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  • Didier Eribon liegt falsch : Le Pen punktet nicht bei Ex-Linken
    https://www.freitag.de/autoren/der-freitag/die-didier-eribon-geschichte-ist-falsch-le-pen-punktet-nicht-bei-ex-kommunis

    Suivant.Alexander Neumann Eribon a tort - la nouvelle droite n’est pas composée d’anciens prolétaires de gauche.

    28.6.2024 von Alexander Neumann - Frankreich Frustrierte Arbeiter machen in Frankreich den Rechtsradikalismus stark? Mit dieser Erzählung wurde Didier Eribon zum internationalen Star der Linken. Doch die Statistik gibt das gar nicht her. Die Geschichte eines Missverständnisses

    Didier Eribon feiert derzeit ein Comeback – mit einem neuen Buch über das Leben seiner Mutter, Eine Arbeiterin. Es handelt sich dabei gewissermaßen um eine Fortsetzung seines internationalen Bestsellers Rückkehr nach Reims, mit dem er nach dem Erscheinen der deutschen Übersetzung im Jahre 2016 auch in der Bundesrepublik zum Star der Linken wurde. So scheint es nur logisch, dass ihn auch die hiesige Partei Die Linke jüngst im Europawahlkampf präsentierte, während der Spiegel zugleich betont, Eribon sei eine gemeinsame Springquelle so verschiedener Leute wie Olaf Scholz, Gregor Gysi und Sahra Wagenknecht. Und nun, vor den vorgezogenen Parlamentswahlen in Frankreich, hat seine Erzählung wieder Saison.

    Was hier entspringt, sind in Wirklichkeit freilich gegenseitige Abgrenzungen, Spaltungen und Konfusionen. Der jüngste Europa-Wahlkampf zeigte, wie Eribons Erzählung aus Rückkehr nach Reims als Projektionsfläche, als politische Inszenierung funktioniert – in einer postmodernen Form, die bereits als Theaterstück an der Berliner Schaubühne aufgeführt wurde und schon auch als Kinofilm flimmerte.

    Bereits der Titel seines ersten prominenten Buchs war eine geglückte Selbstinszenierung. Denn genau betrachtet handelt es sich nicht um eine Rückkehr nach Reims, die Stadt der französischen Könige und Champagnerfabrikanten, sondern um eine verhinderte Heimkehr in die arme Kleinstadt Muizon, aus der der Autor tatsächlich stammt. Dieser Stil einer Autofiktion prägt auch seine politische Interpretation der Arbeiterschaft, im Sinne einer literarischen Fiktion, die sich unabhängig von faktischen Wahlergebnissen und Befunden entwickelt.
    Eine gefühlte Analyse

    Eribon hat den persönlichen Eindruck, die männlichen Arbeiter (so sein Vater) und weiblichen Angestellten (seine Mutter) hätten sich, ausgehend von kulturkonservativen und teils homophoben Mustern, kollektiv nach rechts gewandt, was sich scheinbar manifestiert im Aufstieg der rechtsradikalen Parteien und im Fall der Kommunistischen Partei Frankreichs (KPF). Beispielhaft für diese Master-These ist die Einleitung eines Interviews mit Eribon in der Tageszeitung Mediapart: „Der Philosoph und Soziologe analysiert, auf Grundlage seiner intimen Familiengeschichte, das Abdriften im Wahlverhalten der Arbeiterschaft, ausgehend vom Kommunismus hin zum Front National (FN) bzw. heute
    Rassemblement National (RN)“.

    Kommunizierende Vasen also? Genau diese Vermutung wurde in der französischen Soziologie stets widerlegt. Auch der Einspruch von Eribons Mutter, einer früheren Putzfrau, den der Autor kurz erwähnt, ohne ihr wirklich eine Stimme zu verleihen, ficht diese Darstellung nicht an. Im kleinen Departement Marne, in dem Eribons Heimatkommune Muizon liegt, hat sich das Wahlverhalten tatsächlich ganz anders entwickelt als von Didier Eribon gedacht. Das zeigt der Blick in die entsprechende Dokumentation des Ministère de l’Intérieur.

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    Die KPF holte hier bei den Präsidentschaftswahlen von 1981 nämlich 15 Prozent der Stimmen. 2012, also nur drei Jahre nach dem Erscheinen der Rückkehr nach Reims in Frankreich, war das Ergebnis des – auch – von der KPF unterstützten Kandidaten Jean-Luc Mélenchon zwar tatsächlich etwas schwächer, aber mit zehn Prozent noch immer beträchtlich. Und bei der Präsidentschaftswahl von 2022 erreichte der Stimmenanteil des linken Lagers inklusive KPF wieder die 15 Prozent von 1981. Die rechtsradikale Partei von Jean-Marie beziehungsweise später Marine Le Pen trat 1981 nicht an. 2012 erreichte sie zehn Prozent und 2022 lag sie bei 20 Prozent. Ein Erdrutsch von weit links nach rechtsaußen sieht anders aus. Wer tatsächlich abstürzte, war die traditionelle bürgerliche Rechte. 1981 lag sie bei 48 Prozent, 2012 noch bei 39 – doch 2022 bekam sie nur noch 3,3 Prozent, die 24 Prozent für Präsident Emmanuel Macron nicht eingerechnet.
    Le Pen lebt nicht von ex-linken Arbeitern

    Tatsächlich stürzte in Eribons Heimatort also nicht etwa die radikale Linke ab, sondern die traditionelle Rechte. Es zeigt sich hier nichts anderes als eine Stimmenwanderung innerhalb des rechten Lagers zugunsten Marine Le Pens und ihres Rassemblement National (RN). Noch eindeutiger ist das Beispiel von Fréjus, der einzigen Stadt mit über fünfzigtausend Einwohnern, in der RN den Bürgermeister stellt, wobei diese Stadt gerade dadurch auffällt, dass sie einen unterdurchschnittlichen Arbeiteranteil aufweist. Hier lag die KPF 1981 bei nur einem Prozent, während sie 2022 im Bunde mit Mélenchon 15,4 Prozent erreichte. Die Le Pens waren 1981 in Fréjus nicht angetreten, 2022 holten sie 35,5 Prozent – während die bürgerlichen Rechten von 45 Prozent anno 1981 auf 2022 nur noch 4,5 Prozent fielen, für Macron stimmten 22,5 Prozent. Auch hier wanderten die Wähler nicht von den Links- zu den Rechtsradikalen, sondern wandten sich traditionelle Rechtswähler noch weiter nach rechts. Die Fachliteratur unterstreicht diesen Effekt immer wieder.

    Und die beiden Kleinstädte sind keine Einzelfälle. Landesweite Untersuchungen bekannter Forscher wie etwa des Demographen Hervé Le Bras oder des Soziologen Gérard Mauger kommen zu ähnlichen Ergebnissen. Jüngst haben auch die Ökonomen Julia Cagé und Thomas Piketty diese These bestätigt, wobei ihre Statistikauswertungen bis ins 19. Jahrhundert zurückreichen. Die Eltern Eribons, die ungewollt als Erklärungsmodell herangezogen werden, gehören zu einer Generation, die vor dem Weltkrieg geboren wurde, bereits vor dem massiven Erstarken von Le Pen in Rente ging und seitdem logischerweise nicht mehr unter die Gruppe der Arbeiter und Angestellten fällt.
    Verschiebungen im rechten Lager

    Zahlreiche, einst linksorientierte Arbeiter sind seit 1968 in die Arbeitslosigkeit abgerutscht und später teils zu Nichtwählern geworden. Damals gab es laut offizieller Statistik vier Millionen Arbeiter, heute sind es sogar fünf Millionen – allerdings haben sich im Zuge der Deindustrialisierung die Menschen und Berufe gewandelt. Kurz nach dem Generalstreik von 1968 erhielt der konservative General Charles de Gaulle 50 Prozent der Stimmen und der kommunistische Kandidat nur 20 Prozent – dass es eine breite „konservative Arbeiterschaft“ gibt, ist also kein neues Phänomen. Ein Teil genau dieser Wählerschaft hat sich im Alter dann zu rechteren Positionen hinbewegt.
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    Und heute? Nach Wahlschätzungen des Institutes Ipsos hat sich bei den Wahlen von 2022 ein Drittel der Arbeiterschaft enthalten. Die abgegebenen Arbeiter-Stimmen fielen zu einem Drittel auf Le Pen, zu einem zweiten Drittel auf die parlamentarische Linke, während wiederum ein Drittel Macron wählte. Dies entspricht in etwa den Durchschnittswerten und der allgemeinen Parteienlandschaft. Ironischerweise hat der Präsidentschaftskandidat Mélenchon, für den sich Eribon 2022 ausgesprochen hat, diese Art der Wahlauswertung dann öffentlich präsentiert, im direkten Widerspruch zur These seines Unterstützers.

    Interessant ist nun weniger, dass Eribons Meinung unfundiert oder falsch ist – sondern wie stark sein Storytelling in Politik, Kultur und Medien zündet. Eribon ist ein talentierter Schriftsteller, Journalist und Autobiograf, der oft als Soziologe vorgestellt wird, wie wohl er in diesem Fach gar nicht profiliert ist. Die Qualifizierung der Literatur als Soziologie autorisiert die Verallgemeinerung einer Weltsicht, die somit zum Politikum wird – weit über Frankreichs Grenzen hinaus. Auch die der deutschen Partei Die Linke nahestehende Rosa-Luxemburg-Stiftung nutzte Eribon im Mai 2024 als eine Vorzeigefigur, mit der man vom Proletenimage wegkommen kann, um als postmarxistischer Anziehungspunkt für Akademiker zu reüssieren.
    Eribons wohlfeile Entlastungserzählung

    Was also finden so verschiedene Kräfte wie die Gysi-­Partei, Sahra Wagenknechts Bündnis oder SPD-Kanzler Olaf Scholz an dieser Erzählung – abgesehen davon, dass sie in den Medien gut läuft? Vielleicht ist es der Versuch, im Buch Eribons nach Verzeihung dafür zu suchen, dass man den Marxismus – ob à la SED oder Jusos – nach und nach entsorgt hat, während man die real existierende Arbeiterschaft verlor. Wenn die Arbeiter und Armen von sich aus scheinbar keine demokratischen Entwicklungen einfordern, dann kann getrost ein pragmatisches und nach allen Seiten hin offenes Krisenmanagement betrieben werden, ohne dass die eigene Parteibasis viel meckern darf. Dialektik geht so: Es haben nicht, wie Rosa Luxemburg klassisch sagte, die Sozialdemokraten die Arbeiter verraten, sondern umgekehrt die Arbeiter die linken Parteien.

    Das Vorzeigemodell Didier Eribon, der vom armen Kind zum Bestsellerautor aufstieg, verkörpert zudem individuell sozialdemokratische Erzählungen à la Willy Brandts – Aufstieg durch Bildung. Es spiegeln sich in seiner Person auch Gerhard Schröders Vita und Träume von neuen Eliten. Eribons großer schriftstellerischer Erfolg besteht also ehrlicherweise darin, den politischen Fehden aufseiten der Linken einen postmodernen Resonanzboden zu eröffnen, der sich nicht an sozialen Realitäten messen lassen muss.

    Ob sich die Gewerkschaften auch damit anfreunden werden, die doch gestressten ArbeitnehmerInnen und Niedriglöhnern Antworten schulden, ist eine andere Frage, die nicht in der Vergangenheit, sondern in der Zukunft liegt.

    Alexander Neumann ist Universitätsprofessor, Soziologe und Philosoph (Universität Paris VIII)

  • Indien Unter Corona eskaliert in Mumbai der Kampf um die Öffentlichkeit: Wer kann, schließt sich in Gated Communities ein. Wer übrig bleibt, gilt als dreckig und gefährlich
    https://www.freitag.de/autoren/der-freitag/die-drinnen-und-die-draussen

    03.04.2020 von Tobias Kuttler- Leere Straßen und Plätze von Lima bis Johannesburg, von Mailand bis Mumbai. Es sind es drastische Bilder, die uns aus vielen Teilen der Welt erreichen. Alle Menschen bleiben zuhause, scheint es. Erst auf den zweiten Blick offenbart die Corona-Krise die sozialen Unterschiede hinter den Bildern: Während die Wohnverhältnisse der städtischen Eliten und Mittelschichten einen Rückzug in die eigenen vier Wände ermöglichen, treffen die Ausgangssperren die städtischen Armen und Marginalisierten völlig unvorbereitet. Kaum irgendwo wird diese Krise des öffentlichen Raums deutlicher als in den Großstädten den globalen Südens.

    In Indien gilt nun vorerst eine Ausgangssperre für 21 Tage. Der Eisenbahnverkehr wurde landesweit eingestellt und auch der städtische öffentliche Nahverkehr ist weitestgehend zum Erliegen gekommen. Die städtischen Armen befinden sich in einer Notsituation, noch bevor die Corona-bedingte Krankheitswelle richtig begonnen hat.

    Für all diejenigen, die auch schon bisher hauptsächlich digital gearbeitet haben und virtuell vernetzt sind, bedeutet der Umzug an den häuslichen Schreibtisch lediglich die Fortführung einer routinierten Praxis. Sie haben ihren heimischen Arbeitsplatz schon lange krisenfest gemacht – für die Belastungen durch den hochflexiblen Arbeitsalltag. Für die vielen Selbständigen der Gig-Economy ist diese Art der Arbeit schon lange Realität und Teil ihrer Selbstausbeutung. Gleichzeitig zeigt die schnelle Umsetzung dieses Rückzugs, wie zurückgezogen und ungestört die Wohnsituation der globalen Eliten und Mittelschichten inzwischen ist.

    Räumlicher Ausdruck dieser Zurückgezogenheit ist das Wohnen in abgetrennten, zugangsbeschränkten Wohngebieten, den Gated Communities. Diese Wohnform erfreut sich global großer Beliebtheit: Anfang des Jahrtausends lebten allein in den USA etwa 32 Millionen Menschen in solchen Siedlungen, Tendenz weiter steigend. Seit der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts ist die bewachte und kontrollierte Wohnsiedlung ein Charakteristikum nicht nur der US-amerikanischen Metropolen.

    Vor Corona geschützt in der Gated Community

    In Mumbai, der wohlhabendsten Stadt Indiens und gleichzeitig eine der am dichtesten besiedelten Städte der Welt, lebt etwa die Hälfte der Stadtbevölkerung in Slums. Auch hier ist es für die höheren Einkommensschichten erstrebenswert, in von der Außenwelt weitest gehend abgeschotteten Wohnanlagen zu leben. Viele dieser Siedlungen sind in Form von privat initiierten Wohnkooperativen organisiert, wovon es in Mumbai über 100.000 geben soll. Diese Gebiete sind ausgestattet mit exklusiver, privater Versorgungsinfrastruktur, welche eine Strom- und Wasserversorgung rund um die Uhr garantiert – ein Privileg in Indien, das die Bewohner*innen weitgehend unabhängig macht von der volatilen öffentlichen Versorgung, der Wasserknappheit im Sommer und den regelmäßigen Stromausfällen. Die Mobilität ist durch den Besitz eines eigenen Autos gesichert. Auch aufgrund des Verkehrskollapses haben gutverdienende Selbständige ihren Arbeitsplatz längst in die eigene (geräumige) Wohnung verlegt. Sie verlassen die eigene Wohnung nur noch selten, immer häufiger auch mit einem Fahrdienst wie Uber, um die Fahrtzeit zum Arbeiten oder Schlafen nutzen zu können.

    Die Eingangstore dieser Siedlungen sind in der Regel durchlässig, die Kontrollen der Sicherheitsdienste nicht konsequent. Doch in der Corona-Krise haben die Bewohner*innen die Mauern, Tore und Schranken dieser Wohngebiete zur Demarkationslinie im Kampf gegen das Virus erklärt. Ganze Wohnanlagen schotten sich ab, die Einlasskontrollen sind nun streng. Angestellte, die in den Mittelschichtshaushalten die alltäglichen Arbeiten verrichten – in der Regel Frauen –, werden nun entlassen oder in den Zwangsurlaub geschickt. Mitarbeiter von Lieferdiensten werden davon abgehalten, Familien mit Corona-Verdachtsfällen zu beliefern. Zuletzt wurden Fälle von Ärzt*innen und Pfleger*innen bekannt, die von ihren Vermietern und Nachbarn nicht mehr in ihre Wohnungen gelassen werden. Eine Bewohnerin schreibt in einem Facebook-Post: „Ich wohne in einer Mittelschichts-Wohnkooperative in Mumbai. Der Begriff „kooperativ“ ist natürlich ein Witz, denn hier kooperiert niemand. Die jetzige Krise offenbart die schlimmste Seite der Mittelschichten in diesem Land“.

    Moderne Schlafgänger ohne Raum

    Außerhalb dieser Mauern spielt sich das wahre Drama dieser Tage ab. In den chawls, den einfachen Mietwohnungen in dicht besiedelten Wohnvierteln, und informellen Siedlungen wohnen die Hausangestellten, Taxifahrer und Gemüseverkäufer*innen. Große Familien teilen sich meist ein Zimmer mit Küchenzeile. Die Enge und fehlende Privatsphäre ist eine Herausforderung. Oftmals gibt es in diesen Vierteln Gemeinschaftstoiletten, wenn diese aber fehlen oder nicht benutzbar sind, müssen sich die Bewohner*innen im Freien waschen und erleichtern. Dann steigt insbesondere für Frauen die Gefahr, Opfer von Krankheiten und Gewalt zu werden. Für einen Großteil der Menschen in Mumbai ist somit der Alltag schon ohne Corona der permanente, normalisierte Ausnahmezustand.

    Die jeden Tag aufs Neue mühsam erarbeitete Normalität gerät nun ins Wanken. Die Räumlichkeiten in den dicht besiedelten Vierteln sind nicht darauf ausgerichtet, dass sich eine gesamte Familie über viele Tage hinweg in Ihnen gemeinsam aufhalten kann. Viele Arbeiter*innen wollen daher zurzeit lieber zur Arbeit gehen, als unter diesen Umständen zu Hause sein zu müssen.

    Für viele Arbeitsmigrant*innen, die nach Mumbai und andere Großstädte gekommen sind, stellt sich die Situation jetzt besonders schwierig dar. Für sie ist mit Eintreten der Ausgangsperre das komplette Wohnarrangement zusammengebrochen. Gerade in den Großstädten sind vor allem junge Männer „moderne Schlafgänger“: Zehn oder mehr Personen teilen sich ein Zimmer, in denen sie abwechselnd schlafen. So kann ein Großteil des Verdiensts nach Hause in die Dörfer transferiert werden. Diese rotierenden Systeme sind unter Industrie- und Schichtarbeiter im Großraum Chennai ebenso zu finden wie in Mumbai unter jungen Fahrern von Fahrdiensten wie Uber. Während der eine tagsüber das Auto fährt, schläft der Zimmerkollege und nachts umgekehrt. Da die Taxi- und Fahrdienste nun ihren Betrieb eigestellt haben, funktioniert das Schlafsystem nicht mehr.

    Umkämpfte Öffentlichkeit

    Viele Fahrer und andere Arbeitsmigrant*innen verlassen die Städte nun in Richtung ihrer Heimatdörfer: Mit dem Zug, solange die Züge noch fuhren; seit dem der Zugbetrieb landesweit eingestellt ist, haben sich viele zu Fuß auf die weite Reise gemacht. In Indien sind Zehntausende Arbeitsmigrant*innen an den Bahnhöfen und Busbahnhöfen der Städte gestrandet. Die Solidarität mit Menschen, die nun auf den Straßen zurückbleiben, ist groß. Viele Staaten stellen – mit Verspätung – finanzielle Mittel und Unterkünfte für die Notversorgung bereit. Doch die Videoaufnahmen von Polizisten, die Arbeitsmigranten auf ihrem Weg in die Dörfer demütigen und misshandeln, zeigen gleichzeitig, welche Verachtung ihnen in der Gesellschaft weiterhin entgegenschlägt.

    Der öffentliche Raum ist in den Städten ständig umkämpft: nicht nur der Zugang und die Nutzungen, sondern auch die Bedeutung und die Interpretation desselben. Gerade unter Menschen, die sich stark zurückziehen, ist die Furcht vor dem öffentlichen Raum am stärksten. Wenn der öffentliche Raum als unsicher, unrein oder unwegsam wahrgenommen wird, so wirken auch Personen oder Gruppen, die sich dort aufhalten, als Gefahr – wenn nicht als persönliche, dann doch zumindest als eine Gefahr für die öffentliche Ordnung. Die vielerorts vertretene „Null-Toleranz“-Politik gegenüber „Störungen“ im öffentlichen Raum, wie sie vor allem in den USA anzutreffen ist, fällt dabei nicht zufällig mit weitverbreiteten neoliberalen Stadtentwicklungspolitiken zusammen.

    Seitdem große Städte Ende der 1980er Jahre noch stärker Dreh- und Angelpunkte des globalen Kapitals geworden sind, stehen sie im weltweiten Wettbewerb um Investitionen und die gutgebildete Mittelschicht in Konkurrenz zueinander. Attraktive Innenstädte und „Lebensqualität“ sollen das Image der Stadt bestimmen, für Verlierer ist in solchen Städten – im wahrsten Sinne des Wortes – kein Platz. In Bezug auf die USA nannte der Geograph und Stadtforscher Neil Smith die derart neuausgerichtete Stadt die „revanchistische Stadt“.
    Neoliberale Städte in der Krise

    Auch in Mumbai hat sich – angelehnt an westliche Vorbilder und unter dem Druck der internationalen Geldgeber – seit den 1990er Jahren eine neoliberale Stadtpolitik durchgesetzt. Die schon zuvor grassierende Vertreibung und Entrechtung der urbanen Armen und Marginalisierten wurde unter neuen Vorzeichen ungemindert fortgeführt. Diejenigen, die wichtige Grundfunktionen in der Stadt aufrecht erhalten, z.B. Straßenhändler*innen, Rikscha-Fahrer und Müllsammler*innen sind regelmäßige Ziele dieser Politik.

    Die Mittelschichten sind sich mit den staatlichen Einrichtungen, welche in vielen Städten die „Säuberung“ der öffentlichen Räume vorantreiben, weitestgehend einig. Denn je mehr Personen in isolierten Wohnvierteln leben, desto mehr ist der öffentliche Raum als Ort derjenigen stigmatisiert, die es nicht geschafft haben, auf der sozialen und ökonomischen Leiter nach oben zu klettern.

    Der derart negativ behaftete Raum spielt eine wichtige Rolle in der Corona-Krise. Dort, wo gerade strenge Ausgangssperren durchgesetzt werden, sind alle, die sich im öffentlichen Raum aufhalten, Sonderfälle: Entweder „systemrelevant“, besonders privilegiert, oder besonders marginalisiert. Marginalisiert sind diejenigen, die kein Zuhause haben, sich auf Grund körperlicher Beeinträchtigungen nicht auf den Weg nach Hause machen können und keine Notunterkunft finden.

    In den Großstädten des globalen Südens ruft jeder neue Tag unvorhergesehene Krisen hervor. Jahrzehnte neoliberaler Stadtpolitik haben Städte zu Orten gemacht, an denen überwiegend die Bedürfnisse der Eliten und höheren Mittelschichten zählen. Gerät das fragile (Un-)Gleichgewicht des neoliberalen Konsenses nun durch Corona ins Wanken? Und öffnet sich jetzt möglicherweise ein Fenster für eine erstarkte Recht-auf-Stadt Bewegung? Diese Fragen erscheinen angesichts der noch bevorstehenden gesundheitlichen Katastrophe in den Städten des globalen Südens beinahe zynisch. Die Folgen für die städtischen Armen und Ausgegrenzten werden verheerend sein. Eine Rückkehr zu den Zuständen vor Corona wird es nicht geben.

    Tobias Kuttler forscht an der TU Berlin zu Mobilität und sozialer Benachteiligung in Europa. Zudem forscht und arbeitet er seit 10 Jahren in Indien, derzeit promoviert er an der TU München über den Wandel des Taxisektors und die Situation der Uber-Fahrer in Mumbai

    #Indien #Mumbai #Uber #Wohnen #Covid-19 #Klassenverhältnisse

  • Hocherotisch, mit echten Visionen: Das Debüt „LVL UP“ der Rapperin Eli Preiss — der Freitag
    https://www.freitag.de/autoren/der-freitag/hocherotisch-mit-echten-visionen-das-debuet-lvl-up-der-rapperin-eli-preiss
    https://www.freitag.de/autoren/der-freitag/hocherotisch-mit-echten-visionen-das-debuet-lvl-up-der-rapperin-eli-preiss/@@images/e7057d4b-d4f0-4624-a0e1-ce4fbb0febec.jpeg

    Ausgabe 24/2022 von Till Wilhelm - Hiphop Das Debütalbum der Wiener Rapperin Eli Preiss hat das Zeug, den Sound der Gegenwart zu beeinflussen

    Die Geister der Nostalgie spuken teils schneller, als die Popkultur fortschreiten kann. Gruselig wird es etwa, wenn die Generation Z auf Tiktok Kleidung im Y2K-Stil glorifiziert, für die Millennials auf den Schulhöfen der nahen Vergangenheit noch ausgelacht wurden. Wie sich mit nostalgischen Inspirationen Zukunftsvisionen formen lassen, beweist derweil die Sängerin und Rapperin Eli Preiss. Ihr Debüt LVL UP orientiert sich konzeptionell an den Videospielen der frühen Nullerjahre, die 14 Lieder tragen Titel wie Princess Peach, Gameboy oder Endboss.

    „Ich weiß, man sollte leben im Moment“, heißt es in Bleib still, „doch ich glaub’, die Zukunft macht einiges besser“. Auf schleppenden Drums entwirft Eli Preiss eine Utopie, in der nicht bloß die Sonne scheint, sondern auch systemische Ungerechtigkeiten beseitigt sind. Im hocherotischen Slide wird sogar der gemeinsame Orgasmus mit einem entspannten „Baby, gleich, gleich, gleich“ noch in die Zukunft verschoben, bevor der wohlig ächzende Gesang am Ende des Songs inmitten von Feuerwerksexplosionen atemlose Höhen erklimmt. Es ist vielleicht der gegenwärtigste Moment auf LVL UP.

    Die Texte der 23-Jährigen erzählen wie so viele vom Coming-of-Age, von der Reise zur Selbstfindung. Gerade noch schleudert Eli Preiss über die bunten Weiten des Regenbogen Boulevard, droht, die Kontrolle zu verlieren, bald darauf rast sie zielstrebig mit präzisen Flows durch die Glühheiße Wüste, beide Titel verweisen auf Fahrstrecken des Videospiels Mario Kart. Dazwischen erreicht die Wienerin Level nach Level nach Level, ohne den eigenen Lebenslauf allzu teleologisch darzulegen. LVL UP ist dabei kein Egoshooter, sondern Mannschaftssport. Mit ihrem Produzententeam um Tschickgott und prodbypengg bedient sie sich bei Drum & Bass, Super-Nintendo-Soundeffekten und den Black Eyed Peas, um auch für den New-Wave-Sound des Deutschen Rap eine neue Stufe freizuspielen.

    Keine falschen Fakten flexen
    Wo in der Retrospektive Schwächen und Selbstzweifel angedeutet werden, behält der optimistische Ausblick stets das Übergewicht. LVL UP demonstriert selbstbewusste Angriffslustigkeit – mit konsistentem Anspruch an das Umfeld. Rapkollegen, die „Frauen hassen“ und „mit falschen Fakten flexen“, werden nicht bloß für ihre artistische Bedeutungslosigkeit kritisiert. Auch in der Liebe erlaubt Eli Preiss keine Fremdbestimmung. „Brauche kein’ Mann“, heißt es an einer Stelle mit ignorant-sanfter Stimme. „Wenn, dann wähl’ ich einen“. Romantische Partner saugen an Nippeln wie an denen ihrer Mama, befriedigen oral und müssen damit rechnen, dass die Rapperin sich auf ihre Grillz setzt. Wem das zu viel ist, der darf gerne einen angeekelten Blick auf die anzüglichen Zeilen der männlichen Konkurrenz werfen.

    Gerade in Endboss gelingt es, die Einflüsse von UK-Garage und modernem Trap zu einer respektvoll-turtelnden R’n’B-Hymne zu collagieren. „Ich spiel keine Games mit dir“, rappt Eli Preiss, das Musikvideo hingegen kleidet sich in die Ästhetik von Grand Theft Auto und Street Fighter im Multiplayer-Modus, Zitate einer Popkultur, die um die Jahrtausendwende eigene Zukunftsvisionen entwarf. LVL UP ist keine nostalgische Reise ins Archiv, sondern ein wachträumender Retrofuturismus, der die musikalische Gegenwart, um die er sich so wenig kümmert, mit Sicherheit prägen wird.

    #Musik #Nacht #Techno #R&B #Rap #Deutschrap #Wien #Österreich

  • Solidarität statt offene Grenzen ! | Rubikon
    https://www.rubikon.news/artikel/solidaritat-statt-offene-grenzen

    10.8.2018. von Hans-Jürgen Bandelt - Mit ihrer Hetze gegen Heimatgefühle stärkt die Lifestyle-Linke den neoliberalen Wahn.

    „Solidarität statt Heimat“ — welch abartige Gegenüberstellung, die als Aufruf (a) bereits mehr als 12.000 Intellektuelle aus dem mutmaßlich linken Milieu unterzeichnet haben! Denn Solidarität und Heimat betreffen völlig verschiedene Ebenen. Und vieles wäre vorab zu klären: Für was oder gegen was und überhaupt mit wem soll wer solidarisch sein? Und was ist Heimat? Solidarität mit den Ausgebeuteten und Unterdrückten ist zu üben, in der Heimat wie international. Offene Grenzen sind als Phantasmen zurückzuweisen.

    Solidarität statt Heimat

    Im Sommer und Herbst der Großen Migration war die Welt scheinbar noch in Ordnung: Es gab sie, die Willkommenskultur. Sie wurde gefeiert – ach, wie war das schön und gut. Aber sie war von oben verordnet: „Wir schaffen das!“ war der Zuruf der Bundeskanzlerin an die Zivilgesellschaft und meinte doch übersetzt: Kümmert Euch gefälligst um die, die da in Massen kommen, wir – der Staat – tun es nicht, wir verwalten nur notdürftig – oder erst mal gar nicht.

    Und die Menschen glaubten tatsächlich, daß sie es schaffen könnten. Das konnte so nicht gutgehen, da es nie zuvor eine konsequente Integrationskultur in Deutschland staatlicherseits gegeben hatte.

    Asylanten waren dem Staate immer lästig. Und wenn man sie am Ende nicht loswerden konnte ohne Gesichtsverlust, mußten sie um jeden Sprachkurs, jede Integrationsförderung kämpfen und ansonsten halt sehen, wie sie klarkamen in dieser Gesellschaft.

    Sie schafften sich Subkulturen – generationsübergreifend. Jener denkwürdige Herbst rief ein Nachspüren und Nachdenken hervor, und kritische Stimmen meldeten sich, die die Merkelsche Inszenierung gar nicht gut fanden.

    Nun hat sich ein linksliberales Willkommensmilieu tief getroffen gefühlt und sendet Signale an die Kritiker, um sie als unsolidarische Hetzer zu brandmarken: „Wir erleben seit Monaten eine unerträgliche öffentliche Schmutzkampagne, einen regelrechten Überbietungswettbewerb der Hetze gegen Geflüchtete und Migrant*innen, aber auch gegen die solidarischen Milieus dieser Gesellschaft“ – so lautet es im Aufruf „Solidarität statt Heimat“, den jüngst Intellektuelle aus dem mutmaßlich linken Milieu unterzeichnet und ins Netz gestellt haben.

    Daß von „Geflüchtete und Migrant*innen“ im politisch korrekten Gender-Neusprech statt von „Flüchtlingen und Einwanderern“ in normalem Deutsch gesprochen wird, läßt erahnen, daß hier die Postmoderne die Hand der Aufrufschreiber geführt hat.

    „Wenn diese Welt noch nicht gut ist, darf man sie nicht als gut verteidigen. Und deswegen muss man auch jene kritisieren, die unablässig die Schönheit dieser Welt hervorheben. Das sind die liberalen Moralisten. Sie sind konservativ. Derjenige, der aus Liebe zur Welt handelt, ist progressiv. Er hat noch etwas vor. Er will noch vorankommen. Deswegen kritisiert er.
    Er kritisiert nicht aus rechter Ideologie. Nein, er kritisiert aus Liebe. Aus Liebe zur Welt. Er denkt auch an die, die im Denken eines ,progressiven Neoliberalismus‘ ausgeschlossen sind. Er denkt an die Ausgebeuteten und die Abgehängten. Gerade für sie will er vorankommen. Das ist Liebe. Solidarität. Und genau deswegen muss der liberale Moralismus auch kritisiert werden. Gerade jener, wie er sich in der Flüchtlingspolitik offenbarte“ (Nils Heisterhagen: Die liberale Illusion, J.H.W. Dietz Nachf., 2018, S.24f).

    Heimat

    „Heimat ist ein wesentlicher Teil der Identität! Warum ist das so? Weil Heimat eine Vertrauenswelt darstellt“ (1). Heimat ist ein positives Grundgefühl vieler Menschen, was es ihnen erst ermöglicht, solidarisch zu sein mit anderen Menschen. Aber es ist doch mehr als nur so irgendein Gefühl: Es ist an eine größere, teils lose Gemeinschaft und nicht nur auf die eigene Kernfamilie bezogen. Und damit ist es an einen Ort oder mehrere Orte gebunden. Insofern verkürzen den Begriff Heimat sowohl Mojib Latif, wenn er charmant vorträgt „Heimat ist dort, wo meine Frau ist“, als auch Herbert Grönemeyer, wenn er gepreßt singt „Heimat ist kein Ort, sondern ein Gefühl“.

    Auch die Kulturanthropologin Carola Lipp sagte in einem Interview, daß Heimat immer eine territoriale Komponente hat (2). Und weil uns das Heimatgefühl so wichtig ist, wird dieses immer wieder durch eine reaktionäre Politik von Parteien wie CSU und AfD instrumentalisiert.

    Wenn DIE LINKE nun mit dem Begriff Heimat fremdelt, weil es einen Seehofer und ein Heimat-Ministerium gibt, so schüttet sie das Kind mit dem Bade aus.

    Dadurch, daß nicht nur der politische Mißbrauch abgewiesen wird, sondern auch die individuelle Vorstellung von Heimat dabei verdammt wird, werden gerade die Menschen der Unterschicht, die sich nicht einmal in kleinsten Dosen die Illusion eines kosmopolitischen Lebens leisten können, auch noch ihrer Gefühle enteignet.

    Das ist die Ignoranz und Arroganz der hippen und selbstgerechten, oberen Mittelschicht und unteren Oberschicht. Die Unverbundenheit mit ihrer Umgebung ist dem flexiblen Kosmopoliten eigen: Ihm ist die alte Heimat fremd geworden, weil er sich im Zuge seiner globalen Karriere hat entwurzeln lassen. Er ist immer bei seinesgleichen und nirgendwo richtig zuhause, nirgendwo wirklich solidarisch mit den Menschen, die ihn zufällig umgeben und ihm dienstbar sind. Solidarität kennt er nur abstrakt als moralischen Imperativ. Die Selbstgerechtigkeit, die ihn einhüllt, nimmt er als Heimatersatz überall mit hin.

    Solidarität

    „Vorwärts, nicht vergessen, die Solidarität“ – hatte 1931 einst Ernst Busch gesungen. Welche Solidarität hatte er gemeint? Die der Arbeiterklasse. Denn nur vereint kann sie sich der Ausbeutung erwehren. Das war früher nicht anders als heute. Nur, was heute anders ist: Wer fühlt sich noch zur Arbeiterklasse gehörig? Der Arbeitslose, der Leiharbeiter, der Handwerksgeselle, der noch vom Jobcenter geförderte Scheinselbstständige oder der jeder Willkür ausgesetzte Lehrbeauftragte an einer Universität? Viele Schichten gibt es und scheinbar wenig Gemeinsamkeiten.

    Oder sollten wir an die Flüchtlinge denken und meinen, sie seien der neue Messias der Arbeiterklasse, der alle eint? Auch wenn kein Schwan, sondern ein Rettungsschiff sie brachte. Daniela Dahn fragte dazu (3): „Sind die Flüchtenden das ersehnte revolutionäre Subjekt, das Egalisierung und Ökologisierung zwangsläufig vorantreibt? Endlich eine Globalisierung von unten? Prekarier aller Länder vereinigt euch!“

    Nein, eine Globalisierung von unten kann es nicht geben, dazu haben die Unterprivilegierten nicht die Mittel und Möglichkeiten, die die herrschende Klasse hat, die global bestens vernetzt ist. Und auch das World Wide Web wird eines nicht so fernen Tages ganz und gar von den Mächtigen kontrolliert und zugeteilt werden.

    Und ebensowenig sind die Flüchtlinge selber revolutionäre Subjekte, denn die, die zu uns kommen, wollen nur ihr Leben retten, was ihr gutes Menschenrecht ist, und hoffen, wohl vergeblich, auf ein menschenwürdiges Dasein hierzulande.

    Solidarität kann nicht direkt im Weltmaßstab funktionieren, sondern sich nur unmittelbar in Dialogen und Aktionen entwickeln. Zunächst in einem begrenzten Bereich des Kontaktes, wo Menschen in ähnlicher Weise der Ausbeutung unterliegen. Solidarität ist keine wohlfeile Gesinnung, die man wie eine Monstranz vor sich herträgt, sondern aktives Handeln, wo immer sie gefragt ist – im Klassenkampf gegen Ausbeutung und Unterdrückung.

    Wer also die unbedingte und globale Solidarität preist und gleichzeitig eine beliebte Politikerin, die Ikone der Linken, in die Nähe von Rassisten rückt, muß wohl etwas anderes mit Solidarität meinen. Denn Solidarität meint auch Konsens – und der ist in der Postmoderne mit ihrem ungehemmten Subjektivismus nicht mehr gefragt, sondern nur der Kampf gegen die Anderen, die man dämonisiert.

    Wie es im Solidaritätslied klingt „Unsre Herrn, wer sie auch seien, sehen unsre Zwietracht gern, denn solang sie uns entzweien, bleiben sie doch unsre Herrn“, so ist es auch heute.

    Die Zwietracht, die die urbanen Mittelschichtler – und mit ihr die akademischen Aufrufer zu „Solidarität statt Heimat“ – sähen, nützt genau diesen Herrn – den Profiteuren des Neoliberalismus.

    Denn sie wollen keine Grenzen respektieren, die sie daran hindern könnten, nach Belieben Finanzkapital hin- und herzuschieben und Humankapital, von wo auch immer, einzusetzen und auszubeuten.

    Offene Grenzen
    „Fernziel muss eine Welt sein, in der jeder leben kann, wo er will. Ein Privileg, das die Reichen längst haben“, drückt Daniela Dahn wohl das aus, was wohl auch viele der Aufrufunterzeichner denken mögen (3). In der Tat ist sie damit nicht allein – viele in DER LINKEN würden die naive Forderung „Jeder Mensch muss das Recht haben zu wählen, wo sie oder er leben möchte“ unterschreiben (4). Wir leben aber nicht in Utopia, wo alle Menschen einander wohlgesonnen sind und sich mit Wertschätzung begegnen.

    Wollen wir, die wir uns noch Menschlichkeit bewahrt haben, wirklich rücksichtslos wie manche Superreiche leben? Reiche wollen natürlich nicht mit den Menschen in einer Favela in Rio leben, sondern suchen sich global die abgegrenzten Sahnestücke an Villen mit grandiosem Seeblick und guter Flughafenanbindung aus. Wenn das nun alle wollten – wie sollte das gehen?

    Jenes „Fernziel“ ist eine Utopie mit Geschmäckle. Denn Siedlerkolonisten haben zu allen Zeiten diese sogar als Nahziel gehabt: Sie haben sich das Recht herausgenommen, da zu siedeln, wo sie wollten und wo andere bereits lebten – mit den fatalen Konsequenzen von Ermordung, Vertreibung und Einsperrung der Indigenen, wie einst in Amerika, Südafrika und aktuell noch in Palästina.

    Der Chefkommentator der rechtskonservativen WELT begrüßte jüngst das neue rassistische Nationalitätengesetz Israels und brach in Bezug auf den jüdischen Staat Israel in ekstatischen Jubel aus: „Er ist die Verwirklichung eines Ideals von Heimat, einer Heimat, die die geschundenen Juden über Jahrhunderte ersehnt haben und sich erobern mussten“ (5). Ja, genau, sie haben ihre neue Heimat erobert, nur halt auf Kosten der Palästinenser, die sie massenhaft ermordet, vertrieben oder in Freiluftgefängnisse eingepfercht haben im Laufe der letzten sieben Jahrzehnte.

    Staatsgrenzen haben gerade auch die Funktion, diejenigen, die in einer großen Gemeinschaft leben, zu schützen, indem bestimmte Gesetze nicht verletzt werden dürfen und gewisse Regeln zu beachten sind. Ein globaler Raubtierkapitalismus kann so zunächst daran gehindert werden, ungehemmt seinen Raum des Ausbeutens beliebig zu erweitern.

    Israel hat übrigens keine offiziellen Staatsgrenzen, so daß die Palästinenser unter der Besatzung und Lufthoheit des israelischen Militärs ungeschützt bleiben und der israelische Staat der privilegierten Juden weiterhin Eroberungspolitik auf Kosten der Palästinenser machen kann. Hier rächt sich das Versagen der Weltgemeinschaft, die nicht beizeiten Israel angeklagt und isoliert hat.

    Grenzen erinnern selbst flüchtige Besucher, daß andere Gemeinschaften andere Sitten und Gebräuche haben, die auch bewahrt werden wollen. So heißt es schon bei Ankunft auf dem Narita Airport mit großen Lettern (seit mehr als einem Vierteljahrhundert): „Welcome to Japan. Please respect the rules. (Willkommen in Japan. Bitte respektieren Sie die Regeln.)“ Da hält man erst einmal inne.

    Eine ungeregelte Freizügigkeit – außer in humanitären Notsituationen – kann es nicht ohne Konflikte geben. „Als international anerkanntes Menschenrecht bezieht sich Freizügigkeit allein auf das Recht eines Bürgers, das eigene Land zu verlassen und wieder dorthin zurückzukehren“ (6). Selbst Staaten müssen nicht absolute Freizügigkeit innerhalb ihrer Grenzen gewährleisten, im Sinne eines postulierten Gemeinwohls, wie das Beispiel der Volksrepublik China lehrt.

    Grenzenlose Utopien

    Wer offene Grenzen, also absolut ungehemmte Freizügigkeit will, müsste eigentlich Staatsgebilde grundsätzlich ablehnen, also einer anarchistischen Utopie folgen. So wie dies seit rund zwanzig Jahren die deutsche Bewegung „Kein Mensch ist illegal“ und das europäische „No-Border-Netzwerk“ tun.

    Nun ist nichts gegen Utopien einzuwenden, seien es anarchistische, kommunistische, christliche oder andere, solange sie auf einem Humanismus gegründet sind, Orientierungen geben und Gedankenspiele bleiben. Man wird doch noch träumen dürfen. Problematisch wird es allerdings, wenn man meint, hier und heute Teile von Utopien realisieren zu wollen – inmitten eines neoliberal-kapitalistischen Umfelds, ohne die Grundfeste des ökonomischen Systems anzugreifen und anzutasten. Die Teilutopien, die dann scheinbar real umsetzbar sind, werden dann genau die sein, die dem Neoliberalismus dienstbar sind.

    „Naiver Kosmopolitismus bringt niemanden weiter. (...) Denn von Globalisierung hat bislang im Grunde nur das Kapital wirklich profitiert. Und die ,neuen Liberalen‘, die ,neuen Linken‘, die helfen seit Jahren dem Kapital dabei, wirklich zu profitieren“ (Nils Heisterhagen).

    Wer Utopien unmittelbar in seiner Tagespolitik verfolgt, ist naiv, weil er die Folgen nicht bedenkt. Früher hieß es im Klassenkampf: Man muß den Klassenfeind studieren, also damals etwa FAZ lesen. Heute ist jeder nur mit seinem beruflichen Vorankommen, seinen sichtbaren Moralattributen auf Facebook und mit der Resonanz in seiner Blase beschäftigt.

    Wer das Edle propagiert, veredelt sich selbst. Offene Grenzen gelten als edel. Und diese beziehen sich nicht nur auf Staatsgrenzen.

    Grenzen im Bildungssystem wurden längst schon ausgemacht. Und die sollen natürlich erst recht weg: Keiner soll ausgegrenzt werden – so lautet die postmoderne Illusion. Ein mehrgliedriges Schulsystem, was allen – je nach Begabung und Nöten – das Beste für jeden bringen soll, ist demnach grundsätzlich böse und schlecht. Konsequenterweise hat sich die Idee von der inklusiven Einheitsschule in das linke Gedankengut eingeschleust. So heißt es im Wahlprogramm DER LINKEN:

    „Eine gute Schule für alle ist eine Schule in der das längere gemeinsame Lernen individuell und gemeinschaftlich so gestaltet wird, dass sich die Kinder und Jugendlichen zu mündigen, lebensfrohen, friedfertigen, weltoffenen und kompetenten Bürgerinnen und Bürgern entwickeln“.

    Naiver ließe sich das kaum formulieren – und obendrein noch Flagge zeigend mit Gender- und Kompetenz-Neusprech. Das könnte die Bertelsmann-Stiftung – aus ganz anderen Interessen – nur voll unterstützen. Ein Zitat von Gernot Bodner (siehe unten) paraphrasierend könnte ebenso Bezug auf unser Bildungssystem nehmen: „Bei ein wenig historischem Gedächtnis ist es schwer zu begreifen, wie das mehrgliedrige Schulsystem für die Linke zu einem derartigen Synonym für das Böse werden konnte.“

    In den sechziger und siebziger Jahren haben vor allem die Kinder aus der Arbeiterklasse einen Bildungsschub erlebt, der ihnen einen Aufstieg bis hin zur technischen und politischen Elite erlaubte. Leider auch einem Gerhard Schröder. Hingegen ist die inklusive Einheitsschule langfristig billiger und bei sinkender Einflußnahme der Lehrer den Eingriffsmöglichkeiten von außen (vom Kapital) stärker ausgeliefert.

    Unterzeichner

    Haben wirklich alle, die den Aufruf unterzeichnet haben, verstanden, worum es geht beziehungsweise worum eben nicht? Wenn es dann hervorgehoben lautet „Nennen wir das Problem beim Namen. Es heißt nicht Migration. Es heißt Rassismus“, dann kann man sich nur wundern, wieso das das Problem sein sollte – hier in Deutschland oder überhaupt in Europa. Unser Hauptproblem ist immer noch der Neoliberalismus, der dabei ist, seinen finalen Sieg zu erringen (7). Die Folgen sind doch hinreichend bekannt: weiterer Demokratieabbau, Tiefer Staat, weiteres Öffnen der Schere zwischen Arm und Reich, stärkere Militarisierung und mehr Beteiligung an illegalen Kriegen und so fort.

    Nicht für alle Unterzeichner des Aufrufs gilt die Unschuldsvermutung. Die drei Mitglieder des Fraktionsvorstands DER LINKEN, Caren Lay, Petra Pau und Bernd Riexinger, wußten genau, was sie da taten, nämlich faktisch zur Spaltung DER LINKEN aufzurufen. In einem Interview mit der jungen Welt vom 22. Juni 2018 erläuterte eine Verfasserin des Aufrufs:

    „Wir leben lange schon in einer Gesellschaft, in der gut 20 Prozent rassistische Auffassungen vertreten – aber im Grunde ist das eine Ideologie, die nicht nur in AfD und CSU zu finden ist, sondern bis weit in die Linke hineinreicht. Dass mit der Sammlungsbewegung um Sahra Wagenknecht ein nationalistischer Versuch von links gestartet wurde, war der Punkt, wo wir aktiv geworden sind“ (8).

    Das ist eine maßlose Unterstellung („20 Prozent rassistische Auffassungen“, „nationalistischer Versuch“) und eine direkte Verleumdung der Fraktionsvorsitzenden Sahra Wagenknecht obendrein. Wer so spricht und schreibt, hat nicht verstanden, was Linkssein bedeutet und was demokratische Spielregeln im Umgang miteinander sind. Ein Arbeiter oder Arbeitsloser kann sich da nur fragen, ob denen da in ihrer Blase nicht ihr elitäres Weltbild komplett entrückt ist. Hier tut sich ein tiefer Graben auf.

    Pikanterweise schrieb ausgerechnet die Geschäftsführerin der parteinahen Rosa-Luxemburg-Stiftung dem Verfasser einer Studie, der hart mit der antikommunistischen Geschichtsklitterung DER LINKEN in Thüringen und ihrer Führung ins Gericht ging, im April ins Stammbuch, daß „heute mehr denn je eine linke Grundsolidarität vonnöten“ sei (Ludwig Elm: Rechte Geschichtspolitik unter linker Flagge, pad-Verlag, 2018).

    Ja, aber eine solche Solidarität gibt es schon lange nicht mehr. Zum Zeitpunkt ihrer Gründung war DIE LINKE noch eine Sammlungsbewegung mit einer gemeinsamen Ausrichtung trotz unterschiedlicher Positionen, jetzt ist sie zu einer postmodern gewendeten Ausgrenzungsbewegung mutiert. Ach ja, die Vorstandsvorsitzende der Rosa-Luxemburg-Stiftung hat den Aufruf auch unterschrieben.

    Die Parteigänger DER LINKEN haben in großer Zahl den Aufruf unterstützt. Aber nicht allein sie sind dabei, sondern auch mehrere Mitglieder der kleinen Deutschen Kommunistischen Partei (DKP). Ja, sie ist noch nicht abgewickelt, erscheint aber politisch wirkungslos, da sie in erster Linie mit sich selbst beschäftigt und gespalten ist auf der Suche nach der richtigen Imperialismustheorie.

    Ein kleiner Verein („marxistische linke – ökologisch, emanzipatorisch, feministisch, integrativ e.V.“), der eine Brücke zwischen Teilen DER LINKEN und der DKP und Sympathisanten, die „die sich dem lebendigen, beweglichen Marxismus verbunden fühlen“, schlagen will, ist mit mehreren Unterzeichnern auch dabei: Unterschrieben haben die beiden Vereinsgründerinnen und mindestens vier weitere Mitglieder.

    Das „Institut Solidarische Moderne“, unterstützt von der Vorsitzenden DER LINKEN, Katja Kipping, hat einen breiten Vorstand, aus dem heraus viele jenen unsolidarischen Aufruf unterzeichnet haben, insbesondere auch ihr Sprecher, einige Sozialdemokraten und zwei Mitglieder jener Marxistischen Linken. Offenbar wird mit diesem Institut intensive Netzarbeit auf verschiedenen Ebenen geleistet. Man nennt das dort wohl Bündnisarbeit. Und bleibt doch unter sich.

    Der Riß geht also quer durch DIE LINKE, die DKP und die SPD und verläuft offenbar zwischen den angeblich beweglichen und den unbeweglichen Teilen. Sind die beweglichen Teile, wohl die dynamischen, etwa die, die mit dem flexiblen Kapitalismus (sprich: Neoliberalismus) ihren ideologischen Frieden gefunden haben? Und sind die unbeweglichen Teile, wohl die dogmatischen, gerade die, die noch etwas vorhaben und noch vorankommen wollen in ihrer Welterkenntnis?

    Es haben viele Mitglieder der absterbenden SPD unterzeichnet, 45 an der Zahl. Und viel mehr Parteigänger der GRÜNEN. Und noch mehr offenbar Parteilose. Niemand von der CDU/CSU, der FDP oder der AfD. Paßt schon. Nicht unterschrieben hat übrigens der IG-Metall-Vorstand Hans-Jürgen Urban, weil, wie er in einem Interview sagte, „dieser Aufruf neben den offenkundigen anti-rassistischen Botschaften, denen ich mich anschließe, auch eine versteckte Agenda enthält. Diese will nicht nach außen einigen, sondern nach innen polarisieren und spalten. Und diese Agenda will ich nicht unterstützen, ich halte sie für fatal“ (9). Das ist sie in der Tat – und markiert womöglich den Anfang vom Ende der Linkspartei, so wie sie jetzt besteht.

    Begriffsverdrehung

    Das hilflose Aufbegehren mancher, die das Heil in der Unterstützung rechtspopulistischer Gruppen suchen, ist ein ernstes Symptom, das das Versagen der postmodernen Linken signalisiert. Und das nicht nur in Deutschland. Rassismus ist dabei nicht das Problem, das als Schreckgespenst hysterisch bekämpft werden muß. Es gab immer und gibt wirkliche Rassisten. Und für die sollte die derzeitige Gesetzgebung hinreichen, um sie, wenn nicht zu läutern, doch wenigstens für ihre Gewaltaktionen und Haßaufrufe zu bestrafen.

    Die übergroße Mehrheit derjenigen, die heutzutage als Rassisten und Antisemiten bezeichnet und verleumdet werden, sind gar keine, sondern nur politische Feinde des Mainstreams, die mit größtmöglichem Haß ausgegrenzt und dämonisiert werden sollen – ganz im Sinne des Neoliberalismus.

    Dabei werden Begriffe im neoliberalen Neusprech zwecks Ausgrenzung der unerwünschten Kritiker schlicht umgedeutet.

    Das fängt schon an mit dem Begriff Nation. Dieser wird inzwischen bei gewissen Linken negativ konnotiert und in einem Atemzug mit Nationalismus genannt. Die Bejahung der Nation hat aber nichts mit Nationalismus zu tun, im Sinne eines übersteigerten Nationalgefühls. Der Wiener Gernot Bodner schrieb jüngst:

    „Bei ein wenig historischem Gedächtnis ist es schwer zu begreifen, wie der Nationalstaat für die Linke zu einem derartigen Synonym für das Böse werden konnte. (...) Der Nationalstaat war der Ort des sozialen Ausgleichs (Sozialstaat) und der parlamentarisch-demokratischen Steuerung. Von ihm ging die Aushandlung internationaler Bündnisse mit anderen Staaten aus. (...) Der Nationalstaat als Ort des Eingreifens in wirtschaftliche, soziale und politische Entwicklungen hat nie aufgehört zu existieren und wird nun in seiner Rolle neu definiert. Die Rechtspopulisten greifen dazu auf ihre völkischen Ideen einer ausschließenden Nation zurück. Die Linke braucht dagegen ein überzeugendes alternatives Narrativ der Nation als Ort demokratischer Willensbildung, sozialen Solidarität und Völkerverständigung“ (10).

    Der Historiker Klaus-Rüdiger Mai meinte:

    „Denn die meisten Bürger wollen zuallererst einen funktionierenden Staat, der an jedem Ort im betreffenden Land seine Hoheitsrechte durchzusetzen vermag – was an den Grenzen beginnt – und der in der Lage ist, eine solidarische Absicherung seiner Bürger gerecht zu organisieren.“

    „Und wie selbstgerecht ist es, den Bezug auf den Nationalstaat und das Verlangen nach Souveränität als gestrigen Nationalismus zu geißeln, wenn für eine erdrückende Mehrheit der Menschen genau dieser Nationalstaat ein zentraler positiver Bezugspunkt bleibt?“ schrieb Sebastian Müller (11).

    Milton Friedman sagt:

    „Man kann einen Sozialstaat haben und man kann offene Grenzen haben, aber man kann nicht beides zugleich haben“ (12).

    Das wird von manchen liberalen Autoren (Jakob Augstein und Rainer Hank) auch sofort eingesehen, die dann prompt daraus folgern, daß der Sozialstaat eben abgebaut werden müsse (13). Und das genau ist ein Ziel des Neoliberalismus. Klingelt es jetzt beim Stichwort „Offene Grenzen“?

    Wundert es nun, daß die ärmeren Bevölkerungsschichten, die ganz besonders auf den Sozialstaat angewiesen sind, genau spüren, daß sie vom linksliberalen Mainstream verraten und verkauft werden und sie es sind, die die Zeche für ungehemmte Einwanderung zahlen sollen? Wundert es dann, daß sich diese Schichten von den linken Moralisten und Selbstgerechten abwenden und überproportional AfD wählen?

    Obendrein werden sie, die ökonomisch in der Abwärtsspirale hängen, dann noch von denen, die ihr schönes linksliberales Lebensgefühl weitgehend unbeschwert genießen können, als Rassisten diffamiert. Mit Verteilung solcher Wutetiketten wird also massiv Wahlkampfhilfe für die AfD betrieben.

    Ein Sozialdemokrat kommentierte auf den Nachdenkseiten: „Liebe Genossen, Ihr habt nicht mehr alle Tassen im Schrank, wenn Ihr so weitermacht und berechtigte Kritik an ungehemmter Zuwanderung mit menschenverachtendem Rassismus gleichstellt und damit den Rassismus trivialisiert. (…) So wird das nix mit rot-rot-grün“ (14).

    Rassismus

    Rassismus ist zu einem Kampfbegriff der linksliberalen Eliten geworden. Damit geht einher, daß im neoliberalen Zeitalter der Rassismusbegriff unzähligen Erweiterungsversuchen unterworfen wurde. Alltagsrassismus ist auch ein solch unzulässiger Begriff, weil da eher Ressentiments gemeint sind. Fremdenfeindlichkeit kann auch nicht unter Rassismus subsumiert werden. Und die feindselige Einstellung gegenüber einer bestimmten Religion ebensowenig.

    Es gibt eben ein ganzes Spektrum vom pauschalen Ablehnungsmöglichkeiten. Die Sprache ist reich genug, diese alle zu benennen und zu unterscheiden. Man muß nur wollen. In derzeitigen Diskursen scheinen jedoch alle Ausgrenzungsarten in Rassismus zu kollabieren, weil damit ein größerer Abschreckungseffekt erzielt werden kann.

    Die folgende populäre „Definition“ von Albert Memmi ist eine überschießende und somit unzulässige Verallgemeinerung (15): „Der Rassismus ist die verallgemeinerte und verabsolutierte Wertung tatsächlicher oder fiktiver Unterschiede zum Nutzen des Anklägers und zum Schaden seines Opfers, mit der seine Privilegien oder seine Aggressionen gerechtfertigt werden sollen.“

    Denn der im Worte Rassismus enthaltene unwissenschaftliche Begriff Rasse (der im Falle von Menschen kein biologisch begründbares Konzept ist) nimmt auf jeden Fall Bezug auf eine mutmaßlich biologische, also mutmaßlich ererbte Form einer äußerlichen Eigenschaft, die sich somit auf eine gesamte Gruppe bezieht, die einer bewertenden Diskriminierung unterliegt.

    Wohin die Aufblähung des Rassismusbegriffs führt, kann man bei dem Sprecher des Instituts Solidarische Moderne (das heißt wirklich so), Thomas Seibert, lernen:

    „Rassismus liegt dort vor, wo Menschen nach entsprechenden Merkmalen selektiert werden: in solche, die hierhergehören, und solche, die hier nur geduldet sind und bald wieder wegsollen“ (16).

    Das ist paßgenau für eine Polemik in der Flüchtlingsproblematik konstruiert. Und dann kommt das Skandalon schrill aus seinem Munde:

    „Wagenknecht stärkt rassistische Positionen in der Wählerschaft der politischen Linken und damit den diffusen Rassismus in rund einem Viertel unserer Gesellschaft. Streng verstanden ist das selbst Rassismus.“

    Von einem Philosophen, auch wenn er für ein Institut der unsolidarischen Postmoderne spricht, würde man eigentlich einen genaueren Umgang mit Begriffen und sauberes Schließen erwarten. Zu den 20 Prozent des Aufrufs gibt er übrigens noch 5 Prozent dazu – wer bietet mehr?

    Das mit dem praktischen Kampf gegen den Rassismus ist auch so eine Sache. Der Co-Vorsitzende DER LINKEN, Bernd Riexinger, will mit dem Aufruf eine („sozialpolitisch fundierte“) Offensive gegen den Rassismus starten (laut Stuttgarter Zeitung, Hauptausgabe vom 20. Juli 2018, S.4).

    Währenddessen machte sich der Co-Fraktionsvorsitzende, Dietmar Bartsch, mit der rassistischen Netanyahu-Regierung Israels gemein und pflanzte ein Bäumchen, angeblich zum Schutze der Israelis vor den Palästinensern. Und er will sein Bäumchen auch wieder besuchen (17). Das ist Treue. Hätte er mal besser ganze Haine gepflanzt zum Gedenken an die vielen ermordeten Palästinenser (18). Aber Solidarität mit den Palästinensern kennt er nicht.

    Stattdessen „Solidarität mit diesem Besatzerstaat auszudrücken, stellt eine Kolonialideologie zur Schau und drückt Verständnis für die brutalen rassistischen Praktiken der Besatzung aus“ (19). Der israelische Marxist Moshe Zuckermann klagte:

    „Wenn DIE LINKE meint, sich mit einem Land wie Israel beziehungsweise mit dem, was aus Israel geworden ist, solidarisieren zu sollen, dann erweist man ihr die falsche Ehre, sie noch als eine linke Partei anzusehen – eine Ehre, auf die sie übrigens vielleicht überhaupt keinen Wert mehr legt“ (20).

    Ganz richtig – DIE LINKE ist mehrheitlich keine linke Partei.

    Die Lifestyle-Linke und ihr Haßhorizont
    Perfide ist die Umdeutung, die überhaupt das Linkssein in der Postmoderne erfahren hat. Links bedeutete stets Solidarität mit den Unterdrückten, auch wenn diese einen anderen Habitus und Sprachstil pflegten. Der Klassenstandpunkt ist wesentlich. Und da das Ideal der Menschlichkeit und der Beseitigung von Ausbeutung real werden soll, gehört ein universeller Humanismus selbstverständlich zum Kern der Leitvorstellungen für eine klassenbewußte Linke.

    Wenn der Klassenstandpunkt im gesellschaftlichen Diskurs schwindet, geraten die ökonomischen Bedingungen leicht aus dem Blickfeld und werden durch Emanzipationsbestrebungen und Identitätsfragen aller Art ersetzt. Es ist die Postmoderne, die große Teile der Linken, sogar bis hin zu den Kommunisten, transformiert hat. Für die kulturelle Emanzipation wird gekämpft, aber der ökonomische Gesichtspunkt fällt unter den Tisch. So konnte zum Beispiel aus einem Feminismus des Klassenkampfes das identitätspolitische Gender Mainstreaming mit seinen Sprachspielen werden.

    Die postmoderne Linke (oder auch Neue Linke), die zumeist im arrivierten Milieu der oberen Mittelschicht und unteren Oberschicht (je nachdem, wo die jeweiligen Einkommensgrenzen gezogen werden) zu finden ist, das sich mit dem Neoliberalismus arrangiert hat, wird auch „Kulturlinke“ genannt. Ein besserer Name wäre jedoch Lifestyle-Linke.

    Diese Lifestyle-Linke vertritt den progressiven Neoliberalismus im Gegensatz zu jenen, die jegliche Spielart des Neoliberalismus abweisen. Diese Linke denkt, wie sie zu leben strebt, nämlich kosmopolitisch. Diejenigen, die sich diesen Lebensstil nicht leisten können und auf Solidarität eines Sozialstaats angewiesen sind, werden dann der sogenannten kommunitarischen Linken zugewiesen.

    Der Gegensatz zwischen Kosmopolitismus und Kommunitarismus ist aber nur ein Aspekt eines tieferen, ideologischen Konflikts innerhalb der Linken und der Mitte der Gesellschaft, nämlich zwischen progressivem Neoliberalismus (wie ihn Nancy Fraser bezeichnet hat) und konsequentem Anti-Neoliberalismus (21). Das Flüchtlingsproblem, an dem sich AfD wie DIE LINKE abarbeiten, ist nur ein Symptom.

    Die AfD und DIE LINKE brauchen einander als Haßobjekt. Die AfD bezieht sich gern auf die Linken, wenn sie von „linksgrün versifft“ spricht. Eigentlich ist ihr wahrer Haßhorizont der progressive Neoliberalismus mit seinem ausgrenzenden Moralismus und seiner politischen Korrektheit. Aber das weiß die Partei nicht, weil sie sich eher von dumpfen Stimmungen leiten läßt und den Neoliberalismus auch gar nicht grundsätzlich ablehnt.

    Andererseits: was wäre, wenn sich die AfD plötzlich in Luft auflösen würde? Dann verlöre DIE LINKE auch gleich ihr Alleinstellungsmerkmal und ihren Haßhorizont und müßte im Wahlkampf kontur- und orientierungslos erscheinen. Denn ihr herausgestelltes Antifa-Gebaren gegen den Rassismus ist in erster Linie auf das Wahlvolk der AfD gemünzt. Dadurch will sie beim Wähler punkten: Seht her, WIR sind die konsequentesten Kämpfer gegen das Übel in Europa, den Rassismus der Rechtspopulisten. WIR sind die Weltretter. Das Dumme ist nur, daß das Wahlprogramm der AfD nichts in Bezug auf Rassismus hergibt.

    Die wirkliche politische Auseinandersetzung mit der AfD unterläßt DIE LINKE – aus gutem Grunde. Die AfD ist dezidiert frauenfeindlich, weil sie alte Benachteiligungen neu auflegen will. Nur DIE LINKE beläßt es einfach bei der ökonomischen Benachteiligung der Frauen, indem sie Identitätspolitik betreibt und das Gender Mainstreaming stützt und ein Feuerwerk von Gendersternchen zündet.

    Die AfD ist rechtsneoliberal und fremdenfeindlich, wie sich aus ihrem Wahlprogramm herauslesen läßt (22). DIE LINKE hingegen ist linksneoliberal, nicht zuletzt, da sie auch auf den Politikfeldern Feminismus und Bildungspolitik dem Neoliberalismus Tür und Tor geöffnet hat.

    Die AfD ist militaristisch und einer kriegstreibenden Politik zugewandt (23). Aber die Israel-Politik DER LINKEN ist kriegstreiberisch, indem sie Netanyahu mit seiner barbarischen Besatzungspolitik und dem Angriffskrieg in Syrien den Rücken stärkt.

    Die AfD ist ausgesprochen arbeitnehmerunfreundlich, auch da sie nie davon spricht, Arbeitnehmerrechte und Gewerkschaften zu stärken. DIE LINKE hingegen hat da laut Wahlprogramm sehr viel vor – nur warum glaubt ihr der Wähler das nicht? Das war schon vor einem Jahrzehnt nicht viel anders. Hat DIE LINKE ein Glaubwürdigkeitsproblem? Jetzt ganz gewiß: Wer in einem Rundumschlag die Mehrheit der Deutschen, die so etwas Selbstverständliches wie Staatsgrenzen bewahren wollen, völlig borniert als Rassisten tituliert und damit Björn Höcke und Sahra Wagenknecht in eine Reihe stellt, dem glaubt man einfach gar nichts mehr. Und denkt sich: (pseudo-)linke Spinner.

    Aber die Lifestyle-Linke will und muß aus ihrer Selbstgerechtigkeit heraus hassen – und zwar nicht die Großkonzerne und das internationale Finanzkapital mit ihren Think Tanks. Sondern die, die sich am greifbarsten hassen lassen, nämlich jene, die sich ihren netten Lebensstil nicht leisten können oder sich ihrer selbstgerechten Ideologie verweigern.

    Hillary Clinton hatte einst vom „basket of deplorables“ gesprochen. Hierzulande ist man drastischer und beschimpft solche Menschen gleich als Parias (Rassisten, Rechte, Nazis, Antisemiten und so weiter). Eigentlich müßte sich die Lifestyle-Linke selber hassen: im Besonderen, weil sie die soziale Frage in der Praxis bestenfalls als Charity sieht und den Klassenkampf abgeschrieben hat, weil sie sich selber bestens mit einem hedonistischen Lifestyle arriviert hat und sich vom neoliberalen Kapitalismus hat korrumpieren lassen.

    Konsequenzen

    Die neoliberale Hegemonie manifestiert sich durch die Macht der postmodern gewendeten Begrifflichkeiten, die die Klassengegensätze vertuschen und dabei neue Fronten errichten sollen. Es soll Zwietracht gesät werden unter denen, die als Ausgebeutete eigentlich ähnliche objektive Interessen haben müßten. Divide et impera. Im postmodernen Zeitalter haben sich Losungen wie Freiheit und Emanzipation verselbständigt, Identitäten werden konstruiert und wieder dekonstruiert. Jeder muß um die Anerkennung seines spezifischen Opferstatus ringen. Solidarität ist nur noch innerhalb einer Opfergruppe realisierbar. Die Konkurrenz der Gruppen ist groß.

    DIE LINKE reklamiert bisweilen für sich, anti-neoliberal zu sein – das ist außer Wunschdenken jedoch bestenfalls nur in der Frage der Militäreinsätze der Fall. Selbst auf ökonomischem Gebiet führt sie die Schrödersche Politik der Privatisierung weiter, nämlich in einer runderneuerten Softvariante von ÖPPs (Öffentlich-private Partnerschaft), die verschleiernd als ÖÖPs (Öffentlich-öffentliche Partnerschaft) bezeichnet werden. Die Rosa-Luxemburg-Stiftung plädiert offen für eine „progressive ÖÖP-Praxis“ (Analysen32.Zukunftsinvestitionen; 24). So sollen in Berlin und Thüringen, dort wo DIE LINKE in Regierungsverantwortung steht, die Schulgebäude in eine Gesellschaft übergehen, die noch mehrheitlich in öffentlichen Händen ist (Marxistische Blätter 3-2017, S.15-18; UZ, 16. März 2018, S.5; 25).

    DIE LINKE ist absolut naiv in dieser Hinsicht. Denn gleichwohl wird damit das Geschäftsmodell des neoliberalen Abverkaufs vorangetrieben, das auch noch die letzten staatlichen Bereiche langfristig privatisieren soll. Ralf Wurzbacher nennt es den großen Schulraub (26). Dieser einmal angeworfene Prozeß ist dann kaum mehr rückgängig zu machen, da den staatlichen Verwaltungen nach und nach die Fachleute ausgehen. Die Bauämter in den Kommunen sind jetzt schon völlig ausgedünnt: magersüchtiger Staat. Der rot-rot-grüne Senat von Berlin verhält sich kein bißchen anders als „konservative“ Regierungen, meint auch Magda von Garrel (27).

    Durch die Übernahme postmoderner Vorstellungen geht in anderen Bereichen Identitätspolitik vor ökonomischen Maßnahmen, die das Großkapital schmerzen könnten. Das ist so mit dem fehlgeleiteten Feminismus, bei dem nur die Sprache im Sinne politischer Korrektheit umgebaut wird, aber nicht die Grundpfeiler des Entlohnungssystems, das Frauen nach wie vor benachteiligt (28).

    Der Aufruf „Solidarität statt Heimat“, der – in bewußter Frontstellung gegenüber der Fraktionsvorsitzenden Sahra Wagenknecht – sogar vom Co-Parteivorsitzenden und zwei anderen Mitgliedern des Fraktionsvorstands DER LINKEN unterzeichnet wurde, hat eine katastrophale Außenwirkung auf das Wählervolk, das noch nicht den Slogans der postmodernen Moralisten auf den Leim gegangen ist.

    Wer will denn noch DIE LINKE wählen, die schon lange aufgehört hat, sich als Partei dem neoliberalen Mainstream zu verweigern? Sie paralysiert sozusagen die wenigen linken Kräfte in diesem Land, folgt der Staatsräson und schützt den neoliberalen Staat vor einem effektiven Aufbegehren der Ausgebeuteten.

    DIE LINKE ist also nicht das geringste Übel, welches man zähneknirschend wählen müßte, sie ist neben den GRÜNEN das Übel schlechthin diesseits von Rechts. Eine solche Partei brauchen wir nicht – denn es gibt ja schon die SPD (für die Sozialprosa) und die GRÜNEN (für die Moralkeule) (29). Und der Aufruf demonstriert ja überdies, daß dieser Teil der Kipping-Linken nicht wirklich bündnisfähig ist, weil sie mit Andersdenkenden keinen Konsens sucht, sondern sofort mit Antifa-Gebaren die Rassismuskeule schwingt.

    Georg Seeßlen behauptete jüngst in seinem Beitrag „Dem Volk was vormachen“: „Der Populismus ist eine Kraft, die das Linke zersetzt, von außen wie von innen“ (30). Nein, die bereits vollzogene Zersetzung ist durch die Postmoderne, die linksliberale Leitideologie des progressiven Neoliberalismus, geschehen. Der Linkspopulismus ist lediglich die nötige Antwort darauf, um wieder Gehör und Glauben beim „Volk“ zu finden, das sich in seinen wirtschaftlichen Nöten schon lange nicht mehr politisch repräsentiert sieht.

    Den Unterschied zum Rechtspopulismus hat Bernd Stegemann in seinem Buch „Das Gespenst des Populismus“ (Verlag Theater der Zeit, 2017) hinreichend deutlich dargelegt.
    „Linke Parteien müssen darauf hinarbeiten, ihre Basis wieder zu verbreitern und Wähler zurückzugewinnen“, schrieb Lev Lhommeau (21). Nur, DIE LINKE wie die GRÜNEN können und wollen es gar nicht, da sie mehrheitlich die schlecht verdienenden und hart arbeitenden Menschen mit ihrem linksliberalen Moralismus nachhaltig abschrecken.

    Und die SPD ist sowieso am Ende ihrer Glaubwürdigkeit angelangt. Die beworbene obere Mittelschicht ist eher dünn und wird noch dünner. Mit ihr allein gewinnt man keine Wahlen.
    Nils Heisterhagen hat dennoch die Vision von einem „linken Realismus“, der die linken Kräfte einen soll. Ihm ist zwar klar, daß ein kultureller Kosmopolitismus, der alle nationalen Kulturen aufhebt und enthält, naiver postmoderner Unsinn ist.

    Nur ist dieser als moralische Haltung in der Lifestyle-Linken fest verankert. Ein solcher Habitus und Moralismus läßt sich nicht einfach aus den Köpfen vertreiben und wird noch Jahre, wenn nicht gar Jahrzehnte, überdauern. Eine Einigung ist nicht in Sicht und nur eine saubere Trennung verspricht einen Neuanfang.

    Die Kritiker des liberalen Mainstreams und der Lifestyle-Linken müssen also und werden sich weiter sammeln, um letztendlich eine neue linkspopulistische Partei noch vor der nächsten Bundestagswahl zu gründen – Name egal, Hauptsache klassenbewußt und anti-neoliberal. Dann könnte sie aus dem Stand vielleicht sogar die zweitstärkste Volkspartei werden.

    Die Reste der Linkspartei würden dann hoffentlich ihre Katharsis erfahren und unter die Fünf-Prozent-Hürde gehen und später vielleicht eingehen in ein Bündnis mit den postmodernen GRÜNEN – wo sie eigentlich auch jetzt schon hingehörten. Eine postmoderne linksliberale Mittelschichtpartei in Deutschland reicht völlig. Eine wirklich linke Partei ohne postmoderne Verstrickungen fehlt ganz.

    Solidarität mit den Ausgebeuteten und Unterdrückten ist zu üben, in der Heimat wie international. Offene Grenzen sind als Phantasmen zurückzuweisen.

    Quellen und Anmerkungen:

    (a) https://solidaritaet-statt-heimat.kritnet.org
    (1) https://zahramohammadzadeh.wordpress.com/2010/11/08/was-ist-heimat-fur-mich
    (2) https://www.hna.de/kultur/interview-darum-ist-heimat-ein-trend-9521710.html
    (3) https://www.rubikon.news/artikel/willkommen-und-abschiebung
    (4) https://www.zeitschrift-luxemburg.de/offene-grenzen-sind-machbar
    (5) https://www.welt.de/debatte/kommentare/article179671432/Nahost-Israel-ist-ein-juedischer-Staat-eine-Selbstverstaendlichkeit.html?wtrid=
    (6) https://www.rubikon.news/artikel/der-spaltpilz
    (7) https://www.rubikon.news/artikel/die-unsichtbare-hand
    (8) https://www.jungewelt.de/artikel/334596.wir-erleben-gerade-einen-rechten-putsch.html
    (9) https://www.freitag.de/autoren/der-freitag/anti-rassismus-und-eine-versteckte-agenda
    (10) http://www.antiimperialista.org/de/content/mit-antifa-gegen-rechtspopulismus
    (11) https://makroskop.eu/2018/07/mit-falscher-empfindlichkeit-gegen-den-rauen-wind-des-populismus
    (12) https://www.deutschlandfunkkultur.de/absage-an-ein-vereintes-europa-warum-die-linke- die-nation.1005.de.html?dram:article_id=410341
    (13) https://www.nachdenkseiten.de/?p=44870, http://norberthaering.de/de/27-german/news/995-hank-sozialnazis
    (14) https://www.nachdenkseiten.de/?p=44529#h01
    (15) http://www.dir-info.de/dokumente/def_rass_memmi.html
    (16) http://www.taz.de/!5455168
    (17) http://www.kkl-jnf.org/about-kkl-jnf/green-israel-news/may-2018/life-saving-trees-sufa-dietmar-bartsch/german
    (18) https://www.rubikon.news/artikel/wenn-die-olivenhaine-trauer-tragen
    (19) https://www.jungewelt.de/artikel/336757.protest-aus-pal ProzentC3 ProzentA4stina-gegen-besuch-von-dietmar-bartsch-die-linke-ende-mai-in-israelischer-siedlung.html; https://www.rubikon.news/artikel/die-apartheid-pr
    (20) https://www.rubikon.news/artikel/linker-opportunismus
    (21) https://makroskop.eu/2018/06/der-kosmopolitische-irrweg
    (22) https://www.rubikon.news/artikel/neoliberal-und-fremdenfeindlich
    (23) https://www.rubikon.news/artikel/die-kriegspartei
    (24) https://www.rubikon.news/artikel/die-schulen-werden-privatisiert
    (25) https://www.rubikon.news/artikel/ware-bildung
    (26) https://www.rubikon.news/artikel/der-grosse-schulraub
    (27) https://www.rubikon.news/artikel/der-grosse-coup
    (28) https://www.rubikon.news/artikel/die-grosse-ablenkung
    (29) https://www.rubikon.news/artikel/diese-linke-braucht-kein-mensch
    (30) http://www.taz.de/!5519642

    #Allemagne #polituque #gauche #migration

  • Interview ǀ „Den Streikmuskel trainieren“ — der Freitag
    https://www.freitag.de/autoren/der-freitag/den-streikmuskel-trainieren

    9.9.2021, von Jörn Boewe - Interview Die „Berliner Krankenhausbewegung“ kämpft für mehr Pflegepersonal. Wir haben mit einer Krankenschwester, einer Organizerin und einem Gewerkschaftssekretär gesprochen.

    Am Montag präsentierte die Gewerkschaft Verdi das Ergebnis einer Urabstimmung unter Mitgliedern, die als Beschäftigte in Berlins landeseigenen Krankenhäusern und deren Tochterfirmen arbeiten: Mehr als 98 Prozent stimmten für einen unbefristeten Streik, am heutigen Donnerstag hat ein unbefristeter „Erzwingungsstreik“ begonnen. Es ist der vorläufige Höhepunkt der „Berliner Krankenhausbewegung“: Über deren Hintergründe und das Ziel, bessere Arbeitsbedingungen in den Charité- und den Vivantes-Kliniken zu erkämpfen, sprechen hier eine Krankenschwester, eine Organizerin und ein Gewerkschaftssekretär.

    der Freitag: Frau Habekost, was ist die „Berliner Krankenhausbewegung“? Und was sind Ihre Forderungen?

    Silvia Habekost: Wir sind Krankenhausbeschäftigte von Vivantes und Charité. Vivantes und Charité haben die meisten Covid-19-Patienten in Berlin behandelt, aber die Personalsituation ist seit Jahren völlig unzureichend. Trotz Pandemie wurde daran nichts geändert. Ein Ziel unserer Kampagne ist also, eine feste Personal-Patienten-Quote, einen Belastungsausgleich und bessere Ausbildungsbedingungen zu bekommen – geregelt in einem „Tarifvertrag Entlastung“. Und wir fordern, dass die Beschäftigten der ausgelagerten Vivantes-Tochterfirmen auf dem Niveau des Tarifvertrags für den öffentlichen Dienst bezahlt werden. Bislang bekommen sie für die gleiche Arbeit viel weniger Geld, bis zu 1.000 Euro weniger pro Monat.

    Sie haben im Januar Ihren Plan Verdi vorgestellt.

    Silvia Habekost: Ja, und Ende Januar grünes Licht bekommen. Verdi unterstützt uns mit 30 Organizer*innen, das sind zwei, drei pro Krankenhausstandort. Dann hatten wir drei Meilensteine oder, wie wir das nennen, „Strukturtests“: Der erste war eine Petition. Wir wollten wissen, ob die Mehrheit der Beschäftigten einverstanden ist, sich mit uns zusammen für bessere Personalausstattung und eine bessere Bezahlung einzusetzen. Leute sind durch die Teams gegangen, haben den Plan vorgestellt und diskutiert. Ende März hatten 8.397 Kolleginnen und Kollegen unterschrieben, das waren 63 Prozent der Beschäftigten. Am 12. Mai haben wir diese Unterschriften auf einer Kundgebung vor dem Roten Rathaus dem Senat übergeben …

    … und gehofft, dass der Senat auf Ihre Argumente eingeht?

    Silvia Habekost: Wir haben ein Ultimatum von 100 Tagen gestellt: Entweder sie nehmen zumindest Verhandlungen mit uns auf oder wir werden vier Wochen vor den Wahlen in den Streik treten. Dann haben wir die Forderungen in den Teams weiterdiskutiert: Wie viel Personal brauchen wir, um eine sichere Patientenversorgung zu gewährleisten? Welche Konsequenzen sollen greifen, wenn diese Mindestbesetzung nicht erreicht wird? Wir wollten, dass eine Mehrheit in den Teams ihre Forderungen abstimmt und Delegierte wählt. Dann wurden diese Forderungen auf einer Versammlung mit tausend Teamdelegierten im Fußballstadion des 1. FC Union vorgetragen, diskutiert und beschlossen. Das war unser zweiter Test. Und als dritten haben wir Mitte August eine Umfrage gestartet, ob die Kolleginnen und Kollegen bereit sind zu streiken.

    Es war also ein Konflikt mit Ansage. Wie haben die Verantwortlichen in Senat und Klinikmanagement reagiert?

    Silvia Habekost: Die Charité-Leitung sieht zumindest die Notwendigkeit einer besseren Personalausstattung. Das Vivantes-Management sagt, dass alles super ist, der Mangel sei nur „gefühlt“. Sie verstehen nicht, warum wir uns beschweren. Wir haben eine Personalchefin, die vermutlich noch nie mit jemandem unter einer bestimmten Hierarchiestufe gesprochen hat. Vivantes ist mit einstweiligen Verfügungen gegen uns vorgegangen, um uns das Streiken zu verbieten. Aber über unsere Anliegen verhandeln – dazu waren sie bis jetzt nicht bereit.

    Die Unterbesetzung ist eine Folge des Systems der Krankenhausfinanzierung – der sogenannten Bezahlung nach Fallpauschalen. Können Krankenhausmanager daran überhaupt etwas ändern?

    Silvia Habekost: Sie sagen nicht, dass sie mehr Pflegepersonal nicht finanzieren könnten. Ihr Argument ist, dass sie keine Leute finden. Und unser Argument ist: Wir brauchen bessere Arbeitsbedingungen, dann ändert sich die Situation auf dem Arbeitsmarkt sehr schnell. Es gibt Studien, die beweisen, dass viele ehemalige Pflegekräfte in ihren Beruf zurückkehren würden, wenn die Arbeitsbedingungen besser wären.

    Jane McAlevey: In den USA ist es genau das Gleiche. Die Chefs haben immer gesagt: Wir würden gerne mehr Krankenschwestern einstellen, aber es gibt einfach keine. Seit ich 2004 meine erste große Pflegekampagne für sichere Personalquoten gemacht habe, haben wir immer gesagt: Das ist Blödsinn. Es gibt keinen Mangel an Krankenschwestern schlechthin. Es gibt einen Mangel an Krankenschwestern, die bereit sind, unter den derzeitigen Bedingungen in Krankenhäusern zu arbeiten, weil ihr diese Arbeitsbedingungen zerstört habt. Die durchschnittliche Krankenschwester in den Vereinigten Staaten fühlt sich, wenn sie zur Arbeit geht, wie in einem Kriegsgebiet, wie bei der Triage, weil es nicht genug Personal gibt, die Patienten zu behandeln. Das ist es, was die Leute dazu bringt, zu kündigen und lieber in einer Arztpraxis zu arbeiten, wo es ruhiger zugeht.

    Okay, aber wie bekommt man die Bedingungen wieder repariert?

    Jane McAlevey: In Kalifornien haben die Krankenschwestern und -pfleger ein staatliches Gesetz erkämpft, das die Mindestbesetzung regelt. In Australien wurden ebenfalls auf politischer Ebene sichere Personalquoten gesetzlich durchgesetzt. Das sind die einzigen Länder auf der Welt, wo es so etwas gibt. Es bedurfte vieler, vieler, vieler Jahre politischer Kämpfe und vieler Streiks, um dahin zu kommen. In dem Moment, in dem wir sie durchgesetzt hatten, strömten Tausende Krankenschwestern und -pfleger zurück in die Krankenhäuser, es mussten Zehntausende Auffrischungskurse für Pflegekräfte durchgeführt werden.

    Frau McAlevey, wie hat es eine US-amerikanische Gewerkschaftsorganizerin wie Sie nach Deutschland verschlagen?

    Jane McAlevey: Ich habe Silvia und ihre Kollegen 2019 bei der Konferenz „Erneuerung durch Streik“ der Rosa-Luxemburg-Stiftung kennengelernt. Danach haben wir uns immer wieder getroffen und während der Pandemie ein Online-Organizing-Schulungsprogramm durchgeführt, das Zehntausende von Beschäftigten zusammengebracht hat, nicht nur aus dem Gesundheitswesen. Ich selbst komme aus der Health and Hospital Workers Union 1199NE, die ihre Wurzeln in der radikalen US-Gewerkschaftsbewegung der 1930er Jahre hat. Sie ist immer noch die Gewerkschaft, die die besten Verträge für das Gesundheitspersonal in den USA abschließt.

    Warum ist das so?

    Sie gewinnt ihre Kämpfe, weil sie eine demokratische Gewerkschaft ist, weil sie es den Beschäftigten ermöglicht, zu streiken, und weil sie der Meinung ist, dass Beschäftigte alle paar Jahre streiken sollten, um die Streikmuskeln zu trainieren. Ohne das wären wir nicht führend bei den nationalen Standards.

    Aber wenn es dafür keine parlamentarischen Mehrheiten gibt?

    Jane McAlevey: Im Bundesstaat Nevada, wo eine konservative Mehrheit eine politische Lösung blockiert hat, haben die Beschäftigten gesagt: Scheiß drauf, wir setzen das auf tarifvertraglichem Weg durch. Wir haben das kalifornische Krankenschwester-Patienten-Verhältnis in wichtigen Krankenhäusern durch Tarifverträge durchgesetzt. Es war zäh, aber jetzt haben die Kliniken, in denen wir erfolgreich waren, die beste Personalausstattung und die besten Ergebnisse bei der Patientenversorgung.

    Moritz Lange: Vielleicht ist es das, was man als lebensverändernde Forderungen bezeichnen könnte. In Deutschland war der Kampf für die 35-Stunden-Woche in den achtziger Jahren so eine Auseinandersetzung. Das hat wirklich das Leben von Hunderttausenden verändert – und weil das allen klar war, hat dieser Kampf eine ganz andere Dynamik entwickelt als eine normale Lohnrunde. Ein bisschen davon habe ich in der Tarifrunde der Metallindustrie vor drei Jahren gespürt, als die IG Metall zusätzliche freie Tage für Beschäftigte mit kleinen Kindern und pflegebedürftigen Angehörigen und für Schichtarbeiter*innen gefordert hat. Das war gefühlt die erfolgreichste landesweite Tarifbewegung der vergangenen zehn Jahre. Die Leute fingen an zu diskutieren: He, was werdet ihr mit den zusätzlichen Tagen machen? Was möchtet ihr mit euren Kindern unternehmen? Und am Ende haben die Kolleg*innen diesen Kampf gewonnen. Ich denke, wenn man eine Forderung hat, die wirklich das Leben verändern würde, gibt es diese Chance auf eine unerwartet machtvolle Bewegung.

    Bessere Arbeitsbedingungen, bessere Personalausstattung – das muss auch bezahlt werden.

    Jane McAlevey: Dort, wo wir in den USA erfolgreich waren, haben die Arbeitgeber natürlich erkannt, dass sie mehr Geld brauchen, um die Forderungen zu erfüllen. Die cleveren unter ihnen haben sich strategisch und im Stillen mit den Beschäftigten verbündet, um den Staat zu verklagen, um das Geld zu bekommen. Es gab andere, die nicht clever waren und die aus ideologischen Gründen bis zum Schluss mit uns gekämpft haben. Aber die Politik hat irgendwann verstanden, dass eine weitere Eskalation sehr riskant ist, und plötzlich floss Geld in die Kassen der Krankenhäuser.

    Konflikte strategisch eskalieren – passt eine solche Herangehensweise auch in die Kultur der sozialpartnerschaftlichen IG Metall?

    Moritz Lange: Organizing bedeutet für deutsche Gewerkschaften eine Kulturrevolution. Hierzulande haben Gewerkschaften vor mehr als zehn Jahren angefangen, die ersten Organizing-Kampagnen aufzuziehen. Der Ausgangspunkt war dabei, dass wir es auch hierzulande zunehmend mit Arbeitgebern zu tun haben, die von Sozialpartnerschaft überhaupt nichts wissen wollen. Zwar sind Elemente aus dem Organizing jetzt in Deutschland weit verbreitet, für viele ist es jedoch nur ein „Werkzeugkasten“ zur Mitgliedergewinnung. Als Aber wenn es dafür keine parlamentarischen Mehrheiten gibt?

    Jane McAlevey: Im Bundesstaat Nevada, wo eine konservative Mehrheit eine politische Lösung blockiert hat, haben die Beschäftigten gesagt: Scheiß drauf, wir setzen das auf tarifvertraglichem Weg durch. Wir haben das kalifornische Krankenschwester-Patienten-Verhältnis in wichtigen Krankenhäusern durch Tarifverträge durchgesetzt. Es war zäh, aber jetzt haben die Kliniken, in denen wir erfolgreich waren, die beste Personalausstattung und die besten Ergebnisse bei der Patientenversorgung.

    Moritz Lange: Vielleicht ist es das, was man als lebensverändernde Forderungen bezeichnen könnte. In Deutschland war der Kampf für die 35-Stunden-Woche in den achtziger Jahren so eine Auseinandersetzung. Das hat wirklich das Leben von Hunderttausenden verändert – und weil das allen klar war, hat dieser Kampf eine ganz andere Dynamik entwickelt als eine normale Lohnrunde. Ein bisschen davon habe ich in der Tarifrunde der Metallindustrie vor drei Jahren gespürt, als die IG Metall zusätzliche freie Tage für Beschäftigte mit kleinen Kindern und pflegebedürftigen Angehörigen und für Schichtarbeiter*innen gefordert hat. Das war gefühlt die erfolgreichste landesweite Tarifbewegung der vergangenen zehn Jahre. Die Leute fingen an zu diskutieren: He, was werdet ihr mit den zusätzlichen Tagen machen? Was möchtet ihr mit euren Kindern unternehmen? Und am Ende haben die Kolleg*innen diesen Kampf gewonnen. Ich denke, wenn man eine Forderung hat, die wirklich das Leben verändern würde, gibt es diese Chance auf eine unerwartet machtvolle Bewegung.

    Bessere Arbeitsbedingungen, bessere Personalausstattung – das muss auch bezahlt werden.

    Jane McAlevey: Dort, wo wir in den USA erfolgreich waren, haben die Arbeitgeber natürlich erkannt, dass sie mehr Geld brauchen, um die Forderungen zu erfüllen. Die cleveren unter ihnen haben sich strategisch und im Stillen mit den Beschäftigten verbündet, um den Staat zu verklagen, um das Geld zu bekommen. Es gab andere, die nicht clever waren und die aus ideologischen Gründen bis zum Schluss mit uns gekämpft haben. Aber die Politik hat irgendwann verstanden, dass eine weitere Eskalation sehr riskant ist, und plötzlich floss Geld in die Kassen der Krankenhäuser.

    Konflikte strategisch eskalieren – passt eine solche Herangehensweise auch in die Kultur der sozialpartnerschaftlichen IG Metall?

    Moritz Lange: Organizing bedeutet für deutsche Gewerkschaften eine Kulturrevolution. Hierzulande haben Gewerkschaften vor mehr als zehn Jahren angefangen, die ersten Organizing-Kampagnen aufzuziehen. Der Ausgangspunkt war dabei, dass wir es auch hierzulande zunehmend mit Arbeitgebern zu tun haben, die von Sozialpartnerschaft überhaupt nichts wissen wollen. Zwar sind Elemente aus dem Organizing jetzt in Deutschland weit verbreitet, für viele ist es jedoch nur ein „Werkzeugkasten“ zur Mitgliedergewinnung. Als Methode okay, aber bitte nicht zu viel Bewegung und schon gar nicht zu viel Konflikt. Aus meiner Sicht lässt sich das nicht trennen: Dort wo es keine gewachsene Gewerkschaftskultur gibt, werden Beschäftigte nur Gewerkschaftsmitglied, wenn sie mit der Gewerkschaft ihre wichtigsten Probleme lösen können. Und das geht in ihren Branchen oft nur im Konflikt. Wird der Kampf der Berliner Krankenhausbeschäftigten in der IG Metall wahrgenommen?

    Moritz Lange: Im Gesundheitswesen führt Verdi heute konfliktorientierte, strategisch durchdachte Organizing-Kampagnen und gewinnt damit Tausende Mitglieder. Das wird natürlich schon beobachtet. Und wenn die Berliner Krankenhausbewegung am Ende erfolgreich ist, wird das Türen öffnen, auch für große Kampagnen bei anderen Gewerkschaften.

    Wie sieht das aus, wenn man von außen draufschaut? Stehen die deutschen Gewerkschaften gerade an einem Wendepunkt?

    Jane McAlevey: Zunächst mal stehen die westlichen Demokratien an einem Wendepunkt. Auch wenn Trump in den USA abgewählt wurde, gibt es weiterhin eine ernste Bedrohung durch Rechtspopulismus, Faschismus und Autoritarismus. Wenn wir das aufhalten wollen, müssen wir für den Wiederaufbau starker Gewerkschaften kämpfen, um die Macht am Arbeitsplatz neu zu verteilen und bessere Standards und ein besseres Leben zu erreichen. Ich bin überzeugt, dass es sich in Deutschland und in den USA um den gleichen Kampf handelt. Das ist nicht nur eine Floskel. Die Union Buster, die früher die Gewerkschaften in US-Autofabriken zerschlugen, tauchen jetzt in der IG-Metall-Welt auf. Ich denke, der einzige Ausweg aus diesem Elend ist für Gewerkschaften, dass sie ihre Mitglieder an allen wichtigen Entscheidungen wirklich beteiligen. Den Beschäftigten sagen: Ihr selbst müsst diese Kampagne gewinnen, und ihr habt jedes Recht, alle dafür notwendigen Entscheidungen zu treffen. Das bedeutet unter den heutigen Bedingungen wahrscheinlich Mehrheitsstreiks. Keine kleinen Streiks, sondern große Streiks, um die Bedingungen zu erkämpfen, die wir dringend brauchen.Methode okay, aber bitte nicht zu viel Bewegung und schon gar nicht zu viel Konflikt. Aus meiner Sicht lässt sich das nicht trennen: Dort wo es keine gewachsene Gewerkschaftskultur gibt, werden Beschäftigte nur Gewerkschaftsmitglied, wenn sie mit der Gewerkschaft ihre wichtigsten Probleme lösen können. Und das geht in ihren Branchen oft nur im Konflikt. Wird der Kampf der Berliner Krankenhausbeschäftigten in der IG Metall wahrgenommen?

    Moritz Lange: Im Gesundheitswesen führt Verdi heute konfliktorientierte, strategisch durchdachte Organizing-Kampagnen und gewinnt damit Tausende Mitglieder. Das wird natürlich schon beobachtet. Und wenn die Berliner Krankenhausbewegung am Ende erfolgreich ist, wird das Türen öffnen, auch für große Kampagnen bei anderen Gewerkschaften.

    Wie sieht das aus, wenn man von außen draufschaut? Stehen die deutschen Gewerkschaften gerade an einem Wendepunkt?

    Jane McAlevey: Zunächst mal stehen die westlichen Demokratien an einem Wendepunkt. Auch wenn Trump in den USA abgewählt wurde, gibt es weiterhin eine ernste Bedrohung durch Rechtspopulismus, Faschismus und Autoritarismus. Wenn wir das aufhalten wollen, müssen wir für den Wiederaufbau starker Gewerkschaften kämpfen, um die Macht am Arbeitsplatz neu zu verteilen und bessere Standards und ein besseres Leben zu erreichen. Ich bin überzeugt, dass es sich in Deutschland und in den USA um den gleichen Kampf handelt. Das ist nicht nur eine Floskel. Die Union Buster, die früher die Gewerkschaften in US-Autofabriken zerschlugen, tauchen jetzt in der IG-Metall-Welt auf. Ich denke, der einzige Ausweg aus diesem Elend ist für Gewerkschaften, dass sie ihre Mitglieder an allen wichtigen Entscheidungen wirklich beteiligen. Den Beschäftigten sagen: Ihr selbst müsst diese Kampagne gewinnen, und ihr habt jedes Recht, alle dafür notwendigen Entscheidungen zu treffen. Das bedeutet unter den heutigen Bedingungen wahrscheinlich Mehrheitsstreiks. Keine kleinen Streiks, sondern große Streiks, um die Bedingungen zu erkämpfen, die wir dringend brauchen.

    Silvia Habekost arbeitet als Anästhesie-Krankenschwester. Seit etwa 15 Jahren engagiert sie sich für eine bessere Personalaustattung

    Jane McAlevey ist eine Autorin, Organizerin und Gewerkschaftsberaterin aus den USA. Im August erschien von ihr im VSA Verlag das Buch Macht. Gemeinsame Sache. Gewerkschaften, Organizing und der Kampf um die Demokratie

    Moritz Lange ist Gewerkschaftssekretär in der Organizing-Abteilung des IG-Metall-Vorstands

    #Arbeit #Streik #Krankenhaus

  • Ein guter Beitrag über Herrschaft und das, was sie aufrecht erhält:...
    https://diasp.eu/p/12822032

    Ein guter Beitrag über Herrschaft und das, was sie aufrecht erhält: „Entstanden im aufsteigenden Bürgertum, hat er sich #Bildung als ein unhinterfragtes Konzept über die Gesellschaft gelegt. Bis heute sind für „akademische“ Kinder die Chancen zigfach höher, an eine Uni zu kommen und dort Erfolg zu haben. Es sind nicht alle „ihres Glückes Schmied“. Das ist Ideologie, denn wir leben nicht in einer herrschaftsfreien Gesellschaft, in der es egal wäre, woher man kommt.“ https://www.freitag.de/autoren/der-freitag/der-freie-wille-ist-eine-ideologie

    • [...]

      Diese „Chemie“ sorgt ja auch dafür, dass schichtenübergreifende Lebenspartnerschaften kaum häufiger sind als ethnisch „gemischte“. Aber wie wirkt sie bei der sozialen Vererbung?

      Sie entsteht im Herkunftsmilieu, dessen soziale Position durch den Zugriff auf ökonomische, kulturelle, soziale und symbolische Ressourcen bestimmt ist. Wichtig sind aber auch Identifikationsprozesse mit diesem Milieu und seinem Habitus. Bildungsarmut entsteht nicht nur, wenn die Eltern zu wenig kulturelles Kapital „vererben“, sondern auch in dem, was sie stattdessen weitergeben. Nämlich bestimmte „Komplexe“, etwa eine starke Unsicherheit gegenüber Bildung. Man fühlt sich minderwertig, traut sich nichts zu und versucht es dann kaum. Selbst bei manchen Studierenden sehe ich das, obwohl die es ja alle immerhin an die Universität geschafft haben. Wer etwa Dialekt spricht, was ja zumeist nicht als „legitime Kultur“ gilt, traut sich oft nicht, im Seminar etwas zu sagen.

      An diesem Punkt würden nun viele mit Hintergrund in der „legitimen Kultur“ einwenden: Na ja, versuchen müssen sie es schon selbst. Lehrjahre sind keine Herrenjahre!

      Wer das so sagt, muss seine Herkunft komplett vergessen haben. Aber tatsächlich treten „ererbte“ Unsicherheiten auch offensiv auf, als Trotz, als scheinbare Selbstsicherheit. Etwa in der Abwertung von „Studierten“, die „keinen Nagel einschlagen“ können. Aus der Not wird eine Tugend, man tröstet sich im Vorhinein über versagte Chancen: „So ein Schreibtischjob wäre wirklich nichts für mich.“ Das wirkt wie sich selbst erfüllende Prophetie, wie ein Teufelskreis, dem schwer zu entkommen ist. Schon Kinder entsprechen oft unwillkürlich den schlechten Meinungen, die Lehrkräfte von ihnen haben, was diese Zuschreibungen wiederum bestärkt.

      [...]

    • propre lien:

      https://taz.de/Neues-Buch-von-Sahra-Wagenknecht/!5764480

      Die US-Theoretikerin Nancy #Fraser hat in dem Bündnis von Neoliberalismus und Linksliberalen eine Voraussetzung für den Aufstieg des Rechtspopulismus identifiziert. Ein „dröhnender Dauerdiskurs über Vielfalt“, so Fraser, habe die Forderungen nach sozialer Gleichheit verdrängt. Die Linke müsse sich wieder sozialer Gerechtigkeit zuwenden, aber ohne Minderheitenrechte zu vergessen.

      Auch Sahra Wagenknecht treibt die Frage um, warum die gesellschaftliche Linke partout nicht mehrheitsfähig wird. Sie knüpft in ihrer Streitschrift „Die Selbstgerechten“ an Frasers Kritik an und radikalisiert sie bis zur Unkenntlichkeit. Denn bei ihr sind der giftige Neoliberalismus und der nur scheinbar menschenfreundliche Linksliberalismus fast das Gleiche.

      „Die linksliberale Erzählung ist nichts als eine aufgehübschte Neuverpackung der Botschaften des Neoliberalismus. So wurde aus Egoismus Selbstverwirklichung, aus Flexibilisierung Chancenvielfalt, aus Verantwortungslosigkeit gegenüber den Menschen im eigenen Land Weltbürgertum.“

      [...]

      –------------
      cf. aussi:

      Interview:
      Sahra Wagenknecht: «In einer Demokratie muss man zur Grundlage nehmen, was die Menschen wollen, und nicht, was einige hippe Weltbürger schön finden»

      https://www.nzz.ch/international/deutschland/sahra-wagenknecht-identitaetspolitik-will-ungleichheit-ld.1611631

      [...]

      Die linken Parteien verlieren mehr und mehr aus den Augen, für wen sie eigentlich da sein müssen. Wir sind keine Interessenvertretung gutsituierter Grossstadt-Akademiker, sondern müssen uns vor allem für die einsetzen, die sonst keine Stimme haben: die in schlecht bezahlten Service-Jobs arbeiten, oder auch für die klassische Mittelschicht, etwa Handwerker und Facharbeiter, die oft keinen akademischen Abschluss haben. Debatten über Denk- und Sprachverbote gehen an den Bedürfnissen der Menschen vorbei.

      [...]

      #Wagenknecht #Allemagne #dieLinke #gauche_modérée #centre-gauche #cancel_culture #néolibéralisme

    • Ein Gespräch mit Sahra Wagenknecht über Identitäten, Wir-Gefühle, soziale Benachteiligung, den Begriff „Heimat“ sowie Umweltpolitik und Fridays for Future (Teil 1)

      https://www.heise.de/tp/features/Sahra-Wagenknecht-Was-wir-einfordern-muessen-ist-echte-Gleichbehandlung-602819

      [...]

      Die Lifestyle-Linken par exellence sind natürlich die Grünen. Sie werden hauptsächlich von dem Milieu gewählt, in dem diese Botschaften ankommen: Eher gutsituierte, akademisch gebildete Großstädter, die in Vierteln wohnen, in denen schon die Mieten garantieren, dass man mit Ärmeren oder Zuwanderern, soweit es sich nicht um Hochqualifizierte handelt, persönlich kaum in Kontakt kommt - und also auch nicht mit den mit Armut und Zuwanderung verbundenen Problemen. Die Wähler der Grünen verdienen im Schnitt mittlerweile mehr als die der FDP. Das reale Leben bewegt sich für viele in einer Art Filterblase.

      Die Grünen sind erfolgreich, weil sie die Lebenswelt, die Interessen und die kosmopolitischen und individualistischen Werte dieses Milieus repräsentieren. Die Frage ist nur: Sollten Parteien, die sich als links verstehen, mit den Grünen vor allem um diese Wählerschaft konkurrieren? Oder sollten sie nicht eher versuchen, wieder die Stimme derjenigen zu sein, die es schwer haben, denen Bildungschancen vorenthalten werden, die um jedes bisschen Wohlstand kämpfen müssen und sich heute großenteils von niemandem mehr vertreten fühlen? Für diese Menschen da zu sein, war jedenfalls mal der Anspruch der Linken.

      [...]

      Identität ist eine wichtige Sache - jeder Mensch hat Identitäten; und zwar meistens nicht nur eine. Ich etwa verstehe mich als Saarländerin, weil ich hier lebe, aber natürlich auch als Bürgerin dieses Landes und als Europäerin. Die entscheidende Frage ist, ob man die gemeinsamen Identitäten in den Vordergrund stellt, oder die, die spalten und den Unterschied von der Mehrheitsgesellschaft betonen - ob man also die Abstammung und die sexuelle Orientierung hervorhebt oder das, was Belegschaften und auch die große Mehrheit der Bevölkerung eint: Die meisten Menschen müssen von ihrer Arbeit leben, profitieren von einem starken Sozialstaat, sind nicht reich. Aber sie haben deutsche oder nicht-deutsche Eltern, sind homo- oder heterosexuell.

      [...]

      #Verts #Gauche_du_lifestyle #identité

    • Stéfanie #Roza, https://seenthis.net/messages/912250 ,
      et Judith Basad font valoir des arguments très similaires:

      Identitätspolitik: „Schlechtes Gewissen einer Wohlstandselite“ 26. April 2021, Florian Rötzer

      Judith Basad über Ihr Buch „Schäm dich!“, die Kritik an der Identitäts-, Gender- und Antirassismus-Politik und die Weltsicht von Sprachaktivisten

      https://www.heise.de/tp/features/Identitaetspolitik-Schlechtes-Gewissen-einer-Wohlstandselite-6022674.html

      [...]

      Eine solche Form (....) hat mit Foucault oder Derrida nichts mehr zu tun, da diese Philosophen keine politischen Prämissen aus ihren Theorien abgeleitet haben. Auch die Poststrukturalisten, die die Grundlage für das Gendern und den ganzen Sprachaktivismus bilden, haben nie gefordert, dass die Sprache etwa in staatlichen Institutionen verändert werden muss, um eine gerechtere Gesellschaft zu erreichen. Letztendlich wird dieses postmoderne Cherry-Picking betrieben, um eine Ideologie durchzusetzen, die nur noch in Hautfarben, Binaritäten und Feindbildern denkt. Das ist meiner Meinung nach sehr gefährlich.

      Sie sagen auch, es seien Menschen aus einer bestimmten Schicht, die diese Theorien verfolgen und diese Ideologie durchsetzen wollen. Wie würden Sie diese Schicht beschreiben?

      Für die Rechten sind es vor allem die „linksversifften Grünen“, sie meinen damit relativ wohlhabende Menschen, die keine großen Probleme haben. Was treibt diese Menschen an?

      Judith Basad: Dahinter steckt ein religiöses Bedürfnis, das meiner Meinung nach mit einer Wohlstandsverwahrlosung einhergeht. Denn bei denjenigen, die in dieser Bewegung am lautesten sind – die etwa im Netz andere als Rassisten beschimpfen und Veranstaltungen sprengen – handelt es sich um eine Bildungselite, die gerne damit angibt, dass sie Foucault und Judith Butler verstanden haben.

      Diese Art von Aktivismus ist deswegen so erfolgreich, weil sich alles ums Weißsein dreht. Motto: Wie können „wir Weißen“ bessere Menschen werden? Für mich ist ziemlich offensichtlich, dass dahinter ein schlechtes Gewissen einer Wohlstandselite steckt, die behütet aufgewachsen ist und nun für diesen Wohlstand Reue empfindet.

      Wenn weiße Studenten sich demonstrativ im Fernsehen, in Artikeln oder auf Social Media für ihre Hautfarbe schämen, dann ist das nichts anderes als die Sehnsucht nach Unterwerfung, Buße und Läuterung – damit man der Welt zeigen kann, dass man jetzt zu den moralisch Guten gehört.

      [...]

    • Dialektik: Von Gleichheit, Perspektive und Aktion
      25. April 2021 Gerhard Mersmann

      https://neue-debatte.com/2021/04/25/dialektik-von-gleichheit-perspektive-und-aktion

      [...]

      Die Auswüchse, die das Treiben der Identitären, der Inquisitoren, der Sektierer zeitigen, sind grotesk und sie dokumentieren, in welcher Sackgasse sich Gemeinwesen wie Politik befinden. Gesellschaftlicher Fortschritt, wie er auch immer beschrieben werden mag, ist einer Paralyse gewichen, die an Selbstzerstörung nicht mehr zu überbieten ist.

      Es liegt auf der Hand, dass es einen Weg zurück nicht mehr geben kann, und es ist offensichtlich, dass es so nicht mehr weitergehen kann. Wer das vorschlägt und die inquisitorische Befindlichkeitsprogrammatik weiter vorantreiben will, bietet keine Option für alles, was ein Gemeinwesen ausmacht.

      Die Sprachvergewaltigung, die Verhunzung von Texten, die Kreation absurder Begriffe, alles wird weiter getrieben, ohne dass sich dadurch eine Perspektive erkennen ließe, die einen gesellschaftlichen Nutzen hätte.

      Gleichheit, Perspektive und Aktion

      Das Kernstück einer Gesellschaft, die in die Zukunft weist, muss das Prinzip der Gleichheit sein. Wird das aufgegeben, dann bleibt nach dem Aufräumen der umherliegenden Fleischfetzen der individuellen Befindlichkeit das Recht des Stärkeren, welches von der Spaltung begünstigt wird und Tür und Tor zur brutalen Herrschaft öffnet. Welches, bitte schön, von den vielen Opfern, wird sich dann noch dem widersetzen können?

      An ihren Taten sollt ihr sie messen, heißt es in einem der ältesten abendländischen Sätze. Doch welche Taten werden diejenigen vorweisen können, die ihre Identität als Anfang- und Endpunkt setzen?

      Die einzigen Taten, die in ihrem Journal stehen, weisen nicht in eine Richtung der Befreiung, sondern in die der Ranküne, der Vergeltung und der Zerstörung.

      Wer standhalten will, schrieb Theodor W. Adorno (1), einer der immer wieder Stigmatisierten, darf nicht verharren in leerem Entsetzen. Damit dokumentierte er sein Gespür für die Notwendigkeit der Gegenwehr, der aktiven Veränderung, der Gestaltung. Wer standhalten will, der muss sich seiner selbst bewusst sein, gewiss, der muss sich Verbündete suchen, und das geschieht auf dem Feld der Gemeinsamkeit.

      [...]

      #langue #égalité

  • Das weiße Gold der Verkehrswende - Elektromobilität Wie Konzerne weltweit um Lithium konkurrieren und welche Rolle Tesla dabei spielt
    https://www.freitag.de/autoren/der-freitag/fracking-for-future

    Der Argentinier Clemente Flores hat nichts persönlich gegen Elon Musk. Aber er hält ihn für einen weißen Geschäftemacher, der keine Lösung, sondern ein Problem für die Menschheit darstellt. Auch mit der Energiewende kann Flores nicht viel anfangen. Er hat noch nie ein Elektroauto gesehen, fährt auch keinen Diesel oder Benziner, sondern lässt sich von seinen Besuchern in der andischen Hochwüste Puna am Wegesrand einsammeln. Der kleine grauhaarige Mann trägt eine rote Outdoorjacke und Turnschuhe. Wie ein Lokalpolitiker von über 30 Gemeinden sieht er nicht aus.

    Die argentinische Regierung hat, ebenso wie die chilenische, die Lithiumvorkommen in der Salzwüste des Dreiländerecks in Südamerika für Bergbauunternehmen geöffnet, die es ihrerseits etwa an Tesla, BMW oder Toyota verkaufen. Die Autokonzerne bauen daraus Lithium-Ionen-Batterien für Elektroautos. Bolivien war bis 2019 das einzige Land in der Region, das US-Unternehmen den Zugang zu Lithium verwehrte. Bis zum Sturz von Evo Morales im November 2019. Wenige Monate zuvor hatte ein Tesla-Sprecher moniert, die Rohstoffe für den Bau der Batterien würden langsam knapp.

    Die Gerüchteküche rund um den Putsch brodelte, angeheizt nicht zuletzt von Elon Musk selbst, der in einer Twitterdebatte zu Evo Morales erklärte: „We will coup whoever we want! Deal with it.“ („Wir putschen, wen wir wollen, find dich damit ab“).
    Clemente Flores ist misstrauisch geworden. Gegen Fremde, die Presse und schlipstragende Männer: „Ihr glaubt, damit könnt ihr die Menschheit retten, aber ihr werdet uns alle umbringen.“ Flores vertritt die Dörfer am 200 Quadratkilometer großen Salzsee „Salinas Grandes del Noroeste“, auf knapp 4.000 Metern in den Anden: Nackte Gebirgshänge, aus denen meterhohe Kakteen wachsen, farbig schimmernde Felsenformationen. Es ist die Heimat der Kolla, eines der wenigen indigenen Völker, die es in Südamerika noch gibt.
    Kontaminiertes Grundwasser

    Seit Jahrhunderten wird hier Salz abgebaut. Aber das Millionengeschäft liegt nicht auf, sondern unter der Salzwüste. Hier lagern hunderttausende Tonnen Lithium im Untergrund – gelöst in Salzschlacke. Laut Bundesanstalt für Geowissenschaften und Rohstoffe liegen dort bis zu 70 Prozent der weltweiten Lithiumvorkommen.

    Das Geschäft lohnt sich. Seit dem Jahr 2000 ist der Lithiumpreis um 350 Prozent gestiegen. Die heute in Südamerika, China und Australien rund 70.000 geförderten Tonnen Lithium sollen bis 2030 auf jährlich 240.000 Tonnen ansteigen – bis zur Mitte des Jahrhunderts sogar auf über eine Million. Der Rohstoff hat wichtige Eigenschaften: Er besitzt eine hohe Wärmekapazität, geringe Dichte und eignet sich ausgezeichnet, um Energie zu speichern. Für Batterien eines Elektroautos müssen bis zu zehn Kilogramm verbaut werden.

    In Südamerika hat die Lithiumförderung dramatische Folgen. Salinas Grandes ist eine aride Region, Tiere und Pflanzen überleben allein dank unterirdischer Wasserreserven, die sich über Jahrtausende hinweg gebildet haben. Die Lithiumproduktion bringt das natürliche Gleichgewicht durcheinander: Das lithiumhaltige Wasser wird aus dem Boden gepumpt. Der argentinische Produzent Sales Jujuy gibt an, dass er 80.000 Liter pro Stunde an Frischwasser verbraucht. Insgesamt rechnen Experten mit einem Wasserverbrauch von zwei Millionen Liter pro Tonne Lithium.

    Anschließend wird die Salzlake in Fußballfelder-große Becken gepumpt, wo sie verdunstet. Dadurch sinkt der natürliche Wasserspiegel ab, es mischen sich Salzwasser- mit Süßwasseradern. Hydrologen sprechen von irreversibler Kontamination des Grundwassers. Anwohner wie Clemente Flores befürchten, dass das Leben in der Region bald unmöglich wird. Ohne Wasser können sie nichts anbauen, ihre Lamas haben kein Gras. Es droht der Exodus.

    In Chile sind bereits ganze Regionen verwüstet. Bergbauunternehmen haben dort seit Jahrzehnten einen zweifelhaften Ruf: Nicht nur im Lithium-, sondern auch im Kupferabbau hätten sie durch lasche Umweltauflagen enorme Profite eingefahren, so der Vorwurf. Seit der damalige Präsident Mauricio Macri 2015 die Pforten Argentiniens für ausländische Lithiumförderer öffnete, geht ein großer Teil des Rohstoffs ins Ausland. Die Puna-Region erlangte durch einen Besuch Ivanka Trumps 2019 besondere Aufmerksamkeit. Zwar ging es offiziell um Frauenrechte und Straßenbau, aber kritische Journalisten vermuten, dass sich Donald Trumps Tochter aus anderen Gründen für eine Visite gerade in dieser abgelegenen Gegend entschieden hatte. Die neuen Straßen sollen angeblich für eine „Lithiumroute“ zwischen Chile, Bolivien und Argentinien gebaut werden.

    Auch in Bolivien sind die geostrategischen Interessen am Lithiumdreieck zu spüren. Nach dem Militärputsch sprach der abgesetzte bolivianische Präsident Morales gegenüber dem Journalisten Glenn Greenwald – bekannt durch die Veröffentlichungen der Dokumente von Edward Snowden – darüber, dass er sich beim Verkauf des Lithiums für strategische Allianzen mit China und Russland und gegen die USA entschieden habe: „Im Gegensatz zu den US-Amerikanern wollten wir die Lithiumproduktion in öffentlicher Hand behalten, damit auch das Volk etwas von den Gewinnen hat. Wir haben nichts gegen private Partner – aber die Herstellung muss unter staatlicher Kontrolle stehen.“
    Boliviens Reichtum

    Elon Musk seinerseits wird nicht müde zu betonen, dass Tesla sein Lithium aus Australien beziehe und kein Interesse an Südamerika habe. Tesla hat tatsächlich mehrere australische Lieferanten, darunter auch den australischen Bergbaukonzern Orocobre. Doch fördert Orocobre auch im Norden von Argentinien – eben in jener Hochwüste, wo die indigenen Kolla leben. Zudem ist der chinesische Lithiumkonzern Ganfeng in Nordargentinien als Lithiumförderer aktiv und investierte schon 2018 fast 700 Millionen Euro in die Region. Ganfeng ist als einer der Hauptlieferanten von Tesla gelistet. 2018 schlossen beide Unternehmen einen Vertrag über drei Jahre.

    Die Aussagen von Musk sind deshalb zumindest irreführend. Zwar versucht Tesla, Lithium nahe seiner Fabrik in Nevada auch selbst zu fördern. Die Mengen reichen aber längst nicht aus. Der Konzern braucht je nach Schätzung bis zu 28.000 Tonnen pro Jahr. Das sind rund 40 Prozent der Weltproduktion.

    Ob die US-Regierung oder gar Elon Musk daran beteiligt waren, den bolivianischen Präsidenten aus dem Land zu jagen, um sich die Lithiumvorkommen zu sichern, ist reine Spekulation. Aber dass US-Thinktanks oder die CIA seit den 1970er-Jahren in Lateinamerika mitmischen, ist belegt, man denke an den Sturz von Salvador Allende im Jahr 1973 und die von den USA unterstützte Diktatur Pinochets. Dabei ging es auch immer um Ressourcen. In der Vergangenheit waren das Öl, Gas oder Metalle wie Kupfer oder Erze – nun ist es auch Lithium.

    Die Energiewende tickt im globalen Kapitalismus nicht anders als das Geschäft mit fossilen Rohstoffen. Zugleich sind Lithium-Ionen-Batterien für eine Fortbewegung ohne Öl und Gas notwendig. Die Frage ist deshalb nicht, ob der Wandel passiert, sondern wie.

    Von Susanne Götze und Annika Joeres ist im April das Buch Die Klimaschmutzlobby: Wie Politiker und Wirtschaftslenker die Zukunft unseres Planeten verkaufen erschienen

  • Zeitgeschichte ǀ 1950: Frontkämpferbund — der Freitag
    https://www.freitag.de/autoren/der-freitag/1950-frontkaempferbund


    Suzanne Labin, Carlo Schmid, Arthur Koestler

    Von Rudolf Walther - Im Westen Berlins tagt der„Kongress für die Freiheit der Kultur“ und ruft den Kommunismus als Feindbild aus. Getragen wird er von Geldern aus Washington.

    Der Osten hatte vorgelegt mit zwei kulturellen Manifestationen für den Weltfrieden – 1948 im polnischen Wroclaw, danach im April 1949 mit dem Pariser „Weltkongress der Kämpfer für den Frieden“, der sich besonders der Ächtung von Kernwaffen verschrieben hatte. Da wollte auch „der Westen“ nicht nachstehen und sich auf der Höhe des Kalten Krieges zeigen, wie er mit Churchills „Eiserner Vorhang“-Rede vom 5. März 1946 in Fulton (USA) eingeläutet war. Im März 1949 fand deshalb im New Yorker Waldorf-Astoria-Hotel auf Initiative des National Council of Arts, Sciences and Professions eine „Cultural Conference for World Peace“ statt als Antwort auf die Tagungen der linken und – wie man meinte – „falschen Friedensfreunde“. Es schlug die Geburtsstunde des „American Committee for Cultural Freedom“, das sich dem Kampf gegen Nationalsozialismus und Kommunismus verschrieb. Der Umstand, dass Ersterer als reale Größe seit vier Jahren nicht mehr existierte, spielte keine Rolle. Treibende Kraft im Vorfeld des Kongresses von 1950 in den Westsektoren Berlins war der amerikanische Journalist Melvin Lasky, der sich beim „Ersten deutschen Schriftstellerkongress“ im Oktober 1947 als Kämpfer gegen die Zensur in Ost und West profiliert hatte und damit vom stalinistischen Kommunismus enttäuschte Intellektuelle wie Arthur Koestler, Margarete Buber-Neumann, Franz Borkenau und Ernst Reuter für eine Mitarbeit gewann. Zum Kongress im Westberliner Titania-Palast im Juni 1950 reisten gut 1.800 Teilnehmer an – darunter der Philosoph Karl Jaspers, der Soziologe und KZ-Überlebende Eugen Kogon, die Schriftsteller Luise Rinser und Ignazio Silone, der Historiker Golo Mann und der Psychoanalytiker Alexander Mitscherlich. Ein zeithistorischer Zufall verlieh dem Kongress exemplarische Aktualität, weil einen Tag vor der Eröffnung am 26. Juni 1950 nordkoreanische Truppen, verbündet mit der UdSSR und China, die Demarkationslinie am 38. Breitengrad zu Südkorea überschritten und einen bewaffneten Konflikt auslösten. Dass Kongress und Kriegsausbruch zusammenfielen, beflügelte die Redner und bestimmte das stilbildende Vokabular des Kalten Krieges: Ignazio Silone, 1921 Mitbegründer der KP Italiens, ernannte das Vier-Sektoren-Berlin zum „Sturmzentrum der schärfsten Gegensätze“ zwischen Ost und West. Ernst Reuter sah den Westteil als „Enklave der Freiheit“. Nachdem der Kongress mit Beethovens Fidelio-Ouvertüre eröffnet worden war, verkündete der Schriftsteller Arthur Koestler einen „Kreuzzug“ gegen den Kommunismus. Und Melvin Lasky begrüßte die Teilnehmer als „europäische Freiheitslegion“.

    Arthur Koestler sollte die entscheidenden Akzente setzen: „Wir kamen, um ein Kampfbündnis zu schließen. Es geht hier nicht um relative Unterschiede, es geht um Leben und Tod. (…) Erstens weil die Theorie und Praxis des totalitären Staates eine Bedrohung darstellt, die alle früheren Tyranneien übertrifft. Zweitens geht es um Leben und Tod, weil die Freiheit kein Luxus ist (…) Freiheit und Friede sind untrennbar verbunden.“ Mit den Schlagworten „Totalitarismus“, „Friede“, „Freiheit“, die auch der französische Philosoph Raymond Aron ins Zentrum seines Auftritts rückte, waren die Fronten abgesteckt: Die Sowjetunion verkörperte das „Prinzip der totalen Unfreiheit“ (Theodor Plievier). Der ehemalige Trotzkist James Burnham sah in den US-Depots mit Atombomben den „einzigen Schutz der Freiheit“. Auch das Manifest, das der Kongress im Namen von Koestlers Parole, „Freunde, die Freiheit hat die Offensive ergriffen!“, verabschiedete, lebte von vollmundigen Freiheitsversprechen. Demokratie und Menschenrechte kamen dagegen nicht vor, „Neutralität“ wurde als „Verrat an westlichen Werten“ denunziert.

    Apologeten sehen in diesem Kongress und den damals entstandenen Zeitschriften Der Monat, Preuves und Encounter bis heute ein „Kampfinstrument gegen den Totalitarismus“. Die Tatsache, dass der Kongress und besagte Magazine Organe der US-Außenpolitik waren und von Anfang an bis zur Abwicklung in den 1970er Jahren über die CIA von regierungsnahen Stiftungen finanziert wurden, wird beschönigt oder verschwiegen. Linken, die einem schlichten Weltbild von Gut und Böse nicht folgten, sei es nicht darum gegangen, stalinistische Praktiken zu bagatellisieren, sondern darum, „in keinem Fall mit ihren Gegnern (zu) paktieren“ oder „Kritik an Ausbeutung und Unterdrückung“ nur selektiv zuzulassen, wie Jean-Paul Sartre bereits 1950 erklärte.

    Im Buch Der Sündenfall der Intellektuellen über jenen Kongress von Ulrike Ackermann aus dem Jahr 2000 geht es dagegen nur um zweierlei – die ausgelaugte „Totalitarismustheorie“ zu retten und eine Kontinuität des „Antitotalitarismus“ von den 1950er Jahren bis in die Gegenwart zu konstruieren. Zwei aussichtslose Unterfangen – zum ersten: Der Begriff „Totalitarismus“ kam in den 1920ern auf, fand aber erst nach 1947 größere Verbreitung. Er zirkulierte in den USA, in der BRD, in Italien und in Frankreich in unterschiedlichen Varianten, deren Gemeinsamkeit darin bestand, politisch beliebig instrumentalisierbar zu sein. In den USA diente er dazu, eine auf globalen Einfluss bedachte Außenpolitik zu legitimieren, in der BRD war er Staatsräson und Mittel zur Abgrenzung von der DDR. Für Hannah Arendt war die Sowjetunion nach Stalins Tod 1953 kein totalitärer Staat mehr, und der US-Politologe Zbigniew Brzeziński entwickelte 1954 mit dem Deutsch-Amerikaner Carl J. Friedrich zwar eine Definition von „Totalitarismus“, gebrauchte sie aber nach 1960 nicht mehr.

    Den jüngeren Antitotalitarismus der „neuen Philosophen“ in Frankreich entzauberte der Historiker Michael Scott Christofferson 2009 in seinem Buch Les intellectuels contre la gauche. L’idéologie antitotalitaire en France (1968 – 1991) als politische Improvisation. Große Teile der französischen Intelligenz, die nach 1945 links standen, hatten sich von der KPF nach dem Ungarn-Aufstand 1956 und wegen des ausbleibenden Bruchs mit dem Stalinismus distanziert. Der Philosoph Maurice Merleau-Ponty bezweifelte schon 1950 angesichts der Arbeitslager in der UdSSR, dass dort überhaupt „noch von Sozialismus zu reden“ sei.

    Die Kritik am Stalinismus war also in der französischen Intelligenz längst geläufig und die Existenz jener Lager bekannt, als 1974 Alexander Solschenizyns Buch über den Archipel GULAG erschien. Dabei hat weniger dieses Buch die Kritik an der französischen KP angefacht als vielmehr deren Reaktion auf Solschenizyn, dessen Literatur als „antisowjetische Propaganda“ diskreditiert wurde.

    Später dann, als sich Sozialisten und Kommunisten 1972 auf ein „Gemeinsames Programm“ einigten, malten maoistische wie konservative Intellektuelle das Gespenst einer „totalitären Herrschaft“ der Kommunisten an die Wand. Diese Projektion und nicht die Kontinuität der Debatten von 1950 gebar den jüngeren „Antitotalitarismus“. Die autoritäre kommunistische Herrschaft interessierte die „Antitotalitären“, darunter viele Ex-Maoisten, so wenig wie das Buch Solschenizyns. Der Antitotalitarismus der „neuen Philosophen“ zielte nicht auf die „real existierenden Diktaturen“ im Osten, sondern auf die künftigen Verantwortlichen einer demokratisch legitimierten französischen Regierung aus Sozialisten und Kommunisten, denen man präventiv und ohne triftige Gründe unterstellte, eine totalitäre Politik verfolgen zu wollen. Danach freilich lief sich der Begriff „Antitotalitarismus“ in Frankreich schnell tot und spielte keine Rolle mehr. Die meisten „Antitotalitären“ sind zu „Berufsfranzosen“ („souchiens“) geworden, wie der israelische Historiker Shlomo Sand 2016 in seiner brillanten Studie La fin de l‘intellectuel français? festhielt. Das Wort „antitotalitär“ hat letztlich nur in Deutschland überlebt, wo im FAZ-Feuilleton seit vielen Jahren versucht wird, dem verblichenen Gespenst „Antitotalitarismus“ ein Zweitleben einzuhauchen.

    Arthur Koestler - Wikipedia
    https://en.wikipedia.org/wiki/Arthur_Koestler#Post-war_years

    In June (1950) Koestler delivered a major anti-Communist speech in Berlin under the auspices of the Congress for Cultural Freedom, an organisation funded (though he did not know this) by the Central Intelligence Agency.

    Suzanne Labin — Wikipédia
    https://fr.wikipedia.org/wiki/Suzanne_Labin

    Elle fait partie en juin 1950 de la délégation française qui prend part à Berlin-Ouest à la réunion inaugurale du Congrès pour la liberté de la culture, aux côtés notamment de Georges Altman, Henri Frenay, Claude Mauriac, André Philip, Jules Romains et David Rousset. Elle a voulu devenir la directrice de la revue française de cette association internationale anticommuniste, Preuves, mais d’autres étaient sur les rangs et elle n’y est pas parvenue, malgré l’appui de Koestler. Certains ont considéré qu’elle est stupide, tel François Bondy, ancien communiste révolutionnaire passé par la SFIO, directeur de la revue. Son anticommunisme virulent est trop tranché et ne correspond pas à l’approche modérée et intellectuelle des principaux animateurs français du Congrès. Raymond Aron, en août, estime qu’il est hors de question de faire appel à elle, ce qui met un point final à ses ambitions 18,19. Elle s’est éloignée progressivement de ce réseau1. Elle publie cependant des articles dans cette revue dans les années 195020 et fréquente les mardis de Preuves, les conférences-débats qui se tiennent dans les locaux de la revue à partir de 195221.

    Congress for Cultural Freedom - Wikipedia
    https://en.wikipedia.org/iki/Congress_for_Cultural_Freedom

    The Congress for Cultural Freedom (CCF) was an anti-communist advocacy group founded in 1950. At its height, the CCF was active in thirty-five countries. In 1966 it was revealed that the United States Central Intelligence Agency was instrumental in the establishment and funding of the group.

    Historian Frances Stonor Saunders writes (1999): “Whether they liked it or not, whether they knew it or not, there were few writers, poets, artists, historians, scientists, or critics in post29war Europe whose names were not in some way linked to this covert enterprise.”[3] A different slant on the origins and work of the Congress is offered by Peter Coleman in his Liberal Conspiracy (1989) where he talks about a struggle for the mind “of Postwar Europe” and the world at large.
    ...
    Activities, 1950–1966

    At its height, the CCF had offices in thirty-five countries, employed dozens of personnel, and published over twenty prestigious magazines. It held art exhibitions, owned a news and features service, organized high-profile international conferences, and rewarded musicians and artists with prizes and public performances.

    Between 1950 and 1966 the Congress sponsored numerous conferences. A selective list describes 16 conferences in the 1950s held principally in Western Europe but also in Rangoon, Mexico City, Tokyo, Ibadan (Nigeria) and South Vietnam: the Founding Conference in Berlin was followed in 1951 by the First Asian Conference on Cultural Freedom, held in Bombay. A further 21 conferences over an even wider geographical area are listed for the first half of the 1960s.

    In the early 1960s, the CCF mounted a campaign against the Chilean poet Pablo Neruda, an ardent communist. The campaign intensified when it appeared that Neruda was a candidate for the Nobel Prize in Literature in 1964 but he was also published in Mundo Nuevo, a CCF-sponsored periodical.
    ...
    Legacy

    In 1967, the organization was renamed the International Association for Cultural Freedom (IACF) and continued to exist with funding from the Ford Foundation. It inherited “the remaining magazines and national committees, the practice of international seminars, the regional programs, and the ideal of a worldwide community of intellectuals.” There was also, until 1970, “some continuity of personnel”.

    Under Shepard Stone and Pierre Emmanuel the dominant policy of the new Association shifted from positions held by its predecessor. No “public anti-Soviet protests” were issued, “not even in support of the harassed Solzhenitsyn and Sakharov”. The culmination of this approach was a vast seminar at Princeton on “The United States: Its Problems, Impact, and Image in the World” (December 1968) where unsuccessful attempts were made to engage with the New Left. From 1968 onwards national committees and magazines (see CCF/IACF Publications below) shut down one after another. In 1977 the Paris office closed and two years later the Association voted to dissolve itself.

    Certain of the publications that began as CCF-supported vehicles secured a readership and ongoing relevance that, with other sources of funding, enabled them to long outlast the parent organisation. Encounter continued publishing until 1991, as did Survey, while the Australian Quadrant and the China Quarterly survive to this day. While the revelation of CIA funding led to some resignations, notably that of Stephen Spender from Encounter, outside Europe the impact was more dramatic: in Uganda President Milton Obote had Rajat Neogy, the editor of the flourishing Transition magazine, arrested and imprisoned. After Neogy left Uganda in 1968 the magazine ceased to exist.

    The European Intellectual Mutual Aid Fund (Fondation pour une Entraide Intellectuelle Européenne) set up to support intellectuals in Central Europe, began life as an affiliate of the Congress for Cultural Freedom. In 1991 it merged with the Open Society Foundations, set up and supported by financier and philanthropist George Soros.

    The records of the International Association for Cultural Freedom and its predecessor the Congress for Cultural Freedom are today stored at the Library of the University of Chicago in its Special Collections Research Center.

    #Berlin #Steglitz #Schloßstraße #Titania-Palast #Politik #Geschichte #Antikommunismus #USA #Kalter_Krieg #CIA #Propaganda #Kultur

  • Gibt es ein portugiesisches Wunder? | Telepolis
    https://www.heise.de/tp/features/Gibt-es-ein-portugiesisches-Wunder-3988243.html

    Im Vergleich mit dem rechten Spanien zeigen sich die Erfolge der portugiesischen Linksregierung besonders deutlich

    Inzwischen spricht auch der deutsche Mainstream davon, dass sich Portugal unter der Linksregierung „vom Sorgenkind zum Paradebeispiel“ entwickelt hat. Das war lange anders, als das Land unter der neuen Regierung miesgemacht wurde, weil es sich von der Austeritätspolitik verabschiedete. Doch die portugiesische Wirtschaft verzeichnete im Jahr 2017 ein Wachstum von 2,7%, das ist das stärkste Wachstum des portugiesischen Bruttoinlandsprodukts (BIP) in diesem Jahrhundert. Das hat das portugiesische Statistikamt (INE) bestätigt.

    Aufschwung mit verstecktem Sparkurs - Portugals kleines Wirtschaftswunder
    https://www.deutschlandfunk.de/aufschwung-mit-verstecktem-sparkurs-portugals-kleines.724.de.html?dr

    Das Ende der Sparpolitik als Wahlkampfthema

    Für die Publizistin Clara Ferreira Alves gibt es einen Grund, warum es den Portugiesen jetzt wieder sehr viel besser geht: Das Land, so Alves, habe sich von der harten Sparpolitik befreit.

    „Für die Probleme in den südeuropäischen Ländern hat es seit 2011 nur einen Lösungsansatz gegeben: Eine Zwangs-Spar-Politik, die gleichzeitig als Bestrafung wahrgenommen wurde. Die Sparmaßnahmen haben in Portugal – wie auch in Griechenland und anderen Staaten – die ärmste Bevölkerungsschicht hart getroffen und gebrandmarkt. Mit schweren Konsequenzen: Vor allem die ewige Rede von der Sparpolitik – erniedrigte die ganze Wirtschaft, ließ den Konsum einbrechen und machte die Völker depressiv. Und ein depressives Volk ist weder produktiv noch wettbewerbsfähig.“

    Bei den Parlamentswahlen im Oktober 2015 stützten die Sozialisten, die damalige größte Oppositionspartei, ihren Wahlkampf deshalb auf ein ganz simples Motto: Das Ende der Sparpolitik. Dennoch fehlten der konservativen Regierung nur wenige Prozentpunkte zur Wiederwahl, weil die ersten Anzeichen des Wirtschaftsaufschwungs bereits zu spüren waren. Sozialistenchef António Costa griff tief in die Trickkiste der Demokratie, um schließlich doch Premierminister zu werden: Er formte eine Minderheitsregierung, gestützt auf drei kleinere, komplett regierungs-unerfahrene Linksparteien, die gegen den EU-Stabilitätspakt waren.

    Portugal ǀ „Die Austerität ist eine große Lüge“ — der Freitag
    https://www.freitag.de/autoren/der-freitag/die-austeritaet-ist-eine-grosse-luege

    der Freitag: Frau Martins, wie beurteilen Sie die Bilanz der letzten zwei Jahre?

    Catarina Martins: Wir haben den Menschen einen Teil ihrer krisenbedingt verlorenen Einkommen und Gehälter zurückgegeben, und gezeigt, dass es möglich ist, die Rechte der Menschen zu verteidigen, mehr Gerechtigkeit zu schaffen und zugleich die Wirtschaft anzukurbeln. Überall hieß es, die wirtschaftliche Situation Portugals würde ein Ende der Austerität nicht zulassen, aber das hat sich als falsch herausgestellt. Und das war ja von Anfang an die Position des Bloco de Esquerda: Die Inlandsnachfrage der Familien ist notwendig, damit die Wirtschaft sich erholen kann. Anhand der letzten Kerndaten stellen wir fest, dass genau das passiert ist.

    Was lief weniger gut?

    In vielen Bereichen ist es sehr schwierig, gegenüber der Vorgängerregierung einen echten Kurswechsel durchzusetzen. Das betrifft all jene Bereiche, in denen eine informelle große Koalition des Zentrums weiter das Sagen hat, dieselbe, die auch den Rest Europas beherrscht: eine Koalition aus Konservativen und Sozialdemokraten.

    Bloco de Esquerda – Wikipedia
    https://de.wikipedia.org/wiki/Bloco_de_Esquerda

    Der Bloco de Esquerda (BE) [’blɔku də ’(ɨ)ʃkerdɐ] Audio-Datei / Hörbeispiel anhören?/i, (portugiesisch: Linksblock) ist ein portugiesisches Parteienbündnis in Form einer politischen Partei.

    Portugal: Mit links aus der Krise | Blätter für deutsche und internationale Politik, November 2017
    https://www.blaetter.de/archiv/jahrgaenge/2017/november/portugal-mit-links-aus-der-krise

    Costa gewann also eine Atempause. Ihm wurde eine Chance zuteil, die Alexis Tsipras in Griechenland nie bekam. Dessen Syriza-Regierung hatte die Konfrontation gesucht und dafür keine Verbündeten gefunden. Am Ende wurde an ihr ein Exempel statuiert, bevor sie überhaupt zeigen konnte, ob ihr ökonomischer Ansatz Früchte getragen hätte. Den Beweis, dass eine andere Wirtschaftspolitik sehr wohl funktionieren kann, erbrachte wenig später der diplomatischere António Costa.

    Seine Regierung setzte von Beginn an darauf, die Wirtschaft durch eine steigende Binnennachfrage zu beleben. Dazu begann sie schrittweise, die Kürzungen ihrer Vorgänger zu revidieren, etwa bei Renten und Familienbeihilfen. Auch den Mindestlohn hob sie in zwei Schritten an, von 505 auf 557 Euro im Monat. Zudem wurde die Privatisierung öffentlicher Infrastruktur gestoppt. Außerdem soll der öffentliche Dienst zur 35-Stunden-Woche zurückkehren. Costa will keinen Unterbietungswettbewerb bei den Beschäftigungsbedingungen führen: „Die Idee, dass die Produktivität mit mehr Arbeitsstunden steigt, setzt einen falschen Anreiz. Stattdessen müssen wir den Wert unserer Güter und Dienstleistungen erhöhen.“[5]

    Das Ergebnis gibt ihm recht: Lag die Arbeitslosigkeit bei seinem Amtsantritt noch bei über 12 Prozent, so ist sie 2017 erstmals seit acht Jahren unter die 10-Prozent-Marke gefallen. Bis 2019 wird gar ein Rückgang auf 7 Prozent erwartet.[6] Die Wirtschaft ist um 2,5 Prozent gewachsen und damit stärker als der Eurozonendurchschnitt (1,9 Prozent). Zwar profitiert Portugal neben steigenden Exporten erheblich von einem Rekordzustrom an Touristen, die dem sicheren Reiseziel den Vorzug vor Nordafrika oder der Türkei geben. Entscheidend ist aber, dass die Regierung die Kaufkraft gestärkt und zudem den wichtigen Dienstleistungssektor entlastet hat, etwa durch einen reduzierten Mehrwertsteuersatz für Hotels und Gaststätten. Das und der langsam wiederkehrende Optimismus machen das Land attraktiver – zunehmend auch für ausländische Investoren.

    Inzwischen ist der Aufschwung so stabil, dass Unternehmerverband und Regierung gemeinsam um die Rückkehr junger, gut gebildeter Emigranten werben. In den Krisenjahren hatten rund 500 000 Menschen Portugal in Richtung europäisches Ausland oder portugiesischsprachiger Länder wie Angola und Brasilien verlassen. Bis zu 100 000 sollen nun zurückgewonnen werden.[7]

    Bei alldem hat die Regierung ein weiteres Ziel erreicht: Das Haushaltsdefizit erfüllt die Vorgaben der Eurozone. Mehr noch: 2016 war die Neuverschuldung mit 2,1 Prozent des Bruttoinlandsproduktes die niedrigste seit 42 Jahren, und dieses Jahr soll sie gar auf 1,5 Prozent sinken. Das Land ist einer nachhaltigen wirtschaftlichen Entwicklung deutlich nähergekommen und zerstreut Befürchtungen über ein zweites europäisches Kreditpaket. Die Regierung widerlegt zudem all jene Eurokritiker – auch im eigenen Land –, die eine soziale Politik innerhalb der Währungsunion für undenkbar halten.

    #Portugal #économie #gauche #politique #austérité #auf_deutsch

  • Börse ǀ Rasendes Roulette — der Freitag
    https://www.freitag.de/autoren/der-freitag/rasendes-roulette

    Nun vertreten die Hochfrequenzhändler selbst naturgemäß nicht den Standpunkt, dass sie extreme Preisstürze verstärken, sondern bestehen darauf, Volatilität zu entschärfen und bei Preisabstürzen sogar marktberuhigend zu wirken. Die Deutsche Bank widerspricht dem jedoch: In einer Studie aus dem Jahr 2016 heißt es, dass sich Hochfrequenzhändler „in volatilen Marktphasen häufig zurückziehen“ und damit für ein erhöhtes Risiko von „übermäßiger Volatilität (sorgen), wodurch Marktverwerfungen bis hin zu Flash-Events begünstigt werden könnten“. Für die Studien-Autoren ist klar, dass Hochfrequenzhändler „in Zeiten höherer Nervosität am Markt exzessive Preisbewegungen noch verstärken“.

    Theoretisch sind Preise ein wichtiger Indikator für den Gesundheitszustand der Finanzmärkte. In Zeiten des Hochfrequenzhandels, in denen sich Preise innerhalb von Millisekunden bilden, werden sie jedoch zu einer Erwartung ohne Bezug zu realen Werten degradiert: Eher sind es automatisierte Prognosen, wie eine Information oder Nachricht den Preis bewegen wird. Je heftiger die Nachricht, desto aggressiver werden die Positionen der Händler angepasst. Wenn jedoch Preise, von Aktien etwa, nicht länger mit den wirtschaftlichen Kennzahlen eines Unternehmens in Verbindung stehen, sondern lediglich eine Richtungserwartung darstellen, dann führt das dazu, dass Produktionsfaktoren wie Arbeit, Boden oder eben Kapital nicht mehr dorthin gelenkt werden, wo sie am dringendsten gebraucht werden.

    #capital #bourse #dérégulation

  • #unten ǀ Die App ist der Feind — der Freitag
    https://www.freitag.de/autoren/der-freitag/die-app-ist-der-feind

    #unten Der Kapitalismus bringt ständig neue Formen von Ausbeutung hervor – und erzwingt so immer neue Formen des Kampfes, Sebastian Friedrich, Ausgabe 45/2018

    Die neuen Hoffnungsträger für den Klassenkampf kommen auf zwei Rädern

    Wissenschaftler und Publizisten haben sich viel Mühe gegeben, die These zu untermauern, es gebe keine Klassen mehr. Die Bundesrepublik war noch keine fünf Jahre alt, die KPD noch nicht verboten, da sprach der Soziologe Helmut Schelsky von der „nivellierten Mittelstandsgesellschaft“: Die Unterschiede zwischen Unten und Oben würden sich zunehmend auflösen, so Schelsky. Das Bild der Mittelstandsgesellschaft erwies sich als erstaunlich resistent: Obwohl sich in den vergangenen Jahrzehnten die Schere zwischen Arm und Reich öffnete, fühlte sich ein überwiegender Teil der Mitte zugehörig.

    Doch dieses Bild bröckelt. Mittlerweile geht selbst Konservativen der Verweis, Klassen habe es nur zu Zeiten von Karl Marx gegeben, nicht mehr so leicht von den Lippen. Die Krise, die vor zehn Jahren begann, machte viele, vor allem junge Leute in Südeuropa, arbeitslos. Selbst in Deutschland kommen Millionen Menschen nicht mit einem Job über die Runden, sind Patchwork-Arbeiter. Gleichzeitig stiegen die Gehälter der Topmanager in astronomische Höhen.

    Auch viele Linke, die lange nichts von Klassen wissen wollten, haben die soziale Frage wiederentdeckt – aus einer Position der Schwäche heraus. Als immer deutlicher wurde, dass es rechten Parteien und Initiativen gelingt, Teile der Arbeiterklasse zu mobilisieren, wurde so manchen Sozialdemokraten wie auch so manchem radikalen Kritiker an der Universität gewahr, dass der Aufstieg der Rechten irgendetwas mit der Krise der Linken zu tun haben könnte.

    Kurz nachdem die AfD im März 2016 bei Landtagswahlen in Baden-Württemberg und Sachsen-Anhalt bei Arbeitern und Arbeitslosen stärkste Partei wurde, erschien die deutsche Übersetzung des Buches Rückkehr nach Reims von dem französischen Soziologen Didier Eribon. Das Buch war plötzlich überall: auf den Tischen in den Seminarräumen, neben dem Glas Latte Macchiato im Berliner Szenecafé und in den Reiserucksäcken deutscher Individualtouristen. Eribon beschrieb eindrucksvoll, wie sich die Linken von den Arbeiterinnen und Arbeitern abgewandt hatten. Während das Buch fleißig gelesen und diskutiert wurde, stimmte in Großbritannien eine Mehrheit für den Brexit. Ein paar Monate später wurde Donald Trump zum Präsidenten der USA gewählt.

    Bleib gesund, Crowdworker

    Aktuell droht die Linke, zerrieben zu werden: Es gibt keine linke Erzählung, kaum Verbindungen zum Alltagsleben breiter Teile der Bevölkerung, nur sehr wenig kollektive Erfahrung gemeinsamer erfolgreicher Kämpfe, geschweige denn eine Zukunftsvision, von einem realistischen Machtzugang einmal ganz abgesehen.

    Unter dem Begriff „Neue Klassenpolitik“ diskutieren Linke seitdem, wie feministische, antirassistische und internationalistische Perspektiven mit einer Klassenpolitik auf Höhe der Zeit verbunden werden können. Ausgangspunkt ist die Erkenntnis, dass die Trennung zwischen Klasse auf der einen Seite und Antirassismus und Feminismus auf der anderen Seite keinen Sinn ergibt. Die Zusammensetzung der Klassen ist seit jeher durch Geschlechterverhältnisse, rassistische Verhältnisse und die globale Ungleichheit strukturiert.

    Klassenpolitik ist im Grunde stets „neu“, denn Klassen sind nichts Statisches. Sie unterscheiden sich je nach Gesellschaftsformation, aber auch im Kapitalismus selbst – die kapitalistische Klassengesellschaft ist im Kern noch immer eine, auch wenn sie vor 100 Jahren anders aussah.

    Das Grundprinzip bleibt freilich gleich: Die Bourgeoisie, heute bizarrerweise Arbeitgeber genannt, besitzt die Produktionsmittel und schöpft Profite aus der Arbeit der von ihnen abhängig Beschäftigten – weshalb sie eigentlich die Arbeitnehmerseite ist. Ihr gegenüber steht die Klasse der Arbeiterinnen und Arbeiter im weiten Sinne. Sie haben keine Produktionsmittel und müssen sich beim Bourgeois verdingen. Die durch dieses Ausbeutungsverhältnis definierte Klasse der Lohnabhängigen ist sehr divers in ihrer Gestalt: hochqualifizierte Angestellte, ungelernte Hilfsarbeiter_innen, Reinigungskräfte, Fahrradkuriere – was die gemeinsamen Interessen überdeckt und eine Organisierung erschwert.

    In der Debatte um „Neue Klassenpolitik“ geht es darum, die Orte des Klassenkampfs zu finden. Dabei geht es nicht nur um Orte, an denen gekämpft wird, sondern auch um jene Orte, an denen die Klasse zusammenkommt, an denen sie sich mit neuen Formen der Produktion auseinandersetzen muss, wie die Arbeit technisch und von oben organisiert wird. Gleichzeitig nimmt die „Neue Klassenpolitik“ die Perspektive von unten ein, wie die Arbeiterklasse für ihre Interessen kämpft, an welchen Punkten sich Protest entwickelt – und die Vereinzelung überwunden werden kann.

    Kämpfe um bessere Arbeitsbedingungen gibt es nicht nur an den bekannten Orten der Klassenauseinandersetzungen: den Fabriken, sondern auch da, wo sich neue Formen der Beschäftigung entwickeln.

    Die Digitalisierung der Arbeitswelt hat nicht nur Roboter hervorgebracht. Es hat sich eine neue Gruppe innerhalb der Arbeiterklasse entwickelt: die Crowdworker. Crowdwork umfasst alle Dienstleistungen, die über Plattformen im Internet vermittelt werden. Das Prinzip: Crowdworker loggen sich über eine App ein und bearbeiten einzelne Aufträge. Eine Plattform dient als eine Zwischenstelle zwischen Auftraggeber und Auftragnehmer. Nach diesem Prinzip arbeiten weltweit im Netz Tausende Plattformen. Umsatz machen sie über die Vermittlung. Und das nicht zu knapp: Der Taxidienst Uber bekommt bis zu 20 Prozent des Honorars der jeweiligen Fahrt. Damit hat Uber im Jahr 2016 über 6,5 Milliarden Dollar umgesetzt.

    Arbeitsverträge gibt es für Crowdworker kaum noch. Crowdworker werden zu „Selbstständigen“, womit sie weniger Rechte haben, etwa auf Urlaub. Von Lohnfortzahlung im Krankheitsfall träumen viele nur. Hinzu kommt: Bei den meisten Jobs in der Plattformökonomie bezahlen die Firmen pro Gig. Der Begriff Gig bezeichnet in der Musikbranche einen einzelnen Auftritt. In der Welt der Plattformen ist ein Gig ein einzelner, meist kleinteiliger Auftrag. Dass Menschen nach kleineren Jobs bezahlt werden, ist kein neues Phänomen; neu aber ist, dass nun Plattformen damit Geld verdienen.

    Die Bezahlung nach Gig ist kein Novum im Kapitalismus. Marx kannte einen anderen Begriff: Stücklohn. Er nannte das Stücklohn-Prinzip einst die dem Kapitalismus entsprechendste Form der Entlohnung. In der Tat: Das Stücklohn-Prinzip ist vor allem für die Konzerne von Vorteil, denn dadurch können sie möglichst viel aus der Arbeitskraft herauspressen. Die britische Arbeitsforscherin Ursula Huws spricht mit Blick auf die weitgehend nicht regulierte Plattformökonomie von einer Wildwest-Phase des Kapitalismus, in der wir uns gegenwärtig befänden. Die Parallelen zur Zeit der Industrialisierung im 19. Jahrhundert sind unübersehbar: hohe Ausbeutung auf der einen Seite, kaum bis gar kein Schutz der Arbeitskraft auf der anderen Seite.

    Extreme Formen von Ausbeutung haben sich immer nur dann geändert, wenn es zu Klassenkämpfen kam. Die Arbeiterbewegung, die in der Phase der Industrialisierung entstand, erstritt mehr Sicherheit und höhere Löhne: der Acht-Stunden-Tag, die Einführung der Sozialversicherungen, Tarifverträge. Doch wer könnte heute diese Kämpfe führen? Durch die Zerstückelung der Arbeit und die hyperflexibilisierte und die stark individualisierte Arbeit ist kollektives Handeln kaum möglich.
    Hoffnung auf zwei Rädern

    Das gilt aber nicht unbedingt für alle Gruppen. Die Hoffnungsträger eines Klassenhandelns in der Plattformökonomie kommen auf zwei Rändern. Man sieht sie vor allem in größeren Städten: Fahrradkuriere, sogenannte Rider, mit großen und bunten Warmhalte-Boxen auf dem Rücken. Sie sind unterwegs, um den Kunden ihr online bestelltes Essen zu liefern. Erste Ansätze von Kämpfen sind erkennbar: Los ging es in London, als Kuriere des Online-Essenslieferdienstes Deliveroo gegen die Einführung eines Stücklohns streikten. Auch in Italien, Spanien und in den Niederlanden gab es ähnliche Streiks. In Deutschland ging es bisher vor allem in Köln heiß her. Renitente Rider gründeten bei Deliveroo einen Betriebsrat. Laut der Kuriere hat Deliveroo darauf reagiert, indem es die Verträge der Festangestellten nicht verlängert hat.

    Die Bedingungen für kollektives Handeln sind bei Fahrradkurieren besser als bei Clickworkern, die sich einsam an ihrem heimischen Laptop mühsam von Kleinstjob zu Kleinstjob hangeln. Die Rider erkennen sich gegenseitig an ihren Essensboxen auf dem Rücken und den Farben ihrer Shirts. Viele teilen einen Lifestyle – eine Rider-Kultur. Sie interessieren sich für ausgefallene Fahrradteile, tragen ähnliche Klamotten. Was für den Industriearbeiter in der Fabrik die Kantine war, das sind bei den Riders die Orte in der Stadt, wo sie auf neue Aufträge warten. Trafen sich früher die Arbeiter in der Eckkneipe, schrauben die Rider in der Werkstatt an ihren Rädern herum. Was einst das Treffen der kämpfenden Teile der Klasse war, ist heute die Facebook- oder Whatsapp-Gruppe.

    Und es gibt Ansätze, wie sich der Kampf von unten gegen die Kontrolle von oben wenden kann. Riders nutzten ihre App, um sich mit anderen Kurieren auszutauschen. Gleichzeitig ist die App mit ihrem erbarmungslosen Algorithmus für die Rider vor allem eines: ein Feind. Tatsächlich ist sie aber auch ein nützlicher, weil gemeinsamer Feind. So manchem Untergebenen mag es schwer fallen, den Kampf gegen einen permanent duzenden Chef zu führen. Gegen eine kalte App fällt das leichter.

    Diese Kämpfe sind Anfänge. Die Streiks im Care-Bereich, bei Amazon, bei Ryanair – sie alle zeigen nicht nur, dass sich etwas bewegt, sondern dass es sie gibt, die Klassen. Vereinzelung, Atomisierung, Prekarisierung – das sind Leitbegriffe unserer Zeit. Sie müssen es nicht bleiben.

    Sebastian Friedrich ist gemeinsam mit der Redaktion analyse & kritik Herausgeber des soeben im Verlag Bertz + Fischer erschienenen Buches Neue Klassenpolitik. Linke Strategien gegen Rechtsruck und Neoliberalismus. Es umfasst 220 Seiten und kostet 14 Euro

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