• „Wir haben es selbst in der Hand“, Christian Drosten | ZEIT ONLINE
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    „Wir haben es selbst in der Hand“

    Quarantäne vor Familientreffen, Halskratzen ernst nehmen und mögliche Impfungen nicht überschätzen: Was der Virologe Christian Drosten jetzt für den Corona-Winter rät.

    Die Zahl der Neuinfektionen steigt. Doch Deutschland könne noch gut durch den Corona-Winter kommen, sagt der Virologe Christian Drosten. Bei Kälte drinnen im Restaurant sitzen? Die geplante Party wirklich feiern? Jetzt komme es auf die kleinen Alltagsentscheidungen an. Und darauf, dass alle mitmachen.

    ZEIT ONLINE: Obwohl die Situation der Corona-Neuinfektionen angespannter ist als noch im Juni, wirken Sie – nach Ihrer Medienpause im Sommer – entspannter. Täuscht das?

    Christian Drosten: Wenn ich den Pandemieverlauf betrachte, bin ich in einem Zustand der gespannten Aufmerksamkeit. Wir befinden uns in einer Phase, in der es vonseiten der Medizin keine größeren Probleme gibt – im Sinne überfüllter Krankenhäuser und Intensivstationen –, in der wir aber aufpassen müssen, dass es dazu auch nicht kommt. Bei diesem Virus muss man früh reagieren. Das sieht man, wenn man Deutschland und England vergleicht, zwei ähnlich strukturierte Länder. Deutschland war im Frühjahr mit Maßnahmen einfach etwas früher dran. Das Resultat ist, dass wir hierzulande bisher weniger Infektionen und Todesfälle hatten.

    ZEIT ONLINE: Haben wir die Zügel in der aktuellen Phase noch in der Hand?

    Drosten: Absolut. Die Frage ist: Wie viel Puffer haben wir, sollte es wieder mehr schwere Fälle geben, weil sich zunehmend wieder mehr ältere Menschen infizieren? Im Moment gibt es in der klinischen Versorgung noch ganz viel Puffer. Aber anderswo in Europa sehen wir, dass die Stationen schon wieder voll sind, etwa in Südfrankreich oder in Madrid. Das zu vermeiden, haben wir in der Hand.

    ZEIT ONLINE: Bund und Länder haben gerade neue Regeln beschlossen und zur strengeren Einhaltung der schon geltenden gemahnt. Wenn die Zahl der gemeldeten Neuinfektionen in einem Landkreis 35 pro 100.000 Einwohnerinnen und Einwohner übersteigt, sollen strengere Regeln für Feiern gelten. Außerdem sollen die Gesundheitsämter weiter gestärkt werden. Reicht all das, um durch Herbst und Winter ohne eine Explosion der Fallzahlen zu kommen?

    Drosten: Das kann keiner beurteilen, das müssen wir sehen. Sicherlich ist es sinnvoll, die Gruppengröße für geschlossene Räume zu begrenzen, denn das reduziert die Wahrscheinlichkeit von Superspreading-Ereignissen, bei denen ein Einzelner viele andere ansteckt. Aber man kommt bei solchen Regeln relativ schnell in Unsicherheiten hinein. Da stellen sich Fragen: Wie groß darf so eine Gruppe sein? Und was ist mit der Aufenthaltsdauer oder der Höhe des Raums? Ich war vor Kurzem auf einer Veranstaltung in einer Fabrikhalle. Die war so hoch, das war praktisch draußen.

    ZEIT ONLINE: Das heißt, man muss gewisse Werte einfach willkürlich festlegen?

    Drosten: Genau, und das ist der Unterschied zwischen Wissenschaft und Politik. Ein Politiker muss pragmatisch sagen: „Da ist jetzt mal die Grenze.“

    ZEIT ONLINE: Das wichtigste Kriterium, ob strengere Maßnahmen eingeführt werden, ist weiterhin die Zahl der gemeldeten Neuinfektionen. Aber nicht jede davon führt zu einer schweren Erkrankung. Wissenschaftler wie Hendrik Streeck fordern deshalb, stärker auch andere Kriterien mit heranzuziehen, etwa die Zahl der Krankenhauseinweisungen oder die Testpositivenrate, wie es etwa schon in Österreich passiert. Hielten Sie das für sinnvoller als die aktuelle Hotspotstrategie?

    Drosten: Es stimmt natürlich: Nicht jeder Covid-19-Fall ist für das Ausbruchsgeschehen oder medizinisch gesehen gleich relevant. Die Fallsterblichkeit unterscheidet sich zwischen den Altersgruppen sehr stark. Alte Menschen sterben im Schnitt viel häufiger an einer Covid-Erkrankung als junge, auf die in den letzten Monaten besonders viele Infektionen entfielen. Ich kann deshalb verstehen, dass man gern einen Zusatzindikator hätte, etwa die Bettenbelegung. Mein Einwand ist, dass die Neuinfektionen selbst schon ein nachlaufender Parameter sind.

    ZEIT ONLINE: Was bedeutet das?

    Drosten: Die Diagnose hat eine Verzögerung von einer Woche, teilweise durch die Überlastung einiger Labore sogar etwas mehr. Ein Patient, bei dem heute das Coronavirus festgestellt wird, ist also ein Indikator dafür, wie viel an Virus vor einer Woche in der Gesellschaft unterwegs war. Und die Bettenbelegung läuft noch länger nach, weil die Patienten oft erst eine Woche nach der Diagnose ins Krankenhaus müssen. Eine Möglichkeit für ein weiteres Kriterium wäre: Man könnte nicht nur die Infizierten zählen, sondern gesondert auch die Infizierten über 50 Jahre. Anhand dieser Zahl könnte man gut prognostizieren, mit wie viel schweren Verläufen man demnächst rechnen muss.

    „Ich bin absolut ersetzbar“

    ZEIT ONLINE: Im Sommer haben viele Menschen ihr Sozialleben nach draußen verlagert. Das geht nun langsam nicht mehr so gut. Kanzlerin Angela Merkel hat deshalb noch einmal betont, wie sehr es immer noch auf das Verhalten jedes Einzelnen ankommt. Welche Tipps haben Sie jenseits der AHA-Regeln aus Abstand, Hygiene und Alltagsmasken oder des besseren Lüftens?

    Drosten: Wichtig ist, dass wir alle mitdenken und verstehen: Wir haben es selbst in der Hand. Dann handeln wir auch klug, selbst wenn wir unbeobachtet sind. Es geht um viele kleine Alltagsentscheidungen. Wenn man zum Beispiel essen geht und die Frage aufkommt: Sollen wir uns noch reinsetzen, obwohl es drinnen recht voll ist? Geht man rein oder sagt man: „Ja, es ist kalt, aber lasst uns doch noch eine Viertelstunde draußen sitzen und dann nach Hause gehen.“ Oder die Frage, ob man eine Party, die man geplant hatte, wirklich feiern muss diesen Winter, ob man für sie vielleicht einen luftigen, besonders großen Raum finden kann oder sie auf nächstes Jahr verschiebt. Das sind ja alles Dinge, die sind nicht verboten und die kann und will auch keiner regulieren. Es geht darum, dass wir alle die Lage ernst nehmen, während wir versuchen, einen normalen Alltag zu haben. Wir müssen alle dafür ein Augenmaß entwickeln.

    ZEIT ONLINE: Wie machen Sie das? Gehen Sie noch in Restaurants?

    Drosten: Ich schaffe es im Moment aus Zeitgründen leider nicht allzu häufig, privat essen zu gehen. Aber ich setze mich gern nach draußen, auch wenn es etwas kälter ist.

    ZEIT ONLINE: Wie soll es an Weihnachten werden, wenn ganz Deutschland zur Familie fährt und dann auch mit den Großeltern in Kontakt kommt? Lässt sich das risikoärmer gestalten?

    Drosten: Ich halte das Prinzip der Vorquarantäne für eine gute Idee. Also dass Menschen einige Tage, optimalerweise eine Woche, vor dem Familienbesuch mit Oma und Opa soziale Kontakte so gut es geht vermeiden. Natürlich muss jeder im Einzelfall überlegen, wie das im Alltag umsetzbar ist: Wie macht man das mit den Kindern, die in die Kita oder die Schule gehen? Und kann man vor dem Familienbesuch einige Tage lang Besprechungen vermeiden oder ganz im Homeoffice arbeiten, wenn der Beruf es zulässt?

    Dann fährt man zu den Verwandten und hat im Hinterkopf, dass man sich in dieser Woche mit weniger Kontakten wahrscheinlich nicht infiziert hat. Wenn überhaupt, dann hat man sich vielleicht eher in der Woche zuvor angesteckt, und dass in diesem Fall alle aus der Familie symptomfrei bleiben, ist eher unwahrscheinlich. Das könnte ein Ansatz sein für die kommende Zeit, jetzt für die Herbstferien und vielleicht auch für Weihnachten. Aber natürlich gilt auch hier: Menschen müssen Risiken in einer Pandemie ein Stück weit selbst abwägen. Es gibt keine totale Sicherheit, es bleiben immer Restrisiken.

    ZEIT ONLINE: Umfragen zeigen, dass wieder etwas mehr Menschen in Deutschland glauben, ein hohes Ansteckungsrisiko zu haben. Gleichzeitig geben weniger Leute an, sich an die AHA-Regeln zu halten. Können Sie nachvollziehen, dass manche es schleifen lassen oder ausbrechen wollen?

    Drosten: Ja, das ist komplett menschlich. Und so etwas passiert natürlich auch situativ, zum Beispiel unter Alkoholeinfluss. Ich kann auch nachvollziehen, dass Dinge verschleißen und dass man über den Sommer die Lage nicht ernst genommen hat, weil die Krankheit nicht so stark sichtbar war. Aber nun zeigt den Menschen der Blick ins europäische Ausland, dass es auch wieder schwierigere Situationen geben kann. Vielleicht sollten wir auch mehr auf die Südhalbkugel schauen, die den Winter schon hinter sich hat. Argentinien zum Beispiel, ein Land mit ähnlicher Altersstruktur wie Deutschland, hat die Pandemie trotz eines langen Lockdowns nur schwer unter Kontrolle gebracht.

    ZEIT ONLINE: Neben dem individuellen Verhalten ist auch der sinnvolle Einsatz von Tests wichtig. Aktuell überarbeitet die Politik die nationale Teststrategie. Sind Sie daran beteiligt?

    Drosten: Ich werde vielleicht hier und da mal gefragt, was meine Meinung ist. Und wenn nicht, ist das auch nicht schlimm. Ich bin absolut ersetzbar. Ich erwarte, dass ich die Teststrategie das erste Mal sehe, wenn sie veröffentlicht wird.

    ZEIT ONLINE: Was sollte in der Teststrategie stehen?

    Drosten: Mein Mantra ist, dass wir die Menschen testen sollten, die Corona-Symptome haben. Ich lehne nicht all die Gründe für symptomfreies oder Massentesten ab. Aber wir können nicht alle testen. Wir können nicht damit rechnen, dass wir die Diagnostik mit PCR noch weiter ausbauen können. Es könnte sogar sein, dass die Kapazität schrumpft, weil Materialien fehlen. Das sind nicht nur die Reagenzien, sondern auch Verbrauchsmaterialien, Plastikteile etwa. Deshalb müssen wir die Testung dahin steuern, wo sie mit höherer Wahrscheinlichkeit die Krankheit anzeigt. Das hilft Gesundheitsämtern bei der Kontaktnachverfolgung und den einzelnen Patienten. Und bei einem positiven Test muss ein Hausarzt seine Patienten auf dem Zettel haben, was verhindert, dass Schwerkranke zu spät in die Klinik gebracht werden.

    ZEIT ONLINE: Was sollte in der Teststrategie noch vorkommen?

    Drosten: Ich halte es für wichtig, einen Schwellenwert zu finden, der unterscheidet zwischen Infektion und Infektiosität. Der also nicht nur zeigt, ob ein Mensch infiziert ist, sondern auch, ob er ansteckend ist. Das ist zum Beispiel für die Gesundheitsämter sehr wichtig und wird in der Teststrategie sicherlich umgesetzt werden.

    „Wir testen die Produkte verschiedener Firmen“

    Drosten: Wir wissen inzwischen ziemlich genau, dass Infizierte ungefähr eine Woche nach den ersten Symptomen ansteckend sind: durch epidemiologische Beobachtungen und weil sich im Labor eine Woche nach Symptombeginn das Virus nur noch bei einem Fünftel aller Proben anzüchten lässt. Ein Expertengremium, das die Studienlage dazu sichtet, könnte sich anhand dieser Daten pragmatisch auf einen Schwellenwert einigen. Unterhalb dieser Schwelle an Viruslast würde ein Mensch nicht als infektiös gelten, oberhalb schon. Wahrscheinlich wird es dazwischen noch einen Korridor geben, einen Graubereich, in dem das nicht so klar ist. „Wahrscheinlich infektiös“, „Graubereich“ oder „wahrscheinlich nicht infektiös zum Zeitpunkt der Probenentnahme“: Das könnte künftig in allen Laborberichten stehen.

    ZEIT ONLINE: Und was ist mit Alternativen zum PCR-Test, dem einzigen Laborverfahren, mit dem Abstriche momentan zuverlässig ausgewertet werden können?

    Drosten: Viele Alternativen, über die gerade diskutiert wird, etwa LAMP-Tests – also eine besondere Variante des PCR-Verfahrens – oder Massensequenzierungen, sind interessant. Aber nicht mehr für diese Pandemie, nicht mehr in diesem Winter. Der Hauptgrund ist, dass diese Tests alle trotzdem noch im Labor gemacht werden müssen. Es ist keine Testung, die man zum Patienten bringt, wo man an ein und demselben Ort den Test entnimmt und auswertet. Aber genau die bräuchten wir.

    ZEIT ONLINE: Hier sind schnelle Antigentests eine große Hoffnung für die Zukunft. Für wie gut halten Sie die Tests, die derzeit auf den Markt kommen?

    Drosten: Das ist eine total gute Entwicklung. Diese einfachen Antigentests funktionieren bei Sars-CoV-2 deutlich besser als etwa bei der Influenza, also der Grippe. Wohl auch, weil Infizierte ziemlich viel Virus im Rachen haben. Wir sind hier an meinem Institut gerade wie einige andere Labore in Deutschland damit beschäftigt, die Tests zu validieren. Wir testen die Produkte verschiedener Firmen. Die Qualität schwankt teilweise noch etwas, weil die Produktionsprozesse gerade erst aufgebaut werden. Aber insgesamt funktionieren diese Tests gut. Sie sind zwar nicht so empfindlich wie eine PCR, werden aber in einem Bereich positiv, in dem Menschen wahrscheinlich auch infektiös sind.

    ZEIT ONLINE: Das heißt, Antigentests könnten bald dabei helfen, zu unterscheiden, ob jemand ansteckend ist oder nicht?

    Drosten: Wenn es gut läuft, dann vielleicht schon. Das wäre natürlich super. Damit könnte man in ganz vielen Situationen arbeiten. Endgültig kann ich das aber noch nicht sagen. Ich bin mir nicht sicher, ob die Validierung der Antigentests aus mehreren Laboren zur neuen Teststrategie bis Mitte Oktober vorliegt. Und wahrscheinlich wird man bis dahin auch nicht mit der Einschätzung fertig sein, bis zu welcher Viruslast jemand ansteckend ist.

    ZEIT ONLINE: Wo würden Sie Antigentests sinnvoll einsetzen?

    Drosten: Man will damit vor allem eine Akutdiagnose stellen bei Patientinnen und Patienten mit Symptomen. Das ist das Allerwichtigste. Menschen haben, während sie Symptome haben, viel Virus im Rachen, selbst bei milden Beschwerden. In so einem Fall könnte man sagen: Wenn jemand Symptome hat und der Antigentest negativ ist, dann hat diese Person nicht Covid-19. Diese Aussage würde ich mir wahrscheinlich demnächst zutrauen, wenn die Daten noch mal etwas härter sind, als ich sie jetzt schon sehe. Im positiven Fall müsste man das Ergebnis des Antigentests per PCR bestätigen – auch schon allein wegen der Meldung.

    ZEIT ONLINE: Es wird aber auch darüber diskutiert, Antigentests an der Tür zu Pflegeheimen einzusetzen, um zu entscheiden, ob jemand seine Angehörigen besuchen darf. Diese Menschen haben in der Regel keine Symptome und trotzdem müsste ein Test zuverlässig erkennen, ob sie infektiös sind. 

    Drosten: Einerseits wissen wir mittlerweile, dass asymptomatisch Infizierte nicht weniger Virus ausscheiden, höchstens kürzer. Daher gehe ich davon aus, dass ein Antigentest auch bei Infizierten ohne Symptome positiv ausfallen wird. Wenn die Tests einmal validiert sind und sich die Labore ein Bild davon gemacht haben, können solche Tests gerade für Pflegeeinrichtungen ein Gewinn sein, zumal es dort medizinisches Personal gibt, das den Test durchführen kann. Wichtig ist aber, dass in diesem Fall keine Diagnose gestellt wird, sondern nur eine momentane Abschätzung der Infektiosität gemacht wird. Eine Lösung wäre, festzulegen, dass das negative Testergebnis nur für die Dauer des Besuchs Gültigkeit hat und danach verfällt. Unabhängig davon bleibt es aber weiterhin wichtig, Maske zu tragen, Abstand zu halten und die Hygieneregeln zu beachten.

    „Das ziehen wir jetzt alle gemeinsam durch“

    ZEIT ONLINE: Bei Kulturveranstaltungen oder vor Clubs und Bars ist das anders. Und auch dass der Normalbürger sich zu Hause testet, ist noch nicht absehbar.

    Drosten: Die Corona-Schnelltests müssten zuvor als Heimtests zugelassen werden. Und ich höre von Experten, dass eine solche Validierung noch dauern wird. Probleme gibt es vor allem beim Handling: Wenn die Qualität der Tests stimmt, muss man ja sicherstellen, dass Menschen sie korrekt anwenden, dass sie etwa den Rachenabstrich richtig machen. Das ist so schnell nicht umsetzbar, daher werden wir einen pragmatischen Umgang finden müssen.

    ZEIT ONLINE: Ein Problem dürfte auch die Kapazität sein. Wie viele Antigentests werden in Deutschland pro Monat zur Verfügung stehen?

    CHRISTIAN DROSTEN
    Drosten: Von dem, was ich höre, bewegt sich das im Millionenbereich, nicht nur drei, aber wohl auch keine 20. Die Frage ist nur, was passiert, wenn andere Länder denselben Bedarf haben? Sind dann ausreichend Tests lieferbar? Solche Probleme gab es ja auch bei der PCR. Sicher ist jedenfalls: Wir werden uns nicht aus der Pandemie raustesten können. Das sind Gedankenexperimente, die akademisch reizvoll sind, aber nicht umsetzbar. Viel wichtiger scheint mir, die Bevölkerung mitzunehmen. Dazu gehört auch, noch einmal zu erklären, dass doch die meisten Infizierten Symptome bekommen und wie die sich anfühlen können. Selbst in Deutschland gibt es noch so viel Unkenntnis darüber, obwohl wir schon extrem viel geschafft haben bei der Informationsvermittlung.

    ZEIT ONLINE: Wen sehen Sie da in der Pflicht?

    Drosten: Vor allem die Politik. Dass die Bundeskanzlerin vor der Kamera schrittweise eine Verdoppelung der Fallzahlen vorrechnet, finde ich gut. Ich würde mir von Politikern auch wünschen, dass sie sagen: Wahrscheinlich haben 80 Prozent aller Erwachsenen eben doch Symptome, wenn man die laufende Nase und das leichte Halskratzen mitzählt. Achten Sie darauf. Und wenn Sie so etwas haben, bleiben Sie zu Hause. Ein Wort von sehr hoher Stelle hat da einfach eine große Reichweite, und die Botschaften sind simpel. Es ist aber wichtig, dass sie gesendet werden.

    ZEIT ONLINE: Müssten nicht auch Hausärztinnen und -ärzte die Menschen hier besser aufklären?

    Drosten: Ja, das müssten sie unbedingt. Allerdings wundere ich mich manchmal schon, dass von dieser Seite bei der Aufklärung der Patientenschaft nicht nur Unterstützung kommt, sondern dass einzelne Niedergelassene offenbar Schutzmaßnahmen wie etwa Masken nicht für nötig halten oder in manchen Fällen sogar gezielt untergraben. Gerade Haus- und Kinderärzte haben eine enge Beziehung zu ihren Patienten und sollten daher die Botschaft streuen: Das ziehen wir jetzt alle gemeinsam durch. Zum Wohle vor allem der vulnerablen Patienten informieren wir jetzt die Menschen und erklären ihnen noch einmal die Dinge.

    ZEIT ONLINE: Damit meinen Sie etwa ältere Menschen, die noch dazu ihren Hausärzten besonders vertrauen?

    Drosten: Ja, die Daten bestätigen, dass die Sterblichkeit an Covid-19 mit dem Alter enorm zunimmt (MedRxiv: Levin et al., 2020). Es ist ein Virus, das in den letzten zehn Berufsjahren wirklich gefährlich wird – gar kein Vergleich mit der Influenza. Und das dann in den ersten zehn Rentenjahren absolut zu vermeiden ist. Diese Menschen dürfen sich nicht infizieren. Das muss diese Altersgruppe verinnerlichen und das ist noch nicht in ausreichendem Maße passiert, denke ich.

    ZEIT ONLINE: Welche Diskussion um das Virus selbst scheint Ihnen im Moment besonders wichtig?

    Drosten: Die Idee, dass es sich demnächst abschwächt, unterstütze ich nicht. Es gab eine Mutation, die dem Virus offenbar einen großen Fitnessvorteil gebracht hat. Diese D614G-Mutation aber ist schon in der frühesten Zeit der europäischen Epidemie entstanden und ist jetzt weltweit verbreitet. Die krank machende Wirkung des Virus hat sich nach Datenlage nicht verändert, nur die Verbreitungsfähigkeit, und das minimal. Und so wird es wohl auch in nächster Zukunft bleiben. Wenn sich ein Virus zufällig abschwächt, also irgendein Gen verliert, dann gibt es in der Nachbarschaft immer gleich ein konkurrierendes Virus, das über kurze Zeit in der Gesellschaft Überhand nehmen wird. Eine abgeschwächte Variante des Erregers wird sich also nicht so bald durchsetzen.

    ZEIT ONLINE: Andere pandemische Coronaviren haben sich wohl im Laufe der Zeit abgeschwächt, inzwischen verursachen sie meist nur noch leichte Erkältungen. Wird das auch mit Sars-CoV-2 geschehen?

    Drosten: Gut möglich, aber wenn, dann erst lange nach der Pandemie, wenn in vielen Ländern der Erde Populationsnischen entstanden sind, das Virus sich also nur noch lokal verbreitet. In diesen Nischen kann sich ein abgeschwächtes Virus bilden, das sich gut verbreiten kann, aber nicht mehr so krank machend ist. Das ist bei den anderen Coronaviren auch passiert, aber es dauerte Jahrzehnte. Die Stabilität von Sars-CoV-2 hat aber auch eine gute Seite: Wir müssen nicht befürchten, dass sich das Virus demnächst so stark verändert, dass ein Impfstoff seine Wirkung verliert.

    ZEIT ONLINE: Sie sprechen den Impfstoff an. Gehen Sie nach wie vor davon aus, dass im Laufe des nächsten Jahres einer oder mehrere davon auf den Markt kommen werden?

    Drosten: Ja, aber zwischen „zugelassen“ und „auf den Markt kommen“ muss man unterscheiden. Zugelassen werden die ersten Impfstoffe vielleicht sogar schon Ende des Jahres. Die Frage ist nur: Wie viel kann man verimpfen? Erst einmal wird das nicht so viel sein. Deshalb wird man wahrscheinlich diejenigen mit hohem Risiko für einen schweren Verlauf, aber auch Gesundheitspersonal, zuerst impfen.

    ZEIT ONLINE: Viele Expertinnen und Experten gehen davon aus, dass die Impfstoffe der ersten Generation wahrscheinlich nicht davor schützen werden, dass man sich ansteckt. Stimmen Sie zu?

    „Ich werde auf der Straße ständig erkannt“

    Drosten: Die Wahrscheinlichkeit besteht, dass sie eher vor einem schweren Verlauf schützen als vor der Infektion an sich. Daten aus Versuchen mit Primaten deuten aber auch darauf hin, dass eine Impfung die Viruslast im Rachen verringert (zum Beispiel: New England Journal of Medicine: Corbett et al., 2020). Daher glaube ich nicht daran, dass sich das Virus unter der Decke des Impfschutzes ungehindert weiterverbreiten wird. Ich erwarte, dass auch die nicht so guten Impfstoffe der ersten Generation ihren Teil zur Kontrolle der Pandemie beitragen werden. Wenn man denn genug davon hat.

    ZEIT ONLINE: Anfangs wird das nicht der Fall sein. Wie muss man sich diese Übergangszeit vorstellen?

    Drosten: Es wird im nächsten Jahr ein Nebeneinander geben: Wir werden verschiedene Impfstoffe haben, die vielleicht sogar unterschiedlich wirksam sind und mit denen sich Teile der Bevölkerung impfen lassen können. Gleichzeitig werden aber Kontaktbeschränkungen und AHA-Regeln weiter wichtig bleiben.

    ZEIT ONLINE: Haben Sie das Gefühl, diese Informationen wurden schon ausreichend vermittelt?

    CHRISTIAN DROSTEN
    Drosten: Nein, diese Vermittlung hat nach meinem Gefühl noch nicht eingesetzt. Dazu gehört auch, zu sagen, dass die Impfstoffe möglicherweise nicht perfekt sind. Es kann sein, dass sich zeigt, dass sie nicht genügend schützen oder dass es Nebenwirkungen gibt, die einer Empfehlung für Jüngere im Wege stehen, die nicht so schwer erkranken. Die Bürger auf eine Impfung vorzubereiten, die möglicherweise nicht perfekt ist: Ich finde, das muss man jetzt angehen. Dafür ist nun der richtige Zeitpunkt gekommen. Vorher wäre das aber auch verfrüht gewesen, denn die Phase-III-Studien gehen ja gerade erst los.

    ZEIT ONLINE: Stützt sich unsere Strategie zu sehr auf einen Impfstoff?

    Drosten: Sie stützt sich darauf, aber mehr auch nicht. Sie hängt nicht davon ab. Auch wenn wir sehen würden, dass aus einem völlig unerfindlichen Grund die Entwicklung eines Impfstoffs nicht gelingt, würde man auf Maßnahmen wie Kontaktbeschränkungen setzen. Das Virus würde andernfalls wieder harte Gegenmaßnahmen erzwingen, einfach weil es nicht tragbar ist, in einer Gesellschaft mit unserem Altersprofil diese Krankheit durchlaufen zu lassen. Die vergangenen und derzeitigen Maßnahmen stehen daher nicht infrage.

    ZEIT ONLINE: Sie haben während der Pandemie viel mit Politikerinnen und Politikern zu tun gehabt. Wie hat sich dadurch Ihr Blick auf die Dinge verändert?

    Drosten: Ich habe einen Einblick gewonnen, wie lange es manchmal dauern kann, bis etwas entschieden ist, und welche regulativen Hürden es dann noch gibt. Es mag einen überraschen, dass die Dinge selbst in einer Pandemiesituation so lange dauern. Schneller geht es allerdings bei notwendiger Beachtung aller demokratischen Spielregeln nicht.

    ZEIT ONLINE: Was hat sich für Sie persönlich am meisten verändert?

    Drosten: Ich werde auf der Straße ständig erkannt und hoffe, dass das dann irgendwann wieder vorbei ist. Ich habe aber weiterhin das Gefühl, dass es eine richtige Entscheidung war, so an die Öffentlichkeit zu gehen, weil man doch viel erreicht, indem man aufklärt. Aber ich bin niemand, der das danach weiterführen will. Ich will das nicht als Sprungbrett nutzen, um demnächst so richtig im Fernsehen durchzustarten. Im Gegenteil: Ich wünsche mir, dass diese Pandemie so schnell wie möglich vorbei ist und ich mich dann wieder auf die normale Arbeit konzentrieren kann. Und ich wünsche mir, dass die Leute mich dann auch wieder vergessen. Dass in ein paar Jahren in der Zeitung steht: „Was macht eigentlich Christian Drosten?“

    ZEIT ONLINE: Sie haben auch von Drohungen gegen Ihre Person berichtet. Wie gehen Sie damit um?

    Drosten: Das ist ganz unterschiedlich. Bei manchen Mails denkt man sich: Der ist verrückt. Es gibt welche, da tut mir der Autor leid, auch wenn er mich mit Aggressionen überschüttet. Und es gibt die wenigen wirklich perfiden, psychisch manipulativen Zuschriften. Das ist zum Glück ganz selten.

    ZEIT ONLINE: Auf der anderen Seite steht ein Großteil der Deutschen hinter den momentanen Maßnahmen, an denen Sie Ihren Anteil haben. Und Sie haben das Bundesverdienstkreuz bekommen. Was bedeutet Ihnen das?

    Drosten: Das Wichtigste für mich ist wirklich, dass die meisten Menschen den Maßnahmen zustimmen – auch wenn es immer noch mehr sein könnten. Aber natürlich: dass der Bundespräsident mir und anderen wie dem Pianisten Igor Levit und der Wissenschaftsjournalistin Mai Thi Nguyen-Kim das Bundesverdienstkreuz verleiht, ist noch einmal ein deutliches Zeichen. Dafür, dass es richtig gefunden wird, was wir machen. Das beruhigt mich in den Momenten, in denen ich angegriffen werde. Es macht mir immer wieder klar: Es ist schon richtig, was ich tue.

    ZEIT ONLINE: Trotzdem gibt es auch Menschen, die Sie als Mahner wahrnehmen. Verbreiten Sie genug Hoffnung?

    Drosten: Ja, sicher! Ich bin gar kein mahnender Wissenschaftler, das ist nur eine Zuschreibung. Das ist nur das, was in manchen Verkürzungen übrig gelassen wird, aber es ist nicht die Realität. Wir haben in Deutschland eine realistische Chance, besser durch Herbst und Winter zu kommen als viele andere Länder. Aber was Frau Merkel in der letzten Zeit gemacht hat, ist absolut richtig: immer wieder darauf hinzuweisen, dass jetzt die Chance ist, die Situation zu kontrollieren, das Virus kleinzuhalten. Man darf es nicht laufen lassen, um erst später, vielleicht zu spät einzuschreiten.

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