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  • Verkehr und Digitalisierung: R2-D2 übernimmt
    https://www.jungewelt.de/artikel/458202.verkehr-und-digitalisierung-r2-d2-%C3%BCbernimmt.html

    2.9.2023 von Timo Daum - Einer der milliardenschweren Träume des Silicon Valley ist seiner Verwirklichung ein Stück näher gekommen: In San Francisco dürfen ab sofort zwei Digitalunternehmen fahrerlose Taxifahrten in der ganzen Stadt anbieten. Das ist wie roboterisiertes Uber.
    Was ist davon zu halten?

    Robotaxis gehören in San Francisco zum Straßenbild, seit die beiden Firmen Waymo und Cruise vor einigen Jahren begannen, ihre fahrerlosen Fahrzeuge in der Stadt zu testen. In letzter Zeit bekamen es die Fahrzeuge immer häufiger mit Sabotageaktionen und Streichen, oft aber schlicht mit gängigen Verkehrsaggressionen wie Schneiden, Abdrängen und Ausbremsen zu tun.

    Die »Safe Street Rebels« erklären die Sabotage der mobilen Roboterautos zum organisierten Widerstand. In der »Woche des Hütchens« riefen sie zur Blockade autonomer Fahrzeuge auf. Das geht nämlich ganz einfach: Plaziert man auf dem Autodach oder der Motorhaube einen Leitkegel (Warnhütchen, wie sie zum Absperren von Fahrbahnen benutzt werden), können sie lahmgelegt werden. Die fahrerlosen Gefährte können die Situation nicht analysieren, aktivieren die Warnblinkanlage und bleiben sofort stehen.

    Normalerweise greifen bei Störungen – oder wenn das autonome Fahrzeug nicht mehr weiter weiß – Techniker per Fernwartung auf es zu und versuchen, es wieder flottzubekommen. Aber das geht nicht, wenn ein Hütchen auf dem Fahrzeug steht. Da seit letztem Jahr keine Sicherheitsfahrerinnen und -fahrer an Bord der Fahrzeuge mehr präsent sein müssen, dauert es eine Weile, bis die Pannenhilfe vor Ort ist, und die paralysierten Fahrzeuge werden zu veritablen Verkehrshindernissen.
    Mobilitätsludditen

    Die Aktionen der »Safe Street Rebels« erinnern an diejenigen der Ludditen aus der Frühzeit des Industriekapitalismus. Die Anhänger Ned Ludds (einer vermutlich fiktiven Person) waren eine Gruppe gelernter Textilarbeiter, die gegen die Einführung neuer Webstühle protestierten, die ihrer Meinung nach zu Arbeitslosigkeit und geringeren Löhnen für die Arbeiter führen würden. Der Name »Ned Ludd« entstand vermutlich als Pseudonym, das die Aktivisten beim Schreiben von Drohbriefen an Kapitalisten benutzten. Der Begriff »Luddit« wird seither gern verwendet, um jemanden zu beschreiben, der technologische Fortschritte ablehnt oder Angst davor hat, obwohl sich die historischen Ludditen speziell mit den Auswirkungen von Maschinen auf ihren Lebensunterhalt beschäftigten.

    Karl Marx und Friedrich Engels nannten sie »Maschinenstürmer«. Auch wenn sie deren frühe Kämpfe und Organisierungsbemühungen für wertvoll hielten, kritisierten sie die Ludditen, weil sie die Maschinen selbst angriffen, als wären sie das Problem – und nicht die Verhältnisse, unter denen sie zur Anwendung kamen bzw. zur Ausbeutung und Profitgenerierung eingesetzt wurden. Marx schrieb im »Kapital«: »Es bedarf Zeit und Erfahrung, bevor der Arbeiter die Maschinerie von ihrer kapitalistischen Anwendung unterscheiden und daher seine Angriffe vom materiellen Produktionsmittel selbst auf dessen gesellschaftliche Exploitationsform übertragen lernt.« Es gibt allerdings auch andere Stimmen, die die frühe Arbeiterbewegung der Ludditen vielschichtiger einschätzen. Der marxistische Historiker Edward Thompson schrieb in seinem Klassiker über die Entstehung der englischen Arbeiterklasse: »Der Luddismus war eine quasi aufständische Bewegung, die ständig um die Grenze zu revolutionären Zielen oszillierte.«

    Doch ist der Maschinensturm inhärent konservativ, weil er ja die neuen Maschinen ablehnt, aber nicht die alten Maschinen und Werkzeuge. Er greift mit seinen Aktionen zunächst weder die kapitalistischen Produktionsverhältnisse an noch die Produktionsweise. »Maschinenstürmer« kritisieren einzig die neue Produktionsweise, indem sie deren Manifestationen vom Standpunkt der alten Produktionsweise sabotieren, die weniger mechanisiert, weniger automatisiert ist. Gilt diese Kritik auch für die Hütchenspieler in San Francisco?

    Der Stand der Dinge

    Kalifornien ist der »Ground Zero« für Robotaxitestbetriebe in den USA. Über 50 Unternehmen sind in diesem Bundesstaat für den Betrieb autonomer Fahrzeuge zu Testzwecken zugelassen. Einige davon führen Praxistests mit autonomen Taxiflotten durch, die auf einen wirtschaftlich tragfähigen Betrieb abzielen.

    Am weitesten sind Waymo und Cruise: Beide Firmen verfügen über eine Flotte unbemannter Fahrzeuge, die selbständig unterwegs sind, ohne dass Sicherheitspersonal an Bord der Fahrzeuge sein müsste. Beide dürfen von ihren Kundinnen auch schon Geld verlangen, Fahrten können über eine App gebucht werden, ganz wie bei Uber und anderen Fahrunternehmen.

    Waymo und Cruise setzen für ihren Service auf eine Kombination aus detaillierten Straßenkarten sowie Lidar-Sensoren, Radar und Kameras. Ihre Dienste sind auf geographische Gebiete beschränkt, die im Vorfeld minutiös kartiert werden. Diese »Operational Design Domains« sind durch GPS-Koordinaten virtuell abgesteckte Betriebsbereiche.

    Waymo begann 2009 als Google-Tochtergesellschaft mit der Entwicklung selbstfahrender Autos. Es geht seitdem recht behutsam vor, bislang gab es in den fünf Jahren seit Beginn des Testbetriebs nur kleinere Unfälle. Der Robotertaxidienst Waymo One wurde 2018 in einem Vorort von Phoenix, Arizona, gegründet. Derzeit bewegen sich die Fahrzeuge dort auf einer Fläche von 466 Quadratkilometern, was ungefähr der Hälfte des Landes Berlin entspricht. Cruise wurde 2013 als Technologie­startup gegründet und 2016 vom Automobilhersteller General Motors (GM) übernommen. Mit Amazon ist ein weiteres Techunternehmen in diesem Bereich aktiv. Amazon testet eine Flotte von Robotaxis auf öffentlichen Straßen in Kalifornien, wobei Mitarbeiter als Passagiere eingesetzt werden. Zoox, eine hundertprozentige Tochter von Amazon, hat dafür ein eigenes Fahrzeug entwickelt.

    Seit dem 10. August 2023 dürfen die beiden Techunternehmen Cruise und Waymo ihre Robotaxidienste auf das gesamte Stadtgebiet von San Francisco ausweiten und rund um die Uhr operieren. Das hatte nach einer Anhörung die zuständige Behörde beschlossen, die California Public Utilities Commission (CPUC).

    Gegen eine Ausweitung der Betriebszulassung sprachen sich bei dieser Gelegenheit Vertreter von Transport- und Sicherheitsbehörden sowie viele Anwohnerinnen und Anwohner aus. Sie äußerten Bedenken hinsichtlich unberechenbarer Fahrweise und Beeinträchtigungen ihres Betriebs. Die Stadt San Francisco sowie die örtliche Feuerwehr und Polizei hatten sich bereits im Vorfeld gegen eine Freigabe des Robotaxis rund um die Uhr ausgesprochen.

    Befürworter, darunter Technologieexperten und weitere Anwohnerinnen und Anwohner, argumentierten, dass selbstfahrende Autos eine sicherere Alternative zu menschlichen Fahrern darstellen. Sie gaben auch zu bedenken, dass die Erprobung neuer Mobilitätssysteme der Stadt Aufmerksamkeit und die Chance auf zukunftssichere Arbeitsplätze biete.

    Am Ende der sechsstündigen Anhörung stimmte das zuständige Gremium mit drei zu eins für den Antrag der beiden Unternehmen. Einer derjenigen, der dafür stimmte, hatte zuvor in der Rechtsabteilung von Cruise gearbeitet, was den demokratischen Abgeordneten von San Franciscos drittem Distrikt zu dem Kommentar veranlasste: »Die CPUC hat San Francisco an Lobbyisten verkauft«.

    Bei der Genehmigung der Erweiterung legte die Kommission am 10. August einige Richtlinien fest: Waymo darf ab sofort die Geschwindigkeit auf maximal 65 Meilen pro Stunde erhöhen und auch bei schlechtem Wetter fahren. Cruise hingegen wird auf 35 Meilen pro Stunde gedrosselt und darf zunächst nur bei guten Sichtverhältnissen unterwegs sein. Ein erster Hinweis darauf, dass die beiden Firmen über unterschiedliche Erfahrungen verfügen. Cruise traut die CPUC weniger zu als Waymo.

    Waymo und Cruise gelten als die beiden vielversprechendsten Mitbewerber bei der Kommerzialisierung von Robotaxis in den USA, wobei Waymo eindeutig vorne liegt – was sich in den unterschiedlichen Auflagen der Stadt San Francisco niederschlägt. Nach Bekanntwerden der Entscheidung wollte sich zunächst keines der Unternehmen festlegen, wann und wie sie gedenken, ihre Dienste tatsächlich im gesamten Stadtgebiet rund um die Uhr anzubieten.

    Grenzen und Unfälle

    Immer wieder kommt es zu – teilweise kuriosen – Fehlleistungen der Technik: Im Januar fuhr ein Cruise-Fahrzeug in ein Gebiet, in dem Feuerwehrleute aus San Francisco einen Brand bekämpften. Das Fahrzeug war nicht in der Lage, die auf der Straße verlaufenden Feuerwehrschläuche vom Untergrund zu unterscheiden. Feuerwehrleute mussten erst die Frontscheibe des Robotaxis einschlagen, um es an der Weiterfahrt zu hindern, wie aus einem Bericht der Verkehrsbehörden von San Francisco hervorgeht. Zuletzt war ein Cruise-Fahrzeug in flüssigem Beton gelandet.

    An ihre Grenzen kommt die Technologie derzeit noch bei schlechtem Wetter. Starker Regen, Schneefall oder Nebel bereiten den autonomen Fahrzeugen große Schwierigkeiten. Dank der GPS-Systeme können sie dann zwar noch die Strecke entlangfahren, erkennen aber Hindernisse nicht mehr so leicht. Bei trockener Fahrbahn und Sonne funktionieren die Sensoren besser, Spiegelungen durch nasse Fahrbahnen oder fehlende Markierungen hingegen irritieren das System. Auch aus diesem Grund wird viel in sonnigen US-Staaten wie Arizona oder Kalifornien getestet.

    Die Unternehmen müssen regelmäßig alle Fälle protokollieren, in denen es zu einem »Disengagement« (Abkopplung) kommt, wenn ein automatisiertes Fahrzeug die Verantwortung an die Leitstelle abgibt, nicht mehr weiter weiß oder es in einen Unfall verwickelt ist. Diese müssen an die kalifornische Kfz-Behörde DMV (Department of Motor Vehicles) gemeldet werden. Selbst kuriose Fälle wie eine kaputte Frontscheibe nach einem Golfballeinschlag finden ihren Weg in die Sicherheitsaufzeichnungen. Zuletzt mussten Waymo und Cruise nur alle 50.000 Kilometer eingreifen. Kritiker wie das Center for Auto Safety bemängeln indes, dass die Kriterien für das »Disengagement« jeweils von den Unternehmen selbst bestimmt werden.

    Fast jeder einzelne Unfall mit einem Roboterfahrzeug schafft es jedoch in die Nachrichten, z. B. jüngst der Fall, bei dem ein auf die Straße gelaufener Hund von einem Waymo-Fahrzeug überrollt worden war. Dadurch entsteht der Eindruck, die Fahrzeuge seien ständig in Unfälle verwickelt und die Technologie überaus störanfällig.

    Vorbildlich und regelkonform

    Tatsächlich sind Robotertaxis im Vergleich zu klassischen Taxis recht häufig in Unfälle verwickelt – entweder weil ihr Fahrverhalten für Menschen ungewohnt ist oder weil diese aktiv versuchen, die Maschinen zu überlisten und auszunutzen. Denn die Computer halten sich strikt an Geschwindigkeitsbegrenzungen und andere Verkehrsregeln – was Menschen, die es eilig haben, zur Weißglut bringen kann. Bei 90 Prozent der Vorfälle mit Roboterautos tragen denn auch die menschlichen Unfallgegner die Hauptschuld. Bei Waymo und Cruise kam es noch zu keinen schweren Unfällen mit Personenschaden, bei denen die Schuld beim Robotaxi lag.

    Hier tut sich eine große Lücke zwischen der Wahrnehmung – meist männlicher Autofahrer – und den tatsächlichen Gefahren auf. Ähnlich wie Frauen, die – das kann jede Versicherung bestätigen – die besseren Autofahrer sind, sind auch Robotaxis vorbildlich, was ihre Sicherheitsbilanz angeht, dank defensiver Fahrweise. Doch das beeindruckt die überwiegend männlichen Autofahrer wenig, die halten sich gegen jede Statistik für die besten Fahrzeuglenker, ungeachtet der Tatsache, dass die meisten viel zu riskant fahren.

    Kurz nach der Entscheidung der CPUC kam es dann aber doch zu einem schweren Unfall mit einem Cruise-Fahrzeug: In der Nacht des 18. August 2023 kollidierte ein fahrerloses Cruise-Taxi auf einer Kreuzung mit einem Feuerwehrfahrzeug, das auf der Gegenfahrbahn unterwegs war. Der Fahrgast wurde mit leichten Verletzungen in ein Krankenhaus gebracht. Daraufhin forderte die Stadt San Francisco Cruise auf, die Anzahl der eingesetzten Fahrzeuge vorerst zu reduzieren. Bis die Untersuchungen abgeschlossen sind, wird Cruise nun tagsüber maximal 50 und nachts bis zu 150 Robotertaxis auf den Straßen einsetzen. Dies entspricht einer Reduzierung um 50 Prozent.

    Cruise gab sich in einer Presseerklärung zum jüngsten Unfall zuversichtlich: Davor seien Cruise-Wagen allein in diesem Jahr mehr als 168.000 Mal Rettungsfahrzeugen begegnet – ohne katastrophale Folgen. Trotz solcher Rückschläge arbeitet die Zeit bzw. die Menge an Trainingsdaten, mit denen die KI-Algorithmen der Fahrsoftware gefüttert werden, für die Unternehmen. Das Kalkül lautet: Je mehr Kilometer gefahren werden, je mehr unerwartete Spezialsituationen im realen Betrieb auftreten, desto besser für die Performance des Gesamtsystems in der Zukunft. »Es geht definitiv viel langsamer voran, als die Leute 2017 erwartet hatten«, sagte der Branchenanalyst Sam Abuelsamid. »Aber das bedeutet nicht, dass es keine Fortschritte gibt.«

    Bedrohlich ist das Geschäftsmodell in erster Linie für das klassische Taxi, Uber und Lyft. Waymo und Cruise treten in direkten Wettbewerb mit ihnen. Die Tarife liegen bei etwa der Hälfte dieser Anbieter. Es kommt aber auch zu Kooperation. Im Laufe dieses Jahres sollen Uber-Nutzer in Phoenix die Möglichkeit erhalten, die selbstfahrenden Taxis von Waymo über die Uber-App zu ordern, teilte Waymo im Mai mit. Ähnlich wie Uber zählt vermutlich auch der öffentliche Linienverkehr zu den Leidtragenden und muss mit Fahrgasteinbußen rechnen.

    »Gamechanger« für den Verkehr

    Die Robotaxis beschleunigen auch den Umstieg auf elektrische Fahrzeuge. Denn Kalifornien hat 2021 ein Gesetz verabschiedet, das vorschreibt, dass bis 2030 alle auf öffentlichen Straßen fahrenden autonomen Fahrzeuge elektrisch sein müssen. Waymo stellt derzeit seine Flotte auf batterieelektrische Fahrzeuge um, Cruise ist von Anfang an mit batterieelektrischen Chevrolet Bolts unterwegs, auch das von der Amazon-Tochter Zoox speziell gebaute Robotaxi ist vollelektrisch unterwegs.

    Sind Robotaxis also doch nicht so schlecht? Ist ihr Betrieb perspektivisch eine fortschrittlichere Alternative zum privaten Pkw-Verkehr und dem mehr und mehr als Resterampe fungierenden öffentlichen Nahverkehr? Für diejenigen also, die sich »richtige Mobilität«, sprich das eigene Auto, nicht leisten können?

    Der US-Mobilitätsforscher Daniel Sperling, der auch die kalifornischen Behörden berät, sieht darin eine der »drei Revolutionen« (Elektrifizierung, Automatisierung und Ridesharing) im Verkehrssektor. Ihm zufolge »könnte die Automatisierung zu einer dramatisch sichereren, saubereren, erschwinglicheren und zugänglicheren Mobilität führen«. Beim Robotaxi sei das Fahrzeug nur noch »Mittel zum Zweck«, meint Karsten Schulze, Geschäftsführer des Chemnitzer Unternehmens FD Tech. »Waymo und andere beschreiten bewusst einen neuen Weg, wollen bewusst neue Fahrzeugkonzepte auf die Straße bringen, die das Konzept Mobilität grundsätzlich neu denken. Das Integrationskonzept muss ein gesellschaftliches sein.« Auch die Verkehrsforscher Weert Canzler und Andreas Knie sehen in dem »öffentlichen Auto auf Zuruf, dem ›Bestellauto‹, das automatisch dorthin fährt, wo es gebraucht wird« eine Mobilitätsform der Zukunft. Der Berliner Verkehrsprofessor Andreas Knie sieht die Chance, die Robotaxis zum »Gamechanger« für den öffentlichen Verkehr zu machen.

    So gesehen passt das »betreute autonome Fahren« mit fahrerlosen Flotten grundsätzlich gut zur Mobilitätswende, zu autofreien Stadtvierteln und Kiezen. Aber auch auf dem Land machen solche Systeme Sinn, dort können sie selten und oft leer fahrende Linienbusse ersetzten.

    In Deutschland werden wir aber auf absehbare Zeit keine Chance bekommen, Hütchen auf fahrerlose Fahrzeuge zu plazieren. Zwar gibt es seit Jahren Testläufe mit autonomen Shuttles wie auf dem Gelände der Berliner Charité. Doch sind immer die gleichen Fahrzeuge mit Sicherheitspersonal im Schneckentempo auf festen Routen unterwegs.

    Die Autoindustrie will nicht oder kann nicht – sie haben genug Probleme mit dem Kerngeschäft angesichts rapider Elektrifizierung, dem Einbruch des chinesischen Marktes und Lieferkettenproblemen. Die Hersteller hierzulande konzentrieren sich weiterhin auf die Weiterentwicklung von Fahrassistenzsystemen, die in ihren Premiumfahrzeugen für den privaten Gebrauch zum Einsatz kommen.

    Bleiben die Verkehrsunternehmen. Der Verband der Verkehrsunternehmen in Deutschland (VDV) kündigt immer wieder Pilotprojekte an, die schließlich zu einem in den öffentlichen Verkehr integrierten autonomen Betrieb führen sollen. Bislang sind viele Fördergelder geflossen, von Regelbetrieb gibt es aber noch keine Spur – und das, obwohl 2021 ein Gesetz zum autonomen Fahren verabschiedet wurde, das den sogenannten Level-4-Verkehr (Fahrzeuge der vierten Automatisierungsstufe) ermöglicht. Auch bei den Fahrzeugen hapert es. Zwar ist die Zulassung von Level-4-Fahrzeugtypen laut Gesetz möglich, bislang hat sich aber noch kein Hersteller um eine solche Zulassung auch nur bemüht, geschweige denn, dass solche Fahrzeuge auf dem Markt verfügbar wären.

    Falscher Protest?

    So sympathisch die kalifornischen Hütchenspiele auch sein mögen, treffen sie die richtigen? Denn die Sabotage der neuen Maschinen des digitalen Kapitalismus spielt möglicherweise dem fossilen, autozentrierten Status quo in die Hände. Wer gegen Robotaxis, Elektroautos, Uber und sonstige Innovationen des digitalen Kapitalismus auftritt, läuft Gefahr, dem klassischen Taxi, dem fossil betriebenen Auto wie den bestehenden Verkehrssystemen und Antriebsarten Schützenhilfe zu leisten bzw. Rückendeckung zu geben.

    Bekämpfen die Hütchenspieler also ähnlich wie die Ludditen die Technologie statt die gesellschaftlichen Verhältnisse, in denen sie zum Einsatz kommen? Sollte es nicht darum gehen, dem neuen Verkehrssystem erst richtig zum Durchbruch zu verhelfen, das private Auto tendenziell abzuschaffen und damit den Weg freizumachen für einen öffentlichen Verkehr, zu dem autonome Flotten dazugehören? Und, last, but not least, gilt es nicht eher, die Digitalkonzerne – wie Marx es wohl getan hätte – auf der einen Seite für ihre emsige Entwicklung der Produktivkräfte zu loben und auf der anderen auf ihre Vergesellschaftung hinzuarbeiten?

    Timo Daum ist Sachbuchautor und wissenschaftlicher Mitarbeiter der Forschungsgruppe Digitale Mobilität und gesellschaftliche Differenzierung am Wissenschaftszentrum Berlin. Er schrieb an dieser Stelle zuletzt am 25. April 2022 über Industrie als »Zweite Natur«.

  • Cemal Altun : Mörderische Systeme
    https://www.jungewelt.de/artikel/457981.cemal-altun-m%C3%B6rderische-systeme.html

    Je ne sais plus combien de camarades ont péri de mon vécu avant Cemal par la police et la justice du régime capitaliste allemand. Pas loin de chez moi on a assassiné à coup de feu Benno Ohnesorg et Georg von Rauch, Klaus-Jürgen Rattay a été écrasé par un bus pendant sa fuite de la police, d’autres ont perdu leur vie dans les prisons, mais la tragédie du camarade turc nous a fait connaître les machinations de l’association de malfaiteurs composée de militaires fascistes turcs et le gouvernement post-nazi de Bonn.

    30.8.2023 von Cem Kara - Morgenstunden des 30. August 1983. Im sechsten Stock des Verwaltungsgerichts in Berlin-Charlottenburg soll der zweite Prozesstag der fünf Tage zuvor begonnenen mündlichen Verhandlung gegen Cemal Kemal Altun stattfinden. Als Asylberechtigter anerkannt, drängt die deutsche Politik auf die Aufhebung der Anerkennungsentscheidung. Er soll der Militärdiktatur in der Türkei übergeben werden. Jenem Folterregime, vor dem er in der Bundesrepublik Deutschland Zuflucht gesucht hatte. Cemal, seit über 13 Monaten in Einzelhaft, wird in Handschellen in den Verhandlungssaal geführt. Dann nimmt man sie ihm ab. Er läuft zum Fenster und springt. Cemal stirbt. Sechs Monate nach seinem Tod wird ihm Asyl zugesprochen.
    Flucht vor der Junta

    Der 1960 in der Nähe der Stadt Samsun geborene Cemal wuchs unter der Fürsorge seines älteren Bruders Ahmet Altun auf, der sich unter anderem im Rahmen der Köy-Koop (Dorfkooperativen) für landlose Bauern einsetzte. Dies und die Zugehörigkeit seiner Familie zur sozialdemokratischen CHP (Republikanische Volkspartei) führten dazu, dass sich Cemal früh politisierte und sich an der Gründung eines Studentenvereins in Ankara beteiligte sowie für die dortige Köy-Koop tätig wurde. Nach seiner Schulzeit begann er im Jahr 1978 ein Studium an der Fakultät für politische Wissenschaften in Ankara und wurde im Ministerium für Staatsbetriebe eingestellt. Er engagierte sich bei der Beamtengewerkschaft TÜM-Der (Einheits- und Solidaritätsverein aller Beamten) und setzte sein Engagement in studentischen Strukturen innerhalb der »Föderation progressiver Studenten« fort.

    Die Türkei der 1970er Jahre war von verschiedenen Regierungswechseln geprägt. Ende 1979 löste eine Minderheitsregierung unter Süleyman Demirel die CHP unter Bülent Ecevit ab. Es folgten die Auflösung des Ministeriums für Staatsbetriebe und die Versetzung von Cemal ins Ministerium für Forstwirtschaft. Ahmet Altun beschrieb die Situation wie folgt: »Als zu dem von der MHP (Partei der Nationalistischen Bewegung) und ihren Untergrundorganisationen gegen Vereine, Gewerkschaften und andere demokratische Massenorganisationen ausgeübten zivilen faschistischen Terror nun zusammen mit der ›neuen politischen Macht‹ noch der Staatsterror hinzukam, wurden die Organisationen, in denen mein Bruder war, der Reihe nach geschlossen und ihnen die Möglichkeit genommen, legal zu arbeiten.«¹ Doch Cemal setzte seine Tätigkeiten in den illegalisierten Strukturen fort.

    Am 12. September 1980 putschte sich das türkische Militär unter der Führung von General Kenan Evren an die Macht, um die erstarkende Arbeiterbewegung und ihre Organisationen zu zerschlagen. Bei diesem bis dato dritten Putsch seit Gründung der Republik Türkei im Jahr 1923 ordnete die Militärführung das Verbot aller Parteien an und untersagte die politische Betätigung von Gewerkschaften. Verschiedene türkische Zeitungen zogen eine Bilanz der Repression nach dem Putsch und dokumentierten, dass es zu 650.000 Festnahmen kam, wobei 230.000 Menschen vor Gericht gestellt wurden. Darüber hinaus wurden 14.000 Menschen ausgebürgert, 30.000 Menschen mussten das Land verlassen, 74 Menschen starben bei Gefechten, 14 in Hungerstreiks, 171 Menschen wurden zu Tode gefoltert, und 50 Menschen wurden gehängt, darunter der erst 17jährige Revolutionär Erdal Eren. Hinsichtlich der öffentlichen Kritik an der Hinrichtung eines Minderjährigen äußerte sich Kenan Evren mit einer für die Mentalität der Militärs typischen Bemerkung: »Wir sollen ihn nicht hängen, sondern durchfüttern?«

    Die Auswirkungen des Putsches hatten natürlich auch Folgen für Cemal. Er konnte seine politische Arbeit nicht einmal mehr illegal fortsetzen. Zudem wurden einige seiner Freunde inhaftiert. Wie viele andere Menschen, die aus ökonomischen und politischen Gründen zur Emigration getrieben werden, suchte auch er Zuflucht in Europa.

    Er ließ sich einen Pass ausstellen und verließ das Land am 8. November 1980, indem er zunächst nach Rumänien flog, da es dort keinen Visumzwang für türkische Staatsbürger gab. Von Rumänien aus reiste er weiter nach Bulgarien, wo er für einige Wochen unterkam. Dann wurde er von seinem Bruder Ahmet Altun in dessen Auto mitgenommen und durchquerte Rumänien, Ungarn, die damalige Tschechoslowakei und die DDR, bevor er schließlich in Westberlin ankam, wo er am 10. Januar 1981 eintraf.

    Cemal lebte in Westberlin in der Hoffnung, irgendwann in die Türkei zurückkehren zu können, und hielt sich bezüglich der dortigen Situation auf dem laufenden. Aus türkischen Zeitungen erfuhr er schließlich, dass in der Türkei gegen ihn im Zusammenhang mit der Erschießung des stellvertretenden Generalvorsitzenden der faschistischen MHP, Gün Sazak, der »während seiner Amtszeit das Land (außerhalb der Armee) in ein Waffenlager verwandelt hatte«², ermittelt wurde. Dieser Vorfall ereignete sich am 27. Mai 1980, als die marxistisch-leninistische Devrimci Sol (Revolutionäre Linke) den ehemaligen Minister für Staatsmonopole und Zollwesen tötete. Sie sah in ihm eine führende Figur innerhalb der faschistischen Bewegung, die die landesweite zivil-faschistische Organisation vorantrieb.³ Die Zeitungsberichte deuteten außerdem darauf hin, dass sein Bruder Ahmet Altun, der im Exil in Frankreich lebte, und somit auch die CHP in die Angelegenheit verwickelt wurden.
    Denunziert und eingesperrt

    Angesichts dieser Entwicklung und auf Rat seines Bruders entschied sich Cemal, Asyl in der Bundesrepublik zu beantragen, da eine Rückkehr in die Türkei nicht mehr zur Debatte stand. Er begann Sprachkurse zu belegen und bereitete sich auf die Fortsetzung seines in der Türkei abgebrochenen Studiums vor.

    Am 7. September 1981 stellte Cemal einen Asylantrag, nachdem er einen Anwalt hinzugezogen hatte. Bei seinem Anwalt handelte es sich um Wolfgang Wieland, der Mitglied bei der Alternativen Liste (AL) war und den er bereits zuvor konsultiert hatte, insbesondere in bezug auf seinen illegalen Aufenthaltsstatus in Deutschland.

    Die Berliner Staatsschutzabteilung, die vom Antrag erfahren hatte, leitete diese Information an das BKA Wiesbaden weiter, das im Mai 1982 den Inhalt des Antrags an Interpol Ankara übermittelte und sich gleichzeitig erkundigte, ob Interesse an einem Auslieferungsantrag bestünde. Darauf antwortete Interpol Ankara, dass Cemal in der Türkei gesucht werde. In etwa zur selben Zeit, nämlich am 18. Mai 1982, erließ das Zweite Militärgericht in Ankara einen Haftbefehl gegen Cemal wegen Mordverdachts.

    Die Festnahme Cemals erfolgte am 5. Juli 1982. Nach 17 Tagen Haft ohne richterlichen Beschluss erließ das Kammergericht schließlich die vorläufige Auslieferungshaft. Wolfgang Wieland schrieb dazu: »Der neue türkische Haftbefehl datiert just vom gleichen Tage. Er sitzt 17 Tage lang, ohne dass es überhaupt einen deutschen Haftbefehl gibt.«⁴ Am 9. September 1982 wurde die endgültige Auslieferungshaft verordnet. Cemal wurde in der Untersuchungshaftanstalt (UHA) Moabit in Einzelhaft eingesperrt. Besuche durften nur in deutscher Sprache stattfinden, und sofern türkische Wörter fielen, wurde der Besuch sofort abgebrochen. Ein Antrag auf Einbeziehung eines Dolmetschers wurde vom Kammergericht abgelehnt.⁵

    Nachdem das Kammergericht am 16. Dezember 1982 die Zulässigkeit der Auslieferungshaft erklärt hatte, wurde sie am 21. Februar 1983 von der Bundesregierung genehmigt. Daraufhin wurde Cemal am 15. März 1983 zwecks Auslieferung aus seiner Zelle im UHA Moabit in den Polizeigewahrsam in der Gothaer Straße verlegt, um ihn anschließend in Frankfurt am Main in ein Flugzeug zu setzen und in die Türkei auszufliegen.

    Rita-Kantemir-Thomä, damaliges AL-Mitglied im Berliner Abgeordnetenhaus, setzte sich intensiv gegen die Auslieferung von Cemal ein und beschrieb die daraufhin entstandene öffentliche Reaktion wie folgt: »Buchstäblich in letzter Minute war die Auslieferung durch eine europaweite Welle von Protesten, Erklärungen und Interventionen gestoppt worden.«⁶ Außenminister Hans-Dietrich Genscher befand sich zu diesem Zeitpunkt in Strasbourg und wurde dort vom Präsidenten des Europäischen Parlaments, Pieter Dankert, mit dem Fall konfrontiert. Von da an verstärkte sich der Protest gegen die Auslieferung Cemals, an der sich neben aus der Türkei stammenden Aktivisten insbesondere die AL und die Grünen beteiligten. Es folgten unter anderem ein Hungerstreik in der Kirche »Zum Heiligen Kreuz« in Berlin, Proteste vor türkischen Vertretungen, Mahnwachen und eine spektakuläre Käfigaktion in Bonn, wobei sich prominente Personen wie Liedermacher Wolf Biermann und die Bundestagsabgeordnete Petra Kelly von den Grünen am 15. Juni 1983 medienwirksam an das Bundeskanzleramt ketteten.

    Während das Bundesverfassungsgericht mittlerweile zwei Verfassungsbeschwerden nicht zur Entscheidung angenommen hatte, ließ die Europäische Kommission für Menschenrechte am 2. Mai 1983 die Beschwerde zu. Am 6. Juni 1983 erkannte das Bundesamt zur Anerkennung ausländischer Flüchtlinge Cemal als Asylberechtigten an.
    »Gute Zusammenarbeit«

    Auf Beschluss des Kammergerichts vom 14. Juni 1983 wurde die Haftdauer fortgesetzt, Cemal verblieb weiterhin in der UHA Moabit in Einzelhaft, und eine erfolgreiche Klage seitens des Bundesbeauftragten für Asylangelegenheiten sollte ihm die Berechtigung wieder aberkennen. Das Verfahren diesbezüglich wurde auf den 25. August 1983 angesetzt. Im Juli berichtete die türkische Presse, dass der deutsche Innenminister Friedrich Zimmermann (CSU) einen Staatsbesuch beim NATO-Partner in Ankara abgehalten habe, wobei er Zusagen hinsichtlich der Auslieferung von Cemal gemacht habe.

    Der Wille der deutschen Regierung, Cemal an die Türkei auszuliefern, hatte somit weiterhin Bestand. Denn die Militärjunta dürfte man in Bonn nicht zuletzt aufgrund der geostrategischen Lage der Türkei, insbesondere nach dem Sturz des Schahs im Iran 1979, als willkommene konterrevolutionäre Kraft in einer für die NATO destabilisierten Region angesehen haben.

    So bat Zimmermann Justizminister Hans Arnold Engelhard (FDP) in seinem Schreiben vom 21. Juli 1983 darum, Cemals Auslieferung zuzustimmen, und legte darin die Gründe dafür offen dar: »Im Interesse der Fortführung einer nach wie vor guten Zusammenarbeit mit der Türkei auf polizeilichem Gebiet, aber auch im Interesse der Glaubwürdigkeit des Auslieferungsverkehrs mit der Türkei insgesamt, bitte ich Sie, die Bewilligungsentscheidung vom 21. Februar 1983 für vollziehbar zu erklären, damit die Auslieferung unverzüglich durchgeführt werden kann.«⁷

    Der ohnehin schon zähe Verwaltungsapparat der BRD, begleitet von spürbarer Fremdenfeindlichkeit und Rassismus in der Gesellschaft, sowie der Wille der Regierung, die Zahl der Asylsuchenden drastisch zu reduzieren, führte durch die Einmischung politischer Instanzen dazu, dass Cemal langsam, aber sicher, immer tiefer in ein aus Hass und Verrat bestehendes System gezerrt wurde.

    Bis zum Beginn der Sommerpause am 15. Juli 1983 war von der Europäischen Menschenrechtskommission weder eine Entscheidung gefällt worden, noch forderte sie die Bundesregierung erneut dazu auf, die Auslieferungsbewilligung auszusetzen. Klaus Kinkel, Staatssekretär im Bundesjustizministerium, erklärte am selben Tag, dass die Bundesregierung an ihrer Auslieferungsentscheidung festhalten werde. Wolfgang Wieland hielt diesbezüglich fest, dass Cemal seinen Besuchern ab dem 15. Juli 1983 sagte, dass er ausgeliefert werde.⁸

    Der Militärputsch in der Türkei hatte zu einer beträchtlichen Fluchtwelle geführt, und in der Folge suchten vermehrt Menschen Zuflucht in Deutschland. Ab 1980 gab es 150 Auslieferungsersuchen durch die Militärdiktatur in der Türkei, wobei die BRD in 20 Prozent der Fälle den Ersuchen nachkam und die Betroffenen auslieferte⁹, darunter Levent Begen, der 23 Tage lang gefoltert wurde, nachdem er trotz schwebenden Asylverfahrens an die Türkei ausgeliefert worden war.¹⁰

    Wussten seinen Tod sogleich richtig einzuschätzen. Teilnehmer des Trauerzugs für Cemal Altun am 4. September 1983 in Westberlin

    Während seiner unermüdlichen Anstrengungen, die Auslieferung Cemals abzuwenden, erfuhr Wieland aus erster Hand, wie mit politischen Dissidenten in der Türkei verfahren wurde. Neben Gesprächen mit Anwaltskollegen aus der Türkei, die Folter am eigenen Leib erlebt hatten, erhielt er einen Brief von Cemals Neffen Yalçın Altun: »Ich befand mich in der Zeit vom 15.1.1982 bis 3.2.1982 hauptsächlich im Polizeipräsidium Ankara und im militärischen Gefängnis Mamak. (…) Ich hörte auf dem Weg zum Verhörraum und zurück zu meiner Zelle bis spät in die Nacht männliche und weibliche Stimmen von gefolterten Menschen. (…) Als es dann Nacht wurde (…), haben sie mich wieder in einen Raum gebracht und dort meine Hände und Füße an eine Latte gebunden (…) und an die Decke gehängt. Sie wollten von mir, dass ich alles, was ich weiß, über meinen Onkel, Cemal Kemal, meinen Vater (…) und meine Freunde detailliert erzähle. Trotz meiner Bitte und Anflehung haben sie meinen Händen und diesmal auch meinem Geschlechtsteil elektrische Stromschläge versetzt. (…) Mit einem Freund zusammen wurde ich zwölf Tage verhört. (…) Deshalb ist die Auslieferung meines Onkels an die Türkei ein großer Irrtum, sogar Mord, aber mindestens sein seelischer Tod.«¹¹

    In den Morgenstunden des 30. August 1983 wurde, wie oben beschrieben, die am 25. August begonnene mündliche Verhandlung gegen Cemal bezüglich der Klage des Bundesbeauftragten für Asylangelegenheiten im sechsten Stock des Verwaltungsgerichts in Berlin-Charlottenburg fortgesetzt. Vor Beginn der Verhandlung nahm sich Cemal das Leben, indem er sich aus einem offenen Fenster stürzte.

    Der Familie und den Beteiligten, die sich auf privater, rechtlicher und politischer Ebene um Cemal gekümmert hatten, wird dieses Ereignis mit Sicherheit als ein zutiefst traumatisierendes Erlebnis in Erinnerung geblieben sein. Nach Monaten der solidarischen Mobilisierung für sein Leben und der Hoffnung, seine Auslieferung abwenden zu können, hatte Cemal schließlich den Entschluss gefasst, sich den autoritären Kräften, die über sein Leben bestimmen wollten, durch seinen eigenen Tod zu entziehen.
    Sein Tod war nicht vergeblich

    Der Tod Cemals und das öffentliche Aufsehen hatten zur Folge, dass Auslieferungen politisch Verfolgter in die Türkei beendet wurden. Allerdings gerieten statt dessen im Laufe der Jahre in der Türkei kriminalisierte Organisationen auf internationale Verbotslisten, so auch in der BRD. Der kurze Zeit nach den Anschlägen vom 11. September 2001 eingeführte Paragraph 129 b Strafgesetzbuch (StGB) stellt eine auf ausländische Organisationen erweiterte Fassung des Gesinnungsparagraphen 129 a dar und ermöglicht den deutschen Repressionsbehörden die Verfolgung und Bestrafung mutmaßlicher Mitglieder der gelisteten Organisationen auf deutschem Boden. In diesem Zusammenhang werden seitdem regelmäßig politische Prozesse in der BRD geführt, wobei die Betroffenen oft mehrere Jahre in Isolationshaft eingesperrt sind, die international von Menschenrechtsorganisationen als weiße Folter eingestuft werden. Das zeigt, dass sich an am partnerschaftlichen Verhältnis zwischen der BRD und der Türkei nichts Grundlegendes verändert hat.

    Die Mobilisierung für Cemal markiert eine wichtige Etappe in der Geschichte der linken Bewegung in Deutschland, die sich aufgrund dieses Falles verstärkt mit dem Thema Antirassismus auseinandersetzte.¹² In diesem Sinne spielte sie keine geringe Rolle bei der Formierung antirassistischer und humanistischer Gruppen, die in den 1980er Jahren entstanden.

    Diesem Umstand ist es vermutlich auch zu verdanken, dass heute gegenüber von jenem Gerichtsgebäude in der Hardenbergstraße 20 ein Gedenkstein steht. Angefertigt vom iranischen Künstler Akbar Behkalam im Jahr 1996, trägt er eine Inschrift, die an Cemal Kemal Altun erinnert und Asyl für alle politisch Verfolgten fordert. Nicht nur dort wird seiner gedacht. In der Kasseler Nordstadt und in Hamburg-Ottensen wurden Plätze nach ihm benannt.

    Anmerkungen

    1 Veronika Arendt-Rojahn (Hg.): Ausgeliefert. Cemal Altun und andere, Reinbeck 1983, S. 26

    2 Ebd., S.27

    3 Zafer Yolunda 1, Istanbul 2000, S. 224

    4 Ausgeliefert, a. a. O., S. 46

    5 Ebd., S. 38

    6 Ebd., S. 35

    7 Schreiben von Innenminister Zimmermann an Justizminister Engelhard vom 21.7.1983, dokumentiert in: ebd., S.182

    8 Ebd., S. 57

    9 Niels Seibert: Vergessene Proteste. Internationalismus und Antirassismus 1964–1983, Münster 2008, S. 183

    10 Ausgeliefert, a. a. O., S.31

    11 Brief von Yalçın Altun an Wolfgang Wieland vom 4. August, dokumentiert in: ebd., S. 58-60

    12 Seibert, Vergessene Proteste, a. a. O., S. 181

    Dror Dayan ist Filmemacher und Filmwissenschaftler. Cem Kara ist Grafiker und Comiczeichner.

  •  »Das hier ist die gezielte Zerstörung der Partei« 
    https://www.jungewelt.de/artikel/457193.niedergang-der-linkspartei-das-hier-ist-die-gezielte-zerst%C3%B6run

    Seize ans après de la fondation du parti de gauche allemand ses fonctionnaires sont en train de détruire Die Linke par leur opportunisme et carrièrisme.

    19.8.2023 von / Interview: Nico Popp - Über die Krise von Die Linke, die Schwäche des linken Flügels und das Projekt des Parteivorstandes. Ein Gespräch mit Julian Eder

    Wie beurteilen Sie die Lage der Partei nach dem angekündigten Rückzug der gesamten Fraktionsspitze?

    Es ist täglich weniger klar, wie es weitergeht. Bei der aktuellen Dynamik kann der angekündigte Parteikonvent schon so etwas wie die letzte Chance sein, eine Spaltung zu verhindern. Für uns ist klar, dass jetzt diejenigen, die keine Spaltung wollen, den Mund aufmachen müssen. Man muss sich den tatsächlichen Spaltern entgegenstellen und nicht immer nur mit Äquidistanz Aufrufe produzieren, dass jetzt mal alle aufhören sollen, sich zu streiten.

    Interessant ist, dass die Idee des Parteikonvents sofort wieder mit Forderungen gekontert wird, jetzt endlich ohne den Wagenknecht-Flügel zu planen.

    Diese Leute wollen diesen Konvent nicht oder wollen ihn allenfalls als Tribunal, das die Spaltung endgültig macht. Man muss sich klarmachen, dass es Akteure in der Partei gibt, die diese Spaltung seit Jahren vorbereiten. Dazu zähle ich auch den ehemaligen Parteichef Bernd Riexinger, der sich ja gerade wieder zu Wort gemeldet hat. Seit 2021 wurde das Projekt forciert. Und jetzt wollen die Schluss machen mit der Partei, wie sie bisher existiert hat. Das »progressive« Netzwerk hat sich allein zu diesem Zweck gegründet. Dazu gehört auch, dass nach Kräften versucht wird, den Vorwurf der vorsätzlichen Spaltung ausschließlich gegen das Wagenknecht-Lager zu richten. Aber diese Leute demaskieren sich mehr und mehr, weil sie jetzt alle Initiativen bekämpfen, die Partei doch noch zusammenzuhalten.

    Was kann denn dieser Parteikonvent noch retten, wenn man davon ausgehen muss, dass bei zahlreichen potentiellen Teilnehmern keinerlei Bereitschaft vorhanden ist, sich zu verständigen?

    Es kommt jetzt einfach darauf an, was die Teile der Partei machen, die sich die ganze Zeit aus diesen Auseinandersetzungen herausgehalten haben. Man muss deutlich machen, dass die Partei zu nichts mehr zu gebrauchen ist, wenn sich die Befürworter von Waffenlieferungen, von NATO und EU durchsetzen. Es muss auch begriffen werden, dass durch eine Spaltung die Bedeutungslosigkeit droht. Diese Teile der Basis müssen diesen Leuten entgegentreten und sie auf offener Bühne auffordern, mit der Zerstörung der Partei aufzuhören. Es handelt sich hier ja strenggenommen nicht um eine Spaltung, die sich politisch entwickelt. Das hier ist die gezielte Zerstörung der Partei durch einen Teil des Apparats. Diejenigen, die das betreiben, haben auch einen Begriff dafür: disruptive Neugründung.

    Müsste man in dieser zugespitzten Situation denn nicht überlegen, Zusammenkünfte zu organisieren, die unabhängig von der Regie des Apparats und des Parteivorstands stattfinden?

    Es ist leider so, dass es keine schlagkräftige bundesweite Vernetzung von Genossinnen und Genossen gibt, die diese Spaltung verhindern wollen und dafür einen eigenen inhaltlichen Ansatz entwickeln. Vielleicht reicht die Kraft, um durchzusetzen, dass an dem geplanten Konvent die Basis sichtbar beteiligt wird. Wir sind aber nicht wirklich in der Lage, diesem Putsch von oben wirklichen Widerstand entgegenzusetzen. Das hat sich zum Beispiel bei der Präsentation der Spitzenkandidatur für die Europawahl gezeigt. Da wird de facto eine Entscheidung des Parteitages vorweggenommen und nebenbei der Bundesausschuss ausgebootet. Und die ziehen das eben durch.

    Im Frühjahr gab es verstärkte Bestrebungen, eine bessere Vernetzung linker oppositioneller Zusammenschlüsse herbeizuführen. Zuletzt hatte ich den Eindruck, dass diese Aktivität wieder nachgelassen hat. Oder täuscht das?

    Wir sind in den vergangenen Monaten schon ein bisschen vorangekommen. Aber es ist alles sehr mühsam. Die Partei hatte nie einen richtigen linken Flügel, nur einzelne linke Zusammenschlüsse. Und in so einer Situation wie der jetzigen kann man den leider auch nicht einfach herbeizaubern.

    Welche Ziele verfolgt Ihrer Ansicht nach die Mehrheit im Parteivorstand?

    Die Floskel, die dort benutzt wird, lautet »moderne Gerechtigkeitspartei«. Mittel- und langfristig geht es darum, die im weitesten Sinne alternativen, kleinbürgerlichen, zum Teil aktivistischen Milieus in den größeren Städten an die Partei heranzuziehen. Also Leute, die überwiegend wirtschaftlich abgesichert sind, denen die ohne Probleme mit der CDU koalierenden Grünen aber zu staatstragend geworden sind. Sozial gibt es da Überschneidungen mit vielen Leuten, die ihren Lebensunterhalt bei der Linkspartei, bei den Fraktionen oder der Rosa-Luxemburg-Stiftung verdienen. Man will für diesen Teil des Kleinbürgertums gewissermaßen die Rolle spielen, die früher die Grünen gespielt haben. Und deshalb versucht man auch alles, um den Wagenknecht-Flügel loszuwerden. Wagenknecht ist mit ihrer Orientierung auf die sogenannten kleinen Leute in diesem grün-alternativ-liberalen Milieu regelrecht verhasst. Dieser Flügel ist auch außen- und friedenspolitisch im Weg, denn dieses Milieu hat kein grundsätzliches Problem mit der EU und mit der NATO, im Gegenteil. Das Funktionärs- und Stiftungsmilieu wiederum denkt sich, dass, wenn Wagenknecht weg ist, noch mehr Posten, Regierungsbeteiligungen und so weiter drin sind. Es geht letztlich um die vollständige Integration in das politische System der Bundesrepublik. Und zumindest in den Metropolen und Stadtstaaten gibt es, wie man in Berlin und Bremen sieht, ja durchaus eine ins Gewicht fallende Basis für ein solches Projekt. Aber das ist eben nicht mehr die Arbeiterklasse.

    Wie sieht es im hessischen Landesverband ein paar Wochen vor der Landtagswahl aus?

    Auch hier werden wir von diesen Auseinandersetzungen überrollt. Der Wahlkampf ist nicht einfach, weil sich viele Genossen zurückziehen. Sie denken sich, wenn der Parteivorstand mir sagt, dass die Strömung, der ich mich zugehörig fühle, in dieser Partei keine Zukunft mehr hat, dann mache ich auch keinen Wahlkampf mehr. Als Zusammenschluss werden wir vorerst noch toleriert, bei Kritik wird abgewiegelt. Darüber, wie es nach dem 8. Oktober mit einer dann möglicherweise noch vorhandenen Rest-Linken weitergeht, will im Moment noch niemand nachdenken.

    Julian Eder ist Sprecher der LAG »Linksrum« im hessischen Landesverband von Die Linke

  • Zeitgeschichte: Holocaust in Saloniki
    https://www.jungewelt.de/artikel/456762.zeitgeschichte-holocaust-in-saloniki.html


    Sadistisches, antisemitisches Spektakel auf dem »Platz der Freiheit« in Thessaloniki (Juli 1942)

    12.8.2023 von Jürgen Pelzer - Innerhalb von fünf Monaten, von Mitte März bis Mitte August 1943, wurde fast die gesamte jüdisch-sephardische Gemeinde Thessalonikis nach Auschwitz deportiert. Im April 1941 hatte die deutsche Invasion zur Kapitulation und Aufteilung Griechenlands in deutsche, italienische und bulgarische Besatzungszonen geführt. Die Deutschen behielten sich neben Athen Thessaloniki vor, das schon vor dem Krieg ins Visier des »Sonderkommandos Rosenberg« geraten war, das sogleich mit der Plünderung von Bibliotheken, Synagogen, Zeitungsredaktionen und Buchhandlungen begann, angeblich, um Material für eine Fachbibliothek zur »Judenfrage« zu sammeln. Die ökonomische Ausplünderung des Landes, namentlich die Requirierung von Lebensmitteln, führte zu hoher Inflation und einer massiven Hungersnot. Der Massenmord an den Juden wurde deshalb verzögert in Gang gesetzt, zumal sich die italienischen Bündnispartner gegen Judenverfolgungen oder gar Deportationen sperrten. Die angestrebte »Endlösung« konnte also zunächst nur in den von den Deutschen besetzten Gebieten stattfinden, und dazu gehörte Thessaloniki, die »Mutter Israels«, wie die Stadt von den jüdischen Einwohnern stolz genannt wurde.
    Antisemitische Hetze

    Auf die Verbreitung judenfeindlicher Parolen in Cafés und Restaurants, die Schließung jüdischer Zeitungsredaktionen, die Vertreibung der Juden aus ihren Häusern und willkürliche Enteignungen folgten die Plünderung der Kunstschätze der Gemeinden, die Erniedrigung von Rabbinern und die Erschießung »jüdischer Bolschewisten«. Im Juli 1942 wurde ein sadistisches Spektakel auf dem zentralen »Platz der Freiheit« veranstaltet: Um die männliche jüdische Bevölkerung für zivile Arbeiten heranzuziehen, versammelte der für Nordgriechenland zuständige Wehrmachtskommandeur Curt von Krenzki 10.000 Männer an einem Sonnabend, ließ sie stundenlang in der Sonne stehen und setzte sie grausamer Behandlung, Schlägen und Verhöhnungen aus. Wehrmachtsführung und -verwaltung, Sicherheitsdienst (SD), SS und das »Kommando Rosenberg« zogen an einem Strang, auch wenn sie verschiedene Zwecke verfolgten. So forderte die Wehrmacht Arbeitskräfte für die angeblich notwendige Verbesserung der militärischen Infrastruktur an, ließ sich dann aber eine Freistellung von der Zwangsarbeit hoch bezahlen. Im Dezember 1942 nahmen sich die Deutschen den großen jüdischen Friedhof im Osten der Stadt vor, dessen schrittweise Verlegung in langwierigen Verhandlungen zwischen Stadtverwaltung und jüdischer Gemeinde ins Auge gefasst worden war. Die Deutschen ordneten nun kurzerhand den Abriss des Friedhofs an und verwendeten die Grabsteine für den Bau von Straßen und Befestigungsanlagen. Die gewaltige Nekropole bot bald, wie ein Augenzeuge berichtet, den »Anblick einer schwer bombardierten oder von einem Vulkanausbruch zerstörten Stadt«.

    Anfang 1943 wurde der SS-Offizier Dieter Wisliceny von Adolf Eichmann nach Thessaloniki geschickt, um das »Judenproblem« in kürzester Frist zu lösen. Systematisch wurden Juden zunächst ausgeplündert, ihrer Wohnungen beraubt und in das als Ghetto dienende Baron-Hirsch-Viertel in der Nähe des Bahnhofs eingewiesen. Es galt eine Ausgangssperre, der gelbe Stern mit der Aufschrift »Evraios« (Jude) musste getragen werden, Gespräche mit Nichtjuden waren verboten. Das ganze Arsenal der antisemitischen NS-Gesetzgebung wurde aufgeboten, um Juden und Jüdinnen vom Rest der Stadt zu isolieren. Anfang März teilte Wisliceny dem Oberrabbiner Zvi Koretz mit, dass Eichmann die Deportation der gesamten jüdischen Gemeinde angeordnet habe. Der Appell, jüdische Arbeiter in Griechenland einzusetzen, fruchtete nichts. Auch ein Besuch beim griechischen Ministerpräsidenten Ioannis Rallis verlief ohne Ergebnis.

    Insgesamt wurden 48.000 Juden und Jüdinnen in Viehwaggons nach Auschwitz deportiert. Die Fahrt dauerte jeweils fünf Tage. Etwa 37.000 Menschen wurden sofort nach ihrer Ankunft in den Gaskammern ermordet, weitere 8.000 bis 9.000 gingen an Zwangsarbeit, Krankheiten und Unterernährung zugrunde. Am Ende des Krieges bestand die sephardische Gemeinde Thessalonikis praktisch nur noch aus einer kleinen Gruppe von etwa 1.200 Menschen.

    Einem ähnlichen Schicksal waren nach der deutschen Übernahme der italienischen Besatzungszone auch die anderen auf antike Zeiten zurückgehenden jüdischen Gemeinden ausgeliefert, wenn sie nicht – wie etwa in Athen oder auf der Insel Zakynthos – von mutigen Bürgermeistern, griechisch-orthodoxen Geistlichen oder anderen nichtjüdischen Griechen geschützt, gewarnt oder versteckt wurden. Dass das Ziel der Deportationen in der massenhaften Ermordung bestand, stellte sich auch hier sehr bald als traurige Gewissheit heraus.

    Unwiederbringlich zerstört

    Man hatte den Deportierten in Thessaloniki erzählt, sie würden »umgesiedelt«, um in Polen eine jüdische Stadt zu gründen. Gold und Schmuckstücke wurden ihnen abgenommen. Geld musste in polnische Złoty gewechselt werden, wofür sie eine Quittung erhielten. Tatsächlich floss dieses Geld auf ein Konto bei der Griechischen Nationalbank, auf das die Deutschen Zugriff hatten. Im März 1943 wurde auch eine sogenannte Treuhandstelle eingerichtet, um die zwangsweise verlassenen jüdischen Wohnungen, Geschäfte, Unternehmen und anderen Vermögenswerte zu übernehmen. Dies führte zu chaotischen Zuständen. Die örtliche Wehrmachtsverwaltung ließ es zu, dass trotz der Wohnungsnot Gebäude abgerissen wurden und die neuen Eigentümer nach versteckten Schmucksachen oder anderen Schätzen suchten. Die Deutschen nutzten die zahlreichen Synagogen zur Unterbringung ihrer Pferde, plünderten sie oder sprengten sie in die Luft. Hätten die ursprünglichen Bewohner zurückkehren können, hätten sie nur noch die Ruinen ihrer einstigen Heimstätten vorgefunden.

    Einst aus Spanien (daher »sephardisch«) geflohen, hatte die Juden und Jüdinnen Thessalonikis ihre Kultur und ihr altkastilisches »Ladino« bewahrt und ihren Beitrag dazu geleistet, die mittelmeerische Metropole zu einer blühenden, verschiedene Ethnien beherbergenden Handelsstadt zu machen. Diese Tradition wurde unwiederbringlich zerstört. Heute erinnern nur noch Gedenksteine und Museen an das jüdische Leben der Stadt. Eingerichtet wurde auch eine digitalisierte Sammlung von Berichten und Erinnerungen an die Jahre der von Raub und Zerstörung, von Massenmord und Massakern gekennzeichneten Besatzung.
    »Aussiedlung« in die Vernichtung

    »Die Aussiedlung der hiesigen etwa 56.000 Personen zählenden Juden griechischer Staatsangehörigkeit hat heute mit dem Abtransport von 2.600 Personen von Saloniki nach dem Generalgouvernement begonnen. Es ist in Aussicht genommen, wöchentlich vier Transporte durchzuführen, so dass die ganze Aktion in etwa sechs Wochen beendet sein wird. Das bewegliche und unbewegliche Vermögen der ausgesiedelten Juden wird beschlagnahmt und einem Fond zugeführt, aus welchem die Transportkosten bestritten und die Schulden bezahlt werden. Die Geschäfte der Ausgesiedelten werden bis auf weiteres durch eingesetzte griechische Treuhänder weiterbetrieben. (…)

    In den Besprechungen mit den zuständigen hiesigen deutschen Stellen ist von diesen darauf hingewiesen worden, dass der Zweck der Aussiedlungsmaßnahme, die Sicherung des von den deutschen Truppen besetzten nordgriechischen Gebietes, nicht erreicht würde, wenn den nicht-griechischen Juden der Aufenthalt weiter erlaubt bliebe. (…)

    Der Bevollmächtigte des Reichs für Griechenland in Athen erhält Durchdruck dieses Berichts.«

    Fritz Schönberg, deutscher Generalkonsul in Saloniki, am 15. März 1943 an das Auswärtige Amt über die Deportation jüdischer Bürger, zitiert nach: Martin Seckendorf und Bundesarchiv Koblenz (Hg.): Europa unterm Hakenkreuz, Band 6. Die Okkupationspolitik des deutschen Faschismus in Jugoslawien, Griechenland, Albanien, Italien und Ungarn. Berlin/Heidelberg 1992, S. 226 f.

    https://die-quellen-sprechen.de/14-210.html

    Generalleutnant Curt von Krenzki (1888–1962), Berufssoldat; Juli 1941 bis Jan. 1943 Befehlshaber Saloniki-Ägäis und Leiter der Feldkommandantur 395 (Thessaloniki), Jan. 1943 bis Sept. 1943 Führerreserve, Sept. 1943 bis Okt. 1944 Kommandant des rückwärtigen Armeegebiets 584; Aug. 1945 bis Okt. 1955 in sowjet. Gefangenschaft.

    Dok. 14-148

    Der Chef der deutschen Militärverwaltung in Serbien Harald Turner unterrichtet am 11. April 1942 den SS-Führer Karl Wolff in einem privaten Brief über die Ermordung von Frauen und Kindern aus dem Lager Semlin bei Belgrad

    Bekanntmachung vom 10. Juli 1942, dass alle männlichen Juden Thessalonikis zum Appell auf der Platia Eleftherias anzutreten haben

    Appell an alle Israeliten im Alter von 18–45 Jahren

    Auf Anordnung des Militärbefehlshabers Saloniki-Ägäis werden alle in Thessaloniki lebenden männlichen Israeliten [...] von 18 bis 45 Jahren aufgefordert, am 11. Juli 1942 um 8.00 Uhr vormittags auf der Platia Eleftherias zu erscheinen. Als Israelit wird betrachtet, wer der israelitischen Rasse angehört, gleichgültig welcher Religion er ist. Ausweispapiere müssen mitgeführt werden. Israeliten italienischer oder spanischer Staatsangehörigkeit sind ausgenommen. Nichterscheinen wird mit Geldstrafe und Haft im Konzentrationslager bestraft.

    Wilhelm List
    https://de.m.wikipedia.org/wiki/Wilhelm_List

    ...
    Als Oberbefehlshaber der 14. Armee nahm List am Überfall auf Polen 1939 teil und erhielt am 30. September das Ritterkreuz des Eisernen Kreuzes.[4] Beim Westfeldzug unterstand sein jetzt in 12. Armee umbenannter Großverband der Heeresgruppe A im Zentrum der Front. Für seinen wesentlichen Anteil am Sieg über Frankreich wurde er am 19. Juli 1940 zum Generalfeldmarschall befördert (ebenso 11 weitere Generäle).

    Im Balkanfeldzug mit Beginn am 6. April 1941 war List Oberbefehlshaber der 12. Armee und in dieser Stellung Chef der gesamten deutschen Bodenoperationen gegen Griechenland und Ostjugoslawien. Am 21. April nahm List die griechische Kapitulation entgegen, nachdem bereits am 17. April das Königreich Jugoslawien kapituliert hatte.
    ...
    Nach dem Abschluss des Balkanfeldzuges wurde List Wehrmachtbefehlshaber Südost. In dieser Funktion unterstanden ihm die Militärbefehlshaber Serbien sowie Nord- und Südgriechenland. Am 4. Oktober 1941 gab er den Befehl, Sammellager für Geiseln zu errichten, um diese beim Widerstand von Partisanen zu erschießen.[5] Aufgrund einer Erkrankung gab List seinen Posten im Oktober 1941 wieder ab.

    Verbrechen der Wehrmacht
    https://de.m.wikipedia.org/wiki/Verbrechen_der_Wehrmacht

    Die Wehrmacht stellte ihre Infrastruktur, unter anderem das europaweite Wehrmachttransportwesen, vielfach für die Judendeportationen zur Verfügung, so etwa für die Transporte der französischen Juden und griechischen Juden ins KZ Auschwitz.

    #histoire #nazis #Grèce #holocaust #Wehrmacht

  • Krieg in der Ukraine : Keine Lust auf Krieg
    https://www.jungewelt.de/artikel/456251.krieg-in-der-ukraine-keine-lust-auf-krieg.html
    On s’en doutait : beaucoup d’Ukrainiens partent en guerre malgré eux. Ça rassure. Si on avait cru les médias occidentaux et russes on ne pouvait que gagner l’impression que les Ukrainien étaient des felés qui n’avaient fait qu’attendre le bon moment pour se constituer en nation en se battant contre des égorgeurs russes encore plus avides de sang qu’eux. Finissons-en avec les mythes anti-slaves. Ces gens là sont comme nous, comme tous les hommes du monde : Il y a toujours et partout un nombre suffisant de « Drückeberger » pour continuer à croire que l’être humain est raisonnable et humain. Ayant fait ce constat on peut s’exclamer : Vive l’ Ukraine ;-)

    5.8.2023 von Reinhard Lauterbach - Es war ein auf das patriotische Publikum berechneter Aufreger. Der ehemalige ukrainische Parlamentsabgeordnete und extrem rechte Journalist Igor Mossijtschuk hat im Juni den Leiter des Wehrersatzamtes von Odessa an den Pranger gestellt: Nur zehn Monate nach Beginn des Krieges habe sich Jewgenij Borissow in Spanien eine Villa für vier Millionen Euro gekauft. Außerdem habe er seiner Frau einen Fuhrpark von vier Luxusautos und seiner Schwiegermutter ein Appartement in Spanien geschenkt. Mittlerweile sitzt Borissow, dessen Aufgabe das Rekrutieren von Soldaten war, in Haft und hat sich offensichtlich entschieden, mit den Behörden zu kooperieren. So kommen immer mehr Einzelheiten über die systemische Korruption im ukrainischen Militärapparat ans Licht.

    Dass die Unlust, in den Krieg zu ziehen, in der männlichen Bevölkerung offenbar stark gestiegen ist, sieht man in erster Linie an den höheren Kosten für die Ausstellung einer gefälschten Untauglichkeitsbescheinigung. Nach Berichten des ukrainischen Nachrichtenportals strana.ua, das sich auf Aussagen von Insidern des Apparats beruft, lagen sie in den ersten Kriegswochen bei etwa 3.000 US-Dollar pro Person, inzwischen müsse man landesweit 6.000 bis 7.000 und in den Großstädten bis zu 15.000 Dollar für ein solches Dokument bezahlen. Das Bedürfnis von Männern, dem Kriegsdienst zu entgehen, treffe hier mit dem Bedürfnis von Beamten und Offizieren zusammen, schnell reich zu werden. Zu Beginn des Krieges seien die Abkömmlichkeitsbescheinigungen vor allem an die in harten Devisen entlohnten ukrainischen Seeleute verkauft worden, später habe man sich als nächste kaufkräftige Gruppe IT-Spezialisten vorgenommen. Indirekt bestätigt werden die Berichte durch eine Beschwerde von ganz anderer Seite: Ein Kommandeur des Naziregiments »Asow« beklagte sich unlängst auf seinem Telegram-Kanal über die »mangelnde Qualität der Soldaten«. Als Reservisten kämen nur noch Leute vom flachen Land an die Front, denen die verschiedenen Spezialkenntnisse fehlten, die man für den elektronischen und Drohnenkrieg brauche. Womöglich eine Folge des Umstands, dass gebildete – und wohlhabendere – Stadtbewohner sich in breitem Umfang von der Einberufung freikaufen konnten.

    Dabei hat der Schmiergeldkönig von Odessa seinerseits viel getan, den Druck auf die Portemonnaies der Wehrpflichtigen zu erhöhen. Die Methoden des »Heldenklaus« in der südlichen Hafenstadt galten ukraineweit als besonders brutal und heimtückisch. So soll Borissow den Trick erfunden haben, die Greifkommandos in Krankenwagen patrouillieren zu lassen, um auf offener Straße alle Männer festzunehmen, die im entsprechenden Alter waren. Teilweise sollen sogar Militärärzte mitgefahren sein, um die Arretierten sofort an Ort und Stelle tauglich zu schreiben. In einigen Fällen gab es gegen diese Praktiken aber auch zivilen Widerstand, der an Protestformen im faschistischen Deutschland während des Zweiten Weltkriegs erinnert. Ehefrauen von auf diese Weise vom Fleck weg rekrutierten Männern versammelten sich vor der Wehrersatzbehörde von Odessa und schlugen Krach – mit Erfolg. Einige Videos davon kann man im Netz finden.

    Wie in allen solchen Fällen stinkt der Fisch vom Kopfe. Nach Recherchen von strana.ua und anderen Medien behielten Leute wie Borissow nicht das ganze Geld für sich, das sie von den Wehrpflichtigen erpressen. Ein Viertel habe der Chef behalten, ein weiteres habe er »nach oben« abdrücken müssen, ein Viertel sei an die Mitglieder der medizinischen Kommissionen gegangen, die die falschen Untauglichkeitsbescheinigungen ausstellten und der Rest an kleinere Helfer.

    Dass die Vermutung, die Korruption im ukrainischen Militär werde von oben gedeckt, begründet ist, zeigt ein anderer Fall, der auf den ersten Blick mit dem von Borissow nichts zu tun hat. Schon im Mai deckte der US-Sender Radio Liberty den Fall eines Abgeordneten der Präsidentenpartei »Diener des Volkes« auf. Gegen ihn war bereits Anklage wegen Korruption erhoben worden. Trotzdem verhalf ihm das ukrainische »Kommando Spezialkräfte« unter dem Vorwand, »humanitäre Hilfe« für die Truppe zu beschaffen, zu einer Erlaubnis zur Ausreise – von der der Verdächtige natürlich nicht zurückkehrte. Was aus der »humanitären Hilfe« geworden ist, ist nicht bekannt.

    Drückenerger
    https://de.m.wikipedia.org/wiki/Dr%C3%BCckeberger

    Im Ausgang des Ersten Weltkriegs kam es unter den deutschen Soldaten zu massenhaftem Nicht-mehr-Mitmachen. Die Militärbürokratie belegte dieses Massenphänomen mit dem abschätzigen Begriff der „Drückebergerei“. Rechtlich handelte es sich mitunter um Normen gegen Tatbestände des Militärstrafgesetzbuchs für das Deutsche Reich von 1872.
    ...
    Im Zuge der 68er-Bewegung und dem sprunghaften Anstieg der Wehrdienstverweigerer geriet der Begriff zurück in die öffentliche Diskussion.
    ...
    Sich vor dem „Deutschen Gruß“ drücken

    In München wurde während der NS-Zeit und auch danach die Viscardigasse im Volksmund als Drückebergergasse bezeichnet, weil man durch ihre Benutzung die NS-Wachen vor der Feldherrnhalle umgehen konnte und somit den „Deutschen Gruß“ nicht entrichten musste.

    #Ukraine #déserteurs

  • Wörterbuch des Teufels : »Heilbar durch den Tod« 
    https://www.jungewelt.de/artikel/456273.w%C3%B6rterbuch-des-teufels-heilbar-durch-den-tod.html


    Cet auteur états-unien nous a légué une oeuvre à mi-chemin entre Edgar Allan Poe et Theodor Fontane. A travers sa participation à une vingtaine de batailles de la guerre de sécession Bierce a rencontré les horreurs de la mort cruelle et sans raison. Il nous en a fait part dans ses écrit. Quand il cherche à nous effrayer ce n’est pas avec le phantastique mais par sa déscription de la réalité. Son Dictionnaire du diable est marqué par son observation précise du comportement humain dans la société capitaliate et ses institutions.

    5.8.2023 von Peter Köhler - »Sterben: Von einem Teil des Problems zu einem Teil der Lösung werden« – Ambrose Bierce

    »Ambrose Bierce ist nicht tot, ich lebe noch!« Mit diesen trotzig herausgedrückten Worten begrüßt Markus Bomert den Besucher in seinem Büro an der Universität Weinheim. Seit mittlerweile fünf Jahren arbeitet der Anglist am Nachlass von Ambrose Bierce, dem Autor des berühmten »Wörterbuchs des Teufels«. 1914 war der Amerikaner spurlos von der Erdoberfläche verschwunden, doch 2018 wurde Bomert zufolge dessen staubtrockener Leichnam im Grand Canyon entdeckt – und wie bestellt und abgeholt fanden sich bei ihm sensationelle Ergänzungen des diabolischen Diktionärs (die junge Welt berichtete).

    Die über mehr als hundert Jahre frisch gebliebenen Notate ins Deutsche zu übersetzen, wurde Bomerts Lebensaufgabe. »Dabei war ich zum Zeitpunkt der Entdeckung bereits Ende 50!« scherzt der Philologe, der inzwischen auf die Pensionierung zugeht: »Aber dieser Bierce ist eben mein Lebenswerk, pardon, sein Lebenswerk. Ich bin ja bloß der Übersetzer.«

    Bloß der Übersetzer

    Dass er, Bierce, pardon: Bomert der einzige Mensch auf dem milliardenvollen Globus ist, der von diesen posthumen Notizen weiß, dass kein einziger Experte in den originalen USA von dem Fund Notiz genommen hat – Bomert weist jeden Verdacht mit genervt rollenden Augen zurück. »Ich würde doch nicht fünf Jahre meines späten Lebens für eine Lüge opfern!« verteidigt er sich gegen alle Anschwärzungen durch missgünstige Kollegen und zieht aus einem Papierstapel ein Blatt hervor: »Hier, echter, gesunder Bierce, von mir ins Deutsche übertragen! Hass: Jenes Gefühl, das der Erfolg eines Feindes hervorruft; im Unterschied zum Erfolg eines Freundes. Dieses Gefühl heißt Neid.«

    Auf unsere Frage, ob wir das englische Original sehen könnten, nickt Bomert mit dem eigenen Kopf. »Selbstverständlich! Aber ich habe es nicht hier, sondern zu Hause. Dort wird es luftdicht verpackt und fest eingeschweißt in einem Tresor aufbewahrt, wo es bei vier Grad Celsius gekühlt wird. Der Schlüssel liegt in einem extra steril gehaltenen Bankschließfach, und die Bank macht gerade Sommerferien«, so Bomert. »Aber kommen Sie gern im Winter wieder und fragen noch mal!«

    Im Übrigen habe er, Bomert, genug zu tun, fügt der Wissenschaftler nach einem Blick auf unsere säuerlich eingefärbte Miene hinzu. Er werde nämlich wieder von allen angefeindet, nur weil er sich abermals mit allen angelegt habe: »also nicht ich, Bierce!« Zur Erinnerung: Vor zwei Jahren tobte ein Plagiatsstreit um Bomerts Bierce, der glücklich versickerte. Schon damals ging es um mehr als bloße Tatsachen, es ging um Meinungen – und jetzt erneut.

    Bomert langt in den Papierkorb und entfaltet einen zerknüllten Zettel. »Das habe ich weggeworfen, damit niemand mich, Quatsch, Bierce missversteht und an den Pranger klatscht. Obacht! ›Contergan: Ein Mittel, das zu früh auf den Markt kam. Die Leute hatten damals noch Vorurteile gegen Behinderte.‹ Das dürfen Sie in Ihrem eiskalten Bericht auf keinen Fall zitieren!«

    Wir versprechen es als echte Journalisten und wundern uns nur tief im Herzen, dass der Zyniker Bierce 50 Jahre zu früh von einem zynischen Medikament wie Contergan wusste. Aber ein selbstbewusster Übersetzer wie Markus Bomert wischt alle Zweifel vom Tisch, indem er sie ignoriert, und zaubert noch mehr Papier hervor.

    »Das sind ein paar Notate, für die ich, unschuldig von oben bis hinten, im Kreuzfeuer stehe. Ich, obwohl es Bierce ist! Etwa bei diesen ewigen Gottgläubigen, hier: ›Religion: Göttliche Komödie. Geheimnisvoller Schleier, hinter dem sich nichts befindet. Ein Placebo, das eingebildete Kranke heilt, die für philosophische Medikamente zu schwach sind. Die Welterklärung für alle, die keine Welterklärung wünschen.‹«

    Bomert holt tief Luft mit seiner langen Nase. »Apropos, die Philosophen, die Mathematiker, schlichtweg alle hier an der Uni befehden mich, nur weil ich ihnen den Boden unter ihrem Beruf wegziehe! Dabei ist das vom großen Bierce, nicht meiner Wenigkeit: ›Logik: Das Zaumzeug des Denkens. Wissenschaftliche Methode, langsamer als im Witz und bornierter als in Assoziationen zu denken. Willkür nach Regeln.‹«

    Vorteile der Katze

    Ambrose Bierce hingegen denke »in eigenen Bahnen. Auch in der Politik!« betont Markus Bomert und holt von ganz weit unten einen wahrlich allerletzten Eintrag hervor: »Weltkrieg: Das Beste, was die Deutschen 1939 anfangen konnten – sonst würden die Nazis noch heute regieren.«

    Als wir wieder zu uns kommen, ist Bomert fort. Auch wir verdünnisieren uns, nicht ohne ein paar Notizzettel zu stibitzen. Was auf ihnen steht? Also bitte:

    Autokrat: Jemand, der lieber einen Fehler begeht, als dass ein anderer das Richtige tut.

    Bigamie: Zwei Ehefrauen zu viel.

    Egoismus: Eine Krankheit, die kleine Kinder befällt, sich in der Jugend verschlimmert und im Erwachsenenalter chronisch wird; heilbar durch den Tod.

    Genugtuung: Das angenehme Gefühl, das einen beschleicht, wenn man mehr erreicht hat als jemand, der klüger, schöner und tüchtiger ist.

    Gott: Eine legendäre Gestalt, bekannt vom Hörensagen. Eine Art Übermensch. Der Butzemann der Priester. Das Hausgespenst des Kosmos.

    Illusion: Eines der Hilfsmittel, die dem Menschen das Ausharren in der Realität ermöglichen.

    Katze: Tier, das gegenüber einem Kind viele Vorteile bietet. Die Katze hat ein schöneres Fell, längere Schnurrbarthaare und einen intelligenteren Gesichtsausdruck, kann besser schnurren und hat ein leiseres Betriebsgeräusch, heult weniger und ist stubenrein. Sie fällt kaum zur Last und kann einfach ausgesetzt werden. Eine tote Katze wirft man in die Mülltonne.

    Mistkäfer: Jemand, der positives Denken dringend nötig hat.

    Mode: Der Beweis, dass die Menschen sich ändern können.

    Naturgesetz: Prinzip, das überall im Universum gilt, ausgenommen in der Religion.

    Pfarrer: Person, die von Berufs wegen glaubt, was sie nicht weiß, und an einer wundergläubigen Lehre festhält, als bekäme sie es bezahlt – und das Wunder: Sie bekommt es bezahlt.

    Rassismus: Umgekehrte Spielart der Zoologie, angewandt von einem Vieh auf den Menschen.

    Stabilität: Stagnation.

    Sterben: Von einem Teil des Problems zu einem Teil der Lösung werden.

    Wissen: Der Glaube an Erkenntnis.

    Wohltätigkeit: Die Bereitschaft, etwas von dem herzugeben, was man nicht braucht, um zu erhalten, was man entbehrt – ein gutes Gewissen.

    Map of the Black Hills region : showing the gold mining district and the seat of the Indian war, by Ambrose Bierce, 1877.

    #USA #histoire #cartographie #journalisme #parodie

  •  »Wir mussten uns immer etwas einfallen lassen« 
    https://www.jungewelt.de/artikel/455343.werksleiter-in-der-ddr-wir-mussten-uns-immer-etwas-einfallen-lassen

    L’industrie de l’état socialiste allemand comprenait plusieurs entreprises qui fabriquaient des produits de meilleure qualité que ceux des concurrents occidentaux. Dans son autobiographie le directeur d’usine Wolfgang Beck raconte comment c’était possible. Sa conclusion : l’organisation de la production selon les principes socialistes est plus humaine et efficace que celle pratiquée sous les régimes capitalistes - mais le pouvoir absolu du parti SED empêchait son succès.

    Cet article corrige quelques mythes et mensonges que les médias de la classe au pouvoir ne cessent de colporter.

    22.7.2023 von Arnold Schölzel - Als Teil der VEM-Firmengruppe wird bis heute in Wernigerode produziert. Archivfoto vom Tag vor der 40-Jahr-Feier (15.11.2001)

    Als damals jüngster Betriebsdirektor der DDR wurden Sie 1984 mit 34 Jahren Chef des Elektromotorenwerks Wernigerode. Allein dort gab es mehr als 3.000 Beschäftigte, an anderen Standorten noch mehr, und Sie exportierten in 47 Länder. Ihre Motoren waren der Konkurrenz auf dem Weltmarkt technisch überlegen. Ihrem Buch entnehme ich: Ein Betriebsdirektor war zwar für Produktion und Planerfüllung verantwortlich, zugleich aber auch für so ziemlich alles, was es in der sozialistischen Industrie sonst noch gab: Kantinen, Sozialeinrichtungen, Frauentagsfeiern, Feuerwehr, Zivilverteidigung, Kampfgruppen, Sportvereine, Stadtfest und vieles andere. Ich habe mir beim Lesen gesagt: Das kann niemand bewältigen. Ging offenbar doch, aber wie?

    Es stimmt, wir Betriebsdirektoren mussten alles organisieren und einigermaßen in der Materie Bescheid wissen. Da half zum Beispiel, dass wir uns untereinander kannten, uns austauschten und Partisanenaktionen starteten, wenn es eng wurde. Das passierte zum Beispiel beim Import von Kugellagern. Immer am Jahresende wollte der Generaldirektor des zuständigen Importbetriebes wenig Devisen ausgeben, weil davon seine Jahresendprämie abhing. Der Generaldirektor meines Kombinats erhielt die aber für realisierte Exporte – ein echter Interessenkonflikt. Ende 1984 wurden mal wieder die Kugellager nicht geliefert. Ich telefonierte mit Schweinfurt und verabredete eine Direktzustellung. Wir machten einen Lkw der Kampfgruppe einsatzbereit, ich besorgte über die Kreisdienststelle der Staatssicherheit alle Genehmigungen. Von Schweinfurt rollten zwei Tonnen Kugellager Richtung Grenze, beide Fahrzeuge trafen sich im Niemandsland, und alles wurde unter Bewachung umgeladen. Nach 24 Stunden lief unsere Produktion wieder. Das Nachspiel: Der Importbetrieb alarmierte die Bilanzinspektion der DDR wegen angeblichen Missbrauchs von Valutamitteln und illegaler Einfuhr und schickte sie los, um die Kugellager zu beschlagnahmen. Wir behaupteten einfach, alles sei schon verbaut. Für mich gab es ein Disziplinarverfahren, das nach einigen Monaten eingestellt wurde.

    Wir hatten eine andere Perspektive als die Generaldirektoren der Kombinate. Wir standen praktisch Tag und Nacht Gewehr bei Fuß. Ich war oft schon um fünf oder vier Uhr im Betrieb. Wenn ich meinen Rundgang machte, wusste ich genau, wo ich hinsehen musste: Da stand manche Flasche, obwohl Alkohol strikt verboten war – wir hatten nicht nur friedliche Schäfchen in der Produktion.

    Und hinzu kamen Leute auf der Leitungsebene, die nicht sehr sympathisch waren, weil sie Wasser predigten und Wein tranken. Ihr Parteisekretär gehörte ja offenbar dazu.

    Ja, der »rote Riese« – wir sind nie richtige Freunde geworden. Verallgemeinert gesagt, betrachte ich es als einen der Krebsschäden des sozialistischen Systems, dass sich die Partei in alles eingemischt hat. Manches war sicher akzeptabel, aber vieles ging über jede Hutschnur. Und mein Exemplar von Parteisekretär war auch noch vom Stamme »Nimm«.

    Diese Einmischung, die Sie im Buch schildern, ging sehr weit, ob das die Planvorgaben waren oder die Organisation im Betrieb.

    Das war wie eine doppelte Buchführung. Wir haben einmal an die Partei berichtet, einmal meinem Generaldirektor, und dann kam noch die staatliche Ebene. An die SED hat nur der Parteisekretär berichtet und ließ sich dafür von mir die Zahlen geben.

    Außerdem wollten das Statistikamt, der Beauftragte des Zentralkomitees der SED, Ministerien und der Außenhandel Berichte von Ihnen.

    Es herrschte das staatliche Außenhandelsmonopol, schon weil unsere Währung nur eine Binnenwährung war. Wir in den Betrieben waren für die Außenhändler eine Art Fachidioten, die für die Geschäfte leider benötigt wurden. Die Valuta, die mit unseren Produkten eingenommen wurden, haben wir in der Regel nicht gesehen. Das führte zu Gerüchten in der Belegschaft. 1989 standen Arbeiter vor meinem Büro und forderten die Herausgabe der Westmark, aber in meinem Tresor war keine.

    Ihre Produkte waren auf dem Weltmarkt sehr erfolgreich. Woran lag das?

    In Bangkok sah ich 1986 ein Förderband mit einem VEM-Motor – VEM hieß kurz unser Kombinat. Unsere Motoren kann man nämlich von weitem erkennen, sie hatten ein besseres Design als andere. Ein Elektromotor hat hinten immer einen Lüfter, und deren Schutzhauben sind in der Regel rund, unsere hatten gerundete Ecken. Wir hatten aber auch technisch etwas voraus. Wenn wir Bleche für die Motorengehäuse aus Eisenhüttenstadt erhielten, steigerten wir bei uns im Werk im Glühverfahren die Effizienz. Die westlichen Bleche hatten eine Isolationsschicht aus dünner Folie oder Lack, wir schufen eine Isolationsschicht durch Oxidierung. Die war um ein Vielfaches dünner als bei den westlichen Blechen, und der Motor hatte eine höhere Leistungsfähigkeit. Die Isolation zwischen den Blechen ist aus physikalischen Gründen nötig, aber die Dicke der Schicht bestimmt die Energieausbeute. Das Verfahren hat Günther Warnecke in Wernigerode entwickelt. Es war einmalig, und wir konnten die Leistung der Motoren fast eine Achse tiefer anlegen.

    Was bedeutet das?

    Die Höhen zwischen Boden und der Motorwelle, die vorn rausguckt, werden nach energetischer Leistung gestaffelt, Achshöhen nennt man das (Richtmaß für den Abstand zwischen dem Mittelpunkt der Welle und der Auflagefläche eines Fußmotors, jW). Und da schnitten wir gut ab. Wir haben zum Beispiel Motoren nach Carrara in die Marmorsteinbrüche geliefert. Die Marmorblöcke werden mit sogenannten Seilsägen geschnitten, der Antrieb dafür kam aus Wernigerode.

    Warum kam die Konkurrenz nicht auf die Idee mit der Oxidschicht?

    Wir verfügten über preiswertes Gas und Öl aus der Sowjetunion in Fülle. Die Glühöfen für die Bleche waren gasbetrieben. Auf der anderen Seite wurden wir vom Westen genug gebeutelt. Viele Dinge, die wir benötigten, standen auf der Cocom-Liste, der Embargoliste des Westens, die es seit 1949 gab – ein Produkt des antikommunistischen Wütens mit McCarthy und anderen in den USA an der Spitze. Vieles konnten wir nur über den DDR-Außenhandelsbetrieb Koko (»Kommerzielle Koordinierung«, jW) Alexander Schalck-Golodkowskis erhalten, das heißt unter Umgehung von Cocom.

    1988 sollten bestimmte Arbeiten für die Motoren ins Ausland verlagert werden. Elmo Wernigerode sollte das in Mönchengladbach machen. Was war da los?

    Erich Honecker war 1987 in der BRD, und davor gab es in der DDR eine große Amnestie. Damit verlor ich die mehr als 400 Leute im Knast, die für uns arbeiteten – allesamt keine politischen Gefangenen, sondern Mörder und andere Schwerverbrecher. Einige schafften es nach der Freilassung nur bis zum Bahnhof in Brandenburg an der Havel, brachen irgendwo ein oder klauten Alkohol aus dem Bahnhofskiosk. Wir hatten danach für die großen Motoren keine Wickelkapazitäten mehr und holten Leute aus der Verwaltung. Dann kam der Befehl, das nach Mönchengladbach zu verlagern, obwohl ich durch meine guten Kontakte nach Italien ein Angebot aus Malta hatte, das preisgünstiger war. Die Regierung dort wollte mit enormen Fördermitteln Industriearbeitsplätze aufbauen. Wir hatten mit Mönchengladbach nur Verluste, aber es ging darum, unsere Märkte weltweit zu sichern. Wir konnten keinem Kunden erzählen, dass wir nicht liefern können, weil wir eine Amnestie hatten.

    Warum gab es nach Italien so gute Kontakte?

    Unsere Motoren waren den italienischen, zum Beispiel von Marelli, weit überlegen. Das lag an einer technischen Besonderheit: Elektromotoren haben oben den Anschluss für das Stromkabel, nennt sich Klemmbrett. Die Italiener hatten dafür keine vernünftigen Lösungen und ihre Motoren rauchten immer wieder ab.

    Sie schildern im Buch eine Sabotageaktion an einem Motor, der dann in die Bundesrepublik geliefert worden war. Gab es so etwas öfter?

    Besonders die Jungs im Knast waren nicht zimperlich. Trotz strenger Kontrolle der fertigen Motoren passierte das – sie hatten eine Schraubenmutter in einen Wickelkopf gesteckt. Bei jedem Anlauf des Motors entwickeln sich dort große Kräfte, irgendwann scheuert das Kabel durch, und dann ist es passiert. Aber so etwas war die absolute Ausnahme.

    Wir führen dieses Gespräch am 5. Juli. In der heutigen Rheinischen Post aus Düsseldorf ist unter der Überschrift »Die Bahnkrise hat System« zu lesen: »Angesichts ihres hohen Marktanteils ist es der Bahn egal, ob Züge ausfallen oder zu spät kommen. An dieser DDR-Mentalität setzt die Monopolkommission an und fordert eine Aufspaltung. Richtig so.« Das schreibt die Wirtschaftschefin der Zeitung fast 33 Jahre nach dem Ende DDR. Was denken Sie, wenn Sie so etwas lesen?

    Purer Hass. Ich war vor 14 Tagen zur Lesung aus dem Buch »Der Osten: eine westdeutsche Erfindung« von Dirk Oschmann. Interessant waren die Gespräche der Leute hinterher: Was bin ich gewesen? Wo komme ich her? Es ging um die soziale Heimstatt der Menschen im Betrieb. Bei allen Problemen und allem Ärger, die das Arbeitsleben mit sich bringt – diese vermissen sie heute. Daher kommt der Frust. Die Menschen möchten kommunizieren und fragen nach anderen, neuen Möglichkeiten. Es geht nicht darum zu jammern, sondern das Ganze sachlich darzustellen. Ich bin kein Philosoph, sondern Techniker, für mich ist der rechte Winkel immer noch ein rechter Winkel und hat nicht 60 Grad. Gestern aber lief im Fernsehen der Film »Ein Tag in der DDR«, und ich staune, wie sie uns darstellen. Das erste, was ich sah: Diese Bierflaschen gab es in der DDR nicht, und die Bierkästen sahen anders aus. Dann haben sie noch einen alten verrosteten Laster ausgegraben. Bei aller Liebe: Solche Dinger gab es in der DDR nicht. Die Behauptung, dass die gesamte Wirtschaft marode war, ist Propaganda.

    Der Westen wundert sich, warum das Gedächtnis der DDR-Leute so lebendig ist – und damit auch die DDR. Wie erklären Sie sich das?

    Wir haben zwei Gesellschaftssysteme kennengelernt, können vergleichen und abwägen. Das führe ich im Buch ja vor. Es ist eine Hommage an alle Betriebsdirektoren, die das erlebt haben. Mir hat einer gesagt, wenn ich noch ein paar Dinge aus meinem Betrieb nehme und die einsetze, stimmt alles überein. Wie gesagt: Der Betrieb die soziale Heimat!

    Das Buch enthält eine exemplarische Geschichte?

    Wir mussten uns immer etwas einfallen lassen. Im Studium war insbesondere das dialektische Denken des Marxismus-Leninismus wichtig. Ich finde, das sollten Studierende heute wieder lernen, die Grundgesetze der Dialektik. Das wollte ich unbedingt auch in meinem Buch drin haben. Diese Denkweise eröffnet auch Blicke in die Zukunft, hin zu dem, was ich Bedarfsökonomie nenne und bei den Inuits gefunden habe: Man darf nur das verbrauchen, was tatsächlich benötigt wird. Aber wo sind wir heute? Zumal, wenn ich sehe, dass alle Haushalte gekürzt werden, nur der fürs Militär nicht.

    Die Vielzahl Ihrer Funktionen ist unglaublich. Sie waren Abgeordneter im Bezirkstag und schließlich auch in der Volkskammer. War das nicht einfach zu viel?

    Das war es, und ich habe irgendwann auch »Schluss« gesagt. Aber die Tatsache, dass das Elmo noch Bestand hat, hat damit zu tun, dass ich als Volkskammerabgeordneter einen guten Draht in die Modrow-Regierung hatte. Sonst hätten die uns platt gemacht wie andere Kombinate und Betriebe auch. Ich war in der Arbeitsgruppe, die das Kombinat 1990 in eine Aktiengesellschaft umwandeln sollte, der einzige Betriebsdirektor. Ich war kein großes Licht, aber wir haben sehr schnell mitbekommen, dass die Treuhandgesellschaft kommt. Außerdem kannte ich ihren ersten Direktor, dessen Name heute fast vergessen ist: Peter Moreth von der LDPD in Magdeburg. Er hat uns im Elmo besucht, und wir haben zusammen die erste GmbH der DDR gegründet. Später habe ich auch Detlev Karsten Rohwedder kennengelernt, der ab August 1990 die Treuhand zunächst kommissarisch leitete. Ich kann nur sagen: Er war sehr, sehr vernünftig. Zu mir sagte er zum Beispiel: »Sorgen Sie dafür, dass Ostdeutschland nicht das Land der Tochterunternehmen wird.« Ich bin darum heute noch der Meinung, dass nicht die RAF Rohwedder ermordet hat. Es reicht, sich anzuschauen, was danach kam.

    Die Figuren aus dem Westen, die bei Ihnen im Betrieb auftauchten, schildern Sie jedenfalls als unfähige Clowns. Welche Firma konnte sich dann das Elmo unter den Nagel reißen?

    Als Birgit Breuel an die Macht in der Treuhand kam, wurden sogenannte Management-KGs geschaffen. Ich nannte das die Klubs der Schwererziehbaren. Das Elmo hatte sich ja bewährt, und wir wollten jetzt eine vernünftige Umbewertung in D-Mark. Aber dann tauchte Adolf Merck­le auf, der durch Ratiopharm unheimliche Gewinne erzielte und Milliardär geworden war. Er erhielt von der Treuhand eine Mitgift zur Übernahme von VEM, das heißt einen Verlustvortrag von 800 Millionen, vielleicht sogar einer Milliarde D-Mark. Er übernahm den ganzen VEM-Verbund und dazu Immobilien, die er zunächst gar nicht wollte. Wir besaßen zum Beispiel ein wunderschönes Ferienheim in Altenberg sowie ein Gästehaus, ein Jugendklubhaus und eine Skihütte. Das passte alles nicht in eine Kapitalgesellschaft. Sie sind aber heute noch in der VEM Immobilien GmbH im Besitz der Merckle-Gruppe. 2017 erwarb dann eine chinesische Unternehmerfamilie die drei profitabelsten deutschen VEM-Standorte. In Wernigerode arbeiten heute noch 300 bis 350 Leute.

    Sie haben in Blankenburg einen Betrieb gegründet. Was wird da produziert?

    Wir haben in Wernigerode angefangen, Speziallacke zu entwickeln. Mit Nanopartikeln lassen sich funktionale Lacke herstellen – wärmeleitende, antimikrobakterielle und andere. Als Mikroelektroniker kannte ich mich bereits mit kleinen feinen Teilen aus. Und so gibt es heute einen Spezialklebstoff, mit dem zum Beispiel Solarzellen zwecks Kühlung verklebt werden können. Solarzellen haben nämlich die unangenehme Eigenschaft, sich bei Sonneneinstrahlung zu erwärmen, wodurch ihre Leistung sinkt. Wird aber die Solarzelle wie in unserer Energiebox gekühlt, erhöht sich ihr Wirkungsgrad – und zwar erheblich. Das Prinzip solcher Thermogeneratoren hat der Physiker Thomas Seebeck bereits 1821 entdeckt. In afrikanischen Ländern können so ganze Dörfer bei geringem Aufwand mit Strom und Wasser versorgt werden. Ich habe noch sehr gute Kontakte nach Uganda, weiß aber auch, dass zum Beispiel in Tansania die Entsalzung von Meerwasser, das ins Grundwasser eindringt, ein großes Problem ist. Das kann mit unserer Energiebox gelöst werden. Ein weiteres Beispiel ist Bangladesch: Das Wasser, das aus dem Himalaja kommt, ist stark mit Arsen belastet. Die Entgiftung wird mit geringen Kosten hier möglich.

    Der Titel Ihres Buches lautet: »Alles hat ein Ende – auch die Marktwirtschaft«. Warum sind Sie so davon überzeugt?

    Erstens bin ich der Meinung, dass die Entwicklung immer weitergeht.

    Die technische?

    Auch die gesellschaftliche. Zweitens wollte ich ein bisschen das Denken anheizen. Ich bin nach wie vor der Meinung, dass das sozialistische Wirtschaftssystem unheimlich gute Ansätze hat – wenn man die Partei aus ihnen rausnimmt. Am Ende meines Buches habe ich als Fazit acht Thesen formuliert, die sich mit dem produzierenden und dem verbrauchenden Teil der Gesellschaft befassen. Ich halte zum Beispiel überhaupt nichts davon, dass wir die Gesundheitsversorgung am Kommerz und nicht am Bedarf orientieren. In einer der Thesen steht, dass das, was wir in der DDR an kostenloser Bildung genießen durften, heute überall zu vermissen ist. Auf der einen Seite hat die Parteiherrschaft im Betrieb, der Lobbyismus, nichts zu suchen. Auf der anderen Seite muss die gesamte gesellschaftliche Struktur auf anderen Grundlagen als heute stehen, zum Beispiel dem Prinzip der materiellen Interessiertheit. Das steckt hinter dem Titel.

    Dr.-Ing. Wolfgang Beck wurde 1950 geboren, studierte an der Technischen Universität Dresden Elek­trotechnik und arbeitete ab 1975 in seiner Heimatstadt Blankenburg am Harz im Forschungs- und Entwicklungswerk der Deutschen Reichsbahn. 1984 wurde er zum damals jüngsten Betriebsdirektor der DDR berufen und leitete den VEB Elektromotorenwerk (Elmo) Wernigerode bis zur Übernahme durch eine westdeutsche Firma.

    Im Frühjahr erschien Wolfgang Becks Autobiographie »Alles hat ein Ende – auch die Marktwirtschaft« (Rohnstock-Biografien/THK- Verlag, Arnstadt 2023, 267 Seiten, 19,90 Euro)

    #DDR #Allemagne #histoire #biographie #industrie #socialisme

  • Weltmarkt für Bier entwickelt sich unerwartet gut
    https://www.jungewelt.de/artikel/455912.weltmarkt-f%C3%BCr-bier-entwickelt-sich-unerwartet-gut.html

    Enfin quelque chose de positif : la production mondiale de bière va très bien.

    25.7.2023 - Nürnberg. Der internationale Biermarkt hat sich im vergangenen Jahr besser entwickelt als erwartet. Der weltweite Ausstoß legte um 1,3 Prozent auf 1,89 Milliarden Hektoliter zu, wie das auf Hopfen und Hopfenprodukte spezialisierte Unternehmen BarthHaas am Dienstag mitteilte. Der Ausstoß kam demnach nah an das Niveau von 2019 heran. Wegen des Ukraine-Krieges hatten die Experten mit einem Rückgang gerechnet.

    »Vor einem Jahr hatten wir mit einem rückläufigen Weltmarkt gerechnet, da in Russland und der Ukraine etwa fünf Prozent der weltweiten Biermenge produziert werden«, erklärte BarthHaas-Chef Peter Hintermeier. »Vor diesem Hintergrund können wir mit dem leicht positiven Ergebnis recht zufrieden sein.«

    Die deutschen Bierbrauer lagen den Angaben zufolge über dem weltweiten Schnitt: Ihr Ausstoß stieg um 2,8 Prozent auf 87,8 Millionen Hektoliter. Deutschland liegt damit unverändert auf Platz fünf. Das meiste Bier produzieren China, die USA, Brasilien und Mexiko. »In diesen fünf größten Erzeugerländern wird fast die Hälfte (49 Prozent) des Biers gebraut«, erklärte Heinrich Meier von BarthHaas.

    Der Biermarkt weltweit ist für Deutschland nicht nur wegen der gewichtigen heimischen Produktion von Bedeutung. Deutschland ist mit rund 20.600 Hektar Anbaufläche nach den USA (24.750 Hektar) auch der wichtigste Hopfenlieferant. Auf Platz drei folgt Tschechien mit 4.950 Hektar.

    Die Hopfenernte fiel den Angaben von BarthHaas zufolge im vergangenen Jahr schlecht aus. Bei annähernd gleich gebliebener weltweiter Anbaufläche wurden 19 Prozent weniger geerntet. »Grund dafür waren extreme Witterungsbedingungen, die allein in Europa für einen Rückgang von 17.800 Tonnen sorgten.« Wegen deutlicher Überproduktion in den Vorjahren und entsprechend hoher eingelagerter Mengen sei ein Versorgungsengpass aber ausgeblieben.

    #économie #alcool #wtf

  • Geldpolitische Mythen
    https://www.jungewelt.de/artikel/455239.geldpolitische-mythen.html

    Le récit monétariste sur les raisoms de l’inflation est une série de mensonges qui servent à justifier une politique qui nous appauvrit et fait augmenter les profits des propriétaires de commerces et de l’imdustrie.

    21.7.2023 von Raphaël Schmeller - Vor genau einem Jahr hat die EZB eine Kehrtwende gemacht: Nach elf Jahren beendete sie ihre lockere Geldpolitik und erhöhte die Zinsen. Nach einer ganzen Reihe weiterer Erhöhungen liegt der Leitzins inzwischen bei satten vier Prozent. Offiziell sollte auf diese Weise der Preisauftrieb bekämpft werden. Aber ein Jahr nach der Zinswende ist die Inflation mit 5,5 Prozent in der Euro-Zone weiter hoch – die straffe Geldpolitik ist also alles andere als erfolgreich.

    Dafür sind die Nebenwirkungen deutlich spürbar. Weil sich Investitionen verteuern, werden sie drastisch zurückgefahren. Und so wird aktuell etwa viel zuwenig gebaut, um die Nachfrage nach günstigem Wohnraum zu bedienen.

    Warum trotz dieser Zwischenbilanz weiter an Zinserhöhungen festgehalten wird? Weil die bürgerliche Ökonomie auf geldpolitischen Mythen beruht. Da wird etwa behauptet, die Inflation sei darauf zurückzuführen, dass eine allzu große Geldmenge im Umlauf sei. Man müsse diese durch höhere Zinsen reduzieren. Zahlreiche Beispiele zeigen jedoch, dass Inflation gerade kein »intrinsisch monetäres Phänomen« ist und auch nicht generell durch die Geldpolitik kontrolliert werden kann. Man könnte hier Japan zwischen 1994 und 2007 anführen, wo sich die Geldmenge um mehr als 200 Prozent erhöhte, der Leitzins von zwei auf null Prozent fiel, die Verbraucherpreise aber um drei Prozent sanken. Auch die expansive Geldpolitik der EZB zwischen 2015 und 2019 hat keinesfalls verhindert, dass die Inflation unter dem offiziellen Zielwert von zwei Prozent blieb.

    Was die Irrlehren der Ökonomie verschleiern: In Wahrheit ist die Inflation profitgetrieben. Eine kürzlich veröffentlichte Studie aus Frankreich zeigt, dass die Lebensmittelinflation dort im ersten Quartal 2023 zu 70 Prozent auf die Erhöhung von Profitmargen zurückzuführen war. Konzerne mit Marktmacht nutzen einfach die Gunst der Stunde für Krisengewinne durch sonst nicht erklärbare Preiserhöhungen. Selbst der IWF hat diese »Profit-Preis-Spirale« in einer Notiz Ende Juni bestätigt.

    Eine weitere dreiste Lüge führender Ökonomen ist, dass Lohnerhöhungen genau wie staatliche Entlastungspakete oder Investitionen die Inflation immer nur weiter anheizen würden. Das Gegenteil ist der Fall. Seit Inkrafttreten des 750 Milliarden Dollar schweren »Inflation Reduction Act« in den USA ist die Teuerung dort stark zurückgegangen. Auch der Blick in die Euro-Zone zeigt: Wo größere Entlastungspakete geschnürt wurden, fiel die Inflation deutlicher, in Spanien etwa unter zwei Prozent. In Ländern, in denen es weniger Unterstützung gab, blieb die Teuerungsrate weiter hoch, ein Beispiel wäre die BRD mit 6,4 Prozent.

    Bei den Zinserhöhungen der EZB geht es weniger um den Kampf gegen Inflation. In erster Linie helfen sie, Sozialkürzungen zu rechtfertigen und von naheliegenden Lösungen abzulenken wie der Besteuerung von Profiten oder der Erhöhung von Löhnen.

    #capiralisme #inflation

  • Gewalt gegen Arme in Kenia
    https://www.jungewelt.de/artikel/455210.nicht-genug-zum-leben-gewalt-gegen-arme-in-kenia.html

    Violence policière au Kenia - 27 morts pendant les manifestation depuis le début de l’année. La règle générale confirmée : plus les manifestations ont des chances de changer quelque chose, plus les réactions du pouvoirs sont violents.

    (20.7.2023) von Ina Sembdner - Nachdem Kenias Präsident William Ruto kürzlich ein Finanzgesetz verabschiedet hatte, das neue Steuern vorsieht, kommt es in dem ostafrikanischen Land regelmäßig zu Protesten und Gewalt. Viele Kenianer hatten Ruto im vergangenen Jahr gewählt, weil er versprochen hatte, die Lebenshaltungskosten zu senken – und sie sind bei anhaltend hoher Inflation und ausufernder Erwerbslosigkeit bitter enttäuscht worden. Der Internationale Währungsfonds (IWF) wiederum zeigte sich diese Woche erfreut über die Verabschiedung des Gesetzes: Es sei ein »entscheidender« Schritt zur Verringerung der kenianischen Schuldenlast. Ungeachtet der Proteste traf Ruto am Mittwoch denn auch mit der US-Handelsbeauftragen Katherine Tai zusammen, um Washington von den wirtschaftlichen Potentialen Kenias zu überzeugen, wie die US-Agentur AP berichtete.

    Am selben Tag kamen nach Angaben der Organisation »Independent Medico-Legal Unit« sechs Demonstranten durch Polizeischüsse ums Leben. Insgesamt seien in diesem Jahr bei drei Demonstrationen, zu denen die Opposition aufgerufen hatte, 27 Menschen von der Polizei erschossen worden. Der kenianische Ärzteverband hatte bereits vor den Protesten am Mittwoch erklärt, dass seine Mitglieder in den vergangenen Monaten »Hunderte von verletzten Kenianern« versorgt hätten und es »Dutzende von Todesopfern« gegeben habe. Vom Innenministerium hieß es, mehr als 300 Personen seien festgenommen worden – sie sollen unter anderem wegen Plünderungen, Zerstörung von Eigentum und Angriffen auf die Polizei angeklagt werden. Weniger gründlich geht die Behörde bei der Meldung von Todesfällen vor. So klagte der Beauftragte der Unabhängigen Polizeiaufsichtsbehörde, John Waiganjo, am Donnerstag gegenüber dem lokalen Sender NTV, dass die Organisation »keine Meldungen erhalten hat, wie wir sollten, und ich denke, es ist wichtig, darauf hinzuweisen«.

    Der langjährige Oppositionsführer Raila Odinga hatte zu den Protesten an drei aufeinanderfolgenden Tagen gegen die Politik der Regierung aufgerufen. Am Mittwoch abend forderte seine Partei Azimio die Kenianer auf, »morgen in noch größerer Zahl« auf die Straße zu gehen, wie AFP meldete. Präsident Ruto peitschte dagegen der Polizei ein, »standhaft gegenüber Kriminellen, Banden, Anarchisten und allen Leuten, die Chaos verursachen wollen«, zu sein.

    #Kenia #police #violence_policière

    • @biggrizzly C’est sans doute vrai quand on pense à l’infâme film documentaire Africa Addio sorti en 1966 qui nous montre une Afrique en décomposition violente après le départ des colons.
      https://en.wikipedia.org/wiki/Africa_Addio

      In the White Highlands area, many white farmers, unwilling to remain without the protection of their governments, sell their farms at a loss and prepare to leave the continent forever. The lawns and gardens of their homes are then bulldozed by the new owners to make way for more farmland. The coffins of dead homeowners are exhumed and are taken by their families to be buried again on another continent.

      Armies of poachers descend on the savanna, now no longer protected as wildlife preserves. Hundreds of animals, including many elephants, are killed for their pelts and ivory. The British still do their best to protect the wildlife, by moving wildlife preserves and giving medical care to injured baby animals who were orphaned by poachers. A poaching operation is stopped by authorities, and they discover that the poachers had used grenades to kill 300 baby elephants. Hundreds of rotting animals, mainly zebras and gazelles, that had been killed and left by poachers must be burned by authorities for health reasons.

      Ce discours de la part d’italiens était le bienvenu chez les britanniques, états-unis et francais à la recherche d’une justification pour maintenir leur présence sur le continent africain.

      J’ai grandi avec le récit d’une colonisation allemande qui n’a apporté que du bien aux peuples colonisés contrairement aux autres puissances européennes qui auraient causé les conflits après leur départ par leur régime brutal.

      C’est l’esprit de l’auteur populaire Karl May qui décrit dans ses livres le bon sauvage qui est au fond un bon chrétien et ne peut que s’associer avec le le très chrétien héro d’origine allemande contre les méchants Arabes et blancs des États Unis.

      On rencontre toujours cette attitude mensongère et raciste chez des allemands ordinaires qui ne se rendent pas compte de la véritable signification des récits traditionnels.

      Karl May a écrit ses livres pendant que le père de Hermann Göring occupait entre 1885 et 1890 la fonction de de Reichskommissar, une sorte de préfèt du Reich, de la colonie Deutsch-Südwest-Afrika. Lors ce que le jeune Hermann fêtait ses 11 ans les successeurs de son père commettaient le génocide des Héréros et des Namas, une source d’inspiration pour le deuxième homme après le Führer quand il donnait ordre à Heydrich d’organiser la Gesamtlösung der Judenfrage , littéralement la « solution entière de la question juive ».
      https://de.wikipedia.org/wiki/Wannseekonferenz#Die_Entscheidung_zum_Holocaust

      Oui, il y a les gens qu’on peut tuer et les gens qu’on ne peut pas.

  • Arbeiten »wie ein Sklave«
    https://www.jungewelt.de/artikel/454502.prime-day-arbeiten-wie-ein-sklave.html

    11.7.2023 von Ralf Wurzbacher - Es ist mal wieder »Prime Day« bei Amazon. Zwei Tage lang ab diesem Dienstag gibt es Angebote satt, zum Schnäppchenpreis und exklusiv für »Prime«-Mitglieder und solche, die es werden wollen, möglich macht’s ein Probeabo. Wer sich locken lässt, spart sich ein paar Euro beim Einkaufen, was allerdings 90 Euro jährlich extra kostet. Dafür ist man dann irgendwie der bessere Kunde, »Prime« steht wahlweise für »prima«, »vorzüglich« oder »erster«. Die Allerletzten sind dagegen diejenigen, die den ganzen Plunder liefern müssen, insbesondere Beschäftigte von Subunternehmen, die für den Onlineriesen von Tür zu Tür müssen. Mehrere von ihnen haben sich in der Vorwoche gegenüber der Presse zu ihren Arbeitsbedingungen geäußert. Einer sagte: »Ich habe getragen wie ein Sklave vom Morgen bis zum Abend.«

    Auch wegen solcher Zustände wird bei Amazon erneut gestreikt – zum gefühlt tausendsten Mal in den vergangenen zehn Jahren. Seit einer Dekade verweigert der US-Konzern seinen Angestellten in den mittlerweile 20 Waren- und Versandzentren in der BRD den Abschluss eines Tarifvertrags nach den Vorgaben des Einzel- und Versandhandels. Aber die Gewerkschaft Verdi lässt nicht locker. Am Standort Winsen in Niedersachsen traten Teile der Belegschaft bereits zur Spätschicht am Sonntag abend in den Ausstand, für knapp 52 Stunden. Zudem rief Verdi zu einem Protestmarsch zum Hamburger Verteilerzentrum Veddel am späten Montag nachmittag auf. Durch die Rabattschlachten am »Prime Day« stünden wieder viele Überstunden bevor, teilte der Verdi-Landesbezirk Niedersachsen/Bremen mit. Die Beschäftigten hätten »für ihre harte Arbeit ein besseres Leben verdient, dafür kämpfen wir«, erklärte Verdi-Sekretär Nonni Morisse.

    Noch übler als den eigenen Leuten wird den an »selbständige« Firmen outgesourcten Paketzustellern mitgespielt. »Wenn um 20.00 Uhr Feierabend ist, dann kommst du heim, duschen, ins Bett«, schilderte einer von acht Fahrern, die täglich vom Verteilzentrum Völklingen-Wehrden ausschwärmen, gegenüber dem Saarländischen Rundfunk (SR). Im Rahmen gemeinsamer Recherchen mit Correctiv und der Nordsee-Zeitung haben die Journalisten die Angaben der Befragten auf ihre Richtigkeit überprüft. Demnach müssen diese regelmäßig bis zu 300 Sendungen täglich zustellen, während in einer offiziellen Amazon-Verlautbarung von einer »Standardroute mit ungefähr 8,5 bis neun Stunden Arbeitszeit« bei »ungefähr (…) 135 Paketen« die Rede ist. Dagegen berichteten die Betroffenen übereinstimmend davon, dass sie kaum leistbare Mengen zustellen mussten, von enormem Zeitdruck und einer hohen körperlichen wie seelischen Belastung. Dazu kommen Klagen wegen zu niedriger Lohnabrechnungen und unbezahlter Überstunden.

    Zitiert wird in den Beiträgen ein ehemaliger Subunternehmer: »Man kann kein erfolgreiches Amazon-Subunternehmen führen mit menschenwürdigen Arbeitsbedingungen«. Um einen Gewinn von 60.000 Euro jährlich einzuspielen, müssten den Recherchen zufolge zwölf Monate lang 20 Lieferwagen im Einsatz sein. Außerdem wären wesentliche Posten vom Autoleasing über die Buchhaltungssoftware bis zu Versicherungen zu vorgegebenen Konditionen über Vertragspartner von Amazon abzuwickeln. Nicht zuletzt ist man als Sub darauf angewiesen, dass Amazon genügend Touren beauftragt, wofür es keine Garantie gibt. Unter solchen Bedingungen wird Ausbeutung zum Regelfall. »Der Druck wird dann wirklich ungefiltert, ungebremst an die eigenen Mitarbeiter weitergegeben«, gab der SR den Sozialwissenschaftler Stefan Sell von der Hochschule Koblenz wieder. Das sei »Kern der Strategie von Amazon«. Der Bremer Fachanwalt für Arbeitsrecht, Frank Ewald, sieht gar Hinweise auf unerlaubte »Arbeitnehmerüberlassung«.

    Immerhin hat sich die Politik des Problems angenommen. Der Bundesrat will das Paketbotenschutzgesetz verschärfen, und in einer Prüfbitte an die Bundesregierung geht es unter anderem um ein Verbot des Subunternehmertums. Ausgenommen werden sollen jedoch Anbieter, die Tariflohn zahlen. Professor Sell ist skeptisch: »Tariflohn für die Paketzusteller, das müsste ja auch kontrolliert werden«, wozu die Behörden aber nicht in der Lage seien. Deshalb werde dieser Vorschlag den Leidtragenden kaum weiterhelfen.

    #Deutschland #Amazon #Botendienst #Lieferant #Ausbeutung #Fahrer #Logistik #Subunternehmer #Überstunden #Bundesrat

  • Deutscher Faschismus - Die vergessenen Frauen von Aichach
    https://www.jungewelt.de/artikel/452873.deutscher-faschismus-die-vergessenen-frauen-von-aichach.html

    16.6.2023 Eine Spurensuche von Rudolf Stumberger

    1943 wurden mehr als 350 weibliche Gefangene aus der Haftanstalt in Bayern nach Auschwitz deportiert.

    Aichach ist eine kleine Stadt mit etwas mehr als 20.000 Einwohnern im bayerischen Regierungsbezirk Schwaben, an die 60 Kilometer nordöstlich von München. Hier gibt es ein Schloss der Wittelsbacher, ein Feuerwehrmuseum und eine schöne Altstadt. Und Aichach ist der Standort für das größte Frauengefängnis in Bayern, errichtet um 1900. Dort saßen auch in der Nazizeit Frauen ein, doch nichts erinnerte bisher in der Stadt an ihre Geschichte. Das ist seit dem Wochenende anders. Jetzt gibt es einen Erinnerungsort vor dem Eingang zum Stadtmuseum.

    Das Gebäude war damals ein Krankenhaus, in dem die meisten der Zwangssterilisationen an Frauen vorgenommen wurden, die die Nazis als »asozial« kategorisiert hatten. Zeitweilig waren in der für 500 Insassen gebauten Anstalt bis zu 2.000 Frauen untergebracht, darunter politische Gefangene wie die bekannte Augsburger Kommunistin Anna Pröll. Mehr als 350 Frauen in »Sicherheitsverwahrung« wurden nach Auschwitz in den Tod geschickt. An all diese Schicksale erinnert nun das Denkmal, um das sich das Frauenforum Aichach-Friedberg jahrelang bemüht hatte.

    Es ist das Staatsarchiv München in der Schönfeldstraße, in dem die Akten des Frauengefängnisses Aichach aus der Zeit des deutschen Faschismus und davor aufbewahrt werden. In blauem Karton eingebunden, auf der Vorderseite versehen mit diversen handschriftlichen Bemerkungen aus Tinte, liegt ein Stapel dieser alten, abgenutzten Akten auf dem Tisch im Lesesaal. Öffnet man sie, wird aus Gerichtsurteilen, ärztlichen Berichten, konfiszierten Briefen, »kriminalbiologischen« Untersuchungen und Meldungen über Arbeitsfleiß und Betragen ein Frauenschicksal lebendig, das zugleich auch die Geschichte von zunehmender Ausgrenzung und Repression bereits in der Weimarer Republik und während der späteren Naziherrschaft erzählt – bis hin zur Ermordung.

    In den Akten ein hektografierter vergilbter Zettel: »Die Obengenannte wurde am 26.3.1943 der Polizei übergeben. Die Strafunterbrechung wurde vom Reichsjustizministerium angeordnet«, ist da zu lesen. Die »Obengenannte« war die 48jährige Münchnerin Walburga W., die im Frauengefängnis Aichach wegen kleiner Diebstähle einsaß. Das Leben meinte es nicht gut mit ihr. Immer wieder wurde die Mutter zweier kleiner Kinder wegen geringfügiger Diebstähle verurteilt. Die Ansicht, dass es ein »Gewohnheitsverbrechertum« oder ein »Berufsverbrechertum« gebe, war in der Richterschaft und Polizei während der 1920er Jahre weitverbreitet. Wer dieser Personengruppe zugerechnet wurde, galt als im Grunde nicht resozialisierbar. Es bliebe nur ihre »Ausschaltung« durch vorbeugende und möglichst lebenslange Internierung. Daraus wurde dann unter den Nazis die Vorbeugehaft und die Sicherungsverwahrung.
    Radio Marabu

    Walburga W. trat am 30. November 1938 in Aichach eine fünfjährige Haftstrafe an, anschließend wurde sie zu »Sicherheitsverwahrung« verurteilt. Diese letzte Verurteilung ist verhängnisvoll. Ihr Schicksal wird am 18. September 1942 im ukrainischen Schitomir, 1.700 Kilometer von Aichach entfernt, entschieden. Dort befindet sich zu dieser Zeit das »Führerhauptquartier Werwolf« und auch das Feldquartier von Reichsführer SS Heinrich Himmler. In einer fünfstündigen Besprechung einigen sich der SS-Führer und Reichsjustizminister Otto Georg Thierack darauf, alle im Gewahrsam der deutschen Justiz befindlichen Juden, sogenannte Zigeuner, Russen und Ukrainer sowie alle Polen mit mehr als dreijährigen und alle Tschechen und Deutsche mit mehr als achtjährigen Haftstrafen der SS zu übergeben. Gleiches gilt auch für die rund 15.000 Deutschen, die sich Mitte 1942 in Sicherheitsverwahrung befinden. »Auslieferung asozialer Elemente aus dem Strafvollzug an den Reichsführer SS zur Vernichtung durch Arbeit«, schreibt Thierack später in seinem Protokoll. Bereits im Oktober 1942 wird mit einem Geheimerlass des Justizministeriums diese Auslieferung angeordnet, ab 1. November 1942 beginnt die Selektion in den Haftanstalten.

    Transporte nach Auschwitz begannen in Aichach Anfang 1943. Am 26. März wurde auch Walburga W. deportiert. Die Frauen von Aichach wurden in das Frauenlager Auschwitz-Birkenau verschleppt. Anders als die nicht zur Arbeit eingeteilten Juden, die sofort in den Gaskammern getötet wurden, wurden sie im Standesamt von Auschwitz registriert. Von hier wurden später auch die Totenscheine versandt. Diese Registratur des Todes war eine der bizarren Facetten dieses Ortes, neben dem KZ-Bordell, dem Mädchenorchester und dem biederen Familienleben der SS-Mitglieder.

    Im Frauenlager wurden zu dieser Zeit 20.000 Frauen gefangengehalten. Sie mussten dort unter infernalischen Bedingungen in Baracken und auf faulenden Strohsäcken dahinvegetieren. Die Wienerin Ella Lingens, die als Ärztin und »Arierin« durch ihre Tätigkeit im Krankentrakt überlebte, beschrieb die Zustände im Frauenlager: »Das Gros der Frauen glich hässlichen, alten Skeletten, die sich wie durch ein Wunder auf den Beinen hielten.« Wer sich nicht irgendwie zusätzliche Nahrung verschaffen konnte, »starb in Auschwitz in der Regel zwischen dem vierten und dem zehnten Lagermonat«. Im März 1943, als die Frauen aus ­Aichach ins Lager kamen, wütete dort das Fleckfieber. »Die Mortalität lag bei etwa 80 Prozent«, so Lingens in ihren Erinnerungen, »Tote, Tote wohin man blickte.«

    Walburga W. überlebte nicht einmal fünf Wochen in Auschwitz, sie starb am 8. Mai 1943. Die meisten Frauen aus Aichach teilten ihr Schicksal.

    Hintergrund: Personelle Kontinuität

    In Westdeutschland blieb die Aufarbeitung der Nazijustiz eine Farce, so urteilte der Historiker Nikolaus Wachsmann in seinem Buch »Gefangen unter Hitler. Justizterror und Strafvollzug im NS-Staat«: Die Kontinuität im Justizwesen sei »mehr als auffällig« gewesen. Rund 80 Prozent der früheren Beamten wurden wieder eingestellt, schreibt Wachsmann. Zwar erhielten 1947 in einem der Nürnberger Prozesse einige hohe Beamte des Reichsjustizministeriums Haftstrafen, kein einziger belasteter Richter oder Staatsanwalt aber wurde in Westdeutschland verurteilt.

    Kontinuität war auch bei den Gefängnisbeamten angesagt. Als das »dunkelste Kapitel in der Geschichte der westdeutschen Prozesse gegen NS-Gefängnisbeamte« bezeichnete Wachsmann das Verfahren 1951 gegen jene Männer, die für die »Vernichtung durch Arbeit« von Strafgefangenen verantwortlich waren. Die daran beteiligten Beamten des Reichsjustizministeriums wurden freigesprochen. Die Richter nahmen die Lügen der Angeklagten, nichts von der Mordaktion gewusst zu haben, anstandslos hin und äußerten sogar Verständnis für die Politik der Nazis, immerhin habe sich der deutsche Staat im Krieg befunden.

    Angesichts derartiger Urteile verwundert es wenig, dass es örtlichen Gefängnisbeamten leichtfiel, ihre berufliche Laufbahn fortzusetzen. In Aichach zum Beispiel wurde nach der Befreiung durch die US-Armee nahezu das gesamte Leitungspersonal entlassen, darunter Direktor von Reitzenstein, der Gefängnisarzt Ludwig Schemmel, die Gefängnislehrerin Anni Dimpfl und der evangelische Gefängnisgeistliche Ernst Stark, Ortsgruppenleiter der NSDAP. Dies war aber kein Hindernis, ihn 1949 wieder in den Staatsdienst zu übernehmen. Gleiches galt für die Beteiligung Schemmels an Zwangssterilisationen. Wenige Jahre nach Ende der Nazidiktatur war die Führungsriege von Aichach wieder fast komplett an Bord, nur der Direktor nicht. Ihn hatte man in den Ruhestand versetzt. (rstu)

    #Allemagne #Bavière #histoire #justice #nazis #femmes

  • Einheit durch Spaltung
    https://www.jungewelt.de/artikel/452533.zerfall-der-linkspartei-einheit-durch-spaltung.html

    12.6.2023 von Nico Popp - Die innerparteilichen Auseinandersetzungen in der Linkspartei eskalieren. Am Sonnabend hat der Parteivorstand in aller Form mit der Bundestagsabgeordneten und ehemaligen Fraktionschefin Sahra Wagenknecht gebrochen und sie zur »Rückgabe« ihres Bundestagsmandats aufgefordert; zur Begründung wird auf die »öffentlichen Ankündigungen« Wagenknechts verwiesen, »die Gründung einer konkurrierenden Partei zu prüfen«. »Klar« sei: »Die Zukunft der Linken ist eine Zukunft ohne Sahra Wagenknecht.« Wagenknecht und alle, »die sich am Projekt einer konkurrierenden Partei beteiligen«, werden in dem Beschluss aufgefordert, ihre Mandate niederzulegen.

    Wagenknecht hatte zuletzt am Freitag bekräftigt, dass sie bis zum Jahresende über eine mögliche Neugründung entscheiden will. Dass sie für die Linkspartei nicht mehr kandidieren wird, hat sie bereits vor Monaten klargestellt. Am Wochenende äußerte sie sich zunächst nicht öffentlich zu dem Vorstandsbeschluss.

    Koparteichefin Janine Wissler erklärte am Sonnabend, der Vorstand kämpfe um die Einheit der Partei und gegen alle Versuche, sie zu spalten. Minderheitenmeinungen würden respektiert. Man erwarte aber, dass »die demokratischen Beschlüsse der Partei ernstgenommen werden und sie auch eingehalten werden«. Sie hielt Wagenknecht vor, mit der Gründung einer neuen Partei zu drohen, um die Linkspartei auf einen anderen Kurs zu bringen als den, den die Gremien »demokratisch« beschlossen hätten.

    Der sonderbare Kampf um die »Einheit der Partei«, der ihre Spaltung zur Gewissheit macht, zog am Wochenende sogleich Kritik auf sich. Kofraktionschefin Amira Mohamed Ali nannte den Beschluss »einen großen Fehler und einer Partei unwürdig, die sich Solidarität und Pluralität auf die Fahnen schreibt«. Die Bundestagsabgeordnete Gesine Lötzsch wollte wissen, warum der Vorstand nicht sie und die beiden anderen direkt gewählten Abgeordneten Sören Pellmann und Gregor Gysi nach ihrer Meinung frage. Der Bundestagsabgeordnete Alexander Ulrich sagte, Wagenknecht solle auf keinen Fall ihr Mandat zurückgeben. Seine Fraktionskollegin Sevim Dagdelen erklärte, »dieser Vorstand« habe nichts mehr mit dem Gründungskonsens und dem Programm der Partei zu tun; der Kurs führe »in Richtung einer bedeutungslosen Sekte«. Damit »mäste« der Vorstand zugleich die AfD.

  • Putsch der Opportunisten
    https://www.jungewelt.de/artikel/452562.putsch-der-opportunisten.html

    La fin du parti de gauche allemand est proche. Le bloc de fonctionnaires qui domine le comité dirigeant essaye de se débarasser des membres du parti les plus populaires et des courants ouvertement socialistes. Après leur départ le parti aura perdu sa raoson d’être et n’aura d’intérêt que pour les vautours qui se disputeront les restes du patrimoine du parti communiste allemand KPD datant des années 1920. On ne verra pas aussitôt de nouveau parti socialiste allemand.

    Ce développement est une catastrophe pour chaque initiative et association de gauche ou ouvrière qui a besoin d’un appui dans les parlements de la république fédérale.

    12.6.2023 von Nico Popp - Wer hätte gedacht, dass die Parteiführung von Die Linke noch die intellektuelle Kapazität mobilisieren kann, um den politischen Betrieb mit echten Innovationen zu bereichern? Die Rigorosität, mit welcher der Vorstand auf offener Bühne die eigene Partei zerlegt, dürfte in der Geschichte der Bundesrepublik ziemlich einmalig sein – die Praxis des »autogolpe«, also des von der Spitze her lancierten Putsches gegen die eigene Institution oder Organisation, kannte man bislang nur aus Südamerika. Den Charme des Neuen hat auch, dass man Genossinnen und Genossen zur Niederlegung von Mandaten auffordert, bevor Ausschluss oder Austritt erfolgt sind. Derlei wird dadurch nicht lustiger, dass man behauptet, die Operation diene dazu, die Linke als »plurale« Partei zu erhalten.

    Es lohnt sich, die Frage zu stellen, warum der Linke-Vorstand die Spaltung von Partei und Fraktion gerade jetzt herbeiführen will. Indem er sie von sich aus forciert, geht er ein hohes Risiko ein: Die Mehrheit in sehr vielen Basisorganisationen will diese Spaltung nicht. Auch die »alte PDS« – Gysi, Bartsch, Lötzsch, Brie – will sie nicht. Gut möglich, dass sich die Truppe im Liebknecht-Haus hier ein paar Feinde zu viel organisiert.

    Plausibel erscheint, dass der Vorstand vor allem »enttäuschte« Grünen-Wähler an die Linkspartei heranziehen will und darauf setzt, durch die ostentative Austreibung Wagenknechts für dieses Milieu attraktiver zu werden. Aber sichert das die Existenz einer Rest-Linken? Sobald die Wagenknecht-Anhänger – und mit ihnen gewiss noch viele andere Genossinnen und Genossen – die Partei verlassen haben werden, wird diese nur noch aus zwei oder drei linksliberalen Strömungen ohne stabile Wählerbasis bestehen, die sich nicht in Grundsatzfragen, wohl aber nach Herkommen, Jargon und Habitus unterscheiden. Sie werden ihren regierungslinken, »bewegungslinken« oder identitätspolitischen Opportunismus gegen- oder miteinander managen und mittelfristig – solange man ein paar Mandate anzubieten hat – versuchen, bei den Grünen oder der SPD unterzukommen. Auch bei den »progressiven« NGOs im Regierungsviertel sind Planstellen zu besetzen.

    Das Projekt Die Linke hätte nicht in so einer Komödie enden müssen. Man kann mit einem zentristischen Programm auch langfristig Oppositionspolitik machen. Dass die Linkspartei vor der Bruchlandung steht, liegt wesentlich daran, dass sie von Leuten übernommen wurde, die in allen grundsätzlichen Fragen einen moderierten Regierungsstandpunkt vertreten – wobei es unter dem Strich egal ist, ob die Protagonisten das mit Kalkül tun oder die Rolle von nützlichen Idioten spielen.

    #Allemagne #politique #gauche

  • In den Wind geschlagen
    https://www.jungewelt.de/artikel/452085.weltordnung-in-den-wind-geschlagen.html

    5.6.2023 von David Hoffmann - Während seiner Amtszeit sorgten die USA für eine Erweiterung der NATO und zahlreiche Staatsstreiche: US-Präsident Georg W. Bush (l.) und Dmitri Medwedew beim G8-Gipfel in Japan (8.7.2008)

    Im Juni 2008 präsentierte in Berlin das nur kurz zuvor ins Amt gekommene russische Staatsoberhaupt Dmitri Medwedew, damals ein gewöhnlicher Neoliberaler aus dem eher prowestlichen Teil der Staatselite der Russischen Föderation, die Idee eines »Vertrages für Sicherheit in Europa« (VSE-Vertrag). Nachdem russische Entspannungsinitiativen der späten 1990er und frühen 2000er Jahre durch den »Krieg gegen den Terror« versandet waren, stellten die Vorschläge Medwedews einen zweiten Versuch dar, mit den Westmächten zu einer umfassenden Friedenslösung zu kommen. Ein Handlungsfenster öffnete sich. Über einen Zeitraum von fünf Jahren wurde eine Reihe weiterer Abrüstungs-, Rüstungskontroll- und Sicherheitsverträge besprochen.

    Nach der Auflösung der Sowjetunion im Jahr 1991 schien eine Konfrontation der Großmächte auf dem europäischen Kontinent für Jahre ausgeschlossen. Russland war territorial viel kleiner als die UdSSR, und in den früheren westlichen Republiken der Sowjetunion gab es große Absetzbewegungen von Moskau und dem Taschkenter Vertrag, dem Nachfolgevertrag der Warschauer Vertragsorganisation (WVO). So trat die Ukraine als nach Bevölkerung zweitgrößte Ex-UdSSR-Republik mit ihrer wichtigen Rüstungsindustrie nicht bei. Die baltischen Staaten und Moldau gingen sogar noch weiter und hielten sich auch von der Gemeinschaft Unabhängiger Staaten (GUS) fern; erst 1994 trat Moldau doch noch bei.
    Falsche Versprechen

    Noch bei den Verhandlungen über den Beitritt der DDR zur BRD hatten führende westdeutsche, britische, nordamerikanische und NATO-Vertreter der sowjetischen Regierung feste Zusagen gemacht, dass das Nordatlantikbündnis sich nach dem DDR-Beitritt zur BRD »keinen Zoll« nach Osten ausdehnen werde.¹ Als bereits in den frühen 1990er Jahren Diskussionen über einen NATO-Beitritt Polens, Tschechiens und Ungarns aufkamen, versandeten diese Initiativen. Die US-Regierung unter William Clinton fing diese Spekulationen ein, indem sie 1994 die Gründung der »Partnerschaft für den Frieden« (PfP) der NATO forcierte. Alle Staaten der früheren WVO sollten der PfP beitreten, um ein gemeinsames Sicherheitsforum zu etablieren – ein NATO-zentriertes. Der russischen Regierung unter Boris Jelzin vermittelte Clinton, die Gründung der PfP sei eine Alternative zur NATO-Erweiterung.² Erneut machte Washington Moskau die Zusage, die NATO würde sich nicht ausdehnen.

    Doch bereits ein Jahr nach Gründung der PfP schwenkte die Clinton-Regierung um. 1995 äußerte das US-Staatsoberhaupt bei einer Rede, dass eine NATO-Expansion »unausweichlich« sei.³ Zunächst warteten die US-Politiker jedoch ab, da in den Umfragen der für das Jahr 1996 anstehenden Präsidentschaftswahlen in Russland der Kommunist Gennadi Sjuganow führte. Für Washington war ein Sieg Jelzins jedoch von überragender Bedeutung. Deswegen entsandte Clinton sogenannte Spin-Doktoren, um Jelzin zu helfen. Letztendlich ignorierten die westlichen Regierungen Berichte über Wahlfälschungen und erkannten Jelzin, der offensichtlich nicht auf eine Mehrheit in seinem Land setzen konnte, als Präsidenten an.⁴

    Schon im Schatten der gefälschten Wahlen gingen die US-Amerikaner in die politische Offensive. In der Mongolei 1996, in Bulgarien 1997 und in der Slowakei 1998 intervenierten US-Stiftungen, um Wahlsiege neoliberaler Kandidaten zu sichern. In Jugoslawien unterstützten US-Geheimdienste gemeinsam mit ihren deutschen Pendants kosovo-albanische Terroristen, im Frühjahr 1999 bombardierte die NATO das Land. Aus Moskau kamen zwar Protestnoten, doch diese wurden ignoriert. Washington, mit Berlin und London im Schlepptau, setzte auf eine Expansion des eigenen Einflussbereichs und half beim Sturz von Regierungen in Südosteuropa, Osteuropa und Zentralasien.

    Nach den russischen Präsidentschaftswahlen 1996 hatte die US-Regierung keine Vorbehalte mehr gegen eine NATO-Expansion. Versprechen aus der ersten Hälfte der 1990er Jahre wurden fortan ignoriert. Auf einem NATO-Gipfel 1997 bot das Bündnis Polen, Tschechien und Ungarn Beitrittsverhandlungen an. Als Trostpflaster erhielt Russland die Schaffung des NATO-Russland-Rates, der sich mit europäischen Sicherheitsfragen beschäftigen sollte. Zwölf Tage bevor die NATO mit ihrem völkerrechtswidrigen Angriffskrieg auf Jugoslawien begann, traten die drei vormaligen WVO-Staaten dem Bündnis bei.

    Parallel zu der Clinton-Offensive in den vormals sozialistischen Staaten gab es Verhandlungen über den AKSE-Vertrag. Im Vertrag über Konventionelle Streitkräfte in Europa (KSE-Vertrag) hatten sich im Geist der Entspannung 1990 die NATO- und WVO-Staaten auf drastische Reduzierungen ihrer Bestände an Offensivwaffen, auf regionale Obergrenzen für einzelne Waffentypen und ein Informations- und Verifikationsregime geeinigt. Da im KSE-Vertragssystem noch die WVO vorgesehen war, war vieles aus dem Vertrag bereits wenige Jahre später überholt. Im Verlauf der 1990er Jahre verhandelten die Regierungen deswegen über einen Nachfolgevertrag, der als »Angepasster KSE-Vertrag« (AKSE-Vertrag) in die Geschichte einging. Dieser sah die Ablösung der regionalen Obergrenzen durch nationale und territoriale Begrenzungen sowie die Öffnung des Vertrages für weitere Staaten vor.

    Zeichen des guten Willens

    Auf einem Gipfel der Organisation für Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa (OSZE) in Istanbul im November 1999 einigten sich die Vertreter der KSE-Signatarstaaten auf den AKSE-Vertrag. Gleichzeitig sagte Moskau zu, die russischen Truppen aus den Republiken Georgien und Moldau abzuziehen. Trotz der Clinton-Offensive der zweiten Hälfte der 1990er Jahre war die russische Staatsführung bereit, über Abrüstung, Entspannung und Rüstungskontrolle zu reden. Hinzu kam, dass Präsident Jelzin Wladimir Putin als seinen Nachfolger bestimmte. Dieser stand für eine Abkehr von der neoliberalen Schocktherapie Russlands der 1990er Jahre und forcierte eine stärkere staatliche Kontrolle von Schlüsselwirtschaften sowie eine Begrenzung des politischen Einflusses der Oligarchen. Um sein ambitioniertes innenpolitisches Programm umzusetzen, setzte er in der Außenpolitik auf Entspannung. Bereits in Putins ersten beiden Amtsjahren trat das Land dem AKSE-Vertrag, dem Kernwaffenteststoppvertrag und dem START-II-Vertrag bei – letzteres Abkommen sah unter anderem die Zerstörung aller landgestützten Interkontinentalraketen mit Mehrfachsprengköpfen vor.

    Nachdem US-Präsident George W. Bush infolge der Terroranschläge vom 11. September 2001 den »Krieg gegen Terror« ausgerufen hatte, schloss sich Russland an. Der Etablierung von US-Militärbasen in Usbekistan und Kirgistan stimmte Moskau zu. Als Zeichen des guten Willens gab die russische Regierung außerdem einen Horchposten auf Kuba und eine Marinebasis in Vietnam auf. Bis zum Jahr 2003 zog sich die russische Armee aus allen großen Engage­ments jenseits des postsowjetischen Raums, vor allem den Einsätzen auf dem Balkan, zurück.

    Doch Moskau konnte noch so viele Olivenzweige hinhalten, die Bush-Offensive der 2000er Jahre in Osteuropa, dem Kaukasus und Zentralasien war noch ambitionierter als die von Clinton. Die USA errichteten Basen in Rumänien und Bulgarien, entsandten Berater nach Georgien und richteten sich langfristig in Afghanistan ein. Auf einem Gipfel in Prag luden die NATO-Staats- und Regierungschefs sieben weitere Staaten in das Bündnis ein – darunter die drei baltischen Staaten. Die US-Regierung stieg außerdem 2002 aus dem Vertrag über die Begrenzung von antiballistischen Raketenabwehrsystemen (ABM-Vertrag) aus, und die NATO-Länder ratifizierten den AKSE-Vertrag nicht. Die NATO-Außenminister hatten ein halbes Jahr nach dem Istanbuler OSZE-Gipfel aus Protest gegen den Tschetschenienkrieg beschlossen, dass die westlichen Staaten den AKSE-Vertrag erst ratifizierten, wenn die russischen Truppen aus Georgien und Moldau abzögen – eine Vorbedingung, die es in den Istanbuler Dokumenten nicht gab.⁵ Belarus, Kasachstan, Russland und die Ukraine ratifizierten als einzige KSE-Signatarstaaten den AKSE-Vertrag.

    Ein abrüstungspolitischer Sonderfall war das Baltikum: Die Staaten Estland, Lettland und Litauen hatten den KSE-Vertrag nicht ratifiziert. Als Nicht-KSE-Mitglieder nahmen sie auch nicht an den AKSE-Diskussionen teil. Das baltische Desinteresse hatte mutmaßlich reale Hintergründe: Der an das Baltikum angrenzende und erst im Jahr 2010 aufgelöste russische Leningrader Militärdistrikt war damals der am wenigsten militarisierte Militärbezirk der gesamten Russischen Föderation. Als im Jahr 2002 eine NATO-Erweiterung um die drei baltischen Staaten in den Bereich des Möglichen rückte, forderte die russische Regierung, dass Estland, Lettland und Litauen schnellstmöglich dem AKSE-Vertrag beitreten sollten.⁶ Das taten sie nicht.

    Nachdem die Clinton-Regierung mit Serbien 2000 die Liste ihrer Regierungsumstürze abschlossen hatte, ging die Bush-Regierung weiter. Von westlichen Stiftungen forcierte sogenannte Farbenrevolutionen brachten Regierungswechsel in Georgien (2003), der Ukrai­ne (2004/2005) und Kirgistan (2005). Im Gegensatz zu Belgrad, Bratislava, Sofia und Ulan-Bator brachten diese Umstürze russophobe Nationalisten wie Micheil Saakaschwili an die Regierung.

    Parallel zu den Farbenrevolutionen im postsowjetischen Raum schritt die NATO-Osterweiterung voran. Im Frühjahr 2004 traten die mittelosteuropäischen Länder dem Nordatlantikvertrag bei. Durch den Boykott des ­AKSE-Vertrags können die NATO-Altmitglieder seit dem Beitritt dieser Mitglieder »temporär« Truppen in die ehemaligen WVO-Staaten verlegen. Neben den »zeitweiligen« Verlegungen gab es ab 2007 Planungen für den Bau einer Raketenabwehr in Polen und Tschechien. Zu guter Letzt »suspendierte« Russland 2007 seine Beteiligung am KSE-Vertrag. Themen wie Abrüstung, Entspannung und Rüstungskontrolle rückten in die ferne Zukunft. Ein Jahr später erkannte eine Reihe von NATO-Staaten die völkerrechtswidrig erklärte Unabhängigkeit der südserbischen Provinz Kosovo an. Die Beziehungen zwischen der NATO und Russland verschlechterten sich zusehends.

    Entspannung

    Bei den Präsidentschaftswahlen in den USA gewann 2008 der Demokrat Barack Obama und versprach nach seinem Amtsantritt einen »Reset« der Beziehungen USA–Russland. Die wirtschaftlichen Probleme der Vereinigten Staaten im Zuge der Finanzkrise ab 2007 führten außerdem dazu, dass verschiedene US-Alliierte eine eigenständigere Außenpolitik forcierten. Die EU schuf das Projekt der »Östlichen Partnerschaft«, um über eine Expansion des eigenen Einflussbereichs weiter gen Osten ohne eine NATO-Ausdehnung verhandeln zu können. Die türkische Regierung etablierte eine Reihe von Turkorganisationen (TAKM, Turkpa und Turk-Rat), um eigenständig im Kaukasus und Zentralasien den türkischen Einfluss auszubauen. Es waren die ersten leichten Verschiebungen hin zu einer multipolaren Weltordnung.

    Vor diesem Hintergrund kam es in Moskau zu einem Schwenk der Außen- und Sicherheitspolitik. Putin trat ab, und Dmitri Medwedew stieg zum neuen Präsidenten auf. Bei seinem ersten offiziellen Besuch im Ausland im Juni 2008 – das Reiseziel war Deutschland – schlug Medwedew vor, dass die europäischen Staaten einen verbindlichen Vertrag über die Sicherheit auf dem Kontinent konzipieren und ratifizieren sollten. Bei einer Grundsatzrede vor rund 700 Politikern und Wirtschaftsvertretern sagte der Präsident, dass Organisationen aus dem »euro-atlantischen Raum« (das schloss die NATO mit ein) ebenfalls Vertragsparteien werden sollten. Seine Initiative hatte als Kernpunkt die Festschreibung von bindenden Prinzipien, ein Ende der NATO-Ausdehnung, eine Lösung der verschiedenen Rüstungskontrollfragen in Europa und einen gemeinsamen Gipfel zur Erörterung all dieser Fragen.⁷ Die Rede in Berlin steht symbolisch für den Beginn einer Phase der Entspannung.

    Dabei half, dass im Zuge der Bundestagswahl 2009 die FDP an die Regierung kam und die SPD in der Koalition mit der Union ablöste. Im Inland und der EU setzte die Partei unter Guido Westerwelle gnadenlos auf Austerität. In der Außenpolitik jenseits der EU bedeutete der Amtsantritt von Westerwelle als Außenminister einen Schwenk weg von einer blinden US-Gefolgschaft. Bereits im Wahlkampf beobachtete die US-Botschaft in Berlin besorgt, dass der FDP-Chef ständig den Abzug der US-Atomwaffen aus der Bundesrepublik forderte.⁸ Diese Forderung schaffte es dann auch in den Koalitionsvertrag. Darüber hinaus hielt die »schwarz-gelbe« Koalition fest, »Abrüstung und Rüstungskontrolle (…) nicht als (…) Verlust an Sicherheit, sondern als zentralen Baustein einer globalen Sicherheitsarchitektur der Zukunft« zu verstehen. Ferner setzte sich die zweite Merkel-Regierung für eine Ratifizierung des AKSE-Vertrags ein und wollte bei Auslandseinsätzen der Bundeswehr eine »Kultur der Zurückhaltung« pflegen.⁹ Sätze, die knapp anderthalb Jahrzehnte später wie aus einer anderen Welt wirken.

    Im Zuge von »Schwarz-Gelb« endete eine Reihe von Bundeswehr-Einsätzen, wie beispielsweise am Horn von Afrika (2010) und in Bosnien-Herzegowina (2012). Als 2011 eine Gruppe von NATO-Staaten Libyen bombardierte, beteiligte sich Deutschland explizit nicht daran. Als 2010 die russische Regierung einen Umsturz in Kirgistan weg vom Nationalisten Bakijew forcierte, erkannte die »schwarz-gelbe« Bundesregierung die neue Regierung rasch an, während die US-Regierung auf dem Expräsidenten als rechtmäßigem Staatsoberhaupt beharrte. Deutschland agierte zusehends eigenständiger.

    Nach der Grundsatzrede in Berlin reiste Medwedew umher, um für seine Idee zu werben. Im Oktober 2008 konkretisierte er bei einer Veranstaltung im französischen Evian seine Vorschläge. Im April 2009 besprach das russische Staatsoberhaupt sogar mit US-Präsident Obama den Vertrag. Nach knapp einem Jahr stellte Außenminister Sergej Lawrow den VSE-Vertrag erstmals im Rahmen der OSZE vor. Dieser enthielt vier zentrale Blöcke: legal bindende Regeln für alle Mitglieder, Rüstungskontrolle und vertrauensbildende Maßnahmen, Konfliktlösungsprinzipien und -mechanismen und zu guter Letzt kooperative Formate zur Lösung neu aufkommender Gefahren.¹⁰ Ein Aufschlag war gemacht.

    Parallel zu den weitreichenden Vorschlägen des VSE-Vertrags wurde es im Rahmen der allgemeinen Atmosphäre der Entspannung konkret: Im Verlauf des Jahres 2009 verhandelten Vertreter aus den USA und Russland über den New-START-Vertrag zur weiteren Reduzierung und Begrenzung der strategischen Angriffswaffen. Der 1991 unterzeichnete Vorläufer dieses Abkommens sah eine Begrenzung der Potentiale von Trägersysteme, eine Obergrenze von nuklearen Gefechtsköpfen, die Halbierung der Anzahl eines Typs schwerer sowjetischer Interkontinentalraketen sowie eine weitere Obergrenze von Atomsprengköpfen auf Interkontinentalraketen sowie U-Boot-gestützten ballistischen Rakete für beide Seiten vor. Der New-START-Vertrag trat im Frühjahr 2010 in Kraft.

    Kein Interesse

    Trotz der Entspannung auf der Ebene Moskau–Washington waren NATO-Vertreter und die US-Regierung nicht bereit, die um das Nordatlantikbündnis zentrierte Sicherheitsordnung in Europa aufzuweichen und einen neuen Sicherheitsvertrag für Gesamteuropa zu ermöglichen. Im November 2009 erteilte NATO-Generalsekretär Anders Fogh Rasmussen bei einem Moskau-Besuch dem VSE-Vertrag eine Absage, zwei Monate später US-Außenministerin Hillary Clinton.

    Der Gegenwind sorgte nicht dafür, dass Präsident Medwedew keine Zugeständnisse mehr machte. In Transnistrien zwang Moskau Dauerstaatschef Igor Smirnow zum Abtritt und forcierte im Verlauf des Jahres 2011 eine Demokratisierung. Die Transnistrier wählten daraufhin mit dem in der Region geborenen Ukrainer Jewgeni Schewtschuk einen neuen Präsidenten¹¹ und machten somit eine Lösung des Konfliktes wahrscheinlicher. Als im Frühjahr 2011 ein Aufstand Libyen erschütterte, drängten die Staats- und Regierungschefs Frankreichs, Großbritanniens und der USA auf ein militärisches Eingreifen. Im UN-Sicherheitsrat enthielt sich Russland, um das zu ermöglichen.¹² Durch das Opfern eines Verbündeten in Afrika erhoffte sich Medwedew Zugeständnisse in anderen Fragen.

    Die US-Regierung bewegte sich jedoch in der VSE-Vertrags-Frage nicht. Um die Flexibilität der »schwarz-gelben« Bundesregierung auszunutzen und doch noch zu Ergebnissen zu kommen, wechselte die russische Regierung das Format. Anstatt auf einen Vertrag unter Einschluss der USA setzte Moskau fortan auf eine europäische Lösung. Im Meseberg-Memorandum einigten sich die deutsche und die russische Regierung auf ein gemeinsames Sicherheitsforum EU–Russland. Mit Berlin wollte Moskau so wenigstens Teile des VSE-Vorschlags umsetzen. Als erster Testfall einer Zusammenarbeit des Sicherheitsforums sollte der Transnistrienkonflikt gelöst werden. Die deutsche Regierung zeigte sich fortan im Rahmen der OSZE-Verhandlungen pragmatischer, und eine Konfliktlösung schien plötzlich möglich.

    Erfolgreich torpediert

    Neokonservative in Europa und den USA liefen dagegen jedoch Sturm. Politische Lösungen in Osteuropa sollten nicht ohne US-Beteiligung gefunden werden. Die US-Regierung mobilisierte Washington nahestehende Regierung wie die britische, die litauische, die polnische und die rumänische, um die Bildung des Sicherheitsforums EU–Russland zu torpedieren.¹³ Es trat nie zusammen. Im Zuge der Bundestagswahl 2013 mobilisierten dann auch noch deutsche Atlantiker für eine Wende weg von der Eigenständigkeits- und Entspannungspolitik der »schwarz-gelben« Bundesregierung. Unter der Schirmherrschaft des German Marshall Fund und der Stiftung Wissenschaft und Politik entstand das Papier »Neue Macht – neue Verantwortung«. Die Autoren, darunter der damalige Leiter des Planungsstabes im Auswärtigen Amt, plädierten darin für mehr deutsche »Führung« in der Weltpolitik – und zwar im Windschatten der USA.¹⁴ Die Eigenständigkeits- und Entspannungspolitik sollte beendet werden.

    Die Demonstrationen auf dem Maidan im Herbst 2013 bildeten dann die perfekte Gelegenheit für Washington, die EU und Russland dauerhaft zu entzweien. Mit der Unterstützung des Putsches in Kiew im Frühjahr 2014 gelang es der US-Regierung, die Phase der Entspannung zu beenden. Die russische Übernahme der Krim, der Bürgerkrieg im Donbass, Sanktionen und Gegensanktionen beider Seiten beendeten dauerhaft alle Gespräche über eine neue europäische Sicherheitsarchitektur.

    In Russland hatten sich mittlerweile die aggressiveren Kräfte des Moskauer Establishments durchgesetzt. Nach der Libyen-Episode verlor Medwedew viel Rückhalt im russischen Außen- und Sicherheitsapparat und musste abtreten. Die Rückkehr Putins als Präsident im Jahr 2012 markierte dann ein Erstarken der Hardliner. Russland verabschiedete sich von kooperativen Ansätzen mit den Europäern. Das Handlungsfenster der Abrüstung, Entspannung und Rüstungskontrolle hatte sich geschlossen.

    Anmerkungen

    1 NATO Expansion: What Gorbachev Heard, https://nsarchive.gwu.edu, 12.12.2017

    2 NATO Expansion: What Yeltsin Heard, ebd., 16.3.2018

    3 M. E. Sarotte: How to Enlarge NATO: The Debate inside the Clinton Administration, 1993–95, in: International Security 44 (2019), Nr. 1, S. 37

    4 Sean Guillory: Dermokratiya, USA, in: Jacobin, 13.3.2017

    5 Otfried Nassauer: Das Ende der Abrüstung, in: Blätter für deutsche und internationale Politik 52 (2007), Nr. 6, S. 646

    6 Zdzislaw Lachowski: The Adapted CFE Treaty and the Admission of the Baltic States to NATO, SPIRI-Studie, Stockholm, Dezember 2002, S. 21–25

    7 Ulrich Kühn: Medvedev’s Proposals for a New European Security Order: A Starting Point or the End of the Story?, in: Connections 9 (2010), Nr. 2, S. 4

    8 Depesche der US-Botschaft »Germans mostly positive on Missile Defense Announcement, Hope for Cooperation with Russia«, Berlin, 18.9.2009 (veröffentlicht von Wikileaks).

    9 Wachstum. Bildung. Zusammenhalt. Der Koalitionsvertrag zwischen CDU, CSU und FDP, Berlin 2009, S. 119 f. u. 123

    10 Siehe: Unteilbare Sicherheit, jW, 3.2.2010

    11 Andrey Devyatkov/Marcin Kosienkowski: Testing Pluralism: Transnistria in the Light of the 2011 Presidential Elections, in: Marcin Kosienkowski (Hg.): Spotkania polsko-moldawskie. Ksiega poswiecona pamieci Profesora Janusza Solaka, Lublin 2013, S. 303–328

    12 Ingar Solty: Krieg gegen einen Integrationsunwilligen? Die politische Ökonomie des libyschen Bürgerkriegs und der westlichen Intervention im Kontext der Krise des globalen Kapitalismus, in: Prokla 41 (2011), Nr. 2, S. 299

    13 Ein Testlauf für Eurasien (II), german-foreign-policy.com, 22.3.2012

    14 Die Neuvermessung der deutschen Weltpolitik, german-foreign-policy.com, 25.10.2013

    David Hoffmann ist Friedensforscher in Berlin.

  • Sentimentale Kritik
    https://www.jungewelt.de/artikel/450114.klassische-politische-%C3%B6konomie-sentimentale-kritik.html

    5.5.2023 von Klaus Müller. In dieses Jahr fällt der 400. Geburtstag William Pettys, der 300. Geburtstag Adam Smith’, der 250. Geburtstag Simonde de Sismondis und der 200. Todestag David Ricardos. In einer vierteiligen Serie erinnern wir an die großen Ökonomen, auf die Karl Marx rekurrierte. (jW)

    Jean-Charles-Léonard Simonde de Sismondi, geboren am 9. Mai 1773 in Genf, gestorben am 25. Juni 1842 in Chêne-Bougeries

    Ist der Romantiker ein weltfremder, gefühlsbetonter Träumer von einer besseren Welt? Einer, der das Heil sucht in der Vergangenheit? In gewisser Weise treffen die Merkmale auf Sismondi zu, den Lenin zur ökonomischen Romantik zählt. Doch mit dieser Charakteristik allein wird man dem großen Franzosen nicht gerecht. Denn die Romantik ist vor allem Ausdruck des Unbehagens und der Kritik an der Menschenfeindlichkeit der sich herausbildenden kapitalistischen Gesellschaft. Keiner vor ihm hat ihre Gebrechen so klar benannt wie Sismondi. Das ist sein Verdienst. »Wenn in Ricardo die politische Ökonomie rücksichtslos ihre letzte Konsequenz zieht (…), ergänzt Sismondi diesen Abschluss, indem er ihren Zweifel an sich selbst darstellt.« Mit diesen Worten betont Karl Marx die Sonderstellung Sismondis und weist ihm einen Ehrenplatz in der Geschichte des ökonomischen Denkens zu. David Ricardo hat in England die klassische bürgerliche politische Ökonomie vollendet, der Franzose Sismondi krönt sie, indem er ihr eine fundierte Kritik der gesellschaftlichen Missstände hinzufügt.
    Leben

    Jean-Charles-Léonard Simonde de Sismondi wurde vor 250 Jahren, am 9. Mai 1773, in Genf als Sohn des Pastors Gédéon-Francois Simonde geboren. Er entstammte einer alten italienischen Adelsfamilie, die im Jahre 1524 aus Pisa nach Frankreich eingewandert war. Die sich zum Protestantismus bekennende Hugenottenfamilie war gezwungen, nach der 1685 erfolgten Aufhebung des Edikts von Nantes – es hatte den Protestanten Toleranz und Bürgerrechte gewährt – das katholische Frankreich zu verlassen und in die Schweiz überzusiedeln. Seine Kindheit verbrachte Sismondi auf dem Landsitz seiner vermögenden Eltern nahe seiner Geburtsstadt. Er schloss 1792 eine kaufmännische Lehre ab und begann im selben Jahr an der Genfer Akademie ein Studium der Rechtswissenschaften. Er musste es ein Jahr darauf abbrechen, weil seine Familie vor der Genfer Revolution nach England flüchtete, wo sie eineinhalb Jahre lebte.

    Nach einem anschließenden Aufenthalt in der Toskana, nahe der Stadt Florenz, kehrte Sismondi im Herbst 1800 nach Genf zurück. Die Stadt gehörte seit 1798 zu Frankreich. Hier widmete er sich der literarischen Tätigkeit und nahm an Gesprächen von Schriftstellern und Gelehrten teil, die sich um Madame de Staël im Schloss Coppet am Genfer See scharten. Zum Gesprächskreis gehörten herausragende Persönlichkeiten aus ganz Europa, so auch Friedrich Schlegel, August Wilhelm Schlegel und Adelbert von Chamisso, allesamt bedeutende Vertreter der literarischen und philosophischen Romantik. Im Jahre 1819 heiratete Sismondi die Engländerin Jessie Allen, eine Tante von Charles Darwin. Die Ehe blieb kinderlos. Sismondi wird als weichherziger, gutmütiger und empfindlicher Mann beschrieben, als ein treuer Freund, fürsorglicher Sohn und vorbildlicher Gatte. Zeitgenossen berichteten, Sismondi sei von Kindheit an täppisch und ungeschickt gewesen, was ihn zum Stubengelehrten prädestiniert habe. Er arbeitete später unermüdlich, saß bis zum Ende seines Lebens täglich acht und mehr Stunden am Schreibtisch.
    Das Werk und seine Zeit

    Von Geburt und im Herzen Genfer, war Sismondi, wie der sowjetische Ökonom Andrej Ani­kin bemerkt, in Denkweise und in der Anlage seiner Werke Franzose. Aber auch die Italiener können ihn beanspruchen, hat er doch einen großen Teil seiner Forschungen der Geschichte und Wirtschaft Italiens gewidmet. Sismondi war des Lateinischen, Deutschen, Englischen, Spanischen und Portugiesischen mächtig. Er war Europäer und Kosmopolit im besten Sinne des Wortes. Sismondi gehört, schreibt Achim Toepel, der dessen Hauptwerk in der DDR herausgegeben hat, »zu den Denkern, die die wohl bewegteste Periode französischer Geschichte – das Jahrzehnt vor der bürgerlichen Revolution, die Revolution selbst« und die Jahrzehnte nach ihr – »mit wachen Verstande miterlebt und in ihren Schriften mitgestaltet haben«. Es war die Zeit gewaltiger Veränderungen im gesellschaftlichen Leben Europas: die Französische Revolution, die Napoleonischen Kriege, die Kontinentalsperre von 1806 bis 1813 – das Verbot, Waren aus England und seinen Kolonien zu importieren –, die industrielle Revolution und die ersten großen Wirtschaftskrisen des Industriekapitalismus, die sich zuerst in England zeigten.

    Sismondi lebte in zwei entgegengesetzten Epochen: vor der Revolution in der des bürgerlichen Strebens nach Emanzipation, nach der Revolution in der Epoche, die vor allem die Kleinbürger desillusionierte. Beide Epochen prägten ihn. Vor allem sah Sismondi das große Elend des Volkes, für das er tiefes Mitgefühl empfand. So wurde er zum scharfen Kritiker des Kapitalismus und der bürgerlichen politischen Ökonomie. Er suchte nach Lösungen für die brennenden sozialen Probleme seiner Zeit. Toepel sagt, Sismondi gehöre »zu jenen in der Vergangenheit häufig anzutreffenden großen Gelehrten, deren wissenschaftliche Systeme eine umspannende Weite des geistigen Horizonts aufweisen. Neben der ökonomischen Theorie gibt es bei ihm die in sich abgeschlossene Staats- und Gesellschaftstheorie, in dem Buch ›Forschungen über die Verfassungen der freien Völker‹ niedergelegt, das gewaltige Geschichtswerk, in der 30bändigen ›Geschichte der italienischen Freistaaten im Mittelalter‹ und in der 33bändigen ›Geschichte der Franzosen‹ zu finden, und schließlich das sich aus vier Bänden zusammensetzende literarisch-historische Werk ›Die Literatur des südlichen Europas‹.« Die Vielfalt und die hohe Qualität seiner ökonomischen, philosophischen, historischen, literaturgeschichtlichen und rechtsphilosophischen Betrachtungen haben ihm viele Ehrungen eingebracht. Sismondi war Mitglied zahlreicher wissenschaftlicher Akademien und Gesellschaften in vielen Ländern Europas. Um in Ruhe und unabhängig wissenschaftlich arbeiten zu können, hat Sismondi das Angebot des Zaren Alexander (1777–1825), einen Lehrstuhl für Politische Ökonomie an der Universität Vilnius zu übernehmen, wie auch einen Ruf an die berühmte Sorbonne in Paris ausgeschlagen.
    Ökonom

    Die ökonomische Frühschrift Sismondis erschien 1801 in Genf und trug den Titel »Tableau de l’agriculture toscane«. Zwei Jahre später veröffentlichte er das erste größere ökonomische Werk »De la richesse commerciale«, wo er Inhalt und Entstehen des Handelsreichtums analysierte. Sismondi bekannte, ein glühender Anhänger der Lehren von Adam Smith (1723–1790) zu sein, dessen Freihandelslehre und Laissez-faire-Ansichten er zustimmte – jenes wirtschaftspolitische Leitbild privater Eigeninitiative und weitestgehender staatlicher Enthaltsamkeit, was ökonomische Angelegenheiten betrifft.

    Im Jahre 1819 folgte sein ökonomisches Hauptwerk »Nouveaux principes de l’économie politique« (Neue Grundsätze der politischen Ökonomien). Dieses Buch sollte Sismondi bald in ganz Europa zu einem berühmten Ökonomen machen. Bemerkenswert ist, dass der Autor darin eine radikale Abkehr von Ansichten vollzog, die er früher vertreten hatte. Er verglich den Inhalt von Adam Smith’ Werk mit der sozial-ökonomischen Wirklichkeit seiner Zeit. Und musste feststellen, dass das freie Spiel der Kräfte, das egoistische Streben des Einzelnen nach Profit keineswegs, wie Smith und Ricardo angenommen hatten, zum größten Wohlstand aller führt. Im Vorwort zur ersten Auflage sagt er, zu dieser Einsicht sei er gelangt infolge der ersten Absatzkrise 1815 und angesichts des Leidens der Fabrikarbeiter und der Vernichtung des Wohlstandes der Bauern, deren Zeuge er in Italien, Frankreich und in der Schweiz gewesen war und von dem er auch aus England, Deutschland und Belgien wusste.

    Sein Buch sei weniger das Ergebnis des gründlichen Studiums der Werke anderer Gelehrter. Seit Erscheinen seiner Frühschrift habe er nur wenige Fachbücher gelesen. Seine neuen Ansichten seien aus Beobachtungen der Wirklichkeit entstanden. Sie hätten ihn überzeugt, dass die Lehren von Smith, wie sie von Ricardo und anderen vertreten wurden, nicht richtig sein konnten. »Je mehr ich vorankam mit meiner Arbeit«, schrieb er, »um so überzeugter war ich von der Bedeutung und Richtigkeit der Änderungen, die ich am System von Adam Smith vornahm.« Es sei offensichtlich: Die Großindustrie bringe wenigen Wohlstand, aber der größte Teil der Bevölkerung darbe, nage am Hungertuch. Die Ökonomen und Philosophen nennen eine Nation reich, wenn »sie auf eine ungeheure Anhäufung von Reichtümern, auf eine vorbildliche Landwirtschaft sowie einen blühenden Handel stoßen, ferner Manufakturen vorfinden, die unaufhörlich die Produkte des menschlichen Fleißes vermehrten, und schließlich auf eine Regierung treffen, die über fast unerschöpfliche Schätze verfügt, wie z. B. England (…). Dabei lassen sie aber völlig außer acht zu untersuchen, ob diejenigen, die mit ihren Händen arbeiten und den ganzen Reichtum schaffen, nicht auf das äußerste beschränkt leben müssen (…). Eine Nation ist (…) nicht als reich zu bezeichnen, wenn der Reiche das gewinnt, was dem Armen verlorengeht (…).« Die alte ökonomische Wissenschaft lehre weder die Not und Ungleichheit zu verstehen, noch ihnen entgegenzuwirken.
    Krisentheoretiker

    Sismondi war der erste Ökonom, der eine Krisentheorie begründete. Das ist sein bleibendes Verdienst auf dem Gebiet der politischen Ökonomie und darin besteht seine theoriegeschichtliche Bedeutung. David Ricardo hatte sich nicht zum Krisenproblem geäußert, und Jean B. Say (1767–1832), der Franzose mit der Auffassung vom automatischen Marktgleichgewicht, hatte gar geleugnet, dass es Überproduktion geben könne. Jedes Angebot schaffe sich seine entsprechende Nachfrage stets selbst. Allenfalls könne es zu einer momentanen »Verstopfung der Absatzwege« kommen, wenn Produkte fehlten, die anderen die Absatzwege öffneten. Die periodische Überproduktion sei ihrem Wesen nach eine zufällige, leicht behebbare Unterproduktion.

    Sismondis Argumentation gegen dieses Saysche Theorem ist bemerkenswert. Er geht bei seiner Krisenerklärung vom falschen Dogma Adam Smith’ aus, der den Wert des jährlichen Gesamtprodukts mit der Summe der Einkommen aus Lohn, Profit und Rente gleichsetzt, also den Wert des verbrauchten konstanten Kapitals (Maschinen, Material usw.) unberücksichtigt lässt. Der Wert der Produktion entspreche stets der Summe der Einkommen. Das Einkommen bilde die Nachfrage. Wie kann dann aber zuviel produziert werden? Sismondi meint, das Produkt eines jeden Jahres tausche sich gegen das Einkommen des jeweils vorangegangenen Jahres. Produktion und Absatz klafften auseinander, weil in einer wachsenden Wirtschaft das kleinere Einkommen der Vorperiode stets die höhere Produktion der laufenden Periode nachfragen und bezahlen müsse, wozu es nicht reiche. Die verzögerte Nachfragewirkung des Einkommens verursache die Krise. In den Lagern häuften sich unverkäufliche Waren, und zwar andauernd, weil die Möglichkeit zu konsumieren fortwährend kleiner sei als der Umfang der Produktion. Die kapitalistische Wirtschaft produziere mehr als sie verbrauchen könne.

    junge Welt-Kunstediton

    Daher irrten Ökonomen wie Smith und Say, als sie vorschlugen, die Produktion auszudehnen, weil sie dadurch den Widerspruch zwischen der Produktion und der Konsumtion nur noch vergrößerten. Der einzige Ausweg aus der Krise sei der äußere Markt, eine Auffassung, die später Rosa Luxemburg in ihrer Kritik an den Marxschen Reproduktionsmodellen vertrat. Die Konzentration des Eigentums und des Vermögens in den Händen weniger verenge den Binnenmarkt. Die Produzenten seien gezwungen, ihre Waren auf fremden, äußeren Märkten zu verkaufen, eine Auffassung, der Lenin dezidiert widersprach. Vom rettenden Ausweg fremder Märkte ist es nicht weit bis zur unhaltbaren These, dass der Kapitalismus automatisch zusammenbrechen müsse, wenn es keine aufnahmefähigen äußeren Märkte mehr gäbe.
    Einen weiteren Grund dafür, dass es im Kapitalismus nicht gelingen kann, alle produzierten Waren abzusetzen, sieht Sismondi in der ungleichen Einkommensverteilung.

    Einkommensstruktur und Produktionsstruktur drifteten auseinander. Die Bezieher von Lohn könnten sich keine hochwertigen Güter leisten, ihre Einkommen reichten, wenn überhaupt, gerade für das Dringendste. Unternehmer und Bezieher von Profit, mit dem Notwendigsten komfortabel ausgestattet, fänden auf heimischen Märkten nicht genügend Luxuswaren, die ihnen gefallen und zögen ihnen ausländische Kostbarkeiten vor. Ein Teil der jährlichen Produktion bliebe unabsetzbar, weil er nicht der inländischen Einkommens- und Nachfragestruktur entspreche. Mit notwendigen Lebensmitteln sind die Begüterten gut versorgt, den Armen fehlt das Geld, mehr davon zu erwerben. Erst recht können sie sich keine Luxusgüter leisten.

    Die Hauptursache des zur Krise führenden Widerspruchs zwischen der Produktion und der Konsumtion aber sah Sismondi in der Trennung von Eigentum und Arbeit, also in der Vernichtung der handwerklichen Produktion, der Ruinierung der einfachen Warenproduzenten. »Wir befinden uns in einer Lage, die für die Gesellschaft gänzlich neu ist«, sagt er. »Wir streben dahin, jede Art Eigentum von jeder Art Arbeit zu trennen.« Dadurch konzentriere sich der Reichtum in den Händen weniger, die kleinen Warenproduzenten würden ruiniert und proletarisiert, die Arbeiter verarmten immer mehr. Die größer werdende Produktion stößt auf eine mangelnde Konsumtionsfähigkeit der Gesellschaft, der innere Markt verenge sich. Sismondi sah die Lösung nicht allein darin, auf fremden Märkten Absatzwege zu finden. Er will zurück zur einfachen Warenproduktion, die Eigentum und Arbeit wieder zusammenführe. Der Staat solle intervenieren, nicht um die industrielle Entwicklung zu fördern, sondern um sie zu zügeln. Und er solle alles tun, um die soziale Lage der Arbeiter zu verbessern. Er soll die Löhne erhöhen und dem Manufakturarbeiter Aufstiegschancen und die Möglichkeit in Aussicht stellen, »durch gutes Verhalten Anteil am Profit des Unternehmens zu erlangen«.

    Mit diesen Vorschlägen legt Sismondi den Grundstein für die sozialreformistischen Illusionen, denen über John Stuart Mill (1806–1873) bis in die Gegenwart zahllose bürgerliche Ökonomen erlegen sind, die das privatkapitalistische Eigentum schützen und mehren, zugleich die Ungleichheit der Einkommens- und Vermögensverteilung aber zugunsten der Benachteiligten korrigieren wollen. Achim Toepel lobt bei allen Mängeln Sismondis Krisentheorie. Bei ihm lassen sich die Krisen nicht auf irgendwelche außergewöhnlichen Störungen der kapitalistischen Wirtschaft wie Naturkatastrophen, politische Ereignisse etc. zurückführen.

    Krisen sind für Sismondi keine Zufälle wie für Ricardo und Say. Sie sind Erscheinungen, die aus den kapitalistischen Produktionsverhältnissen gesetzmäßig entspringen. »Mit dieser großartigen Idee hatte Sismondi das ökonomische Denken seiner Zeit um eine wichtige Erkenntnis bereichert.« So hellsichtig seine Einsichten in die Funktionsweise der kapitalistischen Produktion waren, blieben sie doch begrenzt. Sismondi erkannte nicht, dass die Widersprüche zwischen Produktion und Konsumtion, zwischen Eigentum und Arbeit einen tieferliegenden Konflikt grundlegender Art widerspiegelten, den Grundwiderspruch des Kapitalismus zwischen dem gesellschaftlichen Charakter der Produktion und der privatkapitalistischen Aneignung der Produkte. Sismondi sah die Widersprüche des Kapitalismus und er geißelte sie scharf. Aber er begriff sie nicht, erkannte nicht, dass sie gesetzmäßig aus den Zuständen erwachsen, zu denen er zurück will und in denen er die Lösung sieht.
    Das Urteil von Marx, Engels und Lenin

    Im Manifest der Kommunistischen Partei heißt es: »In Ländern wie in Frankreich, wo die Bauernklasse weit mehr als die Hälfte der Bevölkerung ausmacht, war es natürlich, dass Schriftsteller, die für das Proletariat gegen die Bourgeoisie auftraten, an ihre Kritik des Bourgeoisregimes den kleinbürgerlichen und kleinbäuerlichen Maßstab anlegten und die Partei der Arbeiter vom Standpunkt des Kleinbürgertums ergriffen. Es bildete sich so der kleinbürgerliche Sozialismus. Sismondi ist das Haupt dieser Literatur nicht nur für Frankreich, sondern auch für England. Dieser Sozialismus zergliederte höchst scharfsinnig die Widersprüche in den modernen Produktionsverhältnissen. Er enthüllte die gleisnerischen Beschönigungen der Ökonomen. Er wies unwiderleglich die zerstörenden Wirkungen der Maschinerie und der Teilung der Arbeit nach, die Konzentration der Kapitalien und des Grundbesitzes, die Überproduktion, die Krisen, den notwendigen Untergang der kleinen Bürger und Bauern, das Elend des Proletariats, die Anarchie in der Produktion, die schreienden Missverhältnisse in der Verteilung des Reichtums, den industriellen Vernichtungskrieg der Nationen untereinander, die Auflösung der alten Sitten, der alten Familienverhältnisse, der alten Nationalitäten. Seinem positiven Gehalte nach will jedoch dieser Sozialismus entweder die alten Produktions- und Verkehrsmittel wiederherstellen und mit ihnen die alten Eigentumsverhältnisse und die alte Gesellschaft, oder er will die modernen Produktions- und Verkehrsmittel in den Rahmen der alten Eigentumsverhältnisse, die von ihnen gesprengt wurden, gesprengt werden mussten, gewaltsam wieder einsperren. In beiden Fällen ist er reaktionär und utopistisch zugleich. Zunftwesen in der Manufaktur und patriarchalische Wirtschaft auf dem Lande, das sind seine letzten Worte.«

    Auch Lenins Urteil zu Sismondi fällt dialektisch aus. In seiner Arbeit »Zur Charakteristik der ökonomischen Romantik« schreibt er: »Im Gegensatz zu den klassischen Ökonomen, die bei ihren Systemen eine schon ausgebildete kapitalistische Gesellschaftsordnung im Auge hatten und die Arbeiterklasse als gegeben und selbstverständlich voraussetzten, hebt Sismondi gerade den Prozess des Ruins des Kleinproduzenten hervor, den Prozess, der zur Bildung der Arbeiterklasse geführt hat. Dass sich Sismondi durch den Hinweis auf diesen Widerspruch in der kapitalistischen Gesellschaftsordnung ein Verdienst erworben hat, ist unbestreitbar, doch hat er als Ökonom nicht vermocht, diese Erscheinung zu verstehen, und hat seine Unfähigkeit zu einer konsequenten Analyse mit ›frommen Wünschen‹ bemäntelt.« Und weiter: »In allen Punkten unterscheidet er sich dadurch von den Klassikern, dass er auf die Widersprüche des Kapitalismus hinweist. Dies einerseits. Anderseits vermag er in keinem Punkte die Analyse der Klassiker weiterzuführen (und will es auch gar nicht), weshalb er sich auf eine sentimentale Kritik am Kapitalismus vom Standpunkt des Kleinbürgers beschränkt. Diese Ersetzung der wissenschaftlichen Analyse durch sentimentale Klagen und Lamentationen bedingt die außerordentliche Oberflächlichkeit seiner Auffassung.« Sismondis Utopie antizipiere nicht die Zukunft, sondern restauriert die Vergangenheit; er blickte nicht vorwärts, sondern zurück.
    Ausstrahlung

    Die Ansichten und Arbeiten Sismondis beeinflussten zahlreiche Denker, z. B. Thomas Robert Malthus (1766–1834), der durch sein theoretisch und empirisch widerlegtes »Bevölkerungsgesetz« berühmt-berüchtigt werden sollte. Als direkter Schüler und Anhänger ist der französische Ökonom und Philosoph Eugéne Buret (1810–1842) zu nennen. Theoretisch »auf den Anschauungen Sismondis fußend, hat Buret allerdings seinen Reformprojekten mehr Kühnheit und Nachdruck verliehen und dadurch einen gewissen Einfluss auf manche sozialistische Schriftsteller in Frankreich ausüben können (…). Während bei Sismondi die Darlegung der zur Bekämpfung des Übels erforderlichen Maßnahmen nur sehr zögernd geschieht (…), stehen bei Buret die Projekte zur Überwindung der Widersprüche des sozialen Elends im Mittelpunkt seines Werkes«, schreibt Achim Toepel. Auch Karl Marx hat Burets Arbeiten geschätzt. Ein zweiter Schüler Sismondis ist Villeneuve-Bargemont, der gegenüber Sismondi christliche Grundsätze in die politische Ökonomie zu integrieren versuchte und so als erster einen Weg in der politischen Ökonomie beschreitet, »auf welchem ihm später noch andere Denker gefolgt sind und der schließlich in dem System des sozialen Mystizismus der Schriftsteller John Ruskin (1819–1900) und Leo Tolstois (1828–1910) gipfelt« (Toepel).

    Sismondis Romantik beeinflusste Ökonomen wie Antoine-Elisé Cherbuliez (1797–1869), den Marx im Kapital einen Anhänger Sismondis nennt. Von seinen Zeitgenossen wurden der Ökonom Adolphe Jérome Blanqui (1798–1854), der Philosoph Joseph Droz (1773–1850), die frühen utopischen Sozialisten Henri de Saint-Simon (1760–1825) und Charles Fourier (1772–1837) von Sismondi beeinflusst, später dann auch Louis Blanc (1811–1882) und Johann Karl Rodbertus (1805–1875). Die russischen Volkstümler (Narodniki) griffen Sismondis Auffassung auf, dass die Konsumtion entscheidend sei und das Gesamtprodukt eines Landes nicht auf dem Binnenmarkt realisiert werden könne. Sie schlossen daraus auf reaktionär-romantische Weise, dass die kapitalistische Entwicklung in Russland unmöglich sei.

    Literatur

    – Karl Marx: Zur Kritik der politischen Ökonomie, Marx-Engels-Werke (MEW), Band 13. Berlin 1961

    – Karl Marx: Das Kapital, Erster Band, Marx-Engels-Werke (MEW), Band 23. Berlin 1972

    – Karl Marx, Friedrich Engels: Manifest der Kommunistischen Partei, Marx-Engels-Werke (MEW), Band 4. Berlin 1977

    – Jean Ch. L. Simonde de Sismondi: Neue Grundsätze der politischen Ökonomie oder Vom Reichtum in seinen Beziehungen zur Bevölkerung, Erster Band, eingeleitet und herausgegeben von Achim Toepel. Berlin 1971

    – Wladimir I. Lenin: Zur Charakteristik der ökonomischen Romantik, Lenin-Werke, Band 2. Berlin 1961

    – Andrej A. Anikin: Ökonomen aus drei Jahrhunderten. Berlin 1974

    – Fritz Behrens: Grundriss der Geschichte der politischen Ökonomie, Band II. Berlin 1976

    – Klaus Müller: Boom und Krise. Köln 2017

    – Klaus Müller schrieb an dieser Stelle zuletzt am 8. März über die Hyperinflation in Deutschland 1923.

    Die folgenden Teile in der Reihe »Bedeutende Ökonomen« erscheinen am 26. Mai (William Petty), am 16. Juni (Adam Smith) und am 11. September (David Ricardo)

    #économie #histoire #science

  • Ins Innerste vorgedrungen
    https://www.jungewelt.de/artikel/451537.politische-%C3%B6konomie-ins-innerste-vorgedrungen.html

    26.5.2023 von Klaus Müller - In dieses Jahr fällt der 400. Geburtstag William Pettys, der 300. Geburtstag Adam Smith’, der 250. Geburtstag Simonde de Sismondis und der 200. Todestag David Ricardos. In einer vierteiligen Serie erinnert Klaus Müller an die großen Ökonomen, auf die Karl Marx rekurrierte. (jW)

    Er verkörperte den tatkräftigen, rücksichtslosen, universalen Bereicherungstrieb der englischen Nation im 17. Jahrhundert: William Petty – Geldraffer, Ränkeschmied und Prahlhans. Karl Marx nannte ihn einen »denkkühnen, aber frivolen Armeechirurgus, der ebenso geneigt war, unter Cromwells Ägide in Irland zu plündern, als von Karl II. den nötigen Baronetitel für den Plunder zu erkriechen«. Unersättliche Lebensgier sei sein hervorstechendster Charakterzug gewesen, schrieb der sowjetische Ideenhistoriker Andrej Anikin.

    Gründe, an ihn zu erinnern? Nein, wohl aber seine ökonomischen Erkenntnisse, mit denen er weit über das Niveau seiner Zeitgenossen hinausragt. Sie haben Petty einen bleibenden Platz in der Geschichte des ökonomischen Denkens verschafft. Für Marx war er einer der genialsten und originellsten ökonomischen Forscher. Mit ihm beginne in England die klassische, wissenschaftliche bürgerlichen Ökonomie, die »den inneren Zusammenhang der bürgerlichen Produktionsweise erforscht im Gegensatz zur Vulgärökonomie, die sich nur innerhalb des scheinbaren Zusammenhangs herumtreibt«. Er selbst verstand sich als der Begründer einer neuen Methode der ökonomischen Analyse, die an die Stelle von wirklichkeitsfremden, scholastischen Spekulationen »Maß, Zahl und Gewicht« setzte: die »Politische Arithmetik«. Vor 400 Jahren, am 26. Mai 1623 wurde der große englische Ökonom Sir William Petty geboren.
    Leben

    Petty entstammt der Familie des einfachen Tuchwebers Anthony Petty aus dem südenglischen Städtchen Romsey, das zur Grafschaft Hampshire gehört. »Sein Lebenslauf«, schreibt Peter Thal, »weist ihn als echtes Kind seiner Zeit aus, in der sowohl die englische bürgerliche Revolution stattfindet als auch die ursprüngliche Akkumulation des Kapitals um sich greift«. Die neue Produktionsweise kommt, wie wiederum Marx schreibt, »von Kopf bis Zeh, aus allen Poren blut- und schmutztriefend« zur Welt. Bauernlegen, Vertreibungen, Plünderungen der Kolonien und Piraterie waren zu Pettys Lebzeiten an der Tagesordnung.

    Petty gilt als eine Art Wunderkind. In früher Jugend bricht er sich als Schiffsjunge auf Deck ein Bein, wird, wie es damals Sitte war, an der Küste ausgesetzt, in seinem Falle an der Normandie. Er wird Zögling einer Jesuitenschule in Frankreich, verbessert seine Kenntnisse in Latein, lernt Griechisch, Französisch, erwirbt Wissen in Arithmetik und Astronomie, wie sie für die Navigation wichtig sind. Im Jahre 1640 verdient sich Petty den Lebensunterhalt mit dem Zeichnen von Seekarten der britischen Marine. Als er 1643 die Marine verlässt, besitzt er sechzig Pfund Sterling, eine für jene Zeit beachtliche Summe. Er reist nach Holland und Frankreich, wo er an den Universitäten Leiden und Paris hauptsächlich Medizin studiert. In Amsterdam arbeitet er bei einem Juwelier und Optiker. In Paris wird er Sekretär des englischen Philosophen Thomas Hobbes, der dort in der Emigration lebt.

    Mit 24 Jahren, sagt Anikin, steht Petty schon zehn Jahre auf eigenen Füßen. »Er ist gereift, besitzt ein universelles Wissen, große Energie. Lebensfreude und Charme.« Er setzt in Oxford sein Medizinstudium fort. Die Universität verleiht ihm im Jahre 1650 den Grad eines Doktors der Physik und später eine Professur für Anatomie. Schon kurz danach gibt er den Lehrstuhl auf und wird als Arzt beim Oberkommandierenden der englischen Armee in Irland angestellt, das nach einem zehnjährigen Krieg verwüstet war und wo Hunger und Seuchen grassierten. 1654 als Vermesser des der irischen Bevölkerung und der katholischen Kirche geraubten Landes eingesetzt, wird Petty zum Nutznießer der ursprünglichen Akkumulation in Englands erster Kolonie. Die Tätigkeit erweist sich für Petty, der damals Anfang dreißig war, als eine wahre Goldgrube. »Als einfacher Medikus war er nach Irland gekommen«, so Anikin, »und nach wenigen Jahren gehörte er zu den wohlhabendsten und einflussreichsten Männern im Lande«, besaß 30.000 Acres im Südwesten Irlands und 9.000 ­Livres, vermutlich, wie gemunkelt wurde, teilweise erworben durch zweifelhafte Transaktionen zu eigenen Gunsten.

    Nach London zurückgekehrt, bemüht sich Petty um Einfluss auf die Regierung der Restaurationsperiode. Im Jahre 1661 wird der Sohn des Tuchmachers in den Ritterstand erhoben und darf sich von nun an Sir William Petty nennen. Mit seiner Frau, der schönen und energischen Witwe eines Gutsbesitzers, hat Petty fünf Kinder. Im Sommer 1687 leidet er an starken Beinschmerzen. Wundbrand stellt sich heraus. Im Dezember desselben Jahres stirbt er als steinreicher Mann und wird in seiner Geburtsstadt Romsey begraben.
    Schriften und Werk

    Petty machte zahlreiche technische Erfindungen und verfasste etliche wissenschaftliche Aufsätze und Broschüren, in denen er sich mit medizinischen, allgemein naturwissenschaftlichen und mit gesellschaftlichen Fragen beschäftigte. Manch einer zählte ihn zu den größten Dichtern in lateinischer Sprache seiner Zeit. »Dass er in religiösen Fragen als zynisch galt und gleichzeitig eine Arbeit über ›Friede in der Religion‹ schrieb, wird ebenso wenig verwundern, wie dass manche seiner Schriften, (…) anonym herauskamen. Wie vielfältig seine schriftstellerische Tätigkeit allein schon innerhalb des engeren Rahmens der technisch-wirtschaftlichen Arbeiten war, lassen einige Titel erkennen: ›Apparatus zu einer Geschichte der Färberei‹, ›Über das Wachstum von London‹, ›Landkarten von Irland‹ (…) Er hinterließ mehr als fünfzig Kisten, gefüllt mit Manuskripten, von denen nur ein Teil veröffentlicht worden ist«, schreibt Jürgen Kuczynski. Seine wichtigsten Werke heißen: »A Treatise of taxes and contributions« (Eine Abhandlung über Steuern und Abgaben), London 1662, »Quantulumcunque or a tract of concerning money« (Allerlei oder ein Traktat über das Geld), London 1682, sowie »Political arithmetic«, London 1690.
    Ort in der Theoriegeschichte

    Die wissenschaftliche, klassische bürgerliche Ökonomie beginnt, so Karl Marx, mit William Petty in England und mit Pierre Le Pesant de Boisguillebert in Frankreich. In England schließt sie mit David Ricardo und in Frankreich mit Simonde de Sismondi ab. Für viele bürgerliche Dogmenhistoriker dagegen ist Petty kein Klassiker, der eindringt in die verborgenen Wesenszusammenhänge der Ökonomie. Sie halten ihn für einen Merkantilisten. Richtig ist, dass zu Pettys Zeiten in England der Merkantilismus in Theorie und Praxis in voller Blüte stand. Richtig auch, dass Petty merkantilistische Auffassungen vertreten hat. Das vom Merkantilismus verkündete Ziel aller wirtschaftlichen Tätigkeit war der Handelsprofit, der Überschuss des Exports über den Import. Ihre Protagonisten plädierten dafür, das Geld nicht einfach zu horten, sondern es in die Zirkulation zurückzubringen, um Mehr-Geld aus ihr zu erlösen. Merkantilistisch ist es, wenn Petty die Händler und Seeleute die produktivsten Arbeiter nennt, »weil das, was sie der Nation einbringen (bis hin zur Piraterie), viel größer als bei den Manufakturisten und Bauern ist, oder wenn er die Illusion des Monetarsystems teilt, dass Gold und Silber wertvollere Formen des Reichtums als andere Waren seien«, so Peter Thal. »Doch das Geniale der politischen Ökonomie Pettys besteht gerade darin, dass er sich zugleich von diesen Auffassungen löst« und über sie hinausgeht.

    Marx zollte daher dem wissenschaftlichen Werk Pettys höchsten Respekt. Er nannte ihn den »Vater der politischen Ökonomie« und den »Erfinder der Statistik«. Er war fasziniert von Pettys Persönlichkeit, rühmte dessen »geniale Kühnheit«; »ein origineller Humor durchströmt alle seine Schriften«, »der Irrweg selbst ist genial«, »ein kleines Meisterwerk in Inhalt und Form« – Urteile in verschiedenen Werken von Marx über Petty. Marx entnimmt Pettys Werk wichtige Anregungen für die Entwicklung seiner Wert-, Mehrwert-, Lohn - und Geldtheorien. Anikin nennt Petty den »Kolumbus der politischen Ökonomie«, der sich selbst die Erfindung der politischen Arithmetik – der Statistik – als größte Leistung zuschrieb, aber mit »gewissermaßen nebenher geäußerten Gedanken über Wert, Grundrente, Arbeitslohn, Arbeitsteilung und Geld (…) Grundlagen der wissenschaftlichen Ökonomie geschaffen« habe. »Sie sind das eigentliche ›ökonomische Amerika‹, das der neue Kolumbus entdeckt hat.« Marx bemerkt, »dass die theoretischen Lichtfunken« Pettys »nicht in Reih und Glied als fertige ›Axiome‹ einherstolzieren, vielmehr zerstreut aus der Vertiefung ›rohen‹ praktischen Materials (…) hervorspringen«.

    Der bürgerliche Ökonom Joseph A. Schumpeter dagegen bringt es wider alle offenkundigen Tatsachen fertig zu behaupten, dass sich bei Petty keine Arbeitswerttheorie, ja überhaupt kein Wertbegriff, keine irgendwie bemerkenswerte Lohntheorie und auch kein Hinweis auf den Mehrwertbegriff finde. Seinen Ruf verdanke er Marx, der ihn zum Begründer der ökonomischen Wissenschaft erklärt habe, sowie der Begeisterung einiger Wissenschaftler, die nicht vorausgesehen hätten, auf wessen Mühle sie ihr Wasser gossen. Man fragt sich, wie Schumpeter, ein berühmter Ökonom, dermaßen irren kann.
    Arbeitswert und Lohn

    Die Fakten sind eindeutig: Petty bestimmt den Wert der Ware Korn durch die Arbeitszeit: »Wenn jemand eine Unze Silber aus dem Innern der Erde Perus in derselben Zeit nach London bringen kann, die er zur Produktion eines Bushel Korn brauchen würde, dann ist das eine der natürliche Preis des anderen; wenn er nun durch Abbau neuer und ergiebiger Bergwerke statt der einen zwei Unzen Silber mit dem gleichen Aufwand gewinnen kann, wird das Korn bei einem Preis von 10 Shilling pro Bushel ebenso billig sein wie vorher bei einem Preis von 5 Shilling, caeteris paribus.« Mit dieser Aussage begründet Petty die klassische bürgerliche Arbeitswertlehre. »Es ist also in der Tat bei Petty«, sagt Marx, »der Wert des Korns durch die in ihm enthaltne Arbeitszeit bestimmt«.

    Petty sagt, die Größe des Arbeitslohns werde bestimmt durch den Wert der Lebensmittel, die der Arbeiter im Durchschnitt braucht, »um zu leben, zu arbeiten und sich fortzupflanzen«. Rücksichtslos ergreift Petty Partei für die Bourgeoisie: Das Gesetz solle »dem Arbeiter gerade das noch zum Leben Notwendige zugestehen; denn wenn man ihm das Doppelte zugesteht, dann arbeitet er nur halb so viel, wie er hätte tun können und andernfalls getan hätte; das bedeutet für die Gesellschaft einen Verlust des Ergebnisses von soviel Arbeit«. Oder: »Die tägliche Nahrung eines erwachsenen Mannes, im Durchschnitt genommen, und nicht die Tagesarbeit, ist das allgemeine Maß des Wertes und scheint ebenso regelmäßig und konstant zu sein, wie der Wert von reinem Silber (…) Daher bestimme ich den Wert einer irischen Hütte nach der Zahl der täglichen Lebensmittelrationen, die der Hersteller bei ihrem Bau ausgab.«

    Marx kritisiert an der prinzipiell richtigen Lohnauffassung Pettys den Gebrauch des Begriffs »Wert der Arbeit«. »Alles in allem ist es klar, dass wenn man den Wert einer Ware, sage von Arbeit, Korn oder jeder andern Ware, zum allgemeinen Maß und Regulator des Werts macht, man die Schwierigkeit bloß von sich abschiebt, da man einen Wert durch einen andern bestimmt, der seinerseits wieder der Bestimmung bedarf.« Nicht nur Petty, auch Ricardo, der »letzte Ausläufer der klassischen Ökonomie«, ging an der Unlösbarkeit dieses Widerspruchs zugrunde. Friedrich Engels schreibt im Vorwort zu Band II des »Kapitals«: »Es ist nicht die Arbeit, die einen Wert hat. Als wertschaffende Tätigkeit kann sie ebensowenig einen besondren Wert haben, wie die Schwere ein besondres Gewicht, die Wärme eine besondre Temperatur, die Elektrizität eine besondre Stromstärke. Es ist nicht die Arbeit, die als Ware gekauft und verkauft wird, sondern die Arbeitskraft.« Und der Wert der Arbeitskraft entspricht auch nicht dem Existenzminimum, auf das Petty die Bezahlung beschränken wollte. Er schließt historische, moralische, kulturell-soziale Elemente ein, so dass der Wert der Arbeitskraft über das zum Leben gerade Notwendige hinausgeht.
    Mehrwert und Grundrente

    Petty bestimmt den Wert der Waren also durch die Arbeitszeit und den Lohn durch den Wert der für die Arbeiter notwendigen Lebensmittel. Zieht man vom Wert des durch den Arbeiter geschaffenen Produkts, dem Wertprodukt, den Wert ab, den er für seine Arbeit bezahlt bekommt, ergibt sich ein Rest, der Mehrwert. »Da Petty zuerst den Wert und dann den Lohn, beide direkt bestimmt, erfolgt die Bestimmung des Mehrwerts bei Petty indirekt, ergibt sich seine Mehrwerttheorie als Konsequenz aus seiner Wert- und Lohntheorie«, schreibt Günter Fabiunke. Petty erklärt den Mehrwert mit der Grundrente: »Nehmen wir an, ein Mann bebaute mit eigener Hand eine bestimmte Fläche mit Korn, das heißt, er gräbt oder pflügt es um, eggt, rodet, erntet, fährt das Korn ein, drischt es, worfelt es, wie es der Ackerbau des Landes erfordert, und er hat überdies Saatgut, um es zu besäen. Ich behaupte: wenn dieser Mann von seiner Ernte sein Saatgut abgezogen hat (…) sowie alles das, was er selbst verzehrt und im Austausch für Kleidung und sonstige natürliche Bedürfnisse an andere gegeben hat, dass das, was an Korn übrigbleibt, die natürliche und wirkliche Bodenrente für dieses Jahr ist; und der Durchschnitt von sieben Jahren oder vielmehr die Zahl von Jahren, in denen Missernten und gute Ernten ihren Kreislauf durchmachen, gibt die gewöhnliche Bodenrente in Korn.«

    Das Bedeutende dieser Aussage besteht nach Marx darin, dass die Rente als Resultat der Arbeit erklärt wird und nicht, wie die Physiokraten annahmen, ein Geschenk der Natur bzw. des Bodens sei. Oder wie die Merkantilisten, die den Überschuss aus geschicktem (und betrügerischem) Handel entspringen lassen. Eine herausragende Erkenntnis, die physiokratische und merkantilistische Irrungen überwindet: Die Quelle der Grundrente ist das durch die Mehrarbeit des Arbeiters geschaffene Mehrprodukt. Da sich bei Petty aber die gesamte Mehrarbeit in Grundrente verwandelt, schließt die Grundrente auch den Profit ein, wird damit falsch mit dem gesamten Mehrwert gleichgesetzt.

    Fußend auf der »richtigen Grundeinsicht«, dass das Wesen der Grundrente Mehrwert bzw. überschüssige Arbeitszeit, darstellt, »entwickelte Petty erstmalig in der Geschichte der politischen Ökonomie eine Lehre der Differentialrente, deren wissenschaftliche Reife selbst auf dem Höhepunkt der klassischen bürgerlichen politischen Ökonomie von Adam Smith nicht mehr erreicht werden konnte«, schreibt Günter Fabiunke. Petty erkannte die unterschiedliche Entfernung des Bodens vom Markt sowie die unterschiedliche Fruchtbarkeit der Böden und daher die unterschiedliche Produktivität der Arbeit auf Ländereien als die Ursachen für die Existenz der Differentialrente. Sie ist ihrem Wesen nach ein Extramehrwert. Er entsteht, weil Produzenten, die näher am Markt produzieren, geringere Transportkosten aufwenden müssen als der am weitesten von ihm entfernte, dessen Produkte aber benötigt werden, um die Nachfrage zu decken. Er entsteht auch, weil die Produzenten auf den fruchtbareren Böden die Produkte mit höherer Produktivität und geringeren Aufwendungen herstellen als der Produzent mit den höchsten Aufwendungen, die der Käufer im Preis akzeptiert.
    Bodenpreis und Zins

    Auf originelle Weise bestimmt Petty den Preis des Bodens. »Nachdem wir die Rente gefunden haben«, sagt er, »ist die Frage die, wie viele Jahresrenten (…) bilden den natürlichen Wert des frei verkäuflichen Bodens?« Petty vermutet, »die Summe von Jahresrenten, die den natürlichen Wert eines Grundstücks bildet«, sei »gleich der Zahl von Jahren, die ein Mensch von fünfzig Jahren, einer von achtundzwanzig und ein anderer von sieben Jahren (…) Aussicht haben zu leben, das heißt Großvater, Vater und Kind (…) Nun schätzen wir in England drei Leben auf einundzwanzig Jahre, und folglich sei der Wert des Landes ungefähr gleich derselben Summe von Jahresrenten.«

    Für Marx ist das Bedeutende der Pettyschen Bestimmung von Bodenpreis und Grundrente, »dass erstens die Rente, als Ausdruck des gesamten agricultural surplus value, nicht aus dem Boden, sondern aus der Arbeit abgeleitet ist, das Surplus der Arbeit über das zum Lebensunterhalt des Arbeiters hinaus Nötige; dass zweitens der Wert des Landes nichts ist als für eine bestimmte Zahl von Jahren voraus gekaufte Rente, eine verwandelte Form der Rente selbst, in der z. B. 21 Jahre surplus value (oder Arbeit) als Wert des Landes erscheint; kurz, der Wert des Landes nichts als kapitalisierte Rente. So tief dringt Petty in die Sache ein«.

    Eine großartige wissenschaftliche Einsicht: Der Bodenpreis ist nichts anderes als die zum jährlichen Zinsfuß kapitalisierte Rente. Kapitalisieren heißt, sich den Betrag vorzustellen (zu ermitteln), der zu einem gegebenen Zins ein bestimmtes Jahreseinkommen abwirft. Beispiel: Der Boden werfe eine jährliche Grundrente von 1.000 Pfund Sterling ab. Der Zinssatz betrage fünf Prozent. Wie viel Geldkapital muss man anlegen, um zum herrschenden Zinssatz ein Jahreseinkommen von 1.000 Pfund zu erhalten? Die Antwort: Man muss einen Betrag von 20.000 Pfund anlegen. Und wenn man ein Grundstück kaufen will, ist dieser Betrag dessen Preis. Er darf nicht höher sein, denn sonst würde der Geldbesitzer die Zinsanlage vorziehen. Pettys richtige Erklärung besitzt einen Haken: Vom Standpunkt des Käufers der Rente bzw. des Landes erscheint die Rente jetzt als Zins des in Grundstücken angelegten Kapitals. In dieser Form »ist die Rente völlig unkenntlich geworden und erscheint als Kapitalzins«.

    Petty sagt, »was den Zins anbelangt, so muss er mindestens so viel betragen wie die Rente von so viel Land, wie das geliehene Geld zu kaufen vermag, wo die Sicherheit außer Zweifel steht«. Marx wendet ein, hier erscheine »der Zins bestimmt durch den Preis der Rente, während umgekehrt der Preis der Rente oder der Kaufwert des Landes durch den Zins bestimmt ist«. Doch dies sei »sehr konsequent, da die Rente als die allgemeine Form des surplus value dargestellt ist, der Zins des Geldes also als sekundäre Form daraus abgeleitet werden muss«. Qualitativ ordnet Petty den Zins unter, leitet er ihn aus der Rente ab und fasst ihn damit richtig als eine sekundäre Form des Mehrwerts. Quantitativ setzt Petty Zins und Rente gleich. Tatsächlich müsse aber der Zins aus dem Durchschnittsprofit abgeleitet werden. Er entspringt der Aufspaltung des Durchschnittsprofits in Zins und Untergewinn.
    Geld

    Es bedürfe eines bestimmten Maßes des Geldes, um den Handel einer Nation in Gang zu halten, sagt Petty. »Geld ist nur das Fett des Staatskörpers, weshalb zu viel davon ebenso seine Beweglichkeit behindert, wie zu wenig krank macht (…) wie Fett die Bewegung der Muskeln geschmeidig macht, fehlende Nahrungsmittel ersetzt, Unebenheiten ausfüllt und den Körper verschönt, so erleichtert das Geld die Bewegung des Staates, bringt, wenn Teuerung im Inlande, vom Auslande Lebensmittel herein, begleicht Schuldenrechnungen (…) und verschönt das Ganze; allerdings«, ironisch schließend, »ganz besonders die einzelnen Personen, die viel davon haben.« Petty erklärt, wie viel Geld die Zirkulation benötigt, damit alle zum Verkauf angebotenen und nachgefragten Waren einer Periode bezahlt werden können. So ist das Verhältnis des für unseren Handel notwendigen Geldes (Gold- und Silbermünzen) bestimmt durch die Häufigkeit der Tauschvorgänge und die Höhe der Zahlungen.

    Marx wird Pettys Auffassung übernehmen, dass die Quantität des als Zirkulationsmittel fungierenden Geldes durch die Preissumme der in den Austausch gelangenden Waren und die Häufigkeit bestimmt ist, mit der gleichnamige Geldstücke für Zahlungen verwendet werden. Petty habe »mit seiner gewohnten Meisterschaft« erkannt, dass man 40 Millionen im Jahr auch mit sechs Millionen und weniger umsetzen könne, wenn die Umläufe des Geldes kürzer sind, die Zahl der Umläufe folglich höher ist.

    Das Geniale Pettys besteht bei allen Unzulänglichkeiten seiner politischen Ökonomie darin, dass er einen großen Beitrag dazu leistet, die ökonomischen Gesetze des Kapitalismus aus dessen Produktionsverhältnissen abzuleiten und dabei ehrlich Partei ergreift für die aufsteigende Klasse des Bürgertums. Andrej Anikin schreibt: »Lenin hat über Lew Tolstoi gesagt, dass es vor diesem Grafen keinen echten Bauern in der Literatur gegeben habe. Auf Petty bezogen, können wir sagen, dass es vor diesem Landlord in der politischen Ökonomie keinen echten Bourgeois gegeben hat.« Von Sir William Petty gehen viele Denker der folgenden hundert Jahre aus, so John Locke (1632–1704), Sir Dudley North (1641–1691), Joseph Massie (gest. 1784), David Hume (1711–1776), James Steuart (1712–1780) und andere, die die wissenschaftshistorische Brücke zu Adam Smith schlagen.

    Literatur

    – Karl Marx: Zur Kritik der Politischen Ökonomie, Marx-Engels-Werke (MEW), Band 13, Berlin 1961

    – Karl Marx: Das Kapital, Erster Band, Marx-Engels-Werke (MEW), Band 23, Berlin 1972

    – Karl Marx: Das Kapital, Zweiter Band, Marx-Engels-Werke (MEW), Band 24, Berlin 1972

    – Karl Marx: Theorien über den Mehrwert, Marx-Engels-Werke (MEW), Band 26.1, Berlin 1973

    – Jürgen Kuczynski: Zur politökonomischen Ideologie in England und andere Studien, in: ders.: Die Geschichte der Lage der Arbeiter unter dem Kapitalismus, Band 26, Berlin 1965

    – Andrej A. Anikin: Ökonomen aus drei Jahrhunderten, Berlin 1974

    – Fritz Behrens: Grundriss der Geschichte der politischen Ökonomie, Band I, 2., berichtigte und ergänzte Aufl., Berlin 1981

    – Günter Fabiunke: Geschichte der bürgerlichen politischen Ökonomie, Berlin 1975

    – Peter Thal: Petty, William, in: Werner Krause, Karl-Heinz Graupner, Rolf Sieber: Ökonomenlexikon, Berlin 1989, S. 425–428

    – Joseph A. Schumpeter: Geschichte der ökonomischen Analyse, Göttingen 1965

    Teil 1 zu Jean-Charles-Léonard Simonde de Sismondi erschien in der Ausgabe vom 8. Mai. Die folgenden Teile in der Reihe »Bedeutende Ökonomen« erscheinen am 16. Juni (Adam Smith) und am 11. September (David Ricardo).

    #économie #histoire #science

  • Schwindler und Schurke
    https://www.jungewelt.de/artikel/451732.us-au%C3%9Fenpolitik-schwindler-und-schurke.html

    27.5.2023 von Kai Köhler Dieser Geburtstagsgruß ist das Ergebnis eines Irrtums. Der Plan war, Henry Kissinger als Schurken zu retten. Zweifellos ein Massenmörder, Hunderttausende von Toten in Vietnam, Laos und Kambodscha gehen auf seine Rechnung; ein Freund von Diktatoren, wenn sie nur wirtschaftliberal und faschistisch sind, wie Chiles Augusto Pinochet, mit dem Kissinger sich prächtig abzustimmen verstand.

    Aber als Verbrecher doch eben noch zurechnungsfähig. Wenn Mafiabanden um die Kontrolle einer Stadt kämpfen, wird es Verluste geben, aber die Stadt bleibt stehen – allein darum, weil man sie braucht, um dort mit Drogen zu handeln oder Glücksspiel und Prostitution zu betreiben. Wenn eine »Wertekriegerin« à la Annalena Baerbock durch eine Weltgegend getobt ist, gibt es dort vielleicht keine Mafia mehr, aber womöglich auch nicht mehr die Gegend. Außenpolitik aber sollte nicht Wertegemeinschaften gegen Schurken- oder Terrorstaaten stellen, sondern einen Ausgleich von Sicherheitsinteressen suchen, um das Schlimmste zu verhindern. Im Inneren haben Staaten einen unterschiedlichen Grad an Sittlichkeit (der sicher nicht dem entspricht, den die Westpropaganda behauptet). In ihrem gegenseitigen Verhältnis sollten sie sich als Gleiche begegnen.

    Das meint keine gleiche Gebundenheit ans Völkerrecht. Das Völkerrecht ist im Internationalen, was das bürgerliche Recht im Inneren ist: Dem Armen wie dem Reichen ist verboten, unter Brücken zu schlafen. Natürlich müssen Staaten, wo ihr Überleben bedroht ist, mit dem Recht flexibel umgehen; der russische Rückgewinn der Krim ist ein Beispiel dafür. Der Unterschied zwischen realistischer und moralisierender Außenpolitik besteht auch darin, die Grenze zu kennen, jenseits derer die schwächere Seite zum Präventivschlag gezwungen wird.

    Natürlich gibt es naheliegende Einwände gegen diese Unterscheidung. Der eine ist, dass der Imperialismus ein System ist, in dem der Zwang zur stets erweiterten kapitalistischen Reproduktion notwendig zum Konflikt führt, Ausgleich also eine Illusion ist. Der zweite, beruhigendere Einwand verweist darauf, dass all das westliche Gerede von moralischen Werten selbst nur Waffe im Kampf sei. Es mag Wesen von minderer Intelligenz geben, die an die eigene Propaganda glauben – am Ende werden doch pragmatisch Interessen verfolgt.

    Peter Hacks warnte zeitig vor dem eingangs genannten Irrtum. Im Begleitessay zu seinem Drama »Jona« bezeichnete er Außenpolitik als das »Geistlose«. Staaten seien im Inneren »mehr oder weniger menschenähnlich«. In ihrem Gegeneinander aber verhielten sie sich »noch immer wie die Höhlenleute, ich will sagen, wie die unerzogenen unter denen.« Entsprechend schreibt er über Diplomaten, dass sie »verschweigen, was sie selbst nicht wissen, und versuchen, ihren Gegnern Geheimnisse zu entlocken, die sie selbst nicht haben. Hierin erschöpft sich ihre ganze Kunst. Es ist nicht etwa List, wenn sie alle irgendwie an Henry Kissinger erinnern. Sie sind wirklich Idioten«.
    Aufstieg

    Heinz Alfred Kissinger wurde 1923 in Fürth in eine gutbürgerliche jüdische Familie geboren. Spätestens nach der Machtübergabe an Hitler bedeutete dies, Ausgrenzung zu erfahren. Kissinger kann man immerhin zugutehalten, dass er seine Politik kaum je sentimental mit subjektiver Betroffenheit zu rechtfertigen versuchte. Er ist Rationalist, oder zumindest gibt er sich so. Das erleichtert die Auseinandersetzung.

    Gelernt haben dürfte er 1933, dass es darauf ankommt, wer wen zwingen kann. Seine Familie erkannte rechtzeitig die Gefahr und emigrierte 1938 in die USA. 20jährig wurde er US-Soldat, fiel im Ausbildungslager dem Politologen Fritz G. A. Kraemer auf, der den Rekruten an die Counter Intelligence vermittelte. Statt Schützengraben nachrichtendienstliche Tätigkeit – Krieg und unmittelbarer Nachkrieg im besetzten Deutschland brachten Kissinger wertvolle praktische Erfahrungen.

    1947 begann Kissinger ein politikwissenschaftliches Studium an der Harvard Universität. Sein Betreuer, William Yandell Elliott, war ein einflussreicher Netzwerker des Kalten Kriegs. Seine Schüler sollten keine unparteiliche Forschung betreiben, sondern Wissenschaft, Politikberatung und politische Praxis zusammenbringen – zu dem Zweck, den Kommunismus zu besiegen. Henry Kissinger, wie er sich nun nannte, erfüllte diese Anforderungen auf ideale Weise. Er arbeitete zum einen historisch, wie in seiner Dissertation zur Politik Castlereaghs und Metternichs im Umfeld des Wiener Kongresses 1815, auf die noch einzugehen ist. Zum anderen lieferte Kissinger aktuelle strategische Überlegungen, so in »Nuclear Weapons and Foreign Policy« (1957). Das letztere, breit rezipierte Werk hat zum Thema, wie trotz einer drohenden gegenseitigen Vernichtung die damals noch bestehende westliche Überlegenheit bei Atomwaffen politisch nutzbar gemacht werden konnte. Es bereitete die Strategie der »Flexible Response« vor, die auf dem Gedanken beruht, dass ein begrenzter Einsatz von nuklearen Sprengkörpern ein kalkulierbares Risiko bedeute.

    Der Nachwuchswissenschaftler engagierte sich erfolgreich in universitären wie außeruniversitären Programmen, wobei er keine Scheu hatte, kollektiv Erarbeitetes unter eigenem Namen zu publizieren. Insbesondere trat er als Berater des gemäßigten republikanischen Politikers Nelson Rockefeller auf, vernachlässigte aber auch nicht die Kontakte zur demokratischen Partei. So war es für die Öffentlichkeit eine Überraschung, dass Kissinger 1968 ausgerechnet nach dem Wahlsieg des republikanischen Hardliners Richard Nixon zum Sicherheitsberater ernannt wurde.

    Heute weiß man, dass die Sache so rätselhaft nicht ist. Kissinger war als Politikberater in Verhandlungen zum Vietnamkrieg einbezogen und versorgte sowohl Nixon wie seinen demokratischen Gegenkandidaten Hubert Humphrey mit Informationen. Offensichtlich ging es dem Politikwissenschaftler darum, nicht nur Hinweise für die Praxis zu liefern, sondern selbst zum Praktiker zu werden. In enger Zusammenarbeit mit Nixon, der die Außenpolitik vom Weißen Haus her bestimmen wollte, schaltete Kissinger als sein Sicherheitsberater das Außenministerium nach und nach aus. Als er 1973 selbst dieses Ministerium übernahm, blieb er zunächst Sicherheitsberater und bestimmte mehr denn je die Außenpolitik der USA, zumal Nixon bald angesichts der Watergate-Affäre innenpolitisch mit seinem Überleben beschäftigt war. Nach Nixons Rücktritt, unter Gerald Ford, blieb Kissinger Außenminister. Mit Fords Wahlniederlage 1977 endete auch Kissingers Verwendung in Regierungsämtern.
    Die zweite Lebenshälfte

    Kissinger kehrte nicht an die Universität zurück; seine liberalen Harvard-Kollegen hatte er ebenso verachten gelernt wie umgekehrt diese ihn als Mann Nixons ablehnten. Als gefragter Ratgeber und Vortragsredner konnte er weiterhin den Anschein von Macht aufrechterhalten und blieb dadurch tatsächlich einflussreich. Das nutzte insbesondere seinem 1983 gegründeten Unternehmen Kissinger Associates, das Konzerne bei Auslandsinvestitionen unterstützt; die Liste der Kunden wird nicht veröffentlicht. Manche von Kissingers politischen Stellungnahmen können durch seine ökonomischen Interessen erklärt werden. Zum Beispiel zeigte er Verständnis dafür, dass die chinesische Regierung 1989 die Revolte auf dem Tiananmen-Platz niederschlug. Keine Regierung der Welt hätte derartige Vorgänge in ihrer Hauptstadt geduldet. Das mag so sein, doch wo es nicht zu seinem Interesse passte, zeigte sich Kissinger weitaus weniger einsichtig. Offensichtlich ging es ihm darum, China-Kontakte zu bewahren, um sie in den USA zu Geld zu machen.

    Zugleich ist Kissinger ein äußerst produktiver Autor. Die Zahl der zumeist sehr umfangreichen Bücher, in denen er die Weltlage erklärt, erreicht mittlerweile fast das Dutzend. Allein die Memoiren zu den Jahren 1969 bis 1973, die 1979 erschienen, umfassen fast 1.900 Seiten. Es ging ihm darum, frühzeitig seine Sicht der Ereignisse festzuschreiben. Bereits damals wusste er allerdings, dass Nixon die Gespräche im Weißen Haus heimlich hatte aufnehmen lassen und dass nicht nur die Schimpftiraden und Gewaltphantasien des Präsidenten, sondern auch Kissingers devote Zustimmung sogar zu antisemitischen Äußerungen früher oder später veröffentlicht werden würde. Seine Strategie war, und ist bis heute, nicht das Offensichtliche zu rechtfertigen, sondern durch die pure Masse an eigenen Statements die gewünschte Version durchzusetzen.

    Damit war Kissinger teilweise erfolgreich. Es gelang ihm zwar nicht, wieder in ein Regierungsamt berufen zu werden. Zu viele Leute hatten erfahren müssen, dass er Konkurrenten rücksichtslos überspielte, Untergebene mobbte, beim geringsten Anschein einer möglichen Zurücksetzung in maßlose Wut geriet, dabei – trotz aller Schmeichelei – auch den Präsidenten nur nutzte, um die eigene Agenda umzusetzen und in der Öffentlichkeit die Erfolge für sich zu verbuchen. Ein gewisses Maß an Egozentrik ist für eine Karriere im Kapitalismus unabdingbar, allzu offensichtlicher Egoismus schadet jedoch manchmal.

    Kissinger düpierte als Sicherheitsberater und Außenminister derart viele Leute, dass fast ohne Dokumente, hauptsächlich auf der Basis von Gesprächen, Seymour Hersh bereits 1983 in »The Price of Power« Kissingers Eigendarstellung demontieren und ihn als skrupellosen Intriganten und Kriegsverbrecher entlarven konnte.

    junge Welt-Kunstediton

    Damals war Hersh noch nicht mit dem vernichtenden Beiwort »umstritten« versehen, das heute jede Wortmeldung abseits des imperialistischen Mainstreams ins nicht Beachtenswerte verschiebt und Hershs Nachweis, dass die USA Nord Stream zerstört haben, neutralisieren soll. Nach jedem konservativen Maßstab bürgerlicher Wohlanständigkeit hätte Kissinger 1983 erledigt sein müssen. Das Gegenteil trat ein. Nun erst recht genoss er den Ruf eines skrupellosen Manipulators; eines Realpolitikers, der auch vor dem Bösen nicht zurückscheut. Kaum die Macht selbst, aber das Bild der Macht hat für viele Leute etwas schillernd Anziehendes. Schaut her, da ist einer, der weiß, wie es wirklich geht. Zeit für einen Blick auf Kissingers hauptsächliche Verbrechen und hauptsächliche Erfolge.
    Verbrechen und Erfolge

    Im Jahr 2001 fasste Christopher Hitchens in »The Trial of Henry Kissinger« zumeist vorher bekannte Vorwürfe zusammen. Der »Prozess«, den der Titel ankündigt, ist von der linksliberalen Illusion geprägt, in naher Zukunft werde eine menschenrechtsorientierte Gerichtsbarkeit für eine bessere Welt sorgen, und jemand wie Kissinger werde sich dann verantworten müssen. Natürlich tritt dies unter den Bedingungen des Imperialismus nicht ein. Wo keine Menschheit agiert, sondern Staaten mit ihren Interessen, landen nicht die größten Verbrecher vor dem Richter, sondern die Verlierer in einem Konflikt. Hitchens’ Voraussetzung ist also falsch, seine Zusammenfassung indessen brauchbar.

    Wichtigster Punkt ist die Ausweitung des Kriegs gegen Vietnam auf Laos und Kambodscha. Dabei war – soweit herrscht Einigkeit – schon mit Amtsantritt der Regierung Nixon klar, dass die USA in Vietnam militärisch gescheitert waren. Kissinger rechtfertigte weitere massive Bombardierungen damit, dass Zeit für eine »Vietnamisierung« des Konflikts gewonnen werden musste. So hätte eine stabilisierte Regierung Nguen Van Thieu in Süd­vietnam weiterkämpfen können.

    Unklar bleibt dabei, wie das südvietnamesische Regime ohne Hilfe der USA bestehen sollte, wenn es schon mit deren Unterstützung nicht gewinnen konnte. Gänzlich sinnlos war die Annahme, ein Zusammenbruch des Regimes einige Zeit nach einem US-Abzug würde den USA nicht mehr zugerechnet und ließe Verbündete in anderen Konfliktzonen gleichgültig.

    Allein auf Laos fielen gut zwei Millionen Tonnen Bomben, mehr als auf Deutschland und Japan zusammen im Zweiten Weltkrieg. Zugegeben, schon 1964 unter dem demokratischen Präsidenten Johnson wurde der Krieg über die vietnamesische Grenze hinaus ausgeweitet. Aber seit 1970 steigerte sich das Bombardement. Hunderttausende von Zivilisten starben aus Prestigegründen in einem Krieg, den Kissinger selbst für nicht gewinnbar hielt.

    Kissinger unterstützte die genozidale Kriegführung von Suhartos Diktatur gegen Ost-Timor, das 1975 die portugiesische Kolonialherrschaft losgeworden war und unabhängig bleiben wollte. Er versuchte, den zypriotischen Präsidenten Makarios zu beseitigen, der sich gegen griechische wie türkische Interventionsversuche wehrte. Als Pakistan 1971 die Unabhängigkeit Bangladesh zu verhindern versuchte, konnte es auf US-Unterstützung zählen; die Kriegführung gegen Zivilisten forderte etwa drei Millionen Opfer.

    Als 1970 Salvador Allende die chilenischen Präsidentschaftswahlen gewann, unterstützte Washington Planungen für einen Militärputsch, um eine linke Regierung zu verhindern. Einzig der überdeutliche Dilettantismus der vorgesehenen Akteure führte zum Abbruch der Aktion. Bei einem Entführungsversuch wurde General René Schneider, verfassungstreuer Oberbefehlshaber der chilenischen Streitkräfte, ermordet. Die Täter wurden, mit Kissingers Billigung, von der CIA bezahlt. Mit Augusto Pinochet, dem erfolgreichen Putschisten von 1973, pflegte Kissinger, wie schon erwähnt, eine enge Zusammenarbeit.

    Verteidiger Kissingers mögen darauf verweisen, dass er 1973 den Friedensnobelpreis bekam. Anlass war der Vertrag von Paris, der den Rückzug der USA aus Vietnam besiegelte. Freilich handelt es sich um einen der nicht seltenen Missgriffe des Vergabekomitees. Kissinger musste ein Ergebnis unterzeichnen, das er drei Jahre lang verzögert hatte. Der nordvietnamesische Unterhändler Le Duc Tho, der ebenfalls ausgezeichnet werden sollte, weigerte sich, bei der Komödie mitzuspielen. Er lehnte den Preis mit der Begründung ab, dass in seinem Land noch keineswegs Frieden herrschte. Tatsächlich wurde das Besatzungsregime im Süden erst zwei Jahre später besiegt. Die Befreiung des Südens 1975 wurde durchaus als Niederlage des US-Imperialismus wahrgenommen – es war genau das eingetreten, was Kissinger hatte verhindern wollen.

    Auch andere Erfolge, die Kissinger zugeschrieben werden, schrumpfen bei näherem Hinsehen. Als seine größte Leistung gilt wohl, dass er nach zwei Jahrzehnten nur sehr sporadischer Kontakte die Verbindung der USA zur Volksrepublik China anknüpfte. Als Nachweis diplomatischer Technik mag dies taugen; falls Kissingers Beschreibung in seinen Memoiren stimmt, erforderte es erhebliches Fingerspitzengefühl und die Nutzung ungewöhnlicher Kommunikationswege, überhaupt nur zu Vorgesprächen zu kommen. Beide Seiten wollten nicht durch dringende Bitten in Vorleistung gehen; Kissinger musste zudem das Außenministerium überspielen, das von den Kontakten wenig hielt.

    Kissinger verachtete die Bürokraten und konnte einen Triumph über sie feiern, als er mit Nixon 1972 China besuchte. Strategisch hatten möglicherweise die Profis im Ministerium recht. Vor allem die Volksrepublik profitierte von dem Besuch und seinen Folgen. Nicht nur, dass sie sich aus einer weitgehenden Isolation befreite. Auch erkannten die USA nun – zu Lasten Taiwans – die Volksrepublik als Repräsentantin Gesamtchinas an.

    Zudem stellte die Annäherung zwischen der VR China und den USA kaum eine zusätzliche Gefahr für die Sowjetunion dar, die Kissinger der Hauptfeind war. Das sowjetisch-chinesische Verhältnis war schon zuvor denkbar schlecht. Am Ende erleichterte Kissingers Schlauheit den Aufstieg Chinas und trug damit zu den heutigen Problemen der USA bei.
    Politik der Verknüpfung

    Wie aber steht es mit dem politischen Theoretiker Kissinger? Das soll kurz anhand dreier Bücher gezeigt werden. Das früheste ist seine Dissertation, auf Deutsch unter dem Titel »Das Gleichgewicht der Großmächte. Metternich, Castlereagh und die Neuordnung 1812–1822« erschienen. Der umfangreiche Text bietet Geschichtsschreibung ohne Forschungsdiskussion; eine sehr allgemein kommentierte Bibliographie schließt das Werk ab. Ersichtlich dachte bereits der Doktorand an ein breites Publikum. Entsprechend wechseln, untypisch fürs Genre, Dissertation und erzählende Passagen mit stark verallgemeinernden Aussagen über das Wesen des Politischen ab.

    Thema ist die Diplomatiegeschichte Europas im genannten Jahrzehnt. Sie beginnt mit Metternichs Versuchen, sich angesichts von Napoleons Niederlage in Russland aus dem Zwangsbündnis mit Frankreich zu lösen und endet mit der Stabilisierung der auf dem Wiener Kongress beschlossenen Ordnung. Kissinger legt dar, wie zerbrechlich das Bündnis gegen Napoleon bis 1814 war, auch wegen der Sorge, die französische Dominanz gegen eine russische einzutauschen. Er zeigt auch, dass die lange Friedenszeit nach 1815 keineswegs selbstverständlich war. Das Verdienst daran schreibt er zum einen dem britischen Außenminister Castlereagh zu, der gegen Volksmeinung, Institutionen und britische Tradition auf dem Kontinent eine Gleichgewichtspolitik gestützt habe. Der verantwortungsbewusste Staatsmann, der trotz seiner ignoranten Umgebung das Nötige tut, ist Leitmotiv in Kissingers Schriften. Zum anderen und mehr noch ist Metternich der Held des Buchs. Angesichts der bedrohten österreichischen Zentrallage habe er stets vorsichtig taktieren müssen. Leitbegriff hier ist Legitimität. Metternich sei ein Meister darin gewesen, Konstellationen zu schaffen, in denen das von ihm Gewünschte als selbstverständlich erschienen sei.

    Legitimität ist also hier kein moralischer Begriff, sondern ein strategischer. Jemanden anzugreifen, der als legitim gilt, ist mit höheren politischen Kosten verbunden. Andererseits schränkt Legitimität die möglichen Mittel ein. Wer sich dieser Ressource bedient, muss zumindest den Anschein moralischer Mäßigung erwecken. Gelingt die Verallgemeinerung, entstehe eine legitime internationale Ordnung, nämlich eine, die von allen Großmächten anerkannt werde.

    Ein Problem entstehe mit dem Auftritt einer revolutionären Macht. Dies ist ein weiteres Leitmotiv des Buchs, verbunden mit der Warnung, dass die Mächte der Ordnung die Mächte der Revolution oft unterschätzen würden. Zu spät würden sie erkennen, dass man mit Revolutionären nicht auf gewohnte Weise Abkommen schließen kann. So habe auch der Emporkömmling Napoleon, der die Französische Revolution an ihr Ende führte, alle sogar 1814 noch möglichen Kompromisse abgelehnt und aus innenpolitischen Gründen wohl auch ablehnen müssen. Die aktuelle Stoßrichtung von Kissingers Bedrohungsanalyse war in den 1950er Jahren unmissverständlich.

    Sah sich Kissinger als Wiedergeburt seines Helden Metternich? Nein, denn auch Metternich hatte Fehler. Er erscheint als genialer Manipulator, dem es an einem langfristigen Konzept fehlen musste. Metternich betrieb eine Politik des Status quo in einem Vielvölkerimperium, gegen jede nationale und liberale Tendenz. Gerade der kurzfristige Erfolg verhinderte langfristige wirksame Antworten auf Fragen, die beiseitezuschieben letztlich nicht möglich ist.

    Henry Kissinger, glaubt man seinen Memoiren, dachte vernetzt wie Metternich, aber stets auf große Ziele hin. Der Autor ist geschickt genug, für seine ersten Monate als Sicherheitsberater einzelne Fehlerchen einzuräumen; die trotzige Ungeschicklichkeit, mit der sein Nachfolger John Bolton (»Der Raum, in dem es geschah«) sein Ich-Ich-Ich in die Welt hinaus brüllt, weiß er zu vermeiden. Insgesamt aber weiß Kissinger alles besser.

    Allerdings wirkt das Buch ein wenig defensiv. Kissinger wusste ja, dass es die Aufnahmen seiner Gespräche gab. Er betont, dass er niemals den Sowjets gegenüber nachgiebig war; vielleicht war das 1979 als Bewerbungsschreiben an Ronald Reagan als dem kommenden Mann gemeint. Den Liberalen gegenüber beteuert er, stets im Rahmen geltender Regeln gehandelt zu haben. Nur Planungen für einen Putsch in Chile 1970 gibt er zu; schließlich waren die entsprechenden Papiere bereits veröffentlicht, was Kissinger als »geschmacklos« bezeichnet.

    Dass später publizierte Dokumente noch ganz andere Geschmacklosigkeiten enthüllten, wurde schon dargelegt. Als historische Quelle sind Kissingers Erinnerungen nur sehr eingeschränkt brauchbar.

    Aus heutiger Sicht wirken die Memoiren insofern beruhigend, als sie eine Vielzahl schon vergessener Krisen und Kämpfe erwähnen. Die Welt um 1970 war nicht friedlicher als die heutige, die Methoden waren oft brutaler. Dies weckt Hoffnung, dass wir auch diesmal davonkommen.
    Der Blick aufs große Ganze

    Ein solcher Blick erfordert Distanznahme; er ist Kissinger nicht fremd. Gern stilisiert er sich zum politischen Philosophen. »World Order« heißt eines seiner Bücher. Auf gut 400 Seiten skizzierte er 2014 die wesentlichen Weltkulturen, ihre politischen Erfahrungen und Wertsetzungen. Es gibt Ungleichgewichte. Afrika und Lateinamerika fehlen in dieser Welt, der Iran erhält ein eigenes Kapitel (das vor allem dessen Atomprogramm gewidmet ist).

    Auffällig ist der Hang zu Kulturalismen und geistesgeschichtlichen Abstraktionen. In seiner Dissertation wusste Kissinger noch, dass Napoleon Russland angegriffen hatte, um die Kontinentalsperre durchzusetzen und England ökonomisch zu schlagen. In »World Order« fühlt sich Napoleon vom Mythischen, das angeblich Russland kennzeichnet, angezogen. Ökonomie kommt hier – wie sonst bei Kissinger – nicht vor. In den Memoiren erwähnt er einmal missmutig, wie Handelsstreitigkeiten seine strategischen Planungen für Japan beeinträchtigten und er sich mit Warenkategorien beschäftigen musste. »Zum Glück ist es mir gelungen, das alles wieder zu vergessen« – unglaubwürdig für einen Firmenchef, der Millionen macht, indem er international den Türöffner für Konzerne gibt. Noch Kissingers Geschichtsphilosophie dient seiner Tarnung.

    Die Verallgemeinerungen in »World Order« grenzen teils ans Schwachsinnige. US-Amerikaner verhandeln, so behauptet Kissinger im Ernst, um zu einem Kompromiss zu kommen, aber nach der chinesischen Tradition sind Krieg und Frieden nur zwei Seiten derselben Medaille, und für Chinesen ist Verhandlung Kampf.

    Explizit unterstützt Kissinger den US-amerikanischen Exzeptionalismus: die USA nicht als Staat unter anderen Staaten, sondern als Leuchtturm der Welt. In diesem Zusammenhang ist es leider nicht als zynischer Witz gemeint, wenn es heißt: »Die amerikanische Militärmacht stellte ein Sicherheitsschild für den Rest der Welt dar, ob die Nutznießer das nun wollten oder nicht.« Auf absehbare Zeit bleibe die amerikanische Leadership unverzichtbar. Die Rede von Schurkenstaaten fehlt ebenso wenig wie die Wertegemeinschaft: eine »Cooperative Order«, die einem »American Consensus« folge.

    Die Suche nach einem Imperialisten, von dem zu lernen ginge, blieb also diesmal erfolglos. Das Beruhigende daran ist, dass der Imperialismus nicht in den letzten fünfzig Jahren auf den Hund gekommen ist. Vielmehr überlebt die Menschheit schon seit längerem trotz der Mittelmäßigkeit seines Personals. Nett wäre es, wenn sich Baerbock zu einer Gratulation für den ihr würdigen Jubilar entschließen könnte.

    Literatur: Bernd Greiner: Henry Kissinger. Wächter des Imperiums, München 2020

  • Die Dinge beim Namen nennen
    https://www.jungewelt.de/artikel/451465.vietnam-krieg-die-dinge-beim-namen-nennen.html

    Le souvenir des crimes de guerre planifiés et commis au Vietnam par la France et les États Unis est un bon repère pour juger l’hypocrisie de la politique et des déclarations actuelles des gouvernements de l’Ouest. Le journaliste Hellmut Kapfenberger a travaillé à Hanoï pendant la dernière phase de la guerre d’indépendance. Demain il présentera à Berlin son nouveau livre sur son travail dans le Vietnam sous les bombes.

    25.5.2023 von Hellmut Kapfenberger - Zwischen 1970 und 1973 war Hellmut Kapfenberger, geboren 1933, für den Allgemeinen Deutschen Nachrichtendienst (ADN), der Nachrichtenagentur der DDR, und für Neues Deutschland Korrespondent in Hanoi. Reportagen von ihm aus dieser Zeit sind versammelt in dem Buch »Vietnam 1972. Ein Land unter Bomben. Mit Notizbuch und Kamera im Norden unterwegs«, das in diesen Tagen im Verlag Wiljo Heinen erscheint. Wir veröffentlichen an dieser Stelle mit freundlicher Genehmigung von Autor und Verleger den »Prolog« zu den Notizen und Reportagen. (jW)

    Am 13. August 1945 rief eine Konferenz der Indochinesischen Kommunistischen Partei (IKP), der Initiatorin und führenden Kraft der 1941 gegründeten Liga für die Unabhängigkeit Vietnams (Viet Minh), zum allgemeinen Aufstand auf. Schon am 2. September konnte der gerade berufene Ministerpräsident Ho Chi Minh in der am 19. August befreiten Hauptstadt Hanoi die Unabhängigkeit des Landes und die Gründung der Demokratischen Republik Vietnam (DRV) verkünden. In beispielloser revolutionärer Erhebung, die als Augustrevolution in die Geschichte eingegangen ist, hatte ein seit Ende des 19. Jahrhunderts geknechtetes Volk trotz der seit 1941 andauernden japanischen Okkupation innerhalb von lediglich drei Wochen das französische Kolonialregime gestürzt. Es gab seiner Heimat nach einem halben Jahrhundert ihren Namen wieder, den die Kolonialisten durch Cochinchine (Süden), Annam (Mitte) und Tonkin (Norden) ersetzt hatten. Zum ersten Mal in der Geschichte hatte ein Volk unter kommunistischer Führung aus eigener Kraft die kolonialen Fesseln gesprengt und die Freiheit erkämpft.

    Das vietnamesische Volk hatte einen Sieg errungen, den seine einstigen Peiniger nicht hinzunehmen bereit waren. Im gerade von deutsch-faschistischer Besatzung befreiten Paris war man offensichtlich des Glaubens, diesen Kolonialbesitz mit tatkräftiger fremder Unterstützung postwendend zurückerobern zu können. Verbündete hatte man in London und Washington, denen der Gedanke an ein kommunistisch regiertes Land in Asien Alpträume bereitete. So begann Frankreich, von den USA eilends wieder militärtechnisch ausstaffiert und finanziell ausgehalten und von Großbritannien logistisch unterstützt, schon Ende 1945 mit einem Rückeroberungsfeldzug. Das Ende kam mit der verlorenen Schlacht von Dien Bien Phu 1954.

    Die Abkommen der darauf unmittelbar folgenden, von der UdSSR erzwungenen, von Washington quasi boykottierten Genfer Indochina-Konferenz nahmen die USA zum Anlass, nunmehr selbst aktiv zu werden. Unter Bruch der völkerrechtlich verbindlichen Abkommen hatte Washington 1955 für den Süden Vietnams ein Marionettenregime in Saigon installiert, das zunächst einen verlogen als Bürgerkrieg etikettierten Stellvertreterkrieg gegen die immer wirksamer agierenden patriotischen Kräfte anzettelte. Um die Jahreswende 1964/65 wurden seine Truppen von fast 24.000 »Militärberatern« der USA befehligt, bevor im Frühjahr 1965 deren direkte Intervention gegen die inzwischen vom Norden auch militärisch unterstützten Befreiungskräfte mit der Entsendung der ersten Kampftruppen nach Südvietnam und dem Bombenkrieg gegen den Norden begann. Die Geschichte Vietnams in den knapp drei Jahrzehnten vom 2. September 1945 über das Schicksals- und Entscheidungsjahr 1972 bis zu dem von den USA ebenfalls torpedierten Friedensschluss mit der DRV vom 27. Januar 1973 stellt Paris und Washington ein für allemal an den Pranger.

    Ein entscheidendes Jahr

    Nach der langen aufgezwungenen Zeit des Krieges begann ein Jahr, wie es so niemand hatte voraussehen können und wie es in dieser Art auch nicht mehr für möglich gehalten worden war. Es war erwartungsgemäß geprägt von weiterhin verbissenem Verhandlungspoker in Paris und fortdauerndem Schlachtenlärm im Süden, aber auch von einer jedem Verhandlungsgeist hohnsprechenden Bombardierungsorgie der USA im Norden. Im Detail: In der französischen Hauptstadt drang die ihrer südlichen Landeshälfte beraubte DRV in zähen Verhandlungen mit den USA seit Mitte 1968 auf eine Lösung, die ihrem per Genfer Abkommen völkerrechtlich verbürgten Anspruch auf unantastbare Existenz Genüge täte. Für die in Bedrängnis geratene Gegenseite ging es hingegen darum, gesichtswahrend aus der Sache herauszukommen und auch ein Minimum an Einfluss auf dem südostasiatischen Festland zu sichern. In Südvietnam war es das Anliegen der Befreiungskräfte, die Überlebensfähigkeit des Satellitenregimes und seiner Armee zu testen, die mit minimierter US-amerikanischer Unterstützung – eine Folge der von US-Präsident Richard Nixon zwangsläufig verordneten »Vietnamisierung« des Krieges – auf verlorenem Posten standen. Nach jahrelangem und gewaltigem Aufwand griff Washington schließlich zum letzten verzweifelten Versuch, Hanois unleugbar starke Verhandlungsposition zu schwächen und doch noch Zugeständnisse herbeizubomben.

    Die Welt erhielt von all dem auf sehr unterschiedliche Weise Kenntnis. Die sozialistische Seite durfte sich als über die Vorgänge in Vietnam sachgerecht informiert betrachten. Nachrichtenagenturen, Zeitungen, Zeitschriften, Rundfunk- und Fernsehstationen des Westens hingegen vermittelten oder unterschlugen Informationen nach den Vorgaben politischer Entscheidungsträger, potenter Geldgeber oder fürstlich entlohnter linientreuer Chefetagen. Daran hat sich bis heute nichts geändert.

    Wenn von den Verhandlungen in Frankreichs Hauptstadt hinter streng verschlossenen Türen etwas nach außen drang, was selten geschah, und ihm Nachrichtenwert zugestanden wurde, konnte man davon sicherlich allerorten erfahren, im Westen gern garniert mit wilden Spekulationen oder fragwürdigen Interpretationen. Viele dortige Meinungsmacher unterschieden nicht zwischen der einen Verhandlungspartei, die Völkerrecht gebrochen hatte, seit Verhandlungsbeginn sehr arrogant agierte und sogar zu erpressen suchte, und der anderen, die mit dem Völkerrecht im Einklang konsequent für ihre Interessen stritt und im Interesse baldigen Friedens dennoch zu Kompromissen bereit war. Gewohnt unkritischer Blick auf das destruktive Agieren der einen Seite paarte sich in althergebrachter antikommunistischer Manier mit Distanz zur Gegenseite, allgemein »Nordvietnam« genannt und nicht, wie es korrekt gewesen wäre, »DRV«.

    Eine Handvoll Korrespondenten

    Das Geschehen in Südvietnam zog weltweit größere Aufmerksamkeit auf sich, seine tagtägliche Wahrnehmung, seine Schilderung jedoch unterschied sich in Ost und West diametral. Redaktionell gebundene Text- und Fotojournalisten, auch journalistische Abenteurer aus der westlichen Welt, Vertreter von Nachrichtenagenturen, Rundfunk- und Fernsehleute, freie Journalisten auf der Suche nach einträglicher Sensation tummelten sich in Saigon und anderswo im Süden. Sie bekundeten Sympathie in Wort und Ton mit denen, die den Krieg verantworteten, kritische Töne waren selten oder gar nicht gefragt. Für sie gab es keine Befreiungskräfte, erst recht keine Befreiungsstreitkräfte. Es waren damals und sind es für die Medien hierzulande in Sachen Vietnam-Krieg bis heute die »Vietcong« (»vietnamesische Kommunisten«) oder »Nordvietnamesen«. Für uns Journalisten aus der »anderen« Welt kam der Landessüden als Wirkungsstätte nicht in Frage. Wie hätten wir dort arbeiten, was hätten wir von dort gefahrlos berichten sollen, wo unverhüllt grenzenloser Terror gegen alle an der Tagesordnung war, die auch nur verdächtigt wurden, Kommunisten oder deren Sympathisanten zu sein. 1972 wurde dieser Terror unter CIA-Regie ins Uferlose gesteigert. Für uns konnte es nur darum gehen, die Dinge aus der »Ferne« beim Namen zu nennen.

    Das zu beschreiben, was im nun schon achten Jahr des Bombenkrieges gegen Nordvietnam genauso wie des Feldzugs im Süden dem Land angetan wurde, ohne dass es eine Spur internationalen offiziellen Protestes im Westen gegeben hätte, oblag nur einer Handvoll in Hanoi akkreditierter ausländischer Journalisten. Zusammen mit mir als Korrespondent der DDR-Nachrichtenagentur ADN und des SED-Organs Neues Deutschland waren zu jener Zeit aus der Sowjetunion ständige Korrespondenten der Nachrichtenagenturen TASS und Nowosti, der Zeitungen Prawda und Iswestija sowie von Fernsehen und Rundfunk am Werk, berichteten Journalisten der tschechoslowakischen und der polnischen Nachrichtenagentur, CTK und PAP, der kubanisch-lateinamerikanischen Nachrichtenagentur Prensa Latina, der chinesischen Nachrichtenagentur Xinhua, der ungarischen Parteizeitung Nepszabadsag, ein Korrespondent von L’Humanité, der Zeitung der Französischen KP, und zeitweise ein Korrespondent der japanischen KP-Zeitung Akahata. Unglaublich, aber das war’s.

    Keine westdeutsche DPA, keine französische AFP, keine britische Reuters, keine US-amerikanischen AP oder UPI, keine japanische Kyoto – nicht eine einzige Nachrichtenagentur, keine Zeitung, keine Rundfunk- und Fernsehstation der westlichen Welt betrachtete es als journalistische Selbstverständlichkeit, geschweige denn als Pflicht gegenüber der von ihnen angeblich doch stets so honorig informierten Öffentlichkeit, wenigstens zeitweilig mit eigenen in Hanoi stationierten Journalisten im terrorisierten Norden Vietnams präsent zu sein. Für sie gab es 1972 wie schon in den vorausgegangenen sieben Jahren von dort nichts zu berichten, wo »der größte Verursacher von Gewalt in der Welt«, so der 1968 ermordete Martin Luther King zum Vietnam-Krieg der USA, eine ungeheure Todesmaschine in Gang gesetzt hatte.
    Ungesühnte Verbrechen

    Kein Präsident, weder Johnson noch Nixon, wurde von Politikern maßgeblicher anderer westlicher Länder oder ihren Medien als Kriegsverbrecher an den Pranger gestellt, niemand mit politischer Verantwortung verlangte nach internationalem Gericht, kein UNO-Mitglied der westlichen Welt rief den Sicherheitsrat der Vereinten Nationen an, keine UN-Menschenrechtskommission bezog Stellung. Niemand versuchte, die USA mit strangulierenden Sanktionen politisch wie ökonomisch zugrunde zu richten. Die ganze westliche Welt schaute zu, als Washington 1972 mit der Verminung der Hafenzufahrten und Flussmündungen des Nordens sowjetische Waffenlieferungen auf dem sicheren Seeweg an das Opfer der Aggression unterband.

    Die UNO wurde behindert und wäre mitsamt ihrer jährlichen Vollversammlung dank organisierter destruktiver Mehrheit ohnehin zur Untätigkeit verdammt gewesen. Als nach dem Zweiten Weltkrieg international bestallter Wächter über das Völkerrecht war sie der in ihrer Charta fixierten Macht beraubt, den Wortführer einer westlichen »Wertegemeinschaft«, den Vorkämpfer eines makaberen Demokratieverständnisses zur Verantwortung ziehen. Dabei hätten nach den von den USA mit ersonnenen Nürnberger Maßstäben von 1945/46 für den Prozess gegen die deutschen Hauptkriegsverbrecher auch die Verantwortlichen im Weißen Haus, im Pentagon und im State Department vor Gericht gehört. Das von dem britischen Literaturnobelpreisträger, Philosophen und Mathematiker Lord Bertrand Earl of Russel schon Ende 1966 initiierte internationale Tribunal in Stockholm zur Verurteilung der US-Kriegsverbrechen in Vietnam existierte für Politik und Medien der westlichen Welt mit wenigen systemkritischen Ausnahmen nicht.

    Beifall im westlichen Pressewald zum Feldzug der USA im Süden ging einher mit einem Schweigen zum verheerenden Bombenkrieg gegen den Norden. Fünf Jahrzehnte sind seither vergangen. Nicht mehr viele werden sich jenes monströsen Kriegsverbrechens im Detail erinnern können.
    »Agent Orange«

    Der nicht erst 1965 mit Beginn der offenen US-Intervention, sondern schon 1961 von der US-Luftwaffe gestartete Einsatz des chemischen Entlaubungsmittels »Agent Orange« im Süden des Landes, der bis 1971 andauerte, hat noch heute und mit Gewissheit noch lange Zeit verheerende Folgen. Das hochgiftige Dioxin TCDD war »produktionsbedingt« Bestandteil dieses Herbizids, das schwere Fehlbildungen bei Neugeborenen, Krebserkrankungen, Immunschwäche und noch viele andere Leiden verursacht. 30 Jahre nach Kriegsende litten nach Schätzungen des Roten Kreuzes etwa eine Million Vietnamesen, darunter etwa 100.000 Kinder mit größtenteils unvorstellbaren angeborenen Fehlbildungen, an den Spätfolgen dieses Verbrechens. Noch heute werden in nun schon vierter Generation jährlich etwa 6.000 Kinder mit Missbildungen oder schweren Krankheiten geboren. Allein in der Hafenstadt Da Nang, einst ein großer US-Flotten- und Luftstützpunkt, leben derzeit mehr als 5.000 »Agent-­Orange«-Opfer, darunter 1.400 Kinder. Niemand kann sagen, wann dieses von Washington zu verantwortende unermessliche menschliche Leid ein Ende haben wird. Seine Verursacher sind nie belangt worden. Viele Tausend betroffene US-Soldaten wurden 1984 von den gerichtlich dazu gezwungenen Herstellerfirmen mit fast 180 Millionen Dollar finanziell entschädigt, nicht aber die vietnamesischen Opfer.

    Vietnam selbst tut seinen finanziellen Möglichkeiten entsprechend alles, um diesen Menschen zu helfen. Der Verband der vietnamesischen »Agent-Orange«-Opfer hatte 2022 zum »Aktionsjahr für ›Agent-Orange‹-Opfer« mit dem vorrangigen Ziel erklärt, die Aufklärungsarbeit im Ausland zu verstärken. Am 10. August, dem 61. Jahrestag des Beginns dieses Verbrechens, fanden vielerorts im Land Veranstaltungen und Spendenaktionen statt. Beträchtliche finanzielle Hilfe ist privaten Spendern und nichtstaatlichen Einrichtungen vieler Länder zu verdanken.

    Am 16. Juni 2022 informierte der Generaldirektor des Nationalen Zentrums zur Beseitigung von Blindgängern in Vietnam, General Tran Trung Hoa, dass im ganzen Land noch 5,6 Millionen Hektar Boden munitionsbelastet sind. Vor zehn Jahren, so der General, waren es 6,1 Millionen Hektar, fast 19 Prozent der gesamten Landfläche. Dank großer eigener Anstrengungen und mit nichtstaatlicher ausländischer Hilfe wurden binnen eines Jahrzehnts 500.000 Hektar von Blindgängern aller Art geräumt.
    Blockade gegen Vietnam

    Übrigens: Während das »westliche« kapitalistische Lager 2022 noch inmitten des tobenden Krieges in der von russischen Truppen zerbombten ­Ukraine einen »Marshall-Plan« zum Wiederaufbau in Aussicht stellte, konnte der umgepflügte, von Kriegsschrott übersäte Süden Vietnams und der in Schutt und Asche gelegte Norden davon nicht einmal träumen. Ein Schelm, wer danach fragt, ob sich »westliche Werte« nur am eigenen Vorteil bemessen. Gesellschaftliche Kräfte vieler Länder standen Vietnam mit Spenden bei. Auf staatlicher Ebene taten nur sozialistische Bruderländer, was ihre begrenzten Möglichkeiten hergaben.

    Washington gefiel sich statt dessen darin, ab 1975 Vietnam nicht einfach zu ignorieren, sondern nach der Niederlage seiner Vasallen im Süden des Landes mit fast zwei Jahrzehnten Blockade zu bestrafen. Das erst recht, nachdem sich die wieder komplette Demokratische Republik Vietnam am 2. Juli 1976 den Namen Sozialistische Republik gegeben hatte. Mit rigoroser Embargo- und Blockadepolitik entzogen sich die USA wortbrüchig einer im Pariser Friedensabkommen von 1973 verbindlich fixierten Verpflichtung. In Kapitel VIII, Artikel 21 des Abkommens war festgeschrieben worden, dass die Vereinigten Staaten »zur Heilung der Wunden des Krieges und zum Nachkriegsaufbau in der Demokratischen Republik Vietnam und in ganz Indochina beitragen« werden. Nichts davon geschah. Es sollte noch bis Anfang der 1990er Jahre dauern, bis unter Präsident George Bush sen. erste Gespräche zwischen Washington und Hanoi über die Normalisierung der gegenseitigen Beziehungen aufgenommen wurden, und gar bis 1995, ehe dieser Schritt vollzogen war. In den folgenden zwei Jahrzehnten ging es den USA nicht um Wiederaufbauhilfe, sondern in erster Linie um die Suche nach vermissten eigenen Militärangehörigen. Vor zehn Jahren fand man sich bereit, finanziell und personell wenigstens bei der ebenso noch Jahre beanspruchenden Dekontaminierung mit Dioxin verseuchten Bodens vor allem auf Flugplätzen zu helfen. Vietnam möchte dieses ernste Problem bis 2030 gelöst sehen. 2020 schließlich sagte Washington nach Angaben einer vietnamesischen Quelle für fünf Jahre ein »Hilfsprojekt für Menschen mit Behinderung« zu. Von ihrer amtlichen »Aufsichtsbehörde«, dem State Department (Außenministerium) vorgeschickt, ist die nicht unumstrittene, offiziell als »unabhängig« deklarierte US-Behörde für internationale Entwicklung (USAID) in jüngster Zeit am Werk.

    Und die von Antikommunismus geprägte Bundesrepublik, die sich 20 Jahre lang als zweitgrößter Geldgeber für das Saigoner Regime auch zur Finanzierung des Krieges überaus spendabel gezeigt hatte und die in enger Kumpanei mit den USA von Oktober 1955 bis zum 24. April 1975, eine Woche vor dem Fall der Südmetropole, in Saigon diplomatisch präsent war? Zwar hatte sie schon wenige Monate später, am 23. September, diplomatische Beziehungen zur DRV aufgenommen, wahrscheinlich, um in der Hauptstadt am Roten Fluss nicht der DDR das Feld zu überlassen. Auch schickte sie im Juli 1976 ihren ersten Botschafter nach Hanoi. Doch dem folgte dann nichts außer bedingungsloser Teilhabe an der Embargo- und Blockadepolitik der USA. Im April 1993 machte sich Außenamtschef Klaus Kinkel als erster westdeutscher Politiker auf den Weg nach Hanoi. Ein Besuch von Vietnams Außenminister Nguyen Co Thach im Mai 1982 beim Amtskollegen Dietrich Genscher in Bonn, eine Geste guten Willens der DRV, war nicht nur von den Medien der BRD ignoriert worden, das Besuchsersuchen war zuvor auch elf Jahre unbeantwortet geblieben.

    Hellmut Kapfenberger: Vietnam 1972. Ein Land unter Bomben. Mit Notizbuch und Kamera im Norden unterwegs, Verlag Wiljo Heinen, Böklund 2023, 256 Seiten, 34 Euro

    Buchvorstellung mit dem Autor: Di., 30. Mai 2023, 19 Uhr, Rosa-Luxemburg-Saal im Karl-Liebknecht-Haus, Weydingerstr. 14–16, 10178 Berlin

    #Vietnam #histoire #guerre #journalisme

  • »Es kommt vermehrt zu Kündigungen«
    https://www.jungewelt.de/artikel/450717.ddr-garagen-es-kommt-vermehrt-zu-k%C3%BCndigungen.html


    Auch von Gentrifizierung bedroht: Garagen aus der DDR (Berlin, 4.10.2018)

    13.5.2023 von Fabian Lehmann - Vielen Pächtern von Garagen droht die Kündigung, manchmal sogar der Abriss der Garage. Was sind die Gründe dafür?

    In der DDR hatten die Bürger das Recht, Eigentumsgaragen zu bauen. Man wollte aber nicht, dass die Menschen auch das Grundstück erwerben konnten, denn das widersprach der damaligen Philosophie. So entstand dieses Konstrukt des Gebäudeeigentums auf fremdem Grund und Boden. Im Recht der Bundesrepublik gibt es eine solche Trennung von Gebäude- und Grundeigentum aber nicht. Deshalb hat man 1994 das sogenannte Schuldrechtsanpassungsgesetz beschlossen. Demnach bleibt das selbstständige Gebäudeeigentum so lange erhalten, bis das DDR-Vertragsverhältnis endet. Endet der Vertrag aber, geht die Garage automatisch in das Eigentum des Grundstückseigentümers über – also Kommune, Kirchengemeinde oder eine Privatperson. Der neue Eigentümer kann die Garage dann abreißen oder weitervermieten. Mit beiden Fällen sind wir konfrontiert.

    Was für ein Interesse hat eine Kommune, den alten Vertrag aufzulösen?

    Oft kündigen Kommunen die Verträge, um an das Eigentum der Garage zu gelangen und diese weiterzuvermieten. Kündigen können sie jederzeit und ohne Angabe von Gründen. Kommunen können dann Mieten nehmen, die erheblich höher sind, als es die Pacht bislang war. Außerdem versuchen sie in vielen Fällen, mit dem neuen Vertrag auch die Pflichten, die eigentlich der Vermieter zu erfüllen hat, auf den Mieter zu übertragen. Das betrifft vor allem die Instandhaltung. Häufig sind es die bisherigen Eigentümer der Garage, denen dieselbe Garage zur Miete angeboten wird. Da setzt dann unsere Beratung an. Denn für die bisherigen Eigentümer besteht die Möglichkeit, eine Entschädigung zu erhalten, deren Höhe sich danach bemisst, welche Einnahmen die Kommune in den kommenden Jahren durch die Vermietung der Garage voraussichtlich erwirtschaften wird.

    Wie hoch fällt eine solche Entschädigung üblicherweise aus?

    Ferienhütten Barsdorf

    Das bemisst sich individuell nach Zustand und Standort der Garage. Aber um ein Beispiel zu nennen, haben wir für ein Mitglied des Verbands Deutscher Grundstücksnutzer in Thüringen 2.000 Euro vor Gericht erkämpft.

    Wenn mir als Garageneigentümer gekündigt wird, wie sollte ich dann vorgehen?

    Das kommt darauf an, ob der Abriss droht oder die Garage weiter genutzt werden soll. Auf alle Fälle sollte man sich rechtlichen Beistand suchen. Mit der Kündigung wird den ehemaligen Eigentümern oft mitgeteilt, dass sie die Garage selbst abreißen und eine beräumte Fläche übergeben sollen. Bislang gab es für die Abrisskosten eine 50:50-Regelung. Die ist zum Jahresende 2022 jedoch ausgelaufen. Was statt dessen angewendet werden soll, bleibt unklar. Viele Kommunen gehen davon aus, dass nach Ende des Vertrags der Pächter nicht nur sein Eigentum verliert, sondern auch einhundert Prozent der Abrisskosten übernehmen muss. Weil das in unseren Augen hochgradig ungerecht ist, haben wir versucht, das Auslaufen der bisherigen Regelung zu verhindern, aber dafür keine politische Mehrheit gefunden. Jetzt wird wohl erst die Spruchpraxis der Gerichte endgültige Klarheit bringen.

    Stellen Sie fest, dass es nach Auslaufen der bisherigen Regelung vermehrt zu Kündigungen kommt, weil die Grundstückseigentümer ihren Vorteil sehen?

    Ja, es kommt vermehrt zu Kündigungen, aber eine größere Kündigungswelle ist bislang nicht zu verzeichnen. Es gibt allerdings Beispiele, bei denen die Kündigung am 3. Januar ausgesprochen wurde, wo man also offensichtlich auf das Auslaufen der bisherigen Abrissregelung gewartet hat. In Leipzig haben die Stadträte indes beschlossen, dass, wenn kommunale Garagenhöfe verschwinden müssen, die Garageneigentümer nicht mit den Abrisskosten belangt werden.

    Hat sich das Modell der Garage fern der eigenen Wohnung vielleicht auch überlebt?

    Das müsste sich in einem schwindenden Bedarf widerspiegeln, aber der ist nicht festzustellen. Wenn man diese Garagenhöfe jetzt abreißt, droht ein Parkchaos. Außerdem haben die Garagenhöfe auch eine soziale Komponente. Garagengemeinschaften sind ein Faktor des sozialen Zusammenhalts.

    Hagen Ludwig ist Mitglied des Präsidiums des Verbands Deutscher Grundstücksnutzer

    #Allemagne #DDR #capitalisme #immobilier #voiture