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  • Abgefüllt wie ein Köter
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    Wenn wir Sichuaner trinken, und wir trinken gerne, krakeelen wir plötzlich mutig herum, schimpfen auf die Regierung und sagen, was wir wirklich denken. Bestünde ganz China zu 70 Prozent aus Trinkern, hätten wir Demokratie im Land!
    Liao Yiwu

    #Chine #littérature #politique #wtf

  • Protest ǀ Goldesel — der Freitag
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    Protest Das Geschäft boomt, aber wenn es um das Verteilen des Profits geht, bleiben Fahrradkuriere außen vor. Nun starten sie den Arbeitskampf

    Rebekka Gottl | Ausgabe 08/2018

    Abgenutzte Reifen, gerissene Ketten, durchgesessene Sättel, vor dem Gebäude in der Oranienburger Straße hat sich ein beträchtlicher Haufen Schrott angesammelt. Immer mehr Menschen in rosa- und türkisfarbenen Jacken werfen verschlissene Fahrradteile dazu. „Lass mich dein Sklave sein“, schallt aus den Musikboxen der Refrain eines Ärzte-Songs. „Sie wissen überhaupt nicht, wie es ist, hier draußen zu sein“, empört sich Joe auf Englisch per Megafon. Er ist mit dem Fahrrad gekommen, mit dem er der Kundschaft Gerichte vom Restaurant zur Wohnungstür liefert und blickt wütend nach oben zum Delivery-Hero-Schriftzug. Etwa 40 Kuriere, die meisten zwischen 20 und 30 Jahre alt, haben sich hier vor der Berliner Zentrale des Lieferdienstnetzwerks versammelt, um gegen Lohn- und Arbeitsbedingungen beim Tochterunternehmen Foodora sowie des britischen Konkurrenten Deliveroo zu demonstrieren.

    Eine von ihnen ist Georgia Palmer. Die Pressesekretärin der FAU, der Freien Arbeiterinnen- und Arbeiter-Union, sitzt zwei Tage später in einem Café und zieht ein Resümee. Sie trägt feste Schuhe, einen Kapuzenpulli und wirkt, als könne sie wenig aus der Ruhe bringen. „Nach den gescheiterten Verhandlungen mit Foodora setzen wir den Arbeitskampf jetzt erst einmal mit Protesten und gewerkschaftlichen Aktionen fort, um konkrete Forderungen durchzusetzen“, sagt Palmer. Die 25-jährige Philosophiestudentin brauchte kurzfristig einen Minijob. Die Idee, für Foodora Essen vom Produzenten mit dem Rad zur Kundschaft zu liefern, kam durch eine Freundin. „Ökologisch gesehen ein super Konzept“, findet auch Geraldine, mit einem knapp dreijährigen Beschäftigungsverhältnis hält sie den berlinweiten Rekord. Viele werfen den Job nach einem Sommer hin. Im Winter gebe es keinen Raum zum Aufwärmen und Foodoras Arbeitsklamotten sind laut Palmer „von schlechter Qualität, oft nicht wasserdicht und hauptsächlich groß und pink und mit vielen Logos bedruckt“.

    Anders als die Arbeitskleidung werden die Fahrräder nicht von Foodora gestellt, sie müssen selbst angeschafft und instand gehalten werden. Zwar hat das Unternehmen tags zuvor per Pressemeldung verkündet, den Kurieren eine Gutschrift von 25 Cent pro gefahrener Stunde zu gewähren, die sie beim kooperierenden Fahrradservice LiveCycle einlösen können, zufriedenstellen ließen sich die Fahrer damit nicht. Angesichts eines Stundenlohns von neun Euro ist das zu wenig, um Reparaturkosten selbst zu tragen. „Im Büro muss ich mich auch nicht mit meinem Chef streiten, damit ich nicht meinen eigenen Bürostuhl mitbringen und selbst reparieren muss“, vergleicht Palmer. Foodoras Entgegenkommen liegt unter der geforderten Fahrtkostenpauschale von 35 Cent pro Kilometer.

    Mit Marx den Aufstieg von Trump & Co. verstehen: Nach Brexit, dem politischen Wandel in den USA und den Wahlerfolgen rechter Parteien fragt dieser Sammelband, wie weit das Bonapartismus-Konzept trägt, um die Wiederkehr von Autoritarismus und Nationalismus zu verstehen und diskutiert dies in historischer Rückschau...

    Unmut verbindet

    Die Übernahme der Reparaturkosten, eine Lohnerhöhung und eine effektivere Schichtplanung, das sind die Forderungen, die die FAU in den Verhandlungen mit Foodora geäußert hat. Unmut verbindet, er führte dazu, dass sich die Boten der beiden Lieferdienste über WhatsApp organisierten und austauschten. So wuchs die Gruppe derer, die ihre Arbeitserfahrungen und ihren Frust teilten. Die merkten, dass sie nicht alleine sind, sich nicht selbst optimieren müssen, sondern an ihren Arbeitsbedingungen ansetzen und mitbestimmen können. Die geringfügig Beschäftigten begannen, sich unabhängig von gewerkschaftlichen Strukturen solidarisch zusammenzuschließen. Die Kooperation mit der anarchosyndikalistischen, sprich selbstbestimmten, FAU sei ein „organischer Übergang“. Nötig, um auf eine kollektive Interessenvertretung zurückgreifen zu können. „In einer Basisgewerkschaft wie der FAU haben die Arbeiterinnen selbst in der Hand, was wie umgesetzt wird“, erklärt Palmer. Je weniger Vermittlungsebenen es gebe, desto flexibler könne reagiert werden. Ein Ansatz, der in der Gig-Economy effektiv ist. „Firmen wie Foodora, Deliveroo oder Amazon nutzen neue Technologien, um eigentlich ganz alte, ausbeuterische Arbeitsbedingungen wieder einzuführen.“ Palmer spielt auf die Digitalisierung des Arbeitsablaufs an. Mit dem Piepen des Handys wird den Boten die Adresse des Restaurants mitgeteilt, die des Kunden wird erst nach Übergabe des Essens sichtbar. Das Abarbeiten der von der App vorgegebenen Aufträge strukturiert den Ablauf, macht ihn berechenbar und durch die Datenspeicherung jederzeit nachverfolgbar. „Maschinell“ sei das, sagen die Kuriere. In die Datenverwertung haben sie keinen Einblick. Die daraus resultierenden Statistiken würden, insbesondere bei Deliveroo, das Gehalt beeinflussen und als Druckmittel verwendet. „Das Unternehmensrisiko wird auf die selbstständigen Arbeiterinnen verlagert, diese werden aber durch die App wie Angestellte des Unternehmens kontrolliert. Ein extrem problematisches, perfides Doppelspiel“, sagt Palmer.

    Warum tragen Joe, Geraldine, Georgia und viele andere Kuriere, die um den aufgehäuften Fahrradschrott stehen, Jacken und Thermoboxen mit Firmenlogo, auf ein Piepsen des Handys und damit den nächsten Auftrag wartend? Bei einem Arbeitsmodell, in dem alles auf Unabhängigkeit ausgelegt sei, sollte es doch einfach sein, dem Unternehmen den Rücken zu kehren. Das hört man oft, wenn es um Jobs in der Start-up-Branche geht. Vergessen wird dabei die Tatsache, dass etliche Boten auf diese Arbeit angewiesen sind. „Viele sind noch nicht lange in Deutschland, beherrschen die Sprache noch nicht so gut und sind von diesem Job abhängig.“ Arbeitnehmer, die ihre Rechte nicht kennen, sind dabei kein Einzelfall. Zudem würden sich einige so weit mit dem Konzept des Unternehmens identifizieren, dass sie einen Misserfolg des Unternehmens als eigenen Tiefschlag empfänden. „Klassenkampf von oben, geschickt verpackt“, bezeichnet Palmer Foodoras Strategie. Es sei auch keine Lösung, von Job zu Job zu gehen, fügt sie hinzu im Hinblick auf jene, die auf Mini- oder Midijob-Basis angestellt sind und sich nach kurzer Zeit nach etwas Neuem umsehen.

    Sie selbst will bald zwar nicht mehr aufs Rad steigen und sich die Thermobox auf den Rücken schnallen, bei der internationalen Kampagne #deliverunion möchte sie aber weiter mitwirken. Geld bringt ihr das Engagement nicht, ihr Einkommen von Foodora würde wegfallen.

    Zurück zur Festanstellung?

    Die FAU-Flaggen wehen nicht nur auf Demos der Deliverunion-Kampagne, sondern auch bei Kundgebungen unter dem Motto #makeamazonpay. Diese Protestform gegen Amazon ist ein weiteres Beispiel dafür, wie sich Arbeiter verbünden, um gegen niedrige Löhne, algorithmusgesteuerte Abläufe und permanente digitale Überwachung zu kämpfen. Obwohl sich die Amazon-Mitarbeiter und die Fahrradkuriere mit ihren Forderungen auf das jeweilige Unternehmen beschränken, ziehen sie an einem Strang. „Wir machen keine Branchentarifpolitik“, so Palmer. „Wir arbeiten lokal, solidarisieren uns aber gegenseitig mit Arbeitnehmerinnen in ähnlichen Situationen und unterstützen uns über Städte- und Ländergrenzen hinweg.“ Sich austauschen, nicht gegeneinander ausspielen lassen, parallel streiken. Nicht ohne Stolz sagt sie das. „Sie wollen nicht, dass wir zusammenarbeiten. Dass wir uns gegenseitig helfen“, ruft Joe ins Megafon. Das „befreiende Moment, sich zusammenzutun, um aus der Abhängigkeit und Ohnmacht herauszukommen“, motiviere dazu, sich für die Idee eines Tarifvertrags starkzumachen.

    Zurück zur Festanstellung, geregeltem Lohn und festen Arbeitszeiten? Nein, lautet Georgia Palmers Antwort. „40-Stunden-Woche-Lohnsklaverei“ sei kein Konzept, zu dem sie zurückwolle. Die versprochene Selbstbestimmung, die mit flexiblen Arbeitsverträgen einhergehen müsste, solle eingefordert werden, um Entscheidungen im Kollektiv zu treffen und die eingefahrenen Profite gleich zu verteilen.

    Fahrwerk, ein Fahrradkurierkollektiv aus Berlin, operiert nach diesen Kriterien. 2009 gegründet, „um sich selbst bessere Arbeitsbedingungen zu schaffen“, transportiert man Sendungen nach dem Credo „Schneller. Umweltfreundlich. Selbst organisiert“. Die Open-Source-App CoopCycle aus Frankreich könnte bald die Plattform liefern. Funktionieren soll sie wie die Software von Gig-Economy-Plattformen. Mit einer gegensätzlichen Strategie, Kollektive werden ermutigt, sich zusammenzuschließen, um sich mithilfe der durch Nutzungsbeiträge finanzierten App zu organisieren. Eine Idee, die wegführt vom Profitdenken. Ein utopischer Gedanke? Vielleicht. Zur Zeit wird mit den verschiedensten Arbeitsformen experimentiert, es wäre reine Stagnation, dieser kollektiven Form selbstbestimmter Arbeit nicht wenigstens eine Chance zu geben.

    Für die hungrigen Kunden ändert sich dadurch nicht viel. Außer das schlechte Gewissen, das einen bei dem Gedanken quälen mag, der schlecht bezahlte Bote rast durch die Stadt, um das bestellte Essen noch dampfend an der eigenen Wohnungstür abzuliefern.

    #Berlin #Gewerkschaft #Arbeitskampf #Disruption #Ausbeutung #Fahrrad

  • Interview ǀ „Für uns geht es gerade um alles“ — der Freitag
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    Francesca Bria ist Sozialwissenschaftlerin und Expertin für Technologiepolitik. Seit 2016 arbeitet sie als Kommissarin für Technologie und Innovation für die Stadtregierung von Barcelona. Außerdem berät Bria die EU-Kommission in Smart-City-Angelegenheiten
    Worin unterscheidet sich Ihr Smart-City-Konzept davon?

    Unsere Smart City ist nicht technologiegetrieben. Wir fragen: Wie sieht eine lebenswerte Stadt aus? Und: Wie können die Menschen selbst darüber bestimmen, wie sie leben wollen? Technologie ist nur dazu da, das zu unterstützen.

    Wo setzen Sie Technologie ein, wo das vorher nicht der Fall war?

    Eins unserer wichtigsten Projekte dreht sich um Partizipation. Wir haben jetzt ein Amt, das sich nur um Bürgerbeteiligung und Bürgerrechte kümmert. Da sitzen Menschen aus allen Abteilungen, die zum ersten Mal zusammenarbeiten. Manche machen Sozialpolitik, andere haben vorher eher auf kommunaler Ebene gearbeitet, dann gibt es Vertreter der einzelnen Nachbarschaften und Stadtinitiativen und natürlich Programmierer. Mittlerweile gibt es eine Open-Source-Plattform, auf der Anträge eingereicht und bewertet werden können. Gleichzeitig finden in den Nachbarschaften Versammlungen statt, bei denen auch über Anträge beraten und abgestimmt werden kann. Offline und online, das geht bei uns Hand in Hand. 70 Prozent der Anträge, die von Bürgern gestellt wurden, sind heute Teil unseres Regierungsprogramms, 40.000 Bürger haben sich daran aktiv beteiligt.

    #Smart-City

  • Privatisierung ǀ Feudalismus 4.0 — der Freitag
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    Was Google, Amazon und Co. mit der Finanzkrise zu tun haben und warum uns die Digitalisierung nicht in ein postkapitalistisches Paradies führen wird Evgeny Morozov | Ausgabe 49/2017 2

    Der Aufstieg von „Big Tech“ – also der Erfolg datenintensiver Plattformunternehmen meist mit Sitz in Nordamerika, zunehmend auch in China – hat zu einem interessanten Zeitpunkt stattgefunden. Die meisten Beobachter haben nicht bemerkt, dass sich der kometenhafte Aufstieg dieser Konzerne zumindest zeitweilig mit der beginnenden, immer noch nicht abgeschlossenen Erholung von der globalen Finanzkrise überschnitt.

    Das dürfte kaum Zufall sein. Der Aufstieg von Big Tech liegt tatsächlich zum Teil in der Tatsache begründet, dass viele dieser Plattformen all jenen, die unter der Krise zu leiden haben – ob Institutionen oder einzelnen Bürgern –, dabei geholfen haben, ihre Haushalte beziehungsweise Einkommen um neue Einnahmequellen zu ergänzen und ihre Ausgaben radikal zu senken. Zugleich ist die Expansion von Big Tech von den wachsenden Hoffnungen der globalen Eliten darauf befeuert worden, dass der Technologiesektor die Weltwirtschaft nicht nur aus der Krise führen, sondern auch einen reibungslosen Übergang zu einem ganz anderen Wirtschaftsmodell erlauben wird, das ohne die parasitären, rentieristischen Aspekte auskommt, die wir heute beobachten. Der Aufstieg von Big Tech wird also nicht als Symptom der globalen Wirtschaftskrise, einer laxeren Kartellgesetzgebung oder der Privatisierung von staatlichen Aufgaben betrachtet, sondern in erster Linie als Lösung für all diese Probleme angesehen. Den ambitioniertesten Visionen zufolge soll er sogar zur Herstellung eines neuen politischen und wirtschaftlichen Status quo, einer Art neuem New Deal führen.

    Solche tiefverwurzelten Hoffnungen auf eine strukturell transformative digitale Revolution werden quer über das politische Spektrum hinweg gehegt. Da gibt es auf der Linken jene, die, wie der britische Journalist Paul Mason, der Meinung sind, dass die Digitalisierung bei den Bürgern nicht nur eine neue Art von politischer und kosmopolitischer Identität stiften, sondern zudem dabei helfen könnte, neue Formen flexibler, dezentraler ökonomischer Modelle zu propagieren, und es somit einem nicht näher spezifizierten künftigen sozialistischen Regime erlauben, den Fallstricken der Planwirtschaft zu entgehen. Dann sind da jene in der politischen Mitte – einem Segment, dem viele Umweltgruppen zuzurechnen sind –, die, wie der US-Soziologe und -Ökonom Jeremy Rifkin, der Meinung sind, dass durch das Internet der Dinge Waren und Dienstleistungen entstehen werden, deren Grenzkosten null betragen, wodurch sich die ökonomischen Grundlagen des Handels und des Vertragswesens fundamental verändern und uns in eine Zukunft führen werden, die dezentraler, humaner und umweltfreundlicher gestaltet sein wird. Und schließlich gibt es jene auf der postpolitischen libertären Rechten, die wie Google-Chefingenieur Ray Kurzweil glauben, dass digitale Technologien viele stagnierende Wirtschaftsbereiche, vom Bildungs- bis zum Gesundheitswesen, beeinflussen und dabei nicht nur neue Geschäftsmodelle schaffen, sondern zugleich auch die alten Institutionen wie den Wohlfahrtsstaat neu definieren werden.

    Privatisierte Wohlfahrt

    Ich werde hier die These vertreten, dass es zum einen zwar richtig ist, dass der Aufstieg von Big Tech die Weltwirtschaft in Gang gehalten hat, ohne systemübergreifende politische Veränderungen zu provozieren, es zum anderen aber auf lange Sicht viel wahrscheinlicher ist, dass der Erfolg der Technologieunternehmen die Widersprüche des bestehenden Systems einfach multiplizieren und viele seiner Elemente, Beziehungsformen und Praktiken noch stärker hierarchisieren und zentralisieren wird. Darüber hinaus behaupte ich, dass die Erwartung, aus einer durch und durch vernetzten und von riesigen Datenmengen gestützten Wirtschaftsweise werde eine andere ökonomische Logik hervorgehen, zwar nicht abwegig ist, dass es aber gute Gründe für die Annahme gibt, die systemische Transformation werde zu einem System führen, das zwar nicht unbedingt der Logik der Kapitalakkumulation unterliegen muss, aber ebenso wenig notwendigerweise in die Richtung eines postkapitalistischen egalitären Nirwanas tendieren muss.

    Die rasante Aufstieg digitaler Plattformen hat einen weithin unsichtbaren privatisierten Parallelwohlfahrtsstaat hervorgebracht, durch den viele unserer alltäglichen Aktivitäten entweder von Big-Tech-Unternehmen (die an unseren Daten interessiert sind) massiv finanziell subventioniert oder, wie im Falle kleinerer Firmen und Start-ups, durch Risikokapitalanleger abgesichert werden, die darauf hoffen, dass sie sich mit kurzfristigen Verlusten langfristige Vorherrschaft erkaufen können. Das Beispiel Uber mit seinen bekannt günstigen Preisen ist hier einschlägig: Die von den Fahrgästen an das Unternehmen entrichteten Gebühren sind oft so niedrig, dass sie allein nicht ausreichen würden, um den Service weiter anzubieten. Ubers Investoren, von der saudischen Regierung bis zu Goldman Sachs, gleichen die Verluste aus.

    Hier wird deutlich, dass der Zusammenhang des Aufstiegs von Big-Tech-Plattformen mit der globalen Finanzkrise weder selbstverständlich ist noch unmittelbar besteht: Die anhaltende Krise vergrößert nicht nur die Nachfrage nach billigeren Dienstleistungen sowie nach Verdienstmöglichkeiten (unter welch prekären Arbeitsbedingungen auch immer), sondern sorgt darüber hinaus, vor allem aufgrund niedriger Renditen in den traditionellen Anlagebereichen von Investoren (etwa bei Dividenden und Staatsanleihen), für eine Umschichtung großer Mengen globalen Kapitals in den Händen von Staatsfonds und institutionellen Anlegern, die auf der Suche nach besser verzinslichen Investitionen ihr Geld in vielversprechende Technologieplattformen stecken.

    Eine unangenehme und von den meisten Fürsprechern der digitalen Wirtschaft kaum jemals erwähnte Tatsache ist die, dass der Markt trotz der Fülle an Start-ups und der massiven Unterstützung, die sie von Risikokapitalgebern erhalten, unter fünf großen Konzernen – Apple, Google, Facebook, Microsoft und Amazon – aufgeteilt ist und viele Start-ups über genau ein Geschäftsmodell verfügen: nämlich von einem dieser Konzerne aufgekauft zu werden. Die Start-ups müssen sich also nicht sonderlich intensiv mit ihrer Umsatzgenerierung und Rentabilität beschäftigen; es ist völlig ausreichend, wenn sie ihre Dienstleistungen so konzipieren, dass sie auf einer Linie mit den Expansionsstrategien von Akteuren wie Google oder Facebook liegen, die nach der Übernahme eines Start-ups und der von ihm gewonnenen Daten dann schon eine Möglichkeit finden werden, es in ihre riesigen Datenimperien zu integrieren. Facebooks Übernahme von Whatsapp, das zum Zeitpunkt seiner Veräußerung gerade einmal ein paar Dutzend Leute beschäftigte, ist die Messlatte für solche Geschäfte.

    Viele Risikokapitalgeber würden es paradoxerweise lieber sehen, wenn Start-ups nun das Gegenteil ihres Geschäftsmodells verfolgen würden. Die Idee, dass die von diesen Start-ups angebotenen Dienstleistungen kostenpflichtig sein und wie jedes andere normale Geschäft auch behandelt werden sollten, findet ihre technische Entsprechung in der umfassenden und sich rasch erweiternden Sensoren- und Zahlungsinfrastruktur, die hinter dem Internet der Dinge und der Smart City steht. Diese erlaubt es, sowohl die Nutzer als auch die Nutzung bestimmter Dienstleistungen und Infrastrukturen zu identifizieren und den Nutzern entsprechend in Rechnung zu stellen. Es ist gut möglich, dass das „Freemium“-Modell eigentlich nur ein vorübergehendes, sehr frühes Stadium der digitalen Transformation markierte. Schließlich entspricht eine Ökonomie ubiquitärer Gebührenerhebung, die sich nach der Dauer der tatsächlichen Nutzung sowie den aktuellen Marktpreisen für die Nutzung des Guts richtet, weitaus eher vielen anderen Entwicklungen im Finanzkapitalismus der Gegenwart.

    Millionen benutzte Nutzer

    Was aber ist mit Google, Facebook und dem Rest? Diese werden ihre bestehenden Geschäftsmodelle gewiss nicht aufgeben. Sollte man daher zu Recht annehmen, dass das Zeitalter der „Gratiskultur“ mit seinen zahlreichen Vorzügen – die Alphabet-Chefökonom Hal Varian so zusammenfasst, dass sie den Armen, vermittelt durch die Technik, das zur Verfügung stellt, in dessen Genuss die Ober- und Mittelklasse lange Zeit auf andere Weise gekommen ist – noch eine Weile andauern wird?

    Hier ist Skepsis angebracht. Erstens sind die kostenlosen Vorzüge, die manche irrigerweise für eine neue Art von Sozialleistungen halten, aufs Engste mit einem sehr spezifischen Geschäftsmodell der Big Five verknüpft. Im Falle von Alphabet und Facebook besteht es darin, Werbemöglichkeiten zu verkaufen, bei Microsoft und Amazon im Verkauf von Software, Hardware oder anderen Gütern; bei Amazon besteht die Wohlfahrtsleistung in der Bereitstellung nicht so sehr kostenloser, sondern verbilligter Dienste: Durch seine Größe ist es in der Lage, Produkte zu viel günstigeren Preisen als seine Konkurrenten anzubieten, ganz so, wie Walmart es vorgemacht hat.

    Diese bisherigen Geschäftsmodelle gibt es noch immer, und sie werden aller Voraussicht nach noch eine Weile existieren. Dennoch bestreitet kaum jemand die grundlegenden Veränderungen, zu denen es im vergangenen Jahrzehnt dank der beeindruckenden Fortschritte auf einem speziellen Gebiet der künstlichen Intelligenz gekommen ist: beim Maschinenlernen. Große Technologiefirmen haben es erstens vermocht, Möglichkeiten zur Extraktion großer Datenmengen zu entwickeln, die häufig aus Aktivitäten stammen, die ihre ursprünglichen Geschäftsfelder nur am Rande berührten, und zweitens Millionen Nutzer ohne deren Wissen dafür eingespannt, ihre Systeme darauf zu trainieren, smarter und autonomer zu werden. Alphabets selbstfahrendes Auto ist dafür ein gutes Beispiel: Dank der Fortschritte in der Mapping-Technologie und der Verfügbarkeit äußerst detaillierter Informationen über geografische Orte können die Autos leicht ihren eigenen Standort ermitteln und etwa Routen berechnen. Aufgrund der Fähigkeit, Objekte zu erkennen – die sich die Software von Alphabet aneignen konnte, weil zahlreiche Nutzer ihr halfen, etwa Katzen und Hunde zu unterscheiden –, kann ein Auto mittlerweile angemessen reagieren, wenn es bestimmten Gegenständen begegnet.

    Amazon, Facebook und Microsoft, ganz zu schweigen von Alphabet, haben alle in Entwicklungen auf diesem Gebiet investiert und selbst nennenswerte hervorgebracht. Die Anwendungen solcher Technologien sind alles andere als trivial, wie etwa die Kooperation von Alphabet mit dem britischen National Health Service belegt: Dank seiner KI-Technologie, die durch den Erwerb von Deepmind noch einen weiteren Entwicklungsschub erfahren hat, kann Software von Alphabet beispielsweise frühzeitig Nierenerkrankungen erkennen. Und mit je mehr Daten sie gefüttert wird, desto besser sind diese Prognosen. Von der Bildung bis zum Versicherungswesen, vom Energie- bis zum Bankensektor: Ganze Industrien und Sozialbereiche werden von der künstlichen Intelligenz transformiert. Und da die jüngsten Durchbrüche in der KI-Forschung zum einen von riesigen Mengen extrahierter Daten und zum anderen durch Millionen Nutzer verursacht worden sind, die das System im Zuge der Verrichtung anderer Aktivitäten gelehrt haben, smarter zu werden, wird offensichtlich, dass die einzigen Akteure, die die Steuerung solcher Transformationen bewältigen können, die Big-Tech-Unternehmen sind. Das neue Modell ist klar: Diese Unternehmen eignen sich die aktuell wertvollste Ressource beziehungsweise die wertvollste Dienstleistung – die künstliche Intelligenz – an, während die übrige Gesellschaft und die Wirtschaft Wege finden müssen, um diese Technologie in ihre Aktivitäten zu integrieren und sämtliche Bedingungen zu erfüllen, die die Unternehmen stellen, auf die sie angewiesen sind.

    Für einen Konzern wie Alphabet eröffnen sich damit neue Geschäftsmodelle. Die Aussage, Alphabet sei im Suchmaschinen- oder Werbegeschäft tätig, ist daher nicht ganz korrekt. In Wirklichkeit ist es auf dem Sektor der Informationsprognose aktiv – und verfügt über viele weitere Möglichkeiten, sich bezahlen zu lassen, die nichts mit Werbung zu tun haben und keine Suchbegriffe benötigen, um herauszufinden, worin unser jeweiliges Informationsbedürfnis besteht. Die Wahrheit ist, dass Alphabet so viele Daten über uns gesammelt hat, dass der Konzern zu jedem beliebigen Zeitpunkt weiß, welche Informationen wir gerade benötigen. Es ist die Fähigkeit des Konzerns, diese Informationen durch die Verwendung von KI zu nutzen, welche es zum nahezu unangefochtenen Vorreiter in diesem Bereich macht.

    Ende der Gratiskultur

    Im Falle sich verschärfender rechtlicher Rahmenbedingungen etwa durch die EU-Kommission, eines schrumpfenden weltweiten Werbemarktes oder der Erfindung eines Werbeblockers, den Alphabet nicht sperren könnte, verfügt das Unternehmen noch immer über ein robustes alternatives Geschäftsmodell, das darin besteht, Bürgern und Regierungen KI-Dienstleistungen zu verkaufen. Sollte ein solcher Kipp-Punkt erreicht werden, dann stünde Alphabet tatsächlich den Geschäftsmodellen der jüngsten Generation von Start-ups viel näher, die keine kostenlosen Dienste mehr anbieten, sondern ihre Kunden einfach für deren Nutzung bezahlen lassen wollen, ob pauschal oder mengenabhängig. Das ist zumindest das Geschäftsmodell von Amazons nach Gewinnanteilen betrachtet lukrativster Sparte, dem Tochterunternehmen Amazon Web Services; dieses lässt sich von dritten Unternehmen für die Bereitstellung von KI-basierten Diensten wie Objekt- oder Stimmerkennung bezahlen.

    In einem bestimmten Sinne kann man natürlich an der Illusion festhalten, dass die auf Regierungen zugeschnittenen Dienstleistungen von Alphabet selbst dann, wenn ein Übergang zum KI-zentrierten Geschäftsmodell tatsächlich stattfindet, immer noch kostenlos bleiben und damit eine Fortsetzung des privatisierten digitalen Wohlfahrtsmodells darstellen würden. Dies wäre aber selbstverständlich eine Täuschung: Denn während die Patienten vielleicht noch nicht dazu bereit waren, etwas dafür zu bezahlen, dass sie von der Früherkennung von Nierenerkrankungen profitieren, die Alphabet dem Gesundheitssystem ihres Landes zur Verfügung gestellt hat, werden sie als Steuerzahler doch mit Sicherheit für einige dieser Dienstleistungen aufkommen müssen, da Alphabet diese nicht aus Gründen der Mildtätigkeit anbietet, jedenfalls nicht für alle. Eine solche Privatisierung des Gesundheitssystems liegt genau auf der Linie des generellen Trends zur Privatisierung und zur Ausweitung der Tätigkeiten von Unternehmen im Bereich der Daseinsvorsorge, der in mehreren entwickelten Volkswirtschaften zu beobachten ist.

    Natürlich haben wir es hier mit einer Transformation in einem allgemeineren Sinne zu tun: Mit der Konzentration von künstlicher Intelligenz – einer Vermittlungsinstanz, die künftig wohl sämtliche Bereiche des Lebens und Regierens durchdringen wird – in den Händen einiger weniger privater Firmen dürften wir auch zu Zeugen eines enormen Verlusts von Verantwortung für und zivilgesellschaftlicher Kontrolle über wesentliche Teile der Gesellschaft werden. Die Big-Tech-Unternehmen befinden sich in einer äußerst beneidenswerten Lage: Sie haben fast 20 Jahre lang auf die unverschämteste Art und Weise Datenextraktivismus betrieben und sind jetzt an einem kritischen Punkt angelangt, an dem einige Akteure, darunter auch Regierungsinstitutionen, ihnen einigermaßen Konkurrenz machen könnten. Gleichzeitig haben sie es vermocht, viele staatliche Subventionen und militärische Forschungsmittel vom Pentagon und von diesem nahestehenden Institutionen einzuwerben, um ihre Fähigkeiten noch weiter zu entwickeln. Jetzt werden sie dazu übergehen, Regierungen und Steuerzahlern Produkte zu verkaufen, die mit ebenjenen Subventionen finanziert worden sind – und das zu exorbitanten Preisen! Das dürfte wohl kaum irgendeine Art von Übergang zum Postkapitalismus markieren.

    Soziale Hackordnung bleibt

    Die implizite Annahme, die vielen gegenwärtigen Auffassungen von der digitalen Transformation zugrunde liegt, lautet, dass jede Abweichung vom aktuellen kapitalistischen Modell auch ein Schritt hin zu einem besseren, progressiveren und faireren System sein muss. Diese Annahme scheint jedoch ungerechtfertigt zu sein. Zwischen der Ausbreitung von vernetzten und digitalen Technologien auf der einen und der Stärkung neuer und alter Hierarchieformen (auch solchen sozialer Natur) auf der anderen Seite besteht offenbar kein inhärenter Widerspruch. Selbstverständlich kann man der Meinung sein, dass eine Plattform wie Airbnb irgendwie die Macht der Immobilieninvestoren brechen und für die einfachen Hausbesitzer von Vorteil sein wird, die nicht denselben Zugang zu finanziellen Mitteln haben wie jene. Doch während dies vielleicht am Anfang so gewesen sein mag, hat sich die Immobilienbranche bei der Nutzung von Plattformen wie Airbnb zur Stärkung und sogar weiteren Expansion ihres Einflusses auf dem Immobilienmarkt als sehr findig erwiesen; Airbnb selbst hat diese Entwicklung begrüßt und individuelle Deals mit Großinvestoren ausgehandelt.

    Ähnliche Fälle lassen sich überall finden; selbst das paradigmatische Beispiel der „Empfehlungsökonomie“, durch die unser Platz in der Hackordnung der vernetzten Gesellschaft von unserem sozialen Kapital, der Stärke unserer Vertrauensnetzwerke, unserer Ehrlichkeit und weiteren Eigenschaften abhängig gemacht wird, geht von der Voraussetzung aus, dass Kategorien wie „Klasse“ obsolet geworden sind und daher in der Rangordnung der „Empfehlungsökonomie“ nicht auftauchen werden. Geht man allerdings weiter davon aus, dass unter ansonsten gleichen Umständen die Klassenzugehörigkeit die eigene Stellung in der Gesellschaft eben doch beeinflusst, dann wird man kaum um die Schlussfolgerung herumkommen, dass die „Empfehlungsökonomie“ einfach nur eine clevere Methode ist, um bestehende soziale Hierarchien und Ungleichheiten zu perpetuieren und vielleicht sogar zu verstärken, obgleich sie selbst diese Unterschiede als rein natürlichen – und daher völlig gerechtfertigten – Ausdruck unserer Stellung in der Gesellschaft insgesamt ausgibt, die vermeintlich von unseren Fähigkeiten oder etwa unserer Ehrlichkeit abhängig ist.

    Dank eines ausgefeilten Instrumentariums zur Sammlung von Daten in Echtzeit – ein Vorgang, der heute schon beginnt, wenn die Nutzer noch im Kindergartenalter sind – verfügt der gegenwärtige digitale Kapitalismus über die perfekten Mittel, um Wetten auf das „Humankapital“ – Menschen – abzuschließen und seine vielversprechendsten Vermögensgegenstände von denen zu separieren, die hinter den Erwartungen zurückbleiben und die eigentlich gar nichts verdienen und dem System letztlich zur Last fallen. Aus Sicht des digitalen Kapitalismus kann die Wissensökonomie eine wunderbare Sache sein – nur dass es heute eben viel zu viele unproduktive Menschen gibt, als dass diese Ökonomie wirklich ihr volles Potenzial entfalten und zu nachhaltigem Wohlstand führen könnte. Und die Krise des Kapitalismus insgesamt – ob man sie nun als „säkulare Stagnation“ oder als eine noch fundamentalere strukturelle und vielleicht tödliche Fehlfunktion kategorisiert – wirkt nicht gerade vertrauensbildend. Der Geist des Egalitarismus stellt, insofern er den sozialdemokratischen Kompromiss des Wohlfahrtsstaats mit seinen Grundbausteinen Solidarität, Anonymität und Fairness belebt, ein Hindernis für jene Art der sozialen Sortierung dar, die stattfinden muss, bevor die Wissensökonomie von den humanistischen Ketten befreit werden kann, von denen sie seit Anbeginn gefesselt war.

    Natürlich: Das 20. Jahrhundert mit all seinem Grauen haben wir längst hinter uns gelassen, so dass kein Weg mehr zu den alten, brutalen Methoden zurückführt, mit denen einer Gesellschaft ihr egalitärer Geist zugunsten neuer Hierarchien ausgetrieben werden kann. Die Konturen des neuen Gesellschaftsvertrags sind zwar noch nicht vollständig auszumachen, aber man kann bereits darüber spekulieren, was er umfassen wird.

    Zunächst ist hierzu zu sagen, dass man heute, anders als in den 1930ern, als keynesianische Maßnahmen zur Förderung von Vollbeschäftigung breite Unterstützung in den wichtigen politischen Lagern gefunden haben, realistischerweise nicht mehr von einer Rückkehr der Vollbeschäftigung ausgehen kann. Der progressivste Industriezweig – nämlich Big Tech – scheint dies bereits verstanden zu haben, was erklärt, warum viele prominente Investoren in diesem Bereich zu lautstarken Verfechtern der Idee des bedingungslosen Grundeinkommens geworden sind. Dass die Konzerne aus Silicon Valley diese Idee unterstützen, dürfte auf der Hand liegen: Schließlich beherrschen sie kaum etwas so gut, wie die eigene Steuerlast zu minimieren, so dass sie mit größer Wahrscheinlichkeit nicht viel zur Finanzierung solcher Sozialprogramme beitragen würden.

    Dass das Silicon Valley das bedingungslose Grundeinkommen befürwortet, ist auch ein Indiz dafür, dass eine der bereits genannten Thesen dieses Essays korrekt ist: Die gesamte Technologieindustrie schwenkt von einer auf kostenlosen und massiv subventionierten Gütern und Dienstleistungen basierenden Wirtschaftsweise zu einem neuen Geschäftsmodell um, bei dem jedes Gut und jede Dienstleistung komplett kostenpflichtig und die Preisgestaltung vielleicht sogar von der Zahlungskraft des jeweiligen Kunden abhängig ist. Und eine Ökonomie, in der uns eine mit zahlreichen Sensoren ausgestattete Infrastruktur flexible Preise in Rechnung stellt, die sich danach richten, welche Menge einer gegebenen Ressource wir genutzt haben, und vielleicht auch danach, wie sehr wir dies genossen haben, setzt voraus, dass die Konsumenten auch wirklich über das nötige Geld verfügen, um all jene Güter und Dienstleistungen bezahlen zu können – und dass dieses Geld nicht einfach aus neuen Schulden stammt. Anders formuliert: Aus der Perspektive der Risikokapitalgeber im Silicon Valley ist das Projekt des bedingungslosen Grundeinkommens eine fantastische versteckte Subvention für die Silicon-Valley-Unternehmen selbst.

    Phantasma Grundeinkommen
    Nun wird Derartiges der Öffentlichkeit natürlich nicht auf diese Weise schmackhaft gemacht. Den Bürgern wird stattdessen etwa versichert, das bedingungslose Grundeinkommen sei eine tolle Idee, die uns für die Schrecken der Automatisierung und für all die von uns extrahierten Daten entschädigen könne. Solange diese Rhetorik dazu beiträgt, alle Arten von politischen Zusammenschlüssen zu unterdrücken, die die Frage nach dem Dateneigentum aufwerfen, bleibt ein solches Grundeinkommen aus der Perspektive von Big Tech ein wunderbares Glücksspiel, schließlich müssen die Technologiefirmen selbst nicht viel dafür aufwenden, dass es gespielt wird.

    Der eigentliche politische Schachzug sieht etwas anders aus. Zunächst einmal ist es offensichtlich, dass die meisten Entwürfe zu einem bedingungslosen Grundeinkommen ohne signifikante Anstrengungen zur Umverteilung von Wohlstand und Einkommen nur sehr schwer finanzierbar sein dürften. Also werden wir es voraussichtlich mit Konzepten zu tun bekommen, die dieses Grundeinkommen auf bestimmte Gruppen von Bürgern einschränken wollen. Denjenigen an der Spitze der neuen gesellschaftlichen Hierarchie – jenen also, die qualitativ hochwertige Daten produzieren oder innovative Ideen zur „Wissensökonomie“ beisteuern – wird es möglicherweise gestattet werden, Vertragspartei des neuen New Deal zu werden. Dies mag sich weit weniger emanzipatorisch anhören, als es früher vielleicht einmal der Fall war, und das nicht zuletzt deshalb, weil wir zeitgleich mit der Einführung des Grundeinkommens für wenige eine Intensivierung des Rentierismus auf den übrigen Feldern der Wirtschaft feststellen werden, so dass ein Gutteil des an die Bürger ausgezahlten Geldes in Gestalt von Zahlungen für elementare Güter und Dienstleistungen wieder in den Unternehmenssektor zurückfließen wird.

    Was aber ist mit jenen am unteren Rand der sozialen Pyramide, die demnach nicht zu den Vertragsparteien der neuen gesellschaftlichen Vereinbarung gehören werden? Die Antwort darauf ist nicht so eindeutig. Die einfachste Lösung bestünde darin, die Armen und Überflüssigen der Fürsorge der globalen technophilanthropischen Klasse zu überlassen; die wird sich schon neue, innovative und letztlich private Lösungen für deren Probleme ausdenken. Eine davon, die ein Hightech-Unternehmer und erklärter Trump-Anhänger propagiert, lautet: Man solle doch Virtual-Reality-Brillen an die Elenden verteilen, mit denen sie auf ziemlich preiswerte Weise den ganzen Tag lang virtuelle Glückseligkeit und Freude erleben können.

    Wie kann dieses neue System wachsen und die Reichen – die kein bedingungsloses Grundeinkommen und keine virtuelle Realität brauchen – noch reicher machen? Früher war es so, dass es negative Auswirkungen auf die Wirtschaftstätigkeit hatte, wenn man den Menschen lebensnotwendige Güter wie Nahrung, Obdach und Sicherheit vorenthielt. Der Wohlfahrtsstaat baut in vielerlei Hinsicht auf diesem Grundgedanken auf; den Kapitalismus durch die Sozialisierung des Risikos zu stabilisieren, schien der richtige Weg zu sein.

    Heute herrscht allerdings eine andere Logik vor, gerade weil sich die technologischen Bedingungen so sehr verändert haben, dass die Bürger bei der Suche nach Lösungen für ihre Not recht einfallsreich sein können. Und je schlechter ihre Lage ist, desto kreativer fallen die Lösungsideen aus. Damit dieses System expandieren kann, müssen die Unternehmen einfach nur diesen Innovationsmehrwert abschöpfen und ihn auf profitable Weise nutzen. Wollte man die Weisheit dieses neuen digitalen Zeitalters in einem prägnanten Satz zusammenfassen, dann würde er wahrscheinlich lauten: „Warte nicht, bis die Regierung dir hilft – erstell deine eigene App!“ Und mach dir nichts daraus, dass irgendwo irgendwer – höchstwahrscheinlich die Technologiefirma, die hinter der Plattform steht, auf der du deine App erstellst – von dieser auf eine Weise profitieren wird, von der ihr eigentlicher Schöpfer nicht einmal zu träumen wagt.

    Wachstum und Enteignung

    Dies ist der wesentliche Grund dafür, dass der Aufstieg von Big Tech und die Fortdauer der globalen Finanzkrise zusammengedacht werden müssen. Die in vielen entwickelten Volkswirtschaften anzutreffenden Austeritätsbestrebungen, Kürzungen bei staatlichen Dienstleistungen und bei den Realeinkommen bilden die Hauptursache dafür, dass Akteure wie Uber und Airbnb so stark expandieren konnten: Ein bankrottes Städtchen irgendwo in Florida oder New Jersey kann sich kein annehmbares öffentliches Nahverkehrssystem leisten, also bezahlt es stattdessen Subventionen an Uber, um seinen Bürgern ein günstiges Verkehrsmittel anzubieten.

    Nach David Harvey ist die neoliberale Phase des globalen Kapitalismus von einer Logik gekennzeichnet, die er „Akkumulation durch Enteignung“ nennt; sobald sich das Wachstum verlangsamt, werden die Reichen dadurch reicher, dass die existierenden Ressourcen zuungunsten der Armen umverteilt werden. Der Aufstieg der Informationstechnologie hat diese Logik noch etwas weiter gesponnen, insofern das Kapital durch die Enteignung der Ressourcen der Menschen und ihre gleichzeitige Versorgung mit hochkomplexen, aber allgemein verfügbaren Mitteln zur Selbsthilfe auch deren kreative Potenziale erschließt, was die Menschen dann dazu mobilisiert, durch ihre Mitwirkung an Apps, Plattformen und anderen Gestalten der Wissensökonomie zur Erreichung seiner Ziele beizutragen. Das Kapital wächst also selbst dann noch, wenn es die Armen durch Umverteilung ihrer Ressourcen beraubt.

    Wie sollte also unsere vorläufige Einschätzung dieses neuen gesellschaftlichen und politischen Deals ausfallen? Was seine Grundlagen angeht, scheint er durchaus „postkapitalistisch“ zu sein: Ein großer Teil der Arbeit wird automatisiert, an die Stelle des Arbeitslohns als sozialer Institution tritt ein bedingungsloses Grundeinkommen, und die Armen und Schwachen durchlaufen nicht mehr die Institutionen des Sozialstaats, sondern sollen ein von virtueller Realität konstituiertes Hightech-Universum bevölkern, in dem sie nicht einmal mehr als Menschen behandelt werden. Wer kreative Fähigkeiten besitzt, wird selbst dann, wenn er ein Grundeinkommen bezieht, dauerhaft vom System herausgefordert, so dass er sich aus jeder Art von Notlage herausinnovieren kann – was all jene noch reicher macht, denen die Mittel der Heilsbringung gehören. Darüber hinaus bilden sich wieder Hierarchien heraus, auch wenn wir sie „Netzwerke“ und „Empfehlungssysteme“ nennen.

    Dass dieses neu entstehende System postkapitalistisch ist, bedeutet nicht, dass es nicht auch neofeudalistisch wäre, mit Big-Tech-Unternehmen in der Rolle der neuen Lehnsherren, die fast jeden Aspekt unseres Lebens kontrollieren und zugleich die Rahmenbedingungen des politischen und gesellschaftlichen Diskurses festlegen. Aus Sicht eines normalen Bürgers ist das neue System höchst problematisch, aufgrund seines Inegalitarismus, aber auch aufgrund seiner Willkürlichkeit und Beliebigkeit. Solange man die Existenz der „Überschuss-Bevölkerung“ anerkennt und auch, dass die herrschende Klasse nicht mehr bereit ist, ihr gegenüber weiterhin Zugeständnisse irgendeiner Art zu machen – abgesehen vielleicht von netten Updates für ihre Virtual-Reality-Brillen –, dann ist es kaum vorstellbar, dass die Zahl dieser „Überflüssigen“ mit zunehmender Automatisierung nicht weiter anwachsen sollte.

    Doch auch für die, die nicht in diese Kategorie fallen, ist das Leben mit einem bedingungslosen Grundeinkommen kaum erfüllend oder emanzipatorisch. Worin besteht der Sinn eines bedingungslosen Grundeinkommens, wenn es vollständig von Tributzahlungen für die Nutzung grundlegender Dienstleistungen aufgezehrt wird? Und was geschieht, wenn die Verbindlichkeiten einer Person ihr Grundeinkommen übersteigen? Würde das bedeuten, dass ihre Besitztümer – die voller Sensoren stecken und in Netzwerke eingebunden sind – abgeschaltet werden, und zwar so, wie einige Amerikaner es bereits jetzt erleben: dass ihr Wagen per Fernsteuerung deaktiviert wird, wenn sie mit den Raten für ihren Autokredit in Rückstand geraten? Was passiert, wenn man Schulden bei Alphabet hat – etwa für die Nutzung einer seiner erweiterten KI-Dienstleistungen – und das Unternehmen zugleich das nationale Gesundheitssystem betreibt? Hieße das dann, dass man keinen Zugang zu medizinischer Versorgung mehr hätte, solange man seine Schulden nicht begleicht?

    Es gibt einiges, was für technoutopische Narrative spricht. Und da sich der Kapitalismus derzeit in einer schweren Krise befindet, sollten wir alternative Visionen davon, wie wir unser Leben organisieren, nicht einfach von vornherein verwerfen. Das Problem ist, dass die meisten der aus dem Silicon Valley stammenden technoutopischen Narrative sich des Wesens der gegenwärtigen Krise weder vollständig bewusst sind noch Ehrlichkeit walten lassen im Hinblick auf die Frage, wie ihre eigenen sich wandelnden Geschäftspolitiken ihre soziale und politische Rhetorik beeinflussen. Eine postkapitalistische Welt ist definitiv etwas, für das es sich zu kämpfen lohnt – aber nicht, wenn in ihr die schlimmsten Auswüchse des Feudalismus zu neuem Leben erweckt werden.

    Dieser Artikel erschien in Ausgabe 49/2017 vom 07.12.2017

    #disruption #économie #société

  • Interview ǀ „Ich war ein Wirtschaftswunder“ — der Freitag
    https://www.freitag.de/autoren/der-freitag/ich-war-ein-wirtschaftswunder
    Si on part à la recherche de l’incarnation du du féminisme moderne en Allemagne on trouve Helke Sanders . Pour ses quatre vingt ans Der Freitag publie une interview avec la réalisatrice.

    Entre le 5 février et le 18 mars on peut revoir ses films au cinéma de quartier Bundesplatz-Kino à Berlin-Wilmersdorf. Les dates coincident avec le festival du film Berlinale et le festival des médias binaires Transmediale . Alors si à l’occasion vous vous trouvez à Berlin, faites-moi signe.

    Werkschau HELKE SANDER - Der subjektive Faktor (1980/81)
    Am Sonntag 12. März um 15.30 Uhr.
    http://www.bundesplatz-kino.de/index.php?p=m&mid=1917

    transmediale live ever elusive | festival 2017
    https://2017.transmediale.de

    67. Internationale Filmfestspiele Berlin 9.-19-2.2017
    https://www.berlinale.de

    https://www.freitag.de/autoren/der-freitag/ich-war-ein-wirtschaftswunder/@@images/410a7983-bb1d-4415-8e30-dc0f7cc7cdba.jpeg

    Interview Mit ihren Filmen, Texten und Politaktionen kämpft Helke Sander seit jeher für den Feminismus. Eine Begegnung zu ihrem 80. Geburtstag
    „Ich war ein Wirtschaftswunder“

    Im Filmhaus am Potsdamer Platz treffe ich die Filmemacherin und Autorin Helke Sander – erstmals nach fast 20 Jahren. In den 1990er Jahren studierte ich Film bei ihr, an der Hochschule für bildende Künste in Hamburg. Sander hat stets Tabus gebrochen, „als Regisseurin, Feministin und Mutter“, wie Ulrike Baureithel es im Freitag einmal formulierte. Kommende Woche, am 31. Januar, wird Sander 80 Jahre alt. Im Vorgespräch am Telefon fragte ich sie, ob wir verschiedene Aspekte ihrer Biografie beleuchten könnten, Aspekte, die ihr Werk prägen. Sie reagierte mit der ihr ureigenen Mischung aus distanzierter Professionalität und Herzlichkeit, wir knüpften an das alte Du an, und meine Nervosität verflog. Im Filmhaus setzen wir uns dann in einen kleinen Vorführraum. Es ist dunkel, in der Ecke ein alter Schneidetisch, nebenan sichtet ein Student einen DEFA-Film. Tür zu. Licht an.

    der Freitag: Liebe Helke, du hast mal erzählt, dass dein Vater nach der Hochzeitsnacht mit einem Frühstückstablett ans Bett deiner Mutter kam und sie sich so darüber gefreut habe, dass dein Vater sagte: „So ein Frühstück will ich ab jetzt jeden Morgen haben“.

    Helke Sander: Oje, das habe ich im Seminar erzählt? Aber es stimmt, ja, das hat er gesagt. Ich sagte dann später einmal zu ihm: „Die Neue Frauenbewegung haben wir dir zu verdanken.“

    Du hast Schauspiel in Hamburg studiert und bist 1959 nach Finnland gezogen, wo du Inszenierungen etwa für finnische Arbeitertheater gemacht hast und für den ersten kommerziellen finnischen Fernsehsender. Warum kamst du 1965 nach Deutschland zurück?

    Das hatte viel mit den Produktionsbedingungen beim Fernsehen zu tun: Die Probenzeit war immer nur drei Wochen, die Aufnahmen fast live. Die Kamerapositionen mussten immer gleich genau mitchoreografiert werden, damit bei den Aufnahmen alles klappt. So mochte ich nicht länger arbeiten. Ich war eben auch noch sehr jung, wollte noch mal woandershin.

    Und gingst nach Berlin.

    In Berlin hatte ich anfangs den Plan, ein eigenes Theater zu gründen. Ich bin dann erst mal durch die Bundesrepublik gereist und habe mir verschiedene Theatergeschichten angesehen. Das hat mich deprimiert. Ich begriff, dass das Theater in Finnland viel offener war als das deutsche, viel experimentierfreudiger. Bei Treffen mit Intendanten wurde ich immer auf die Frau reduziert – das war ein Schock. Als Frau könne man männlichen Schauspielern ja nicht sagen, was man zu sagen habe. Es hieß mit leicht ironischem Unterton: „Ah, die Regisseuse kommt.“ Es war herabsetzend gemeint.

    Die Tatsache, dass der Mann das Auto fuhr und die Frau danebensaß, um befördert zu werden, ließ sich damals auf alles übertragen. Das ist eine Bemerkung von dir, die ich mir gemerkt habe.

    Ja, so drückte ich das mal aus.

    1966 öffnete die Deutsche Film- und Fernsehakademie (dffb) in Berlin. Du warst im ersten Jahrgang eine von drei Frauen, die aufgenommen wurden.

    Die Frauen, die als erste an der Filmakademie aufgenommen wurden, waren ganz einfach jene, die die meiste Berufserfahrung vorweisen konnten. Wir drei waren auch alle älter. Mir ist dann später eingefallen, dass ich mich auch gleich als Lehrerin hätte bewerben können, ich hatte damals ja schon so viel gemacht. Nun war ich also Studentin, aber auch Mutter und hatte ein Kind zu versorgen. Und es gab kein Stipendium und auch noch kein Kindergeld.

    Wenn ich dich noch einmal zitieren darf: In der Wirtschaftswunderzeit der BRD …

    … betrachtete ich mich als das Wirtschaftswunder, weil es mir immer wieder gelang, am nächsten Ersten wieder die Miete zu bezahlen.
    Zur Person

    Helke Sander wurde 1937 in Berlin geboren und hat ihren Kampf für den Feminismus immer mit ihrer künstlerischen Arbeit verknüpft. Sie war verheiratet mit dem finnischen Schriftsteller Markku Lahtela (1936–1980) und ist Mutter eines Sohns

    Wann hast du dich politisiert?

    Ich begann, regelmäßig Zeitungen zu lesen, und wir sind immer in Hearings, die abends an der Uni stattfanden. Man hat unglaublich viel erfahren, worüber man sich vorher keine Gedanken gemacht hatte. Das war progressiv, das hat mir wahnsinnig gut gefallen. Im Sommer 1967 habe ich Zettel ans Schwarze Brett geheftet: Frauen mit Kindern, die auch die Veranstaltungen besuchen möchten, sollen sich melden, dass wir das organisieren können. Damals waren für die Kinder ausschließlich die Frauen verantwortlich, abends blieben sie zu Hause. Es gab dann nur eine Reaktion von einem Mann des SDS (des Sozialistischen Deutschen Studentenbunds, Anm. d. Red.), der daruntergeschrieben hatte: Haha, die Frauen emanzipieren sich wieder zu Tode. So entstanden dann aber die ersten Kinderläden, das war der Beginn des Aktionsrats zur Befreiung der Frauen, den ich mitgründete. Wir wollten zeigen, dass Frauen eine gewisse Macht haben. Der Aktionsrat ging bis Mitte 1969. Das ging Hand in Hand mit dem, was auch andere linke Gruppen erlebten: Als realisiert wurde, dass es nicht so einfach ist, die Gesellschaft zu verändern, kam es zur Aufsplitterung. Bei den Frauen war es ähnlich.

    Deine Wohngemeinschaft war damals eine Anlaufstelle für verschiedene linke Gruppierungen.

    Ja, KPD/AO, Maoisten, Filmgruppen, die mit dem Knastalphabet …

    Knastalphabet?

    Genau genommen nur zwei Leute, die Klopfzeichen übten. Sie rechneten damit, als Revolutionäre ins Gefängnis zu kommen, und dann hätten sie sich auf diese Weise verständigen können. Albern. Einer von ihnen war der spätere RAF-Terrorist Holger Meins.

    Stimmt es, dass dein Sohn beim Spielen im Flur mal eine Handgranate gefunden hat?

    Das habe ich in meinem Film Der subjektive Faktor von 1981 behandelt, ja. Das war schlimm. Ich hatte gar nicht vorgehabt, in einer WG zu leben, es gab aber gar keine andere Möglichkeit. Die Makler haben gesagt, alleinstehenden Frauen mit Kindern vermieten wir nichts. Ich hatte ja auch kein Geld.

    Interessant finde ich, dass du nach einer Ausbildung an der dffb hier weniger Arbeitsmöglichkeiten hattest als in Finnland.

    Mit den ersten Kamerafrauen, die von der Hochschule kamen, wollte damals auch keiner arbeiten. Nurith Aviv, heute eine berühmte Kamerafrau, nur 1,56 Meter groß, musste sich am Anfang sagen lassen, dass sie ja nur aus der Froschperspektive filmen könne.

    Um ein regelmäßiges Einkommen zu haben, hast du eine feministische Filmzeitschrift gegründet, „Frauen und Film“.

    Eine blöde Idee. Nein, natürlich war es keine blöde Idee, es hat nur mal wieder überhaupt kein Geld gebracht. Die Zeitschrift gibt es übrigens immer noch, gerade ist die Nummer 68 erschienen.

    1977 entstand dein Film „Die allseitig reduzierte Persönlichkeit – Redupers“. Für den Kurzfilm „Nr. 1 – aus Berichten der Wach- und Patrouillendienste“ (siehe Videoausschnitt) bekamst du 1985 den Goldenen Bären und den Bundesfilmpreis in Silber. Später hast du zwei spannende Langzeitprojekte verfolgt: den Dokumentarfilm „BeFreier und Befreite“ über Vergewaltigungen in der Nachkriegszeit. Und von Anfang der 1980er bis Ende der 1990er hast du an einem Gegenentwurf zu Jean-Jacques Annauds „Am Anfang war das Feuer“ gearbeitet.

    „Das Schicksal schöner Männer“. Ein Film über die Urgeschichte des Menschen. Ich fand den Titel schön. Und habe später immer wieder Teile meiner Vorarbeiten für anderes benutzt, etwa für meine fiktive Erzählung Oh Lucy.

    Die Mutter als soziales Wesen war wieder ein wichtiges Motiv?

    Also, ich würde eher sagen: Die Frauen hatten schon in der Urzeit Probleme, die die Männer nicht hatten, und die Lösungsversuche der Frauen haben wesentlich zur Menschwerdung beigetragen. Davon handelt auch mein neues Buch. Ich will darin beweisen, dass es ursprünglich keine „natürliche“ Arbeitsteilung gegeben hat. Dass die beiden Geschlechter von Anfang an jeweils unterschiedliche Arbeiten verrichtet haben – das ist einfach nicht wahr. Die erste Arbeitsteilung gab es vermutlich zwischen Frauen. Ich meine auch bestimmen zu können, wann genau eine Arbeitsteilung zwischen Frauen und Männern eingesetzt haben muss. Davon handelt mein neues Buch, das im Februar kommt.

    Wie betrachtest du die Frauenbewegung heute?

    Es gibt Ansätze von Verbesserungen in den Bereichen, die wir Frauen einst erst erschlossen haben. Insgesamt werden wir es allerdings nicht so lange machen wie die Dinosaurier – damit meine ich aber die Menschheitsgeschichte und nicht die Gleichberechtigung.
    Info

    Die Entstehung der Geschlechterhierarchie als unbeabsichtigte Nebenwirkung sozialer Folgen der Gebärfähigkeit und des Fellverlusts Helke Sander E-Book, Zukunft & Gesellschaft 2017, 26,90 €

    Eine Werkschau von Helke Sanders Filmen läuft von 5. Februar bis 19. März im Berliner Bundesplatz-Kino

    #Allemagne #Berlin #féminisme #film

  • Utopie ǀ Hippies mit Gewehr — der Freitag
    https://www.freitag.de/autoren/der-freitag/hippies-mit-gewehr
    https://www.freitag.de/autoren/der-freitag/hippies-mit-gewehr/achzivland-meer/@@images/5d451527-ae12-4b4a-b311-9440570a9c0f.jpeg

    Während der Dreharbeiten zum Film Exodus sei Paul Newman oft in Achzivland gewesen, erzählt Rina Avivi. Sophia Loren, Brigitte Bardot und Bar Refaeli hätten in der türkisblauen Bucht in der Sonne gelegen. „Sophia hat mir beigebracht, wie man richtig gute Spaghetti kocht“, erinnert sich die 70-Jährige.

    Halb Deutsche, halb Dänin, ist Rina Avivi noch genauso weißblond wie auf den vergilbten Fotografien an den Wänden ihres Wohnzimmers. Einige der Bilder zeigen sie zu Pferd, andere gemeinsam mit ihrem Ehemann Eli, mal auf einem Kutter, mal mit einem Gewehr in der Hand oder mit Hammer und Säge. Es überrascht einen nicht, dass auch Stars und Möchtegernstars Gefallen an dem kuriosen Ehepaar und seinem utopischen Refugium im Norden Israels gefunden haben. Nur wenige Kilometer von der libanesischen Grenze entfernt, eingebettet zwischen dem Mittelmeer und dem ehemals umkämpften Galiläa, öffnet sich ein blaues Metalltor zum kleinen Reich der Avivis: dem Staat Achzivland. Gleich dahinter geht der Blick über mehrere Häuser, wild zusammengezimmert, ein Holzhäuschen zur Passkontrolle, ein Open-Air-Parlament, Bootsanlegestelle, Museum.
    Zum ersten Mal ernsthaft gestört wurde das Idyll 1982 während des ersten Libanonkriegs. Militante Gruppen nutzten den Küstenabschnitt, um unbeobachtet auf israelisches Land überzusetzen. „Einmal brachen sie sogar in unser Haus ein“, sagt Rina. „Zum Glück war ich vorbereitet und bewaffnet, und sie waren wohl so überrascht, eine blonde, junge Frau barfuß und mit Maschinengewehr zu sehen, dass sie wieder verschwanden.“ Zäune aus Stacheldraht waren das Ergebnis, Überwachungskameras an allen Ecken des Geländes. Das Paradies verwandelte sich in eine Festung. In Israel wird man vielleicht ein Hippie, dann aber nur mit Gewehr.

  • Hongkong ǀ Gefährliche Handlungen — der Freitag
    https://www.freitag.de/autoren/der-freitag/gefaehrliche-handlungen

    Hongkong Seit 1997 ist die Metropole chinesische Sonderverwaltungszone – in der Peking verstärkt gegen Verleger vorgeht
    Gefährliche Handlungen

    Zu Besuch in Mong Kok, dem chinesischsten Viertel der 7,3 Millionen-Einwohner-Stadt Hongkong: tagsüber ein Bild aus heruntergekommenen Mietshäusern vor den Glasfassaden nagelneuer Bürotürme. Nachts verschwindet alles hinter dem grellen Lichtermeer aus Millionen LED-Leuchtreklamen. Zwischen Modeboutiquen, Handyshops und Imbissbuden, zwischen parkenden Lastwagen, hupenden Taxis, piependen Ampeln, vor denen sich Menschen drängen, führt ein schmaler, unscheinbarer Hauseingang in der Sai Yeung Choi Street hinauf in den siebten Stock. Dort liegt Hong Kong Reader, einer von etwa 50 unabhängigen Buchläden der Stadt. Ein kleines Refugium der Literatur, der „Freiheit des Worts“, wie es Buchhändler Daniel Lee nennt.

    Bei Hong Kong Reader sieht es aus wie in einem alternativen Buchladen der 70er Jahre. Dicht an dicht stehen die Regale im etwa 50 Quadratmeter großen Raum. Es gibt Kaffee für die Besucher. An einer Stirnseite Werke von Camus bis Nietzsche, ein wenig Belletristik, Geografie, Geschichte. Gegenüber lange Reihen chinesischer Titel. Dazwischen Secondhandbücher. Kunden blättern still in dem, was sie interessiert. Kater Ai Weiwei schaut aus dem Fenster.

    Daniel Lee, 35, hat einen Universitätsabschluss in Philosophie. Mit zwei Kommilitonen eröffnete er vor neun Jahren Hong Kong Reader. „Wir wollten nach dem Studium etwas Eigenständiges machen, Menschen treffen, mit denen wir geistesverwandt sind.“ Facebook und Google lassen sich in Hongkong problemlos aufrufen – Seiten, die in Festlandchina nicht verfügbar sind. „Hongkong ist von der großen chinesischen Firewall ausgenommen“, sagt Lee. Gleichzeitig würden aber Verleger verhaftet, nicht durch Hongkongs Behörden, sondern auf Druck der KCP, der Kommunistischen Partei Chinas.
    Spurlos verschwunden

    Fast 20 Jahre nach der Rückkehr Hongkongs ins Reich der Mitte werde es für seine Bewohner politisch immer enger, sagt der Geisteswissenschaftler. Er persönlich fühle bislang keine direkte Bedrohung. Auch nicht nach den Entführungen von Lee Bo, Lam Wing-kee und einigen anderen Buchhändlern, die zwischen Oktober und Dezember 2015 zunächst spurlos verschwanden. Schnell wurde klar, dass man sie genötigt hatte, nach Festlandchina einzureisen – wo sie in Arrest kamen. In Hongkong demonstrierten Tausende gegen dieses Vorgehen Pekings. Einer der Festgenommenen, Lam Wing-kee, berichetete nach seiner Freilassung im Sommer 2016, was ihm während der Internierung widerfahren war: Isolation, Verhöre, Androhung von weiterer Haft, und das über Monate. „Nach meinem Verständnis wurden diese Männer gekidnappt, weil sie nicht nur Bücher verkaufen, sondern auch verlegen“, sagt Lee. „Sie bringen Bücher über chinesische Politik heraus, über parteiinterne Auseinandersetzungen in Peking.“ Und das seien sehr sensible Themen.

    Zum Programm seines Ladens sagt er: „Die meisten Bücher verkaufen wir aus einem Genre, das wir selbst entwickelt haben: Hongkong-Studien. Das umfasst Politik, Gesellschaft, Geschichte und Ähnliches. Die Bestseller befassen sich mit unserer sozialen Bewegung, vor allem dem ,Umbrella Movement‘.“ Diese Pro-Demokratie-Bewegung, die den Regenschirm als Widerstandssymbol gewählt hat, brachte seit Ende 2014 für mehrere Wochen Zehntausende auf die Straßen, auch im Mong-Kok-Viertel, in dem Lees Buchandlung liegt. Vor allem Studenten protestieren gegen die Einschränkung von Bürgerrechten, die der Nationale Volkskongress in Peking beschlossen hat. Die stete Aushöhlung der Teilautonomie Hongkongs ist im Gange. „Die Menschen sind alarmiert“, sagt Lee.

    Der politische Druck wächst. Inzwischen stellen sogenannte Pro-Peking-Parteien mehr als die Hälfte der Parlamentarier des Legislativrats, der gesetzgebenden Versammlung Hongkongs. Im November 2016 wurde zwei frei gewählten Vertretern aus dem Umbrella Movement auf Intervention Pekings der Parlamentarierstatus aberkannt. Der Volkskongress legte dazu ein Gesetz in seinem Sinn aus, das 1997 als „Basic Law“ beschlossen worden war – auch um der Stadt die Teilautonomie von China zu sichern, nach dem Prinzip: ein Land, zwei Systeme. „Dieser Grundsatz ist jetzt mausetot“, sagt Lee ernüchtert. In Justizfragen behalte sich Peking das alleinige Entscheidungsrecht vor. „Die Unabhängigkeit unserer Gerichtsbarkeit ist vorbei.“

    Es ist ein breit angelegtes, sukzessives Vorgehen der Pekinger Führung, dessen Folgen für Hongkong und seine Bewohner langsam immer deutlicher zutage treten: Da sind die Übernahmen von Wirtschaftsbetrieben, Presse, Radio und TV. Da ist die schleichende Entmündigung der Legislative, da sind die offenen Repressionen gegen prodemokratische Bewegungen. Und eben: die Inhaftierung unliebsamer Verleger.

    Die Einflussnahme erfolgt auch über die Sprache. In Hongkong wird Kantonesisch gesprochen, verkürzt gesagt ein Dialekt des Hochchinesischen. In Festlandchina spricht man vorwiegend Mandarin, eine stark vereinfachte Form des Hochchinesischen. Es wurde einst von den Kommunisten in der Volksrepublik eingeführt, um das Analphabetentum zu bekämpfen. Im vorkommunistischen China war die offizielle Schriftsprache noch das komplexere Hochchinesisch, für alle Chinesen.

    Bis heute erscheinen die meisten Bücher, die in Honkong gedruckt werden, in hochchinesischer Sprache, nicht im abgespeckten kommunistischen Mandarin. Literatur aus Hongkong ist daher sofort zu identifizieren. Wer sie nach China einführt, bekomme mitunter Probleme, sagt Lee. „Wenn man bestimmte Bücher oder einfach nur zu viele, die in traditionellen chinesischen Schriftzeichen geschrieben sind, aus Hongkong mit nach Festlandchina nimmt, riskiert man, festgenommen zu werden und im Gefängnis zu landen. Denn Festlandchina erlaubt eigentlich keine Einfuhr von Büchern, die nicht dort veröffentlicht wurden.“ Umgekehrt gibt es Bestrebungen, das Mandarin in Honkong stärker zu verbeiten. „Traditionell wird hier in den Schulen auf Kantonesisch unterrichtet. Inzwischen sind aber viele TV-Kanäle schon zu Mandarin und dessen stark vereinfachten Schriftzeichen gewechselt“, sagt Lee.
    Auswandern als Option

    Aus seiner Sicht wird es schwer für Hongkong, seine Teilautonomie zu erhalten, solange es Teil des großen Chinas ist. In den vergangenen zwei Jahren seien die Aussichten deutlich düsterer geworden, vor allem seit gewählten Vertretern unerwünschter politischer Bewegungen wie eben des Umbrella Movement der Zugang zum Hongkonger Parlament verwehrt werde.

    Die Hoffnungen ruhten jetzt ganz auf den Menschen in Hongkong, sagt Lee. Wenn sie bereit seien, aktiv für ihre Freiheit und Autonomie einzutreten, dann gebe es vielleicht eine Chance gegen den Machtapparat der Kommunistischen Partei in Peking. Die Studenten hätten mit ihren 2014 aufgenommenen Protesten den Anfang gemacht. Zuletzt demonstrierten im November dieses Jahres Hongkonger Anwälte gegen die Aushöhlung beziehungsweise Fehlauslegung des Basic Law. Und auch dass der für Monate inhaftierte Buchhändler Lam Wing-kee seinen Arrest öffentlich machte, habe dazu geführt, dass viele Hongkonger nun endlich aufwachten.

    „Realistischerweise muss man sagen, dass es nicht einfach wird. Aber wir werden kämpfen müssen, das ist das Einzige, was wir tun können.“ Er wisse von einigen Menschen, die längst daran dächten auszuwandern. Doch er selbst will diesen Ort, an dem er so lange gelebt hat, nicht aufgeben: „Warum soll ich gehen, warum geht nicht ihr ?“

    Dieser Beitrag erschien in Ausgabe 50/16.

    #Hongkong #Chine #politique #littérature

  • Theater ǀ Castorf forever — der Freitag
    https://www.freitag.de/autoren/der-freitag/castorf-forever
    https://www.freitag.de/autoren/der-freitag/castorf-forever/@@images/image/export

    Selbst wenn sich in der Volksbühne gar nichts änderte und das Theater weitermachte wie bisher, ist dieser Zustand allemal besser und avantgardistischer, als der eines Theaters, das im Stadtmarketing lediglich Standortvorteil sein möchte und einzig die Kunst produziert, die wir auch in London, Paris oder München uns ansehen können. Wer meint, alles sei besser als das, was die Volksbühne macht, hat weder von Avantgarde noch von Politik viel begriffen. Die Volksbühne ist ein Gesamtkunstwerk, das seine Heimat genau an dem Ort hat, wo sie steht.

    Da Tim Renner im neuen Kabinett möglicherweise nicht mehr Kulturstaatssekretär sein wird – im Gespräch ist der Vorsitzende der Berliner Linkspartei, Klaus Lederer, als Kultursenator –, hat der neue Senat die einmalige Chance, eine dumme Entscheidung rückgängig zu machen. Unser Rat: Lasst Frank Castorf einfach weitermachen. Wenn nötig, noch mal 25 Jahre.

    Lars Hartmann betreibt den Blog Aisthesis und gehört zum Redaktionsteam des Onlinemagazins tell

  • Revue der großen Namen: das alte Berlin der Literaten: Litera-Tour - SPIEGEL SPECIAL 6/1997
    http://www.spiegel.de/spiegel/spiegelspecial/d-8719541.html

    Ein schöner Einstieg ins Thema. Wir schreiben das mal weiter.

    Knesebeckstraße 12 / Hedwig Courths-Mahler
    https://de.wikipedia.org/wiki/Hedwig_Courths-Mahler
    1 In der Beletage Knesebeckstraße 12 häkelte Hedwig Courths-Mahler ihre „Märchen für Erwachsene“. Als sie 1934 Berlin den Rücken kehrte, war „Kotz-Malheur“ mit rund 200 Romanen annähernd 40fache Auflagenmillionärin.

    Kurfürstendamm 208 / George Heartfield
    https://de.wikipedia.org/wiki/Berliner_Secession
    2 Dada is Mus? 1918 rührten Raoul Hausmann, die Brüder Wieland und Helmut Herzfelde und George Grosz im Club Dada in der „Neuen Sezession“ am Ku’damm die Auflösung der Syntax an, Richard Huelsenbeck deklamierte zur Trommel seine „Negergedichte“, und „Oberdada“ Johannes Baader forderte die Übernahme der Regierungsgewalt durch das Dadaistische Zentralamt.

    Kantstraße 152 / Carl von Ossietzky
    https://de.wikipedia.org/wiki/Die_Weltb%C3%BChne
    3 In der Kantstraße 152, über der heutigen „Paris-Bar“, leitete Carl von Ossietzky die Redaktion der Weltbühne, bis er am Morgen nach dem Reichstagsbrand verhaftet und ins KZ Sonnenburg verschleppt wurde. Der Nobelpreisträger starb 1938 in einer Privatklinik an den Folgen der KZ-Haft.

    Kurfürstendamm 14 / Joseph Roth
    https://de.wikipedia.org/wiki/Radetzkymarsch_%28Joseph_Roth%29
    4 „Wie andere Männer zu Heim und Herd, zu Weib und Kind heimkehren, so komme ich zurück zu Licht und Halle, Zimmermädchen und Portier“, schrieb Joseph Roth, der in Berlin jahrelang in Hotels logierte. Im Bierdunst von „Mampes Guter Stube“ am Ku’damm 14 entstand der österreichischste seiner Romane: „Radetzkymarsch“.

    Breitscheidplatz / Auguste-Viktoria-Platz
    https://de.wikipedia.org/wiki/Romanisches_Caf%C3%A9
    5 Als „Wartesaal des Genius“ etablierte sich in den nervösen Zwanzigern das „Romanische Cafe“ am Ende des Kurfürstendamms. Unter den Gästen: Alfred Polgar, T. S. Eliot, Thomas Wolfe, Franz Werfel, Andre Gide, Vladimir Nabokov, W. H. Auden, Heinrich Mann, Bertolt Brecht, Erich Mühsam und der junge Wolfgang Koeppen.

    Kaiserallee 201 , Bundesallee Ecke Trautenaustraße / Erich Kästners Emil
    https://de.wikipedia.org/wiki/Caf%C3%A9_Josty
    6 Hinter der Litfaßsäule in der Trautenaustraße steht Erich Kästners Emil noch ohne Detektive und beobachtet das „Cafe Josty“. Dort sitzt Herr Grundeis, der Emil im Zug die 140 Mark geklaut hat, und löffelt Eier im Glas, als plötzlich Gustav mit der Hupe auftaucht ...

    Prager Platz Ecke Trautenaustraße / Maxim Gorki
    https://de.wikipedia.org/wiki/Prager_Platz
    7 „Es riecht nach Rußland“, befand der Romancier Andrej Bely 1922 über die Gegend rund um den Zoo und Charlottenburg, die der Berliner längst „Charlottengrad“ nannte, man „trifft hier ganz Moskau und ganz Petersburg“. Maxim Gorki, Ilja Ehrenburg, Marina Zwetajewa, Wladimir Majakowski, Boris Pasternak und Vladimir Nabokov ertränkten in Nachtcafes wie der „Prager Diele“ am Prager Platz ihr Heimweh.

    Prager Straße 17 (heute etwa Nr. 12), 1927 bis 1929 / Kästner, Berliner Gedenktafel am Haus Prager Straße 6

    Güntzelstraße 3 Ecke Jenaer Straße, auch Café Steinecke ehem. Cafe Albrecht (1912 bis Oktober 2000) Güntzelstr. 23 / Egon Erwin Kisch
    http://berlin.kauperts.de/Strassen/Guentzelstrasse-10717-Berlin
    http://www.berlin.de/ba-charlottenburg-wilmersdorf/ueber-den-bezirk/freiflaechen/strassen/artikel.177397.php
    8 Vom Literaturzirkus zum Lunapark, vom Sechstagerennen zur Schnapsbudike: Egon Erwin Kisch, der Reporter, der das Rasen erfand, wurde in der Nacht nach dem Reichstagsbrand in seiner letzten Wohnung in der Güntzelstraße 3 verhaftet, hatte jedoch noch Glück und wurde bald darauf abgeschoben.

    Grunewaldstraße 55 , 10825 Berlin, Robbengatter / Gottfried Benn
    http://berlin.kauperts.de/eintrag/Robbengatter-Grunewaldstrasse-55-10825-Berlin?query=Robbengatter
    9 „In diesem gemeinen Berlin streift sich manches Sentimentale ab, es macht fit und sec“, schwärmte Gottfried Benn. Dann, nachts in der Eckkneipe am Bayerischen Platz: „... oben Bläue, doch in der Tiefe waberndes Getier, verfratzte Kolben, Glasiges ...“

    Solinger Straße 10 Judenhaus / Else Ury
    http://www.mariannebrentzel.de/ury-leseprobe.html
    10 Millionen von Mädchen lasen, wie Else Urys quirliges, liebenswertes, blondes „Nesthäkchen“ wieder mal ein „feines Osterzeugnis“ nach Hause brachte - längst nachdem Klein-Annemaries Erfinderin aus ihrer Wohnung in der Solinger Straße nach Auschwitz deportiert worden war.

    Calvinstr. 15a , bei Nothmann, Berlin NW 40 (1930-32) / Hans Fallada
    http://www.literaturport.de/index.php?id=26&user_autorenlexikonfrontend_pi1[al_opt]=1&user_autoren
    11 „Verhaßt und schädlich“ war Hans Fallada, dem Trinker, Berlin schon im möblierten Zimmer, 1930 in der Calvinstraße. Doch er brauchte die Pflasterlandschaft mit ihren Stempelstellen und käuflichen Mädchen, in der sein „Kleiner Mann“ vor die Hunde geht und der „Eiserne Gustav“ den Kampf „Droschke gegen Elektrische“ verliert.

    Kurfürstendamm 18/19 , Ecke Joachimstaler Straße, Café des Westens „Café Größenwahn“, 1898 bis 1915 / Georg Heym
    https://de.wikipedia.org/wiki/Caf%C3%A9_des_Westens
    Georg Heym, 1887 - 16. Januar 1912
    https://de.wikipedia.org/wiki/Georg_Heym#Tod_und_Nachleben
    12 Ab 1910 tagte in der Kleiststraße das „Neopathetische Cabaret“ der Expressionisten. „Die Straßen komme ich entlanggeweht“, hieß eine Lyriksammlung, und die „Jüngst-Berliner“ wehte es meist - wie Georg Heym, der beim Schlittschuhlaufen einbrach und in der Havel ertrank - direktemang ins „Cafe des Westens“ am Ku’damm, auch „Cafe Größenwahn“ genannt.

    Motzstraße 78 (heute Hotel Sachsenhof Motzstraße 7) / Else Lasker-Schüler
    https://de.wikipedia.org/wiki/Motzstra%C3%9Fe
    13 Angeblich nur „postlagernd“ wohnte Else Lasker-Schüler, die exaltierte Großstadtnomadin, als „Prinz Jussuf“ in chronischer Geldnot bis zu ihrer Emigration 1933 im Hotel „Koschel“, Motzstraße 7.

    Nollendorfstraße 17 zwischen Eisenacher und Maaßenstraße (? Lage der Hausnummer ?) / Christopher Isherwood
    14 Ein junger Engländer steigt in der Pension Nollendorfstraße 17 ab, durchstreift die Schwulenszene im Berlin der Vor-Nazi-Zeit und lernt in einem Tingeltangel Sally Bowles kennen, die ihm zeigt, wie man auf dem Vulkan tanzt. Bekannter als Christopher Isherwoods Buch „Goodbye to Berlin“ ist dessen verfilmte Version: „Cabaret“.

    Kurfürstenstraße 154 / Walter Benjamin
    Walter Benjamin, Geburtshaus Magdeburger Platz 4 (zerstört) , Carmerstr. 3, Delbrückstr. 23, Prinzregentenstr. 66, Nettelbeckstr. 24 (An der Urania)
    http://www.literaturport.de/index.php?id=26&user_autorenlexikonfrontend_pi1[al_aid]=224&user_autor
    15 „O braungebackne Siegessäule / mit Winterzucker aus den Kindertagen“, erinnert Walter Benjamin an die „Berliner Kindheit um Neunzehnhundert“. Seine eigene Jugendzeit fand vorwiegend auf dem Asphalt und in den Treppenhäusern rund um die Kurfürstenstraße 154 statt.

    Potsdamer Straße 39 (heute Höhe Simon Bolivar Statue) / Ernst Rowohlt
    https://www.google.de/maps/place/Potsdamer+Stra%C3%9Fe+39,+10785+Berlin/@52.506802,13.368664,17z/data=!4m2!3m1!1s0x47a851ca787ca85f:0xa82ef252de3532eb
    16 In seiner Etagenwohnung am Landwehrkanal, Potsdamer Straße 39, verlegte Ernst Rowohlt ab 1919 Weltliteratur. „Väterchen“ nannten die damals knapp 200 Rowohlt-Autoren (darunter Ernest Hemingway, William Faulkner, Robert Musil) den begnadeten Gastgeber, der bei seinen berühmten Autorenabenden Sektgläser zerkaute.

    Matthäikirchstraße heute Herbert-von-Karajan-Straße / Carl Zuckmayer
    https://de.wikipedia.org/wiki/Matth%C3%A4ikirchstra%C3%9Fe
    17 Im Kellerloch Matthäikirchstraße 4 kam 1921 der brotlose Dichter Carl Zuckmayer aus Mainz unter, handelte mit Kokain, lernte als Nachtlokal-Schlepper das „Icke“-Sagen und saugte Lokalkolorit aus „Aschingers Bierquelle“. Dort stand, ick lach mir dot, zehn Jahre später sein „Hauptmann von Köpenick“ und löffelte Erbsensuppe.

    Linkstraße 7 / Jacob und Wilhelm Grimm
    http://www.grimm2013.nordhessen.de/de/berlin-1
    http://landkartenarchiv.de/pharus_berlin_gross_1930.php
    18 Von ihrer Wohnung in der Linkstraße spazierten die Brüder Jacob und Wilhelm Grimm 1847 durch den Tiergarten, um ...

    In den Zelten 5 , beim Kurfürstenplatz / Bettina von Arnim
    http://www.berlinstreet.de/1489
    http://landkartenarchiv.de/pharus_berlin_gross_1930.php
    19 ... Bettina von Arnims Salon „In den Zelten“ zu besuchen. Nahebei lag das Elendsquartier „Vogtland“, durch das Bettina schon den Studenten Karl Marx geführt hatte.

    Königgrätzer Straße 21 , heute: Stresemannstraße Nr. 111 / Franz Kafka
    https://de.wikipedia.org/wiki/Askanischer_Hof
    20 Zwischen 1913 und 1917 logierte Franz Kafka des öfteren im „Askanischen Hof“, um Felice Bauer, seine Verlobte, zu treffen. Als er zehn Jahre später vor seiner Prager Mischpoke endgültig nach Berlin flüchtete, zog er, der sich vor der tosenden Großstadt fürchtete, ins ländliche Steglitz.

    Stresemannstraße 78 (vormals Königgrätzer Straße 112/113, von 1930 bis 1935 Stresemannstraße und von 1935 bis 1947 Saarlandstraße) und Anhalter Straße 6 / Vicky Baum
    http://www.potsdamer-platz.org/excelsior.htm
    https://en.wikipedia.org/wiki/Hotel_Excelsior
    21 Um „Menschen im Hotel“ zu studieren - Liftboys und Hoteldetektive, abgehalfterte Ballerinen und erlebnishungrige Generaldirektoren, Portiers und Spieler -, lüftete die Journalistin Vicki Baum als Stubenmädchen im Hotel „Excelsior“ Betten und Berufsgeheimnisse.

    Wilhelmstraße 97 / Leipziger Straße 5–7 / Günther Grass
    https://de.wikipedia.org/wiki/Treuhandanstalt
    22 „Ein weites Feld“ beackern läßt Günter Grass seinen Theo Wuttke alias Fonty, Bürobote in der Treuhandanstalt und Fontane-Reinkarnation, und seinen spitzelnden „Tagundnachtschatten“ Hoftaller: die deutsche Einheit, Werk der „Raffkes und Schofelinskis“.

    Mauerstraße 34 : Achim von Arnim (von 1808 bis 1811), Clemens Brentano (von 1809 bis 1811), Karl Philipp Heinrich Pistor
    Mauerstraße 36: Rahel Varnhagen von Ense (von 1827 bis 1833), ihr Ehemann Karl August Varnhagen von Ense, die Familie Gans zu Putlitz im 19. Jahrhundert, Paul von Schwabach (von 1896 bis etwa 1913)
    Mauerstraße 51: Heinrich Heine (1822)
    Mauerstraße 53: Heinrich von Kleist (von 1810 bis 1811)
    https://de.wikipedia.org/wiki/Mauerstra%C3%9Fe_%28Berlin%29#Bekannte_Bewohner
    23 In einer Dichter-WG hausten die Volksliedsammler Achim von Arnim und Clemens Brentano 1809 in der Mauerstraße. Arnim erinnert sich an eine „eigentümliche, ein wenig verdrehte Natur“, ein „fester Beisitzer unseres Freßkollegiums“: Heinrich von Kleist.

    Behrenstraße 12 (Gedenktafel) Unter den Linden 6 (HU Haupteingang) / Heinrich Heine
    https://de.wikipedia.org/wiki/Heinrich_Heine#Studium_in_Bonn.2C_G.C3.B6ttingen_und_Berlin
    https://www.hu-berlin.de/service/kontakt/lage-anfahrt/campus-mitte
    24 Als der Student Heinrich Heine, Onkels Geld in der Tasche, erstmals Unter den Linden wandelte, „durchschauerte“ es ihn ehrfürchtig, daß dort schon „Lessing gestanden“ hatte. Bald darauf reimte er: „Blamier mich nicht, mein schönes Kind, und grüß mich nicht Unter den Linden. Wenn wir nachher zu Hause sind, wird sich schon alles finden.“

    Charlottenstraße 49 / E. T. A. Hoffmann
    http://www.fischersfritzberlin.com/3.0.html
    http://www.regenthotels.com/EN/Berlin/CONTACT-US
    25 Immer des Nachts benetzte der Kammergerichtsrat E. T. A. Hoffmann im Weinkeller von Lutter & Wegener, Charlottenstraße 49, seine bizarre Phantasie mit reichlich Champagner. Rund 130 Jahre später „verfraß“ dort Günter Kunert auf Gespenster-Hoffmanns Platz sein „erstes Honorar bis auf den letzten Reichspfennig, ohne daß ich dabei des Genius loci teilhaftig geworden wäre“.

    Bebelplatz / Erich Kästner
    http://de.wikipedia.org/wiki/Erich_K%C3%A4stner#Berlin_1933.E2.80.931945
    26 Am 10. Mai 1933 brannten auf dem Opern-, heute Bebelplatz die Bücher von zwei Dutzend Autoren. Nur einer von ihnen sah zu: Erich Kästner. „Es war Mord und Selbstmord in einem“, sagte er später über die Vernichtungsaktion.

    Französische Straße 32 (Robert-Bosch-Academy) / Walter Janka
    http://www.tagesspiegel.de/berlin/robert-bosch-academy-im-hof-der-franzoesischen-strasse-32-wurden-29-menschen-ermordet/10082268-2.html
    27 Walter Janka, den Chef des Aufbau-Verlags, hatten die DDR-Oberen 1957 in einem Schauprozeß als Konterrevolutionär nach Bautzen geschickt. Zuletzt präsentierten sie den Verlag in der Französischen Straße lieber als Aushängeschild der Toleranz, wo neben SED-Hardlinern wie Hermann Kant auch Christa Wolf, Erwin Strittmatter oder Christoph Hein erschienen.

    Gensdarmenmarkt / Theodor Fontane
    28 Rund 20mal zog Theodor Fontane, der subtile Feinzeichner der „guten Adressen“ und piefigen Hinterzimmer, in Berlin um, aber nie wechselte er den Parkettplatz 23 im Schauspielhaus am Gendarmenmarkt, den er als Theaterkritiker für die Vossische Zeitung innehatte.

    Französische Straße 56-60 (Ecke Friedrichstraße) / Rahel Varnhagen
    http://berlin.neubaukompass.de/Berlin/Mitte/Bauvorhaben-Palais-Varnhagen
    29 „Ich wünsche mir ein Hundehalsband mit der Inschrift: ,Ich gehöre Frau Varnhagen’“, seufzte Heinrich Heine, der um 1821 Stammgast in Rahels Salon war. Auch Johann Gottlieb Fichte, Georg Wilhelm Friedrich Hegel, Ludwig Tieck und Jean Paul gaben sich an der Ecke Französische/Friedrichstraße bei der „geistreichsten Frau des Universums“ die Klinke in die Hand.

    Friedrichstraße / Tomasso Marinetti
    https://www.freitag.de/autoren/der-freitag/der-schwarze-krach-der-lokomotive
    30 „Es lebe der Futurismus!“ ertönte ein Ruf im Frühjahr 1912. Es war Tomasso Marinetti, zu Besuch aus Italien, der mit Herwarth Walden im offenen Auto durch die Leipziger und Friedrichstraße fuhr, Manifeste unter die Menge werfend.

    Bertolt Brecht Platz
    31 Bertolt Brecht, dem Augsburger im Asphaltdschungel der großen Stadt, gelang 1928 im Theater am Schiffbauerdamm mit der „Dreigroschenoper“ ein Welterfolg. In dem Haus, das er 1954 für sein „Berliner Ensemble“ ertrotzte, hat sich nach der Ära Heiner Müller der Dramatiker Rolf Hochhuth zum Brecht-Erben ernannt.

    Chauseestraße Nr. 126 / Dorotheenstädtischer Friedhof / Anna Seghers
    http://de.wikipedia.org/wiki/Anna_Seghers
    http://de.wikipedia.org/wiki/Dorotheenst%C3%A4dtischer_Friedhof
    32 „Unter Bergen von Schweigen“, sagte Stephan Hermlin, habe Anna Seghers „Worte und Schreie“ verborgen, „die niemals laut wurden“. Auch für dieses Schweigen dankte ihr die DDR - mit einem Kissen voller Orden und einem Staatsbegräbnis 1983 auf dem Dorotheenstädtischen Friedhof.

    Chausseestraße 131 / Wolf Biermann
    33 „Ich sitze auf der morschen Bank / ganz nahe bei Eisler und Brecht“, besang Wolf Biermann in seiner Wohnung Chausseestraße 131 den Hugenottenfriedhof und den Dorotheenstädtischen nebenan. Auf dem liegen Helene Weigel, John Heartfield, Heinrich Mann und Arnold Zweig, Hegel und Fichte und Johannes R. Becher, der „Barde Moskaus“.

    Friedrichstraße 107 / Joachim Ringelnatz
    http://de.wikipedia.org/wiki/Friedrichstadt-Palast
    http://www.palast.berlin/de/index/info
    34 „Bülow, Nolle, Witte, Zoo ...“, zählte einst Joachim Ringelnatz auf den Brettln von Max Reinhardts Souterrain-Kabarett „Schall und Rauch“ Berliner U-Bahn-Stationen ab. Heute steht dort der Neue Friedrichstadtpalast.

    Oranienburger Straße / Kurfürsten/Bülowstraße / Pieke Biermann
    35 Die „Mitmädels“ vom Ost-Kiez aus der Oranienburger „versauen die janze Brangsche mit ihre Scheißluden“, maulen die Asphaltpflanzen West von der Tiergartenstraße. Aber dann halten die „Kolleejinnen“ in Pieke Biermanns Huren-Krimi „Herzrasen“ doch gegen die „einschwänzije Menschheit“ zusammen.

    Bernauer Straße / Johannes Mario Simmel
    http://de.wikipedia.org/wiki/Bernauer_Stra%C3%9Fe
    http://de.wikipedia.org/wiki/Johannes_Mario_Simmel
    36 „Lieb Vaterland, magst ruhig sein“, heißt Johannes Mario Simmels Mauerroman, in dem Bruno Knolle, Biberkopfs trivialer Wiedergänger ("Busen. Busen. Busen. Soviel Fleisch auf Papier!"), unter der Hasenauerstraße (alias Bernauer Straße) eine „dicke Olle“ durch den engen Fluchttunnel zerrt, sich dann selbst von Ost nach West durchbalinert und am Ende der Geleimte ist.

    Mauerpark / John le Carre
    http://de.wikipedia.org/wiki/Mauerpark
    http://de.wikipedia.org/wiki/Der_Spion,_der_aus_der_K%C3%A4lte_kam_%28Roman%29
    http://de.wikipedia.org/wiki/Der_Spion,_der_aus_der_K%C3%A4lte_kam_%28Film%29
    37 Alec Leamas, John le Carres „Spion, der aus der Kälte kam“, gerät zwischen die Fronten des Kalten Krieges und wird bei dem Versuch, nördlich der Bernauer Straße die Mauer von Ost nach West zu überklettern, erschossen.

    Sperlingsgasse / Wilhelm Raabe
    http://de.wikipedia.org/wiki/Sperlingsgasse
    http://de.wikipedia.org/wiki/Friedrichsgracht
    http://www.luise-berlin.de/bms/bmstxt97/9709gesc.htm
    38 Wacholder alias Wilhelm Raabe, der Chronist der Sperlingsgasse, würde seine Straße heute kaum wiedererkennen. Sogar die „Raabe-Diele“, eine von Heinrich Zilles geliebten Milljöh-Stammkneipen, fiel im Krieg in Trümmer.

    Gertraudenstraße / Lion Feuchtwangers
    https://de.wikipedia.org/wiki/Gertraudenstra%C3%9Fe
    39 In der Gertraudenstraße lag das Stammhaus der Möbelfirma, die Lion Feuchtwangers jüdische „Geschwister Oppermann“ so lange führten, bis die geliebte Stadt Berlin ihr „freundliches, vertrautes Gesicht über Nacht zu einer bösartigen Fratze verzerrt“.

    Burgstraße 12 / Gotthold Ephraim Lessing
    https://de.wikipedia.org/wiki/Hotel_K%C3%B6nig_von_Portugal_%28Berlin%29
    40 Im „König von Spanien“ gabelt Gotthold Ephraim Lessings Minna von Barnhelm ihren Tellheim auf - behorcht und beguckt vom Wirt, einem schleimigen Polizeispitzel. Glasklar erkannten die Berliner 1768 die Nobelherberge „König von Portugal“ in der ehemaligen Burgstraße.

    Alexanderplatz / Alexanderstraße / Polizeipräsisium
    https://de.wikipedia.org/wiki/Alexanderplatz
    https://de.wikipedia.org/wiki/Polizeipr%C3%A4sidium_Alexanderplatz
    http://www.anderes-berlin.de/html/das_polizeiprasidium.html
    http://www.potsdamer-platz.org/polizeipraesidium.htm
    41 Auf dem Alex steht Franz Biberkopf, will anständig werden und verkauft Zeitungen. „Lieb Vaterland, magst ruhig sein, ich hab die Augen auf und fall nicht rein“, denkt er. Aber weil er vom Leben mehr verlangt als das Butterbrot, ist er am Schluß doch ramponiert. 1929 erschien „Berlin Alexanderplatz“, Alfred Döblins „erste gewaltige und ganz gültige Biographie unserer Stadt“.

    Lübecker Straße 13 / Kurt Tucholsky
    https://www.google.de/maps/@52.528506,13.345344,3a,15y,84.6h,91.67t/data=!3m4!1e1!3m2!1sYTSzcajs_G72IhoyPKtaCA!2e0!6m1!1e1
    42 Ein „kleiner, dicker Berliner, der mit der Schreibmaschine eine Katastrophe aufhalten wollte“ (Kästner), wurde 1890 in der Lübecker Straße 13, Moabit, geboren: Kurt Tucholsky, der noch aus der schwedischen Emigration für die Weltbühne arbeitete.

    Majakowskiring 34 / Johannes R. Becher
    https://de.wikipedia.org/wiki/Liste_der_Kulturdenkmale_in_Berlin-Niedersch%C3%B6nhausen
    43 „Auferstanden aus Ruinen“ - hymnisch bedichtete der Ex-Expressionist Johannes R. Becher den Staat, dessen Kulturminister er später wurde. Er und seine Nachbarn Alfred Kantorowicz, Erich Weinert, Arnold Zweig und Stephan Hermlin trugen Niederschönhausen den Ruf ein, „Dichterviertel“ der DDR-Hauptstadt zu sein.

    Schönhauser Allee 36 / PEN Club / Kulturbrauerei
    http://www.christoph-links.de
    44 Noch immer harren die PEN-Clubs in Ost und West der Wiedervereinigung. Zum Grauen ehemaliger Dissidenten wie Günter Kunert und Sarah Kirsch haben einstweilen mehr als 70 Autoren des West-PEN, darunter Grass, Simmel und Peter Rühmkorf, demonstrativ zum Ost-PEN mit Sitz in der Schönhauser Allee 36 „rübergemacht“.

    Lychener Straße 73 / Sascha Anderson
    http://www.galrev.com/material/seiten/frameset_verlag.html
    http://mediendienstleister.com/detailansicht/esp/ServiceProvider/detail/fotolia-deutschland.html
    45 Mit dem Gründer des Galrev-Verlags, Sascha Anderson, und Kompagnon Rainer Schedlinski (IM „Gerhard“) versank 1991 auch der Mythos Prenzlauer Berg im Stasi-Sumpf. Die IMs blieben, Autoren wie Wolfgang Hilbig und Durs Grünbein verließen das Flaggschiff der Literaten-Avantgarde in der Lychener Straße 73.

    Wittelsbacherstraße 5 / Erich Maria Remarque
    https://de.wikipedia.org/wiki/Erich_Maria_Remarque
    http://berlin.kauperts.de/Strassen/Wittelsbacherstrasse-10707-Berlin
    46 „Im Westen nichts Neues“, meldete 1928 Erich Maria Remarque, damals Redakteur bei Sport im Bild, aus der Wittelsbacherstraße 5 in Wilmersdorf.

    Erdener Straße 8 / Samuel Fischer
    http://www.morgenpost.de/berlin-aktuell/article1528127/In-denkmalgeschuetzter-Villa-bricht-Feuer-aus.html
    https://de.wikipedia.org/wiki/Liste_der_Kulturdenkmale_in_Berlin-Grunewald
    47 In der Erdener Straße 8, wo einst der Verleger Samuel Fischer mit Gästen wie Thomas und Heinrich Mann, Rainer Maria Rilke, Alfred Kerr oder Jakob Wassermann den gefürchteten violinistischen Darbietungen Albert Einsteins lauschte, richtete Hans Werner Richter, Mentor der Gruppe 47, in den sechziger Jahren seinen „literarisch-politischen Salon“ ein, in dem sich - von Ingeborg Bachmann bis Wolfdietrich Schnurre, von Siegfried Lenz bis Uwe Johnson - wieder die Literaturprominenz traf.

    Ludwig-Barnay-Platz Ernst Busch
    http://www.kuenstlerkolonie-berlin.de
    48 Von den rund 300 Genossenschaftswohnungen der „Künstlerkolonie“ rund um den Laubenheimer Platz (heute Ludwig-Barnay-Platz) leerten sich etliche bald nach Hitlers Machtantritt. Der „Rote Block“ mit Ernst Bloch, Alfred Kantorowicz, Gustav Regler, Arthur Koestler und Erich Weinert emigrierte - der Kultur-Exodus hatte begonnen.

    Niedstraße 14 / Uwe Johnson (Grass Niedstraße 13) / Bergstraße
    49 Daß Uwe Johnson, aus der „D.D.R.“ kommend, 1959 in die Friedenauer Niedstraße gezogen war, wußten nur Eingeweihte wie Wolfgang Neuss und sein späterer Nachbar Günter Grass. Bevor Johnson 1966 in der Stierstraße vorübergehend die „Kommune I“ zur Untermiete aufnahm, lebte er fast zehn Jahre „unbehelligt in einem Postfach“ im Postamt 41.

    Friedrichshagen Scharnweberstraße 73 / Müggelseedamm 254 / Wilhelmstraße 72 (seit 1951: Peter-Hille-Straße 66) / Ahornallee 19 / Ahornallee 22
    https://de.wikipedia.org/wiki/Wilhelm_Bölsche
    50 In Friedrichshagen probte ab 1890 ein Kreis stadtmüder Naturalisten um Wilhelm Bölsche, Bruno Wille und die Brüder Hart das alternative Leben. Mit dabei: Gerhart Hauptmann und Erich Mühsam. Auch Frank Wedekind, August Strindberg und Richard Dehmel liebten Bölsches gastliches Haus, „wo bei belegten Stullen und Lagerbier immer eine gehobene Stimmung herrschte“, wie Max Halbe berichtet.

    Gerhart-Hauptmann-Str. 1-2, 15537 Erkner
    http://www.hauptmannmuseum.de
    https://de.wikipedia.org/wiki/Gerhart-Hauptmann-Museum_%28Erkner%29
    51 Gerhart Hauptmann verzog sich 1885 nach Erkner. Doch selbst von dort konnte er „den Widerschein der Riesin blutrot am Himmel“ sehen: „Das ungeheure Lebewesen und Sterbewesen Berlin war mir alpartig gegenwärtig.“

    #Berlin #Sightseeing #Literatur