Vorsorge ist besser (Tageszeitung junge Welt)

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  • Vorsorge ist besser
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    Der Kampf um das Gesundheitswesen. Teil 8: Die DDR knüpfte an die Erfahrungen der Arbeiterbewegung an. Gesetzliche Impfpflicht verhinderte Infektionen

    Mit der Coronapandemie treten die Folgen ungebremsten Profitstrebens offen zutage: Klinikprivatisierungen, Fallpauschalen, Personal- und Bettenmangel – der neoliberale Raubzug hat das öffentliche Gesundheitssystem zerstört. Diese zehnteilige jW-Serie zeigt Profiteure, Widerstand gegen Kürzungswahn und gesellschaftliche Alternativen. (jW)

    Epidemien und ihre Bekämpfung sind eine Klassenfrage. Friedrich Engels schilderte in seiner Schrift »Zur Wohnungsfrage« 1872: Als Pocken und Cholera im 19. Jahrhundert aus den proletarischen Quartieren »in die luftigeren und gesunderen, von den Herren Kapitalisten bewohnten Stadtteile« drangen, »entbrannten die menschenfreundlichen Bourgeois in edlem Wetteifer für die Gesundheit ihrer Arbeiter« und kümmerten sich um Hygienevorschriften. Für den Sozialismus sollte aus marxistischer Sicht gelten: Soziale und medizinische Prophylaxe gewährleisten, statt schon das Medizinstudium auf Therapie gegen Barzahlung zu trimmen, Vorsorge statt »Reparatur«.

    Das wurde im revolutionären Russland Praxis. Laura Spinney hält in ihrem Buch »1918. Die Welt im Fieber. Wie die Spanische Grippe die Gesellschaft veränderte« fest, dass es 1920 das erste Land gewesen sei, »das ein zentralisiertes, vollständig von der öffentlichen Hand getragenes Gesundheitssystem realisierte«. Die treibende Kraft dahinter sei Lenin gewesen. 1924 habe die sowjetische Regierung dann die Universitäten aufgerufen, den Ärzten u. a. Folgendes mit auf den Weg zu geben: »Die Fähigkeit, berufliche und soziale Krankheitsfaktoren zu erkennen und Krankheiten nicht nur zu heilen, sondern auch Wege zu ihrer Vermeidung aufzuzeigen«. Für Lenin sei Medizin nicht nur eine biologische und experimentelle, sondern auch eine soziologische Disziplin gewesen.

    Das lässt sich genauer ausdrücken: Infektionskrankheiten bedrohten unmittelbar nach der Oktoberrevolution die Existenz Sowjetrusslands. Während des Bürgerkrieges breitete sich z. B. unter den Rotarmisten epidemieartig Fleckfieber aus, das vor allem von der Kleiderlaus übertragen wird. Lenin schlug Alarm und formulierte auf einer Parteikonferenz im Dezember 1919 drastisch: »Entweder besiegen die Läuse den Sozialismus, oder der Sozialismus besiegt die Läuse!«

    In den folgenden Jahrzehnten war das sowjetische Gesundheitswesen bei der Bekämpfung der Erreger von Pocken, Tuberkulose oder Cholera sehr erfolgreich. Die am 8. Mai vor 40 Jahren von der WHO offiziell verkündete Ausrottung der Pocken, die noch in den 1960ern jährlich rund zwei Millionen Menschen weltweit das Leben kosteten, geht auf eine von der Sowjetunion 1958 vorgeschlagene Impf- und Eindämmungsstrategie zurück.

    DDR-Politiker wie Wilhelm Pieck oder Walter Ulbricht kannten noch proletarische Elendsviertel aus eigenem Erleben. Sie stützten sich beim Aufbau des DDR-Gesundheitswesens auf die in der Sowjetunion gemachten Erfahrungen. Aber Prophylaxe ist teuer, sie verlangt, Reserven bei Personal, Räumen und Material zu bilden. Trotz der ungleich schlechteren wirtschaftlichen Ausgangsbedingungen im Vergleich zur BRD gewährleistete die DDR jedoch kostenlose und flächendeckende Behandlung für alle sowie ein dichtes Vorsorgenetz. So verfügten alle größeren Industriewerke und Einrichtungen über sogenannte Betriebsambulatorien oder Polikliniken. Dort wurde der Gesundheitszustand der Beschäftigten entweder pflichtgemäß untersucht (etwa bei gesundheitsschädlichen Arbeitsbedingungen), oder sie konnten das Angebot freiwillig nutzen. Regelmäßige prophylaktische Kuren für Zehntausende waren selbstverständlich und wurden stark in Anspruch genommen. Gleiches galt für Rehabilitationskuren. Die heutige Wiederkehr der Polikliniken in der reduzierten Form der Ärztehäuser spricht für sich. Das Gerücht, ein Klinikbett müsse Rendite bringen, breitete sich irgendwann von den USA her aus – interessierte in der DDR aber niemanden.

    Zur Vorsorge gehörte seit den 50er Jahren eine gesetzliche Impfpflicht, die immer umfassender wurde: gegen Pocken, Kinderlähmung, Diphtherie, Tetanus, Keuchhusten, Tuberkulose, ab den 70er Jahren auch gegen Masern. Empfohlen wurde wie heute eine Grippeimpfung. Bis zum 18. Lebensjahr erhielten Heranwachsende knapp 20 Schutzimpfungen. Die Erfolge waren enorm, die Infektionszahlen sanken rapide. Als in der BRD 1960 die Kinderlähmung wütete, galt die DDR-Bevölkerung bereits seit zwei Jahren als immunisiert. Ostberlin bot im Juni 1961 der BRD drei Millionen Impfdosen an – als humanitäre Geste für das von Polio heimgesuchte Ruhrgebiet, das bereits 42 Totesfälle verzeichnete. Konrad Adenauer lehnte die »Entwicklungshilfe« aus dem Osten ab. Der Impfstoff sei zu unsicher. Die DDR bot da bereits allen aus der BRD Einreisenden die Impfung kostenlos an.

    Nach Ausbruch der sogenannten Hongkong-Grippe, an der in der DDR zwischen 1969 und 1971 fast neun Millionen Menschen litten und Tausende starben, verabschiedete die Regierung 1970 einen Pandemieplan, mit dem das Land seiner Zeit weit voraus war. Die Probleme der 80er Jahre machten um das DDR-Gesundheitswesen keinen Bogen. Die Absetzbewegung vor allem junger Ärzte in den Westen wurde stärker. Das war schlimmer als der Mangel an modernsten Geräten, an Materialien oder die dadurch bedingten Forschungsrückstände. Esoterische Geistheilerei und Impfgegnerschaft schwappten hier und da herüber, die Masern tauchten wieder auf. 1990 zeigte sich: Das waren Vorboten der systematischen Zerstörung eines Gesundheitswesens, das seinen Namen verdient hatte.