altes Brot und ermahnten
    Meinen Kutscher, sanft mit mir umzugehen.
    Einst mir so freundlich und mir so feindlich heute!
    Plötzlich waren sie wie ausgewechselt! Ach, was war
    mit ihnen geschehen?

    Da fragte ich mich: Was für eine Kälte
    Muß über die Leute gekommen sein!
    Wer schlägt da so auf sie ein
    Daß sie jetzt so durch und durch erkaltet?
    So helft ihnen doch! Und tut das in Bälde!
    Sonst passiert euch etwas, was ihr nicht für möglich haltet!

    Text: Bertolt Brecht
    Musik: Hanns Eisler
    ca. 1920

  • Tödliche Polizeigewalt : Bislang null Aufklärung
    https://www.jungewelt.de/artikel/460473.t%C3%B6dliche-polizeigewalt-bislang-null-aufkl%C3%A4rung.html
    Il y a un an à Berlin la police tue un patient énervé en l’asphyxiant. Il avait un double handicap, il était noir. Son frère continue a se battre pour la reconnaissance du crime en tant que tel.

    6.10.2023 von Katharina Schoenes - Mutombo Mansamba, der Bruder des verstorbenen Kupa Ilunga Medard Mutombo, während einer Pressekonferenz in Berlin

    Vor genau einem Jahr starb Kupa Ilunga Medard Mutombo in Berlin an den Folgen eines brutalen Polizeieinsatzes. Der 64jährige war an Schizophrenie erkrankt und hatte mehr als zwei Jahrzehnte in einem psychiatrischen Wohnheim in Berlin-Spandau gelebt. Weil sich sein Zustand verschlechtert hatte, sollte er in eine Psychiatrie gebracht werden. Am 14. September 2022 rückte die Polizei in Begleitung eines Arztes in dem Wohnheim an, um einen entsprechenden Unterbringungsbeschluss durchzusetzen. Für Mutombo endete die Polizeiaktion tödlich. Die Justiz versäumt es bislang, die genauen Todesumstände sowie ein mögliches Fehlverhalten der beteiligten Polizisten aufzuklären.

    Mutombos Betreuer, der während des Polizeieinsatzes am 14. September vor Ort war, beschreibt das Verhalten der Beamten als sehr gewalttätig. Sie hätten Mutombo auf den Boden geworfen und fixiert, ein stämmiger Polizist habe sich auf ihn gesetzt und ihm sein Knie auf den Nacken gedrückt. Das habe ihn an die Todesumstände George Floyds erinnert. Der schwarze US-Amerikaner war im Mai 2020 in den USA im Zuge eines Polizeieinsatzes erstickt worden. Außerdem habe Mutombo Blut gespuckt. Ein Beamter habe ihm das Blut mit einer Decke aus dem Gesicht gewischt.

    Anstatt sich zurückzuziehen und Mutombo ärztliche Hilfe zukommen zu lassen, riefen die drei ursprünglich eingesetzten Polizisten 13 weitere Kollegen zur Verstärkung. Diese drangen ebenfalls in Mutombos Zimmer ein und blockierten dessen Tür. Sie brachten sogar Polizeihunde mit, die jedoch nicht zum Einsatz kamen. Zeugen zufolge habe ein Polizist gerufen, Mutombo habe aufgehört zu atmen. Einsatzkräfte trugen den leblosen Mann daraufhin aus dem Zimmer. Es sei im Hof des Wohnheims mindestens 20 Minuten lang versucht worden, ihn zu reanimieren, und schließlich wurde er bewusstlos in ein örtliches Krankenhaus eingeliefert. Fünf Tage später wurde er in die Charité verlegt, wo er am 6. Oktober 2022 verstarb. Mutombo Mansamba, der Bruder Kupa Ilunga Medard Mutombos, erfuhr erst am 21. September, also eine Woche nach dem Polizeieinsatz, vom Zustand seines Bruders. Informiert wurde er nicht von der Polizei, sondern von Ärzten der Charité.

    Mansamba wandte sich an die Beratungsstelle »Reach Out«, die ihn dabei unterstützte, den tödlichen Polizeieinsatz öffentlich zu machen. Mansamba und »Reach Out« sind überzeugt, dass die Polizisten für Mutombos Tod verantwortlich sind. Dagegen behauptet die Polizei, Mutombo sei völlig unerwartet kollabiert, während er Widerstand gegen seine Verlegung geleistet habe.

    Nachdem »Reach Out« eine Pressekonferenz organisiert hatte, schlug der Vorfall so hohe Wellen, dass sich Mitte Oktober 2022 der Innenausschuss des Berliner Abgeordnetenhauses damit befasste. Dort erklärte die Berliner Polizeipräsidentin Barbara Slowik, es gebe keine Hinweise, dass Mutombos Tod auf Fremdverschulden zurückzuführen sei. Eine Sichtweise, die sich die Berliner Staatsanwaltschaft ein gutes halbes Jahr später zu eigen machte, als sie im Mai 2023 das Ermittlungsverfahren »gegen unbekannte Beamte der Berliner Polizei wegen Körperverletzung im Amt« einstellte. Der zuständige Staatsanwalt begründete die Einstellung damit, dass die Ermittlungen nicht zu einem konkreten Tatverdacht gegen einen oder mehrere der am Einsatz beteiligten Polizisten geführt hätten. Ein Fehlverhalten sei nicht zu erkennen.

    Warum Mutombo kollabierte, kann die Staatsanwaltschaft indes nicht erklären. Im Einstellungsbescheid heißt es, als Grund für den Zusammenbruch komme »eine emotionale Stressreaktion« in Kombination mit dem Absetzen von Medikamenten in Betracht. Dagegen steht im Obduktionsbericht, dass ein durch Sauerstoffmangel bedingter Hirnschaden für Mutombos Tod ursächlich gewesen war. Für Biplab Basu, der seit mehr als 20 Jahren Betroffene von Polizeigewalt berät, kommt die Entscheidung der Staatsanwaltschaft nicht überraschend. Gegenüber jW sagte er, Staatsanwälte würden solche Verfahren grundsätzlich immer einstellen: »Da passiert gar nichts, null.« Das gelte nicht nur für Berlin, sondern auch für Fälle in Frankfurt am Main, Fulda oder Dortmund. Überall lasse sich das gleiche Muster beobachten.

    Mansamba hofft dennoch darauf, dass ein Gericht die Umstände des Todes seines Bruders aufklären wird. Deshalb legte er mit seiner Anwältin gegen die Verfahrenseinstellung Beschwerde ein. Mit Erfolg: Im August teilte die Generalstaatsanwaltschaft mit, dass die Ermittlungen wieder aufgenommen werden. Es bleibt abzuwarten, ob künftig mit mehr Nachdruck ermittelt wird.

    #Berlin #police #violence_policière #patients #psychiatrie #iatrocratie

  • Mindestlohn : Mehrheit verdient unter 20 Euro pro Stunde
    https://www.jungewelt.de/artikel/459696.mindestlohn-mehrheit-verdient-unter-20-euro-pro-stunde.html

    La moitié des employés allemands n’auront droit qu’à une retraite de pauvres après avoir travaillé à plein temps pendant 40 ans.

    La génération qui a travaillé entre 1945 et 1985 pouvait encore accumuler assez d’argent pour devenir propriétaire d’une maison individuelle même avec un travail de vendeuse sans formation particulière. Une retraite comfortable était leur récompense systématique pour une vie de travail. Avec les salaires en baisse et les prix de l’immobilier en augmentation spéculative cette perspective est désormais réservée à une minorité de cadres, de membres des professions libérales et surtout aux héritiers d’un ample patrimoine familial.

    25.9.2023 von Raphaël Schmeller - Löhne in BRD »beschämend gering«. Statistikamt prognostiziert Explosion der Altersarmut

    In der BRD verdient mehr als die Hälfte der sozialversicherungspflichtig Beschäftigten unter 20 Euro brutto pro Stunde. Mehr als jeder Dritte bekommt sogar weniger als 16 Euro. Das geht aus einer Auswertung des Statistischen Bundesamtes hervor, die die Bundestagsfraktion der Partei Die Linke in Auftrag gegeben hat und über die das Redaktionsnetzwerk Deutschland (RND) am Sonntag berichtete. Die Zahlen basieren auf einer Verdiensterhebung von Oktober 2022 und schließen die Löhne von Auszubildenden nicht mit ein.

    Konkret bekommen 21,5 Millionen von 39,8 Millionen Beschäftigten einen Stundenlohn von unter 20 Euro brutto. Das macht einen Anteil von 53,9 Prozent aus. Unter 16 Euro brutto pro Stunde erhalten 13,6 Millionen und damit 34,2 Prozent der Beschäftigten. 6,6 Millionen verdienen unter 13 Euro brutto pro Stunde – das ist ein Anteil von 16,7 Prozent.

    Linke-Fraktionschef Dietmar Bartsch kritisierte gegenüber dem RND, das Lohnniveau in Deutschland sei »beschämend gering«. Weiter erklärte er: »Die Mehrheit der Deutschen verdient unter 20 Euro. Das bedeutet: Die Mehrheit der heutigen Arbeitnehmer wird im Alter keine gute Rente erhalten.«

    Die gesetzliche Lohnuntergrenze in der BRD liegt derzeit bei zwölf Euro pro Stunde. Sie soll nach dem Vorschlag der sogenannten Mindestlohnkommission in zwei Schritten minimal angehoben werden: ab 2024 auf 12,41 Euro und ab 2025 auf 12,82 Euro.

    Mit dieser Anpassung im Cent-Bereich wird die Anfang des Jahres vom Statistischen Bundesamt prognostizierte Explosion der Altersarmut wohl kaum verhindert werden können. Laut der Wiesbadener Behörde droht aktuell jeder dritten Frau mit einer Vollzeitarbeit auch nach 40 Arbeitsjahren eine Rente von weniger als 1.000 Euro pro Monat. Um auf eine Nettorente von 1.000 Euro oder mehr zu kommen, müssen Frauen wie Männer demnach derzeit 40 Jahre lang durchgehend 2.844 Euro brutto im Monat verdienen. Für einen Anspruch auf 1.200 Euro Rente brauchen Beschäftigte 40 Jahre lang einen Bruttomonatslohn von 3.413 Euro.

    #Allemagne #travail #salaires #retraites

  • Verdi-Bundeskongress: »Der Bundesvorstand übt null Selbstkritik«
    https://www.jungewelt.de/artikel/459706.verdi-bundeskongress-der-bundesvorstand-%C3%BCbt-null-selbstkritik.
    Es ist erschreckend, wie die zweitgrößte Gewerkschaft Deutschlands von ihren hauptamtlichen Funktionären handlungsunfähig gemacht wird

    25.9.2013 von Susanne Knütter - Falsche Verteilung von Ressourcen, unzureichende Bildungsarbeit, veraltete Tarifpolitik. Verdi steckt in der Krise. Ein Gespräch mit Orhan Akman

    Bei den Wahlen für den ­Verdi-Bundesvorstand haben Sie 201 von 839 Stimmen erhalten. Ein gutes Ergebnis?

    In mehreren Zeitungen war danach von einem Achtungserfolg die Rede, das teile ich. Knapp ein Viertel der Delegierten hat für mich gestimmt. Bezieht man die Enthaltungen mit ein, kann gesagt werden, rund jede und jeder dritte Delegierte ist mit dem Kurs des aktuellen Bundesvorstandes unzufrieden. Das ist erst einmal ein sehr gutes Ergebnis. Hätte ich im Vorfeld die Möglichkeit gehabt, mich auch bei den Delegiertenvorbesprechungen vorzustellen, und würde mir nicht seit fast zwei Jahren der Zugang zu den ehrenamtlichen Gremien verwehrt, dann wäre es sicherlich noch besser gewesen. Aber der Vorstand hat es, trotz aller Versuche, mich aus der Organisation herauszudrängen, mich mit arbeitsrechtlichen Maßnahmen zu überfluten und mich aus den Konferenzen herauszuhalten, nicht geschafft, dass ich und meine Kritik verschwinden. Aus diesem Konflikt bin ich nach dem Kongress gestärkt hervorgegangen.

    Ich dachte bis zuletzt, als ehemaliger Bundesfachgruppenleiter für den Einzelhandel würden Sie für den Fachbereich Handel kandidieren und gegen Silke Zimmer antreten.

    Das war auch mein Wunsch. Allerdings hat der Gewerkschaftsrat mir mitgeteilt, dass ich gegen eine Frau nicht kandidieren darf. Und zweitens darf man nicht gegen eine Person kandidieren, die vorher von einer Fachbereichskonferenz nominiert worden ist. Damit blieben nur noch die Mandate von Frank Werneke, Detlef Raabe und Christoph Meister.

    Warum haben Sie sich für den Posten von Christoph Meister entschieden, der im Bundesvorstand bereits für Finanzen und Bildungsarbeit zuständig war?

    Es ist zunächst festzuhalten, dass der Unterschied zwischen mir und den anderen Kandidatinnen und Kandidaten darin besteht, dass ich mir ernste Sorgen über die Zukunft der Organisation mache und zugleich Vorschläge entwickelt habe, wie man Verdi wieder schlagkräftiger aufstellen kann. Es kommt maßgeblich darauf an, wie und wofür die gewerkschaftlichen Finanzen verwendet werden. Notwendig ist eine Neuausrichtung unserer Gewerkschaft, die nah an den Mitgliedern und nah an Betrieb und Dienststelle sein muss. Dazu müssen wir die Finanzströme und die gesamte politische Kraft unserer Gewerkschaft in die Arbeit vor Ort und in die Betriebe und Dienststellen lenken.

    In diesem Kontext nimmt die Bildungsarbeit einen besonders großen Stellenwert ein. Meines Erachtens ist eines der Kernprobleme der deutschen Gewerkschaftsbewegung, dass wir zwar Mitglieder gewinnen – zu wenige nach wie vor –, aber mit den neuen Mitgliedern eigentlich wenig anfangen. Wir holen sie mal für einen Streik raus und dann ist gut. Wichtig wäre, ein Bewusstsein zu schaffen für die Gewerkschaft als Klassenorganisation. Damit man in den Kämpfen zwischen Arbeit und Kapital nicht nur einen Tarifvertrag erkämpft, sondern sich auch gegen gesellschaftliche Fehlentwicklungen positioniert, sich etwa gegen Krieg und Militarisierung, gegen die Erhöhung des Renteneintrittsalters und Rentenkürzungspolitik, gegen rechts und Faschismus anders politisiert. Das bedeutet im Grunde, den Konflikt zwischen Arbeit und Kapital in der Bildungsarbeit als Kern zu vermitteln.

    Auf dem Kongress wurden nun die gewerkschaftlichen Koordinaten für Friedenspolitik Richtung Krieg und NATO-Doktrin verschoben. Das ist ein fatales Zeichen. Dagegen müssen sich die progressiven Kräfte in Verdi erheben. Wir dürfen nicht zulassen, dass Verdi und der DGB der Kriegspropaganda und der Argumentation für Waffenlieferungen in Kriegsregionen hinterherlaufen. Auch deshalb ist die Bildungsarbeit von enormer Bedeutung.

    In Ihrer Bewerbungsrede haben Sie Kampagnen der letzten Jahre angesprochen. Verdi hat sich demnach schon mit der eigenen Krise auseinandergesetzt. Das ist jetzt nicht mehr so?

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    Drei zentrale Projekte sind gescheitert, weil sie extern aufgesetzt und von Sparmaßnahmen gekennzeichnet waren. Also wir holen Beratungsfirmen, die uns sagen, wie wir unsere Arbeit machen sollen. Das ist völliger Blödsinn. Dann wird noch mal das gleiche mit einem neuen Titel aufgesetzt – »Zukunft der Mitgliedergewinnung« heißt es jetzt –, ohne dass die vorhergehenden Kampagnen richtig analysiert wurden. Wir haben die größte Austrittswelle der letzten zehn oder zwölf Jahre. Binnen 20 Jahren haben wir eine Million Mitglieder verloren. Und der Bundesvorstand übt null Selbstkritik. Frank Werneke ist seit 2019 Chef, davor war er 18 Jahre lang stellvertretender Vorsitzender. Der Bundesvorstand ist dafür verantwortlich, dass der Kahn auf Grund läuft, und der Vorsitzende malt uns ein Bild, als wären wir auf der Erfolgsspur.

    Ihr Zukunftskonzept für Verdi beruht auch auf der Losung »Mehr Personal in die Betriebe und vor Ort«.

    Wir haben nach letztem Stand 3.380 Beschäftigte bei Verdi. Das ist jede Menge Personal. Aber wenn davon 561 in der Bundesverwaltung sind und wir zudem in den Landesebenen zu viele Koordinierungsstellen haben, kommen wir in den Bezirken und in den Betrieben deutlich weniger vor. Warum streichen wir nicht einen Teil der Stellen auf der Bundes- und Landesebene und stecken diese Kapazitäten in die Bezirke und Betriebe? Notwendig ist, Gewerkschaft nachhaltig in den Belegschaften zu verankern. Das geht über Bildungsarbeit, damit die Beschäftigten wissen, warum sie in der Gewerkschaft sind und sie am Ende auch die Gewerkschaft sind – und nicht die Hauptamtlichen. Das zweite ist, dass wir dafür Sorge tragen müssen, dass die Gewerkschaft permanent vor Ort präsent ist. Wir haben Bundesländer, wo es weniger als eine Handvoll Geschäftsstellen von Verdi und DGB gibt. Dadurch entsteht ein Vakuum, was auch die AfD ausnutzt.

    Ich erinnere mich an den Bundeskongress 2019. Kurz vorher formulierte Anton Kobel, langjähriger Sekretär im Einzelhandel, auch eine Kritik, die Ihrer ähnelt.

    Ein Grund, warum ich Anfang 2019 in die Bundesverwaltung gekommen bin, war, zu sagen, wenn man nicht genügend Hebel für Veränderungen in die Hand bekommt, muss man selbst nach vorne gehen. In der Bundesfachgruppe Einzelhandel haben wir dann versucht, durch Betreuungsteams die örtliche Arbeit im Betrieb und den Gremien auf der Bundesebene, den Gesamtbetriebsräten, den Konzernbetriebsräten besser zu verzahnen und durch gemeinsame Aktivitäten in der Tarifpolitik und betrieblichen Arbeit stärker zu werden. Das war ein neuer Ansatz. Schon das wurde durch einen Teil der Führungskräfte bekämpft. Weil es bedeutet, dass man Macht abgeben muss. Ich sage, im Handel brauchen wir keine regionalen Tarifverträge mehr, sondern mindestens nationale, wenn nicht sogar internationale Tarifverträge entlang der Wertschöpfungsketten. Das bedeutet auch, dass man die »Landesfürsten« in der Tarifpolitik entmachten muss. Ich gehe fest davon aus, dass ein Teil der Anfeindungen daraus resultiert. Der Unterschied zwischen Anton Kobel und mir war und ist: Ich gehe selber in Verantwortung und scheue keine Konflikte.

    Sie hatten 2019 die Kritiker kritisiert.

    Es gab damals schon sehr viel berechtigte Kritik an der Bundesfachbereichsleiterin für den Handel. Ich war selbst ihr größter Kritiker und habe diese Kritik ihr gegenüber auch immer geäußert. Aber bei der Wahl 2019 habe ich sie unterstützt. Im nachhinein denke ich, dass das falsch war. Aber den Kritikern aus den Landesfachbereichen habe ich damals schon gesagt, dass sie halt selber kandidieren müssten. Dazu war niemand bereit.

    Drei Beispiele will ich kurz nennen: Bei der internen Kritik ging es unter anderem um einen Weg, wie man bei Amazon einen Tarifvertrag durchsetzen kann. Das war schon 2017/2018 einer der Streitpunkte zwischen mir und den Landesfachbereichsleiterinnen und -leitern sowie der Bundesverwaltung. Damals bestand die Möglichkeit, bei Amazon einen Spartentarifvertrag für den Online- und Versandhandel anzustreben. Das war einer der zentralen Konflikte mit dem Fachbereich Handel. Das endete dann so, dass ich erst einmal für ein Jahr nach Brasilien gegangen bin. Bei der Rewe Group haben wir drei Jahre lang Gespräche geführt und ein Tarifpaket zu Ende sondiert. Es ging in diesem Tarifpaket unter anderem um die Erhöhung und Verbesserung der betrieblichen Altersvorsorge, aber auch um den ersten Versuch eines Tarifvertrages entlang der Wertschöpfungskette. Am Ende scheiterte dieses wegweisende Projekt an den Landesfachbereichsleitern und dem Bundesvorstand. Auch das aktuelle Vorgehen von ­Verdi-Handel bei Galeria Karstadt-Kaufhof ist strategie- und planlos. Es wird ernsthaft behauptet, GKK könnte von heute auf morgen in den Flächentarifvertrag zurückkehren. Das geht völlig an der betrieblichen Realität vorbei. Die Landesfachbereichsleiter Handel sowie die Bundesfachbereichsleiterin hielten und halten an den verkrusteten Tarifverträgen im Handel fest, wohl wissend, dass diese nur noch für 17 Prozent der Einzelhandelsbetriebe gelten. Silke Zimmer will in »Weiter so«, während ich einen anderen tarifpolitischen Kurs vorschlage. Irgendwann sind diese Konflikte halt eskaliert.

    Sind Flächentarifverträge überholt?

    Flächentarifverträge sind ein gutes Instrument der Solidarisierung der Belegschaften, des gemeinsamen Handelns über den Betrieb hinaus. Aber das Modell ist in einer Krise. Der Großteil der Belegschaften, allen voran in der Privatwirtschaft, fällt nicht mehr unter den Schutz dieser Verträge. Wir brauchen flankierende Maßnahmen, um den Flächentarifvertrag wieder zu stabilisieren. Das heißt, wir brauchen auch für die betrieblichen Themen Tarifverträge. Was wir bei H&M gemacht haben, einen Tarifvertrag zu Digitalisierung abzuschließen, ist der absolut richtige Weg. Wir haben einen Flächentarifvertrag und zusätzlich haben wir Digitalisierung tarifiert. Wir brauchen einen Manteltarifvertrag für den gesamten Handel zu Arbeitszeiten, Urlaub, Zuschlägen. Im Bereich der Löhne und Gehälter sind Tarifverträge notwendig, die auf die gegebenen Segmente zugeschnitten sind. Bei den Online- und Lieferdiensten schreit es geradezu nach einem eigenen Tarifvertrag.

    Warum will Verdi das nicht?

    Die Hauptamtlichen in den Landesbezirken behaupten, wenn wir Spartentarifverträge machen, verlieren die Beschäftigten Geld. Was so nicht stimmt. Denn es kann auch sein, dass sie mehr bekommen. Verdi fordert Amazon nach wie vor auf, dass sie den Einzelhandelstarifvertrag anwenden. Aber in Teilen zahlt Amazon den Beschäftigten bereits mehr. Das ist ein Erfolg der Streiks, zeigt aber auch, dass wir unser Vorgehen anpassen müssen. Bei Amazon wäre es nach meinem Dafürhalten richtig, einen Spartentarifvertrag oder einen eigenen Konzerntarifvertrag zu fordern. Auch bei Verhandlungen im Lebensmittelhandel würde uns ein Spartentarifvertrag eher nutzen.

    Kandidieren Sie in vier Jahren wieder?

    Meine Kritik und meine Kandidatur waren und sind kein Selbstzweck. Ich sage, lasst uns offen über die Krise reden. Ich kann auch an anderen Stellen für unsere Gewerkschaft nützlich sein. Die Frage ist, ob es uns in den nächsten Jahren gelingt, die Organisation so umzukrempeln, dass wir in den Belegschaften wieder eine Stimme werden. Deshalb werde ich sicherlich nicht bis zu den nächsten Wahlen die Füße stillhalten. Probleme in der Gewerkschaft anzusprechen ist aufrichtig gegenüber den Belegschaften. Ich halte es auch für falsch, zu sagen, wir sprechen nur für die Verdi-Mitglieder. Als Gewerkschaften sollten wir den Anspruch haben, für alle lohnabhängig Beschäftigten, also die gesamte Arbeiterklasse zu sprechen.