Ruhe ist die erste Bürgerpflicht oder Vor fünfzig Jahren. Bd. 1. Berlin, 1852.

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  • Ruhe ist die erste Bürgerpflicht oder Vor fünfzig Jahren, Berlin, 1852.
    http://www.deutschestextarchiv.de/book/show/alexis_ruhe01_1852

    Willibald Alexis est considéré comme premier auteur du réalisme historique. Ce révolutionnaire bourgeois d’origine bretonne démasque sa classe dans ses déscriptions des transformation de la société prussienne dans la première moitié du dix-neuvième siècle. Le titre de son roman Ruhe ist die erste Bürgerpflicht (se tenir calme est le premier devoir du citoyen) est devenu un proverbe toujours employé de nos jours. Le premier chapitre du roman ressemble étrangement au roman Le Journal d’une femme de chambre d’Octave Mirbeau .


    http://de.wikipedia.org/wiki/Willibald_Alexis

    Die Kindesmörderin.

    „Und darum eben,“ ſchloß der Geheimerath.

    In ſeiner ganzen Würde hatte er ſich erho¬
    ben und geſprochen. Charlotte hatte ihn nie ſo
    geſehen. Der Zorn ſtrömte über die Lippen, bis vor
    dem Redefluß des Kindermädchens allzeit fertige
    Zunge verſtummte. Sie war erſchrocken zurückgetre¬
    ten, bis ſie ſich ſelbſt verwundert an der Thüre fand;
    aber der Geheimerath ſchritt noch in der Stube auf
    und ab.

    Charlotte hatte leiſe zu weinen angefangen:
    „Aber Herr Geheimerath, um ſolche Kleinigkeit!“

    „Eine Kleinigkeit die Angſt beſorgter Eltern um
    ihre Kinder! — Fünf Stunden von Hauſe fort ohne
    eine Sterbensſylbe mir zurückzulaſſen, und die Klei¬
    nen mitgenommen, ohne um Erlaubniß zu fragen!“

    „Herr Geheimerath, ſchluchzte ſie, haben nie
    nach gefragt, ich weiß auch gar nicht warum jetzt!“

    „Schweige Sie! fuhr der Hausherr fort. Sie hat
    kein Einſehen, keine Moralität. Sie mißbraucht
    I. 1
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    meine Güte. Sie muß aus meinem Hauſe. Es
    haben ſich ſchon Viele gewundert, daß ich Sie noch
    behielt. Aber Sie ſchlägt mit Ihrer Unverſchämtheit
    den Boden aus dem Faß. Verſteht Sie mich! Ein
    Glück noch, daß wir vom Viertelcommiſſar erfuhren,
    daß Sie zur Execution hinaus war, wir hätten ſonſt
    gar nicht gewußt, wo Sie geblieben war.“

    „Wenn das die ſelige Frau Geheimräthin wüßte,
    ſchluchzte das Mädchen, das war eine ſeelensgute
    Frau. Und wie oft hat ſie geſagt: wenn wir nicht
    wären, mein Mann kümmert ſich gar nicht um die
    Kinder. Ja das hat ſie geſagt, nicht einmal, hun¬
    dert Mal. Und haben Herr Geheimrath jetzt auch
    nur einmal nach den Kindern gefragt? Das eben
    aber ſagten die ſelige Frau Geheimräthin: er hat kein
    Herz für ſie! und es war eine Frau, ſo ſanft wie
    die himmliſche Güte, und viel zu gut für dieſe Welt,
    und wer nur ihre ſtillen Thränen geſehen hat, die
    ſie Nachts vergoß, und darum nahm der liebe Gott
    ſie zu ſich, und ſie würde ſich im Sarge umdrehn,
    wenn ſie wüßte, daß Herr Geheimerath mir darum
    ſolchen Affront anthun.“

    Charlotte mußte die ſchwache Seite des Haus¬
    herrn kennen. Er wandte ſich um, und fuhr mit
    dem Taſchentuch über das Auge, ob, um eine Thräne
    abzuwiſchen oder die Verlegenheit zu verbergen, laß
    ich ungeſagt. An der Wand hing das Bild der
    Verewigten, in ſehr abgeblaßten Waſſerfarben ge¬
    mahlt, ein eben ſo abgeblaßter Immortellenkranz
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    darum. Darunter hing eine andere Schilderei, eine
    Urne, mit einer Trauerweide. Ein Genius ſenkte
    eine Fackel. Das Bild war auf Pappe gezogen, und
    wenn man näher hinzuſah, bemerkte man, daß in der
    Urne ein Medaillon angebracht war, in welchem ei¬
    nige blonde Haare zu einem Namenszuge ſich ver¬
    ſchlangen. Der Geheimerath nahm es heraus und
    drückte es an ſeine Lippen.

    „O du Unvergeßliche! ſagte er, noch einmal mit
    dem Tuch über die Augen fahrend. Sein Zorn war
    gewichen; in weicherem Tone fuhr er fort: Aber
    Charlotte, wie oft habe ich Ihr geſagt, Sie ſoll mich
    nicht immer daran erinnern. Ein Mann in meiner
    Stellung darf ſich nicht den Gefühlen hingeben. Aber
    Sie weiß das wohl, Sie braucht mich nur an die
    ſelige Gute zu erinnern, ſo tritt mir’s in die Augen.
    Sie führt ſich auf, als wenn Sie die Hausfrau wäre
    — und iſt doch nur eine — Sie iſt eine —“

    Dem Geheimerath war jetzt wirklich etwas in
    die Augen getreten, was er daraus fortzuwiſchen
    ſuchte, und darüber in Heftigkeit gerieth. Es war
    der dicke Staub aus der Schilderei, als er das Me¬
    daillon mit Gewalt wieder in ſeine Umfaſſung zu
    drücken bemüht war. Je mehr er im Aerger drauf
    ſchlug, ſo dichter puderte es ihm um’s Geſicht. „Aus
    dem Haus muß Sie, daß Sie’s weiß,“ ſchloß er,
    mit den Augen beſchäftigt, aus denen jetzt wirkliche
    Thränen, aber nicht der Rührung, ſich preßten.

    „Ja, Herr Geheimerath, das werde ich auch,
    1*
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    ſobald Sie es befehlen, ſagte Charlotte, die ihrerſeits
    die Ruhe wieder gewonnen hatte. Denn ich kenne
    meine Schuldigkeit. Aber erſt werde ich vors
    Halleſche Thor gehen, aufs Grab der ſeligen Frau
    Geheimräthin, und die Kinder nehme ich mit. Da
    werde ich mit ihnen weinen, und ſie ſollen die klei¬
    nen Hände falten und ihre Mutter bitten, daß ſie
    ihnen einen lieben Engel vom Himmel ſchickt, der ſie
    in Schutz nimmt. Denn wiſſen Sie noch, Herr
    Geheimrath, wie die ſelige Frau Geheimräthin auf
    dem Todtenbette lagen! Kreideweis das Geſicht!
    Ach Jeſus was wird nun aus meinen Kindern! ja
    das hat ſie geſagt!

    „Charlotte! ſagte der Geheimerath, Sie weiß,
    daß ich meine ſelige Frau innigſt geliebt habe, aber
    die Welt gehört den Lebendigen, ſagt der Dichter,
    und die Todten ſoll man ruhen laſſen.“

    „Die ſelige Frau Geheimräthin ſollen wohl Ruhe
    haben, wenn Sie aus dem Grabe ſehen, wie’s hier
    oben zugeht! Die Frau Geheimräthin, Ihre Schwä¬
    gerin, kommt auch nicht umſonſt wieder ſo oft ins
    Haus. Aber ich werde mich wohl hüten, und mir
    die Zunge verbrennen wie damals, und ſagen was
    ich denke. Aber was die ſelige Frau Geheimräthin
    denkt, wenn die Geheimräthin Schwägerin den Klei¬
    nen Zuckerbrod bringt und ſie über den Kopf ſtrei¬
    chelt, das weiß ich.“

    „Meine Schwägerin iſt eine ſehr reſpectable
    Frau, Charlotte.“
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    „I Herr Jeſus, wer redt denn auch gegen ſie! Aber
    den Blick vergeß ich nicht, auf ihrem Todtenbett, wie
    die ſelige Frau zurückſchauerte: Ach wie ſieht ſie die
    Kinder an! ſagten Sie, nämlich die Frau Geheim¬
    räthin auf dem Todtenbett. Und ſo riß Sie die
    Kinder an ſich und dann ſagten Sie: Ach ſie hat ſo
    ſpitze Finger!“

    „Das waren Viſionen, ſie war im hitzigen
    Fieber.“

    „Aber die Frau Geheimräthin Schwägerin ver¬
    kniffte ordentlich den Mund und ſagten: Mein Gott,
    als ob ich mich um die Bälger riſſe! Und dann
    ſagte die Sterbende, und da war ſie nicht mehr im
    Fieber: die Charlotte, die hat wenigſtens ein wei¬
    ches Herz! — Und da hatte die Selige recht, und
    ich habe die Kinder lieb gehabt, als wenn’s meine
    eignen wären, und wenn’s nicht die Kinder wären,
    i da wäre ich ja ſchon längſt aus dem Hauſe, wo
    man ſo mit mir umgeht.“

    Dem Geheimerath ſchien unangenehm zu Muthe
    zu werden, da Charlotte in einen Thränenſtrom aus¬
    brach, der nicht mehr zu ſtillen ſchien.

    „Es war auch nicht ſo gemeint, ſagte er endlich,
    — Sie ſoll ja nicht auf der Stelle fort, — ich meinte
    nur —“

    „Es werden ſich ſchon Andre finden, — o das
    weiß ich, — ich weiß auch wer. Und wenn die
    Selige das von oben ſieht, wie die Schwägerin mit
    ihren ſpitzen Fingern die Kleinen liebkoſt, dann wird
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    ſie Nachts vor Herrn Geheimeraths Bette treten, und
    was ſie ihn dann fragen wird —“

    „Halte Sie doch das Mau —! Charlotte —
    liebe Charlotte, Sie iſt echauffirt.“

    Das Kindermädchen war echauffirt, es ließ ſich
    nicht in Abrede ſtellen. Es waren auch Gründe dafür.

    Aber der Geheimrath liebte nichts Echauffirtes,
    nämlich wenn es ihn in ſeiner Ruhe incommodirte.
    Er ſuchte ſie zu beruhigen; er erklärte die Kündigung
    für eine Aufwallung, ein Echauffement. Indem er
    ſagte, ſolche Dinge müſſe man bei kaltem Blute über¬
    legen, ſchob er den Stein des Anſtoßes etwas weiter
    auf den Weg.

    Da ſchien ein Friede geſchloſſen, wenigſtens ein
    Waffenſtillſtand; Charlotte weinte nur noch ſtill, der
    Geheimrath ſeufzte und mochte wieder an anderes
    denken, als er ſich erkundigte, was denn die Kinder
    machten? Gleich darauf fiel ihm noch etwas an¬
    deres ein.

    „Aber, Charlotte, ſage Sie, wie kam Sie nur
    darauf, und mit den Kindern! vor’s Thor zu laufen,
    dahin! Eine Hinrichtung iſt ein unmoraliſches Ver¬
    gnügen, habe ich Ihr das nicht oft vorgeſtellt, es
    iſt gegen die Humanität, ein Schauſpiel, woran nur
    der rohe Pöbel Vergnügen finden kann.“

    „Sie haben ſchon ganz Recht, Herr Geheimrath,
    aber Sie hätten die Perſon ſehen ſollen, die Mariane;
    ganz ſchlooweiß war ſie, vom Kopf bis zum Fuß,
    und wie ſie die Augen niederſchlug, die Hände hielt
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    ſie ſo vor ſich gefaltet! Und der Herr Prediger ſaß
    neben ihr, und noch oben ſprach er mit ihr, und
    dann küßte ſie ihm die Hand und knixte noch einmal
    vorher gegen uns Alle. Und die vornehmſten Herren
    in Thränen. Ach Herr Geheimrath, es war Ihnen
    etwas, ich ſage Ihnen, es ging Einem durch Mark
    und Bein, und manche dachten, ach wenn du doch
    auch ſo ſterben könnteſt, ſo den Herrn Prediger neben
    ſich und ganz weiß, und Blumen, und die Putz¬
    macherin, Mamſell Guichard an der Stechbahn, hatte
    ihr ein Tuch mit Spitzen geſchenkt, und die vor¬
    nehmſten Perſonen weinten. Und ich habe ſie auch
    gekannt die Mariane, und ehedem war ſie keine
    ſchlechte Perſon.“

    „Sie hat mir davon erzählt. Aber nun iſt ſie
    eine Kindesmörderin.“

    „Und das iſt ſchlecht von ihr, Herr Geheimrath;
    das wird auch kein Menſch abſtreiten. Und wir
    haben’s ihr alle vorhergeſagt. An ſolchen Kerl ſich
    zu hängen! Er war noch nicht einmal königlicher
    Stallknecht, da konnte er noch lange dienen. Und
    wenn er’s geworden, ob er ſie dann geheirathet hätte!
    Wenn’s denn doch einmal ſein ſollte, wär’s nur ein
    anſtändiger Herr geweſen, ſagte ihre Tante. Der
    hätte doch für’s Kind bezahlt, und wenn er nicht
    wollte, da iſt das Stadtgericht. Das weiß ich ja
    von meiner Couſine. Heirathen oder bezahlen! ſagten
    der Herr Präſident. Da hat er auch gezahlt, jeden
    Erſten, der Herr Hoflackirer, und wenn’s bis zum
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    Dritten nicht da war, auf der Stelle Execution, jeden
    Monat. Beim zweiten hat er ſich gar nicht erſt ver¬
    klagen laſſen. Gleich gezahlt, o ’s iſt ein ſehr repu¬
    tirlicher Herr, das muß man ihm nachſagen, und
    wenn’s dritte kommt, wer weiß, ob ſie dann nicht
    ſchon unter der Haube iſt. Denn ſeine Alte wird’s
    ja nicht mehr lange machen, die hat er nur mit dem
    Geſchäft geheirathet. Und warum ſollte er ſie nicht
    in’s Haus nehmen? Iſt ja ſein purer Profit. Er
    kommt viel wohlfeiler fort, als wenn er Alimente
    zahlen muß. Aber ein Begräbniß wird er ſeiner
    Alten ausrichten — na, da könnte ſich mancher Ge¬
    heimrath ſchämen. Nein das muß man ihm nach¬
    ſagen, lumpen läßt ſich der Herr Hoflackirer nicht;
    iſt ein ſehr reputabler Herr. — Und, wie geſagt,
    hübſch war die Mariane, ſo blaß und ſchön, und
    das Kind, blutroth hat’s wie ’ne Schnur um den
    Hals gehabt.“

    „Und meine Kinder hat Sie mitgenommen. Die
    unſchuldigen Würmer! Sie Perſon Sie!“

    „Aber Herr Geheimrath, ich weiß auch nicht,
    wie Sie mir vorkommen. Es iſt ja nur, daß die
    Kinder es einmal geſehen haben. Das iſt ja für’s
    ganze Leben. So was kriegen ſie nicht wieder zu
    ſehen. Es ſoll ja kein Menſch mehr hingerichtet werden.“

    „Wer hat Ihr das wieder vorgeſchwatzt?“

    „Sie können’s mir ganz gewiß glauben, Herr
    Geheimrath. Das iſt die letzte Hinrichtung, hat der
    König geſagt. Und ſie haben ihn beinah zwingen
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    müſſen, daß er nur die Feder in die Hand nahm.
    Die junge ſchöne Königin hat geweint. Und da hat
    er ſie gefragt: Aber Louiſe warum weinſt Du denn?
    Denn unter ſich ſagen ſie immer Du; und es kommt
    Einer zum Andern, ohne daß die Kammerherren an¬
    klopfen und ſie melden, und darüber iſt die Hofmar¬
    ſchallin, die alte Gräfin Voß ganz aufgebracht. Aber
    das thut nun nichts. Es wird Alles noch ganz anders
    werden, ſagen ſie; und gar nicht wie beim Dicken.
    Die Livreen werden auch anders. Und alle Men¬
    ſchen ſollen Brüder ſein, und alle Frauenzimmer
    Schweſtern . . .“

    Der Geheimrath intonirte, wie durch eine Er¬
    innerung geweckt, plötzlich das Lied, indem er mit
    den Fingern auf dem Knie den Takt ſchlug:
    „Wir Menſchen ſind ja alle Brüder,
    Vereinigt durch ein heilig Band,
    Du Schweſter mit dem Leinwandmieder,
    Du Bruder mit dem Ordensband!“

    Das Kindermädchen warf einen ſchlauen Blick:
    „Geſtern hinterm Gitterfenſter auf dem Hofe — da
    ſangen’s Herr Geheimrath viel lauter.“

    Die Erwähnung ſchien dem Geheimrath unan¬
    genehm: „Das verſteht Sie nicht. Es iſt allerdings
    gegen die Humanität einen Menſchen um’s Leben zu
    bringen. Aber, wie geſagt, das verſteht Sie noch
    nicht, und das iſt nur unter uns, und wie ſollten
    wir denn die Spitzbuben los werden und die atrocen
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    Menſchen. Laß Sie ſich alſo ſo was nicht einbilden,
    und die Königin —“

    „Ja, Herr Geheimrath, die Königin, das weiß
    ich expreß von Jemand, der es weiß, vom Commiſſar
    die Köchin, die hat beim Doctor, der die Hoflakaien
    curirt, vorher gedient, und da hat ſie’s von der
    Mamſell, die beim Hofmarſchall iſt, mit eigenen
    Ohren gehört, zum König hat ſie’s geſagt, die Kö¬
    nigin, ſie könnte ihm ja keinen Kuß geben, weil
    ſeine Hände voll Blut wären, und nur diesmal hat
    er geſagt, hätte er’s thun müſſen, weil’s eine Kindes¬
    mörderin wäre, nämlich von wegen des Beiſpiels,
    weil’s ſonſt Alle thäten. Aber dann ſoll keiner mehr
    geköpft werden, und dies iſt das letzte Mal, und
    darum verdienten’s wohl die Kinder, daß ich ſie hin¬
    führte, denn es ſoll auch gar kein Blut mehr fließen,
    und kein Krieg mehr ſein, auf der ganzen Welt nicht,
    und der König hat’s geſagt.“

    „Aber ſage Sie mal, Sie iſt doch ſonſt eine
    vernünftige Perſon“ — der Hausherr war aufge¬
    ſtanden, um ihr zu beweiſen, daß ſie diesmal unver¬
    nünftig ſei. Das iſt überall eine ſchwierige Aufgabe,
    wo die Perſon, welcher man es beweiſen will, ſich
    für vernünftig hält. Sie mußte überdem eine gute
    Royaliſtin ſein; denn auf die Vorſtellung des Ge¬
    heimrathes, daß ſo etwas gar nicht in des Königs
    Macht ſtehe, ja nicht in des Kaiſers, auch nicht in
    der Macht des großen Feldherrn und Conſuls der
    Franzoſen, erklärte ſie, wozu denn ein König wäre,
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    wenn er das nicht mal könne! Der König könne
    aber noch weit mehr, wenn er nur wolle; es gäbe
    jedoch Perſonen, die viel klüger ſein wollten, als der
    König, und alles beſſer wiſſen und machen, und ſie
    wiſſe auch, was ſie gehört, und könnte manches ſagen
    was Mancher nicht gern hörte. Und wer nur geſtern
    Abend ſein Ohr aufgehabt hätte im hinterſten Hofe,
    und unterm Gitterfenſter gehorcht, was die Gefan¬
    genen geſungen. Davon könnte manches Vögelchen
    Lieder ſingen, die Mancherman gar häßlich klingen
    würden!

    „Sie unverſchämtes — ich glaube gar Sie hat
    getrunken!“

    „Ich getrunken! Habe ich das um den Herrn
    Geheimrath verdient, als ich geſtern Abend gar nicht
    ſah, wie Sie die Treppe heraufkamen, die kleine
    Hintertreppe, und nicht wußten, wo die Thüre war.
    Ich getrunken! Ein Glas Weißbier ſetzten mir der
    Herr Wachtmeiſter von Prinz Louis-Dragonern vor,
    und das trank ich, der Kinder wegen, denn wir
    waren außer Athem, weil die Leute ſo grauſam dräng¬
    ten, und ſo hob der Herr Wachtmeiſter die Kinder
    über die Lyciumhecke, und ich quetſchte mich durch die
    Hecke, und da ſagte der Wachtmeiſter ich ſollte erſt
    einen Pomeranzen mit ihm über die Lippen nehmen,
    weil ich ſo echauffirt wäre. Das kann der Wirth im
    blauen Himmel bezeugen; der ſagte, wir zerträten
    ihm ſeine Hecke, und er war betrunken. Aber wo
    wären wir alle, und die lieben Kinder, die ſchrien,
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    daß es ein Gotts Erbarmen war; aber der Wacht¬
    meiſter gab’s dem Wirth, daß er mäuschenſtill ward.
    Ich hätt’s ihm nicht gerathen, mit dem anzufangen.
    Er hat die Rheincampagne mitgemacht und trägt noch
    eine Kugel in der Schulter, Alles für ſeinen König!
    ſagt er und wenn Friede bleibt, kriegt er eine Civil¬
    anſtellung.“

    Es war eine Veränderung in dem Geheimrath
    vorgegangen. Von Zorn keine Spur mehr in ſeinem
    Geſichte, als er aus der emaillirten Doſe eine lange
    Priſe Spaniol nahm, und mit dem Battiſttuch den
    Taback, der ſich ausgeſtreut, von den Kleidungsſtücken
    abklopfte, und „Ja, ja, ſo geht’s in der Welt!“
    ſagte. Man ſah, zwiſchen beiden hatte ein langer
    Verkehr eine Verſtändigung hervorgebracht, die ge¬
    wiſſermaßen in hieroglyphiſchen Ausdrücken ſich Luft
    machte. Und jeder verſtand den andern. Offenbar
    war er an etwas erinnert worden, was er nicht liebte,
    und ebenſo offenbar, daß Charlotte auf einen andern
    Gegenſtand übergeſprungen war, entweder, um ihm
    die Verlegenheit abzukürzen, oder weil dieſer Gegen¬
    ſtand für ſie einen Zweck hatte.

    „Wie iſt’s denn nun mit dem Unteroffizier von
    Möllendorfs Grenadieren?“ ſagte der Geheimrath
    wie in vertraulicher Weiſe, nachdem er verſchiedenes
    andere gefragt, z. B. wie viel Menſchen wohl
    draußen geweſen, und welche Equipagen darunter,
    und ob die Kinder auch ordentlich geſehen hätten?

    „Dieſer Menſch hat nicht meiner Erwartung
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    entſprochen, entgegnete Charlotte, und Herr Ge¬
    heimrath wiſſen auch, was ich immer geſagt habe
    von der Infanterie. Er ſtellte ſich ſonſt ganz repu¬
    tirlich an, denn Wahrheit muß Wahrheit bleiben,
    aber er hatte kein Herz für die Kinder, und war
    von Profeſſion, wie ich jetzt erfahren mußte, ein
    Schneider. ’S iſt wahr, er hat eine Civilanſtellung
    erhalten, aber was iſt das, ein Nachtwächterpoſten!
    Wenn er mir das früher geſagt hätte, ich hätte ihn
    ſchön angeſehen. Nein, Herr Geheimrath hatten ganz
    recht, wenn Sie mich warnten. So wegwerfen werde
    ich mich nicht, und ich ſehe ihn auch gar nicht mehr
    an, wenn ich ihm begegne. Dieſer Wachtmeiſter aber
    hat ein wirkliches Gemüth für die Kinder, und er
    iſt ein Wittwer. Prinz Louis Ferdinand hat zu ihm
    geſagt, er ſollte ſich tröſten, der Soldat wäre ſo
    beſſer accommodirt; und das iſt wahr, ſagt er, wenn’s
    wieder losgeht, iſt der Pallaſch die beſte Braut für
    den Dragoner. Aber wenn Friede bleibt, ſagt er,
    will er den Pallaſch hinter die Thür hängen und ſich
    nach einer Frau umſehen. Und, ſagt er, eine die
    treu ihrem Herrn gedient hat, die iſt ihm lieber, als
    eine, die noch nicht gedient hat, denn da weiß er nicht,
    was er kriegt. Und eine, die ihre Jugend ihrem
    Herrn geopfert hat, die wird der Herr doch nicht
    ohne gute Ausſteuer fortlaſſen, das müßte ja ein
    ſchmutziger Herr ſein. Und das kann ich wohl von
    meinem Herrn ſagen, ſagte ich, er wird ſich nicht
    lumpen laſſen; der Herr Geheimrath haben’s mir oft
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    verſprochen, wenn ich mich mal veränderte, dann
    wollten Sie dafür ſorgen, daß es ſchmuck und blank
    in meinem Hauſe ausſehen ſollte. Und da hat er
    die Malvine auf dem langen Wege hergetragen, und
    ſie ſchlief gleich auf ſeiner Schulter ein. Der Fritz¬
    chen, der ſchrie und hatte ſich ungebärdig, den haben
    wir zwiſchen uns genommen, das war wirklich ein
    Elend mit dem Jungen, weil er ſich auf die Erde
    warf und wir mußten ihn an den Schultern rutſchen,
    bis der Herr Wachtmeiſter ihm für einen Dreier Ro¬
    ſinen kaufte und da ging’s denn, und Sonntag,
    wenn’s Herr Geheimrath erlauben, wird er mich nach
    den Zelten abholen und ſich dem Herrn Geheimrath
    präſentiren und mich mit Waffeln traktiren.“

    Der Herr Geheimrath ſchien nicht recht zu wiſſen,
    was er ſagen ſollte, indem er mit einem Finger um
    den andern ein Rad ſchlug. „Ja, ſieht Sie, Charlotte,
    ſagte er, wer das wüßte, ob Friede bleibt, oder ’s
    wieder losgeht. — Und hat ſie auch das bedacht, ein
    Cavalleriſt riecht immer nach dem Stall —“
    wollte er ſagen, oder hatte es geſagt —

    #littérature #Allemagne #réalisme

    • Merci klaus c’est simplement génial. Je comprends certaines parties du texte car c’est finalement assez proche du norvégien :

      «Roen er den først borgerplikt»

      Avec gogol translate, c’est incertain...

    • C’est un texte extrèment dense avec une grande richesse d’allusions et de sous entendus. On aborde le sujet de la peine de de mort, de l’IVG d l’exploitation des domestiques, le rôle de la femme en fonction de sa situation de classe sans oublier les formes d’amour possibles sous ces conditions, l’armée et les métiers comme source de l’identité et de la place de l’individu dans l’hierarchie sociale et encore et encore ...
      J’y découvre des sujets et prises de postion de la presse autrichienne critiqués par Karl Kraus cinquante ans plus tard, bref l’annonce d’un bouleversement de la société car l’auteur Willibald Alexis arrive á présenter tous ses thèmes comme étant résultats d’intérêts contradictoires des personnages et des classes.

      Si c’était le premier acte d’un film policier on aurait déjà vu une poursuite en voiture, des échanges de feu, une crise familiale, la tragédie de l’age, un meurtre et l’exécution publique de la coupable vu avec les yeux des jeunes enfants d’une autre mère dérangée, le tout en cinq minutes juste pour introduire deux trames principales et quatre ou cinq personnages.

      Je découvre que Willibals Alexis est vraiment un auteur intéressant qui sait toujours nous communiquer un message humain et politique.