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  • Pilzkunde für die Hitlerjugend: Die Vereinnahmung des Waldes durch die Nationalsozialisten
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    Les champignons, tous de petits nazis ;-)

    12.11.2025 Gabriel Wolfson - Mit entsprechenden Publikationen wollte Hitler-Deutschland Groß und Klein dazu bringen, den „germanischen Blick“ auf die Natur wiederzugewinnen. Den Pilzen kam dabei eine besondere Rolle zu.

    Auf den ersten Blick erscheint es vollkommen harmlos, womöglich etwas antiquiert, aus der Zeit gefallen, jedoch auf keine anstößige, sondern vielmehr rührselige Weise. Ein dünnes Buch, der Titel in geschwungener Schreibschrift, zahlreiche farbige Abbildungen enthaltend, die ein Mädchen mit blonden Zöpfen und rotem Kleid auf den verschiedenen Stationen ihrer abenteuerlichen Tagesreise in eine fabelhafte Welt zeigen. In „Hannerl in der Pilzstadt“ begleitet der Leser die junge Protagonistin bei der Pilzsuche in den Wald. Dort trifft sie auf den winzigen Morchelmann, welcher nach erfolgter Schrumpfung der Titelheldin ihr das verborgene Leben der sonderbaren Pilzleute im Unterholz offenbart. Nach dem gleichermaßen lehr- wie ereignisreichen Ausflug kehrt Hannerl schließlich ins traute Heim zurück.

    Man könnte das Werk ohne Weiteres als gelungenen Wurf bezeichnen. Die Autorin Annelies Umlauf-Lamatsch vermochte mit ihrem fantasievollen Kunstmärchen eine spannungsreiche Handlung mit pädagogischem Mehrwert zu vereinigen.

    In der farbenfrohen Pilzstadt, dem Hauptschauplatz des Geschehens, sind die Hausdächer den unterschiedlichen Hutformen von Pilzen nachempfunden, die wiederum Aufschluss über ihre Bewohner geben. „Ich wohne mit Frau und Kindern in der Morchelgasse, in einem Morchelhäuschen und trage darum die Morchelmütze“, heißt es in der Vorstellung des Morchelmanns recht konsequent. An der Spitze der Gesellschaft steht der Kaiserling, standesgemäß in einem goldgelben Palast residierend, in dem Hannerl nach bestandenen Gefahren eine Audienz gewährt wird. Indem die kleine Heldin mit Vertretern des Pilzvolkes, deren Charaktere kategorisch der botanischen Natur ihres jeweiligen Pilznamens entsprechen, zusammentrifft, lernt sie – und damit ihre lesenden Begleiter – auf eine einprägsame Art die vielfältige Pilzwelt kennen und zu bestimmen.

    Der große Wermutstropfen, der diese erzieherische Absicht verbittert, ist ihre eigentliche Grundierung. Nicht die unbefangene Wissensvermehrung für Groß und Klein gab den Anlass für die Publikation, sondern die Sorge um „große volkswirtschaftliche Werte und noch größere Nahrungs- und Heilwerte“, die jährlich durch mangelnde Kenntnisse wie Sammelbereitschaft eingebüßt würden. Zur Vermeidung derartiger Verluste, zur Vermittlung der hierfür notwendigen Kompetenzen sei vorliegendes Büchlein vorgesehen, wie es im Vorwort unumwunden heißt. Als verantwortlich zeichnete Bernhard Hörmann, Reichsamtsleiter im Hauptamt für Volksgesundheit.

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    Bernhard Hörmann, Reichsamtsleiter im Hauptamt für Volksgesundheit, ein fanatischer Nationalsozialistwikimedia commons
    Pilze sammeln für die „Volkskraft“

    Der Mediziner, ein fanatischer Nationalsozialist, hatte einst zu den aufstrebenden gesundheitspolitischen Entscheidungsträgern gehört, bis ihm im Zuge ungünstig verlaufener Machtkämpfe zweitrangige Funktionen zugewiesen wurden, welche er gleichwohl mit unvermindertem Diensteifer erfüllte.

    Eine solche Position stellte die Reichsarbeitsgemeinschaft „Ernährung aus dem Wald“ dar, die Hörmann zum Zeitpunkt der Buchherausgabe 1941 leitete. Der im selben Jahr von ihm herausgegebene und bearbeitete „Pflanzen-Atlas I“, versehen mit allerhand Nützlichkeiten wie einem Pilzsammelkalender, unterstrich die auf die Erfassung weiterer Zielgruppen gerichteten Anstrengungen.

    Anhebend mit einem pathetischen, auf die umfassenden Naturkenntnisse der Urahnen verweisenden Prolog wird gleichsam der profane Zweck dieser historischen Anleihe artikuliert: den germanischen Blick auf Wald und Flur „wiedergewinnen zum Nutzen unserer Volkskraft, unserer Volkswirtschaft und unserer Volksgesundheit“. Für die Erlangung derartig hehrer Ziele seien Pilze überaus wertvolle Verbündete, zum einen aufgrund ihres hohen Nährwerts („den meisten Gemüsen mindestens gleichzusetzen“), zum anderen wegen ihres Geschmackswerts („die besten Pilzsorten vielen Gemüsen überlegen“).

    Sammelhinweise für die Hitlerjugend

    Im Angesicht der durch Lebensmittelrationalisierungen gekennzeichneten Ernährungslage während der Kriegsjahre galt es viel, die nährstoffreichen Eigenschaften der Pilze in große Kreise der Bevölkerung zu tragen. Als vielversprechendes Mittel hierfür erkor Hörmann die Distribution von Pilzratgebern, die in leicht verständlicher Sprache die Speise- von den Giftpilzen zu unterscheiden und erstere fachgemäß wie schmackhaft zuzubereiten lehren sollten.

    Von außerordentlicher Popularität erwies sich die „Einführung in die volkstümliche Pilzkunde“, ein bereits 1928 erschienenes und nach Kriegsbeginn ungemein begehrtes Nachschlagewerk. Nicht nur Privatpersonen bekundeten ihr Interesse. Als wenige Monate nach Entfesselung des Weltenbrandes eine Dienstvorschrift mit Sammelhinweisen für die Hitlerjugend angedacht war, wurde die Reichsjugendführung auf eben jenen Ratgeber verwiesen.

    Ein anderer, das „Taschenbuch der Pilze“, sollte bis 1940 gar vierzehn Auflagen erfahren. Über die praktische Erkenntnismehrung hinaus fand sich in diesem auch Raum für die ästhetische Komponente der Pilzsuche. Naturromantische Klänge stimmen an, wenn die „heimatlichen Waldungen“ als eine „wahre Sinfonie von Rot und Gelb und Rotbraun“ beschrieben werden. Indes wirkt die Titulierung der in ihnen verborgenen Objekte der Begierde – „bleichsüchtige Florenkinder“ – etwas verdrießlich.

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    Auch für die Hitlerjugend war eine Dienstvorschrift mit Sammelhinweisen für Pilze angedacht. Photo12/imago

    Lehrgänge, Pilzwanderungen, mykologische Vorträge

    Zu einer etwas gefälligeren Formulierung neigte die Deutsche Gesellschaft für Pilzkunde, die ihre bedingungslose Bereitschaft zur Hebung der „Waldschätze“ mittels eines 1935 datierten Merkblatts anmeldete. An das vaterländische Pflichtgefühl wiederholt appellierend, spornte der Vorstand zu einer Intensivierung der Bemühungen auf dem „Gebiet der volkstümlichen Pilzaufklärung“ an. Lehrgänge, Lehrwanderungen, Vortragstätigkeiten wurden als bewährte Formate gepriesen, doch als das wirkungsvollste Resultat patriotisch-mykologischer Emsigkeit hatte sich die Bemannung von Pilzberatungsstellen herausgestellt.

    In der Reichshauptstadt zeugte von der Gültigkeit dieser Empfehlung der enorme Publikumsandrang in der Haupt-Pilzstelle am Botanischen Museum. Die noch zu Vorkriegszeiten erfolgte Errichtung ging auf den unermüdlichen Einsatz ihres künftigen Leiters zurück, Eberhard Ulbrich.

    Seit der Jahrhundertwende ununterbrochen am Dahlemer Institut tätig, zunächst als Hilfsassistent, schließlich als Professor, verschrieb der gebürtige Berliner Gelehrte sein wissenschaftliches Streben gänzlich der Pilzwissenschaft. Erworbene Erkenntnisse vermittelte er in Hörsälen wie Volkshochschulen, auf Führungen, Ausstellungen, in den Kriegsjahren aber vor allem in der Königin-Luise-Straße.

    Der ihm vorauseilender Ruf als Pilzsachverständiger machte Ulbrich zu einem gefragten Ansprechpartner, dessen Rat sowohl von Pilzgängern als auch in den Kabinetten der Entscheidungsmacht gefragt war. Als im Herbst 1944 der Präsident des Reichsgesundheitsamtes den Fachmann um Mitarbeit bei der Herausgabe eines aktualisierten Pilzratgebers ersuchte, verwehrte der Angefragte sich nicht, bat jedoch, seine Arbeitsbelastung durch „tägliche mündliche und schriftliche Auskunftserteilungen an die zahlreichen Besucher unserer Pilz-Auskunftstelle“ zu berücksichtigen.

    Die kurz darauf beendete Fertigstellung der Neuausgabe begründete er mit der Notwendigkeit, die angesichts der „Terrorangriffe“ entstandenen Buchverluste auszugleichen. Er selbst war leidgeprüft: Arbeitsstätte sowie Wohnung fielen mitsamt unzähliger Unterlagen dem Luftkrieg zum Opfer.

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    Spätestens gegen Ende des Krieges wurde offensichtlich, dass Pilze in der Verpflegung keine prominente Rolle spielen würden, so unser Autor.Granger/imago

    Von der unübersehbaren Verschärfung des Geschehens an der Heimatfront wusste nicht minder eine hochrangige Arbeitsgruppe zur Koordination der Verwertbarkeit von Pilzen als Lebens- und Futtermittel zu berichten. In ihrem Abschlussbericht 1945 musste die Kommission unweigerlich einräumen, dass die Pilzernte mit 5,5 Millionen Kilogramm deutlich schwächer als erwartet ausgefallen sei. Sogar die Rekrutierung der Schuljugend und Lehrerschaft als Sammler und Inspekteure habe nicht zur Steigerung des Pilzertrages geführt; zu gravierend hätten sich Treibstoffmangel und Desinteresse der Aufgerufenen ausgewirkt.

    Der Untergang des Großdeutschen Reiches bedeutete zwangsläufig das Ende der mit ungeheuerlichem organisatorischen Aufwand geschmiedeten Zweckallianz aus ideologisch gefestigten Verwaltungsbeamten, mykologischen Enthusiasten und politisch opportunen Schriftstellern.

    Von der rückstandslosen Auflösung dieses unheiligen Paktes und dem Anbruch neuer Zeiten kündigte untrüglich die 1946 gedruckte Version von Hannerls Erlebnissen. Neben der kompletten Streichung der Vorrede kam es zu einer behutsameren Modifizierung des Nachworts. So werden anstelle von „Volksgenossen“ inzwischen „Mitmenschen“ adressiert, deren Naturgänge auch nicht mehr der „Sicherung des deutschen Lebens“ dienen, sondern schlichtweg einer reichlichen Pilzausbeute. Unverkennbar sollte der Wald fortan wieder überparteilich sein.

    Gabriel Wolfson ist Doktorand der Geschichtswissenschaft an der Eberhard Karls Universität Tübingen.

    #Allemagne #nazis #iatrocratie #mycologie

  • So lief in Berlin-Neukölln die erste Einschulung nach dem Zweiten Weltkrieg
    https://www.berliner-zeitung.de/open-source/so-lief-in-berlin-neukoelln-die-erste-einschulung-nach-dem-zweiten-

    2.11.2025 -Im Herbst 1945 begann für unseren Autor in den Trümmern Berlins der Unterricht – ohne Schultüten und Hefte, aber mit einem jungen Lehrer, der ihm noch lange in Erinnerung blieb.

    „Und jedem Anfang wohnt ein Zauber inne, der uns beschützt und der uns hilft zu leben“ – das Dichterwort von Hermann Hesse stand auch über dem Tag meiner Einschulung vor 80 Jahren im Oktober 1945 in Berlin-Neukölln. Nach Trümmertagen und Entbehrungen waren wir in die 21./23. Volksschule in der Weisestraße beordert worden. In beiden Teilen der Stadt – in den drei Westbezirken und im Ostteil unter sowjetischer Besatzung – begann wieder der Schulbetrieb, der eigentlich im April 1945 Einschulungen vorgesehen hatte.

    Noch war Groß-Berlin eine Verwaltungseinheit.

    Für die erste Klasse in der Weisestraße waren wir etwa 50 Jungen – Koedukation war noch fern. Es gab drei erste Klassen. Schreibgeräte, Papier und vor allem Schultüten fehlten. Einige Mütter – die Väter waren im Krieg gefallen oder befanden sich in Gefangenschaft – hatten mit viel Erfindergeist Schultütenersatz gebastelt. Bevorzugt waren weiße Kopfkissenbezüge, in die alle möglichen Dinge gefüllt wurden, auch Süßigkeiten, soweit vorhanden. Es war wohl dieselbe weiße Bettwäsche, die sie ein paar Monate zuvor an Besenstielen aus den Fenstern gehängt hatten, zum Beweis der Friedfertigkeit gegenüber den einmarschierten Rotarmisten. Jetzt war Neukölln seit Juli 1945 unter amerikanischer Besetzung, was nach Auskunft unserer Klassenlehrerin dazu führte, dass wir beim Schreiben zunächst einmal nur die Blockschrift erlernten.

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    Kinder spielen in den Trümmern von Berlin, 1947.United Archives/imago

    Sechs- und Zwölfjährige in der gleichen Klasse

    Die Altersunterschiede in unserer Klasse waren gewaltig. Was daran lag, dass viele verspätet von der „Kinderlandverschickung“ heimgekehrt oder aus den Ostgebieten oder dem Sudetenland geflüchtet waren. Die Jüngsten waren sechs, der Älteste zwölf Jahre alt. Und da die Älteren häufig dazu neigten, die Jüngeren grundlos zu verprügeln, empfahl es sich für die Kleinen, einen starken, meist älteren Begleiter an der Seite zu haben, der auf dem Schulweg eine Art Personenschutz übernahm. Das ließ sich mit kleinen Geschenken oder auch mit freundschaftlichen Gesprächen erreichen. Ich machte es mit Abgaben von meinem Pausenbrot – Nahrungsmittel waren knapp. Der zwölfjährige Alterspräsident war übrigens ein recht gemütlicher, ruhiger Schüler, der häufig im Unterricht einschlief. Er wohnte bei seiner Großmutter, die er eines Tages umbrachte, weil sie ihm das Taschengeld verweigerte.

    Soziale Nöte und Kriminalität waren nicht selten unter den Schulkameraden der ersten Nachkriegsjahre. In der Neuköllner Okerstraße wohnte eine Mutter mit 13 Kindern in zwei Zimmern. Ein Besuch dort blieb unvergesslich. Der „kleine Werner“ aus der Weisestraße brachte es mit seiner Räuberbande zu einer lokalen Berühmtheit. Mit Interesse las ich später die Berichte über seine Raubzüge in der Mittagszeitung „Der Abend“.

    Es galten die im Juni 1945 erlassenen „Richtlinien für die Wiederaufnahme des Schulbetriebs“. Am 15. Oktober 1945 waren erste Übergangslehrpläne für die Berliner Volksschulen ausgegeben worden. Von den ehemals 14.000 Lehrkräften wurden die 2474 NSDAP-Mitglieder aus dem Schuldienst entfernt. Wie der Magistrat 1946 feststellte, kehrten jedoch nur 2663 Lehrkräfte ins Lehramt zurück. Der Arbeitskräftemangel zwang hier zu wirksamen Maßnahmen der Anwerbung.

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    Kindergärtnerin spielt mit ihrer Kindergruppe vor den Ruinen des Potsdamer Stadtschlosses nahe Berlin, Deutschland 1946.Erich Andres/imago

    Gute Zensuren für eine Bernsteinkette

    Wir dümpelten in unserer ersten Klasse im Arbeiterbezirk Neukölln so dahin. Die Schulleitung kam zunächst in weibliche Hände – bis auch hier wieder ein Mann eingesetzt wurde. Unsere Klassenlehrerin Fräulein Aranowski – auf diese Anrede legte sie besonderen Wert – wurde in gute Stimmung gebracht und zu guten Zensuren bewogen, wenn die Schüler Geschenke spendierten. Aus der Weihnachtszeit 1945 ist mir eine Bernsteinkette in Erinnerung, die ein Schüler von zu Hause mitbrachte. Ansonsten waren natürlich Nahrungsmittel zentrale Gaben, darunter dicke Bündel von Brennnesseln, die in jenen Tage als Spinatersatz verwendet wurden..

    Im Laufe des Jahres 1946 schickte uns die Neuköllner Schulverwaltung einen 19-jährigen jungen Mann als Klassenlehrer, dem – offenbar zur Vorsicht – ein älterer, kriegsversehrter Kollege beigeordnet war. Für mich ist dieser Klassenlehrer namens Galla das größte pädagogische Talent, das mir je begegnet ist. Wenn ich mich um Ehrlichkeit bemühe, dann wahrscheinlich auch deshalb, weil ich von ihm das beste Zeugnis erhielt, das mir in 13 Jahren an Neuköllner Schulen zuteilwurde: Sechs Fächer, davon in drei Fächern eine Eins! Leider habe ich Herrn Galla danach nie wiedergesehen.

    Eine kleine Recherche ergab in den 60er-Jahren jedoch, dass er offenbar in der Hierarchie der Neuköllner Schulverwaltung zum Schulrat oder Ähnlichem aufgestiegen war. Ich fühlte mich in meiner überschwänglichen Einschätzung bestätigt. Da war einer, der aus der Zeit der Ruinen in die strahlenden Sphären der Bildungspolitik gelangt war.

    Alexander Kulpok ist Journalist und Autor. Er arbeitete im Sender Freies Berlin, zunächst im Jugendfunk, dann als Reporter, Redakteur, Moderator und schließlich lange als Leiter der ARD-/ZDF-Videotextredaktion .

    #Berlin #Neukölln #Schule #Geschichte

  • „Wir haben nichts mehr gemeinsam“ – warum der Osten mir fremd geworden ist
    https://www.berliner-zeitung.de/open-source/wir-haben-nichts-mehr-gemeinsam-warum-ich-mich-im-osten-nicht-mehr-

    Si tu veux te faire une idée du racisme ordinaire allemand, emmènes ton mari en vacances au Fascholand. Mais attention, il te faut un mari que le raciste moyen peut facilement identifier comme nègre. Ils ne sont pas très futés les raciste. Un Ivorien fera l’affaire. L’adresse du Fascholand est facile à trouver, tu choisis n’importe quelle région touristique allemamde loin des grandes villes et tu sera servi. Bomnes Vacances !

    28.9.2025 von Rahel von Wroblewsky - Eigentlich stand unsere Autorin immer auf der Seite der Ostdeutschen. Der Rassismus, den sie im Ostseeurlaub miterlebt, erschüttert ihr Selbstverständnis.

    Seit drei Tagen machen mein ivorischer Ehemann und ich Urlaub an der Ostsee auf dem Darß, wo wir eine winzige Ferienwohnung am Bodden gemietet haben. Der Darß ist traumhaft schön. Eine unberührte Landschaft mit einem weiten Blick über Wiesen und Wasser, kleine Orte mit reetgedeckten Häusern, dazu das nahe Meer, der Wind, das Wolkenspiel. Seit wir hier sind, regnet es jeden Tag, aber oft kommt plötzlich die Sonne zurück und wir haben bereits unzählige Fotos von verschiedenen Regenbögen gemacht. Mein Mann erzählt mir, dass man in der Elfenbeinküste sagt, bei jedem Regenbogen werde ein Elefant geboren. Wir witzeln, wie viele Elefanten es auf dem Darß in diesem Jahr wohl geben mag.

    Mein Mann ist erst vor einem halben Jahr nach Deutschland gekommen, nach unserer Heirat in der Elfenbeinküste mussten wir fast ein Jahr warten, bis er das Visum für die Familienzusammenführung bekam. Ich hatte ein wenig Sorgen, ob er sich hier wohlfühlen wird, die AfD hat bei den letzten Wahlen im Wahlkreis Wieck 40,8 Prozent der Stimmen erhalten und ich wusste nicht, wie jetzt die Stimmung hier ist. Aber mein Mann liebt das Meer, genauso wie ich, und meine Freunde beruhigten mich: „Komm schon, die Leute sind auf die Touristen angewiesen, die können es sich nicht leisten, unfreundlich zu sein!“ Ich hatte vorher tatsächlich überlegt, ob ich unsere Vermieterin vorwarnen solle, dass mein Mann eine Schwarze Hautfarbe hat, aber ich hatte eingesehen, dass das albern ist.

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    Die reetgedeckte Idylle kann über die misstrauischen Blicke und Begegnungen nicht hinwegtäuschen.Stephan Herlitze/imago

    Belehrungen zu jeder Gelegenheit

    Die Eigentümer unserer Ferienwohnung wohnen ebenfalls auf dem Gelände, zwischen den vielen kleinen Häuschen, die im Garten verstreut stehen. Die Vermieterin putzt den ganzen Tag, zupft im Garten herum oder hängt direkt vor unserer Terrasse Wäsche auf. Aber auch nachts scheint sie auf den Beinen zu sein. An unserem ersten Morgen weist sie mich darauf hin, dass wir abends das Licht auf der Toilette ausmachen müssten, da der Strom hier oben so teuer sei. Ich frage mich, wie sie von ihrem Haus aus unser Toilettenfenster sehen konnte, aber ich habe keine Lust, mich zu rechtfertigen, deshalb nicke ich nur stumm.

    Ich bin allergisch gegen Belehrungen, und plötzlich fühle ich mich in meine Kindheit zurückversetzt. Während unserer Schulzeit mussten wir bei den Pionier- und FDJ-Versammlungen regelmäßig Rechenschaftsberichte abgeben, und auch in unserer Freizeit im sozialistischen deutschen Staat wurden wir permanent belehrt und überwacht. Erstaunt stelle ich fest, dass ich dieses Gefühl schon fast vergessen hatte, und frage mich, ob diese Belehrungswut ein ostdeutsches oder ein gesamtdeutsches Phänomen darstellt.

    Auch beim Fahrradverleih werden wir belehrt. Mein Mann hält sich im Hintergrund, er spricht noch nicht so gut Deutsch und ist sowieso bemüht, nicht aufzufallen, während mir der Vermieter lang und breit erklärt, wie ein Fahrrad funktioniert. Als ich ihm versichere, dass ich jeden Tag Fahrrad fahre, unterbricht er mich barsch. Zu anderen Gästen ist er freundlicher als zu mir, er kann sogar scherzen und Witze machen, beobachte ich, und hinterher sagt mir mein Mann, dass die Unfreundlichkeit des Mannes sicher an seiner schwarzen Hautfarbe liegt. Ich will das nicht glauben, ich versuche meinen Mann zu beschwichtigen, dass die Norddeutschen generell verschlossener sind und die Berliner noch nie leiden konnten

    „Mein Mann wird fixiert, als hätten die Leute noch nie einen Schwarzen gesehen“

    In den folgenden Tagen muss ich jedoch feststellen, dass die meisten Menschen, denen wir begegnen, nicht offen auf uns reagieren. Nur die Touristen wie wir, vor allem die jüngeren, grüßen uns, wie es hier allgemein üblich ist, wenn man auf den Fahrradwegen aneinander vorüberfährt. Die anderen starren uns mehr oder weniger unverhohlen an.

    Mein Mann ist der einzige Schwarze hier, es gibt keine Ausländer an der ostdeutschen Ostsee, bis auf die beiden Kassierer im Wiecker Supermarkt, die vielleicht aus Syrien oder Afghanistan stammen, und oft wird mein Mann fixiert, als hätten die Leute noch nie einen Schwarzen gesehen. Als ich meinen Mann frage, wie er sich fühle, beruhigt er mich. Es gehe ihm gut, erklärt er mir, und dass ihn die Meinung der Leute sowieso nicht interessiere.

    Das kann ich von mir nicht behaupten. Inzwischen achte ich penibel auf die Reaktionen der Menschen und ärgere mich, dass mir nach und nach meine Leichtigkeit verloren geht, die doch eigentlich zum Urlaub gehören soll. Auch die Freundlichkeit unserer Vermieter erscheint mir aufgesetzt, sie hat etwas Lauerndes, Bewertendes, als ob sie nur darauf warten würden, dass wir einen Fehler begehen.

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    Die Freundlichkeit scheint nur aufgesetzt, die Abneigung gegen alles Fremde ist spürbar.Anna Reinert/imago

    In den vergangenen Jahren wurde viel über die rechtsradikalen Ostdeutschen diskutiert. Es wurde nach Ursachen für ihre Einstellung gesucht, nach ihren tief sitzenden Traumata geforscht und über die Auswirkungen eines sozialistischen Erziehungssystems spekuliert. Dabei wurden sie mehr oder weniger gern beschimpft. Vor allem nach den Wahlergebnissen in diesem Jahr wollte niemand mehr etwas mit ihnen zu tun haben und ein Urlaub im Osten war jetzt endgültig tabu.

    Ich weiß nicht mehr, ob ich auf der Seite der Ostdeutschen stehe

    Ich habe immer versucht, mich am Ostdeutschen-Bashing nicht zu beteiligen, denn irgendwie haben mich die Bücher, in denen man die ostdeutsche Seele erklärt und begründet, warum die Ostler erst zur Demokratie erzogen werden müssen, verletzt. Ich habe mich trotz allem zu ihnen dazugezählt. Ich habe ihre Erfahrungen geteilt, ich bin mit ihnen zusammen in einem Staat aufgewachsen, der über Nacht zusammenbrach, und habe erlebt, wie alles, was bisher als selbstverständlich galt, plötzlich keine Gültigkeit mehr besitzt.

    Ich habe mich ebenso wie sie nach der Wende dafür rechtfertigen müssen, im Osten geboren worden zu sein und nicht die Flucht ergriffen zu haben. Ich habe erlebt, wie das Leben meiner Eltern entwertet wurde, als sie ihre Arbeit verloren, und wie sie nicht damit klargekommen sind. Ich weiß, wie es sich anfühlt, wenn man im eigenen Staat keine Stimme besitzt und einem die Deutungshoheit über die eigene Geschichte genommen wird. Und dabei rede ich hier nur über die Verteilung der ideologischen Machtpositionen, noch nicht einmal über das finanzielle Ungleichgewicht. Wir mussten zusehen, wie die Westdeutschen unsere Häuser kauften, die wir uns nicht leisten konnten, weil wir nicht über die gleichen finanziellen Ressourcen verfügten wie sie, und immer öfter müssen wir Angst haben, unsere Wohnungen zu verlieren.

    Das alles hat mich dazu gebracht, trotz allem auf der Seite der Ostdeutschen zu stehen. Doch plötzlich bin ich mir nicht mehr sicher, ob das stimmt.

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    Nach der Wende hat sich der Lebensweg unserer Autorin in andere Richtungen entwickelt als der anderer Ostdeutscher, denen sie nun wieder begegnet.Ali Bergen/unsplash

    Ich habe nichts mehr gemein mit diesen Menschen, ich bin nach der Wende andere Wege gegangen als sie und ich frage mich, ob es daran liegt. Meine Vermieterin und ihr Mann sind in diesem Dorf aufgewachsen und haben sich seitdem nicht weit fortbewegt. Auch die Ausländer haben die ostdeutsche Ostsee gemieden, für die Menschen hier ist ihre Welt eine noch unberührte Idylle, die man vor einer unbekannten Bedrohung beschützen muss. Vielleicht ist das der Grund für ihre Abwehr und Unfreundlichkeit.

    Heute hat mich mein Mann gefragt, ob die Norddeutschen oder die Süddeutschen rassistischer sind. Ich habe ihm erklärt, dass das nicht die Frage sei und dass die öffentliche Diskussionslinie eher zwischen West- und Ostdeutschen verläuft. Aber vielleicht ist die Frage gar nicht so abwegig, wie man auf den ersten Blick glaubt. Wenn ich darüber nachdenke, haben ausländische Freunde unangenehme Erlebnisse sowohl in Bayern, Baden-Württemberg, Mecklenburg und Brandenburg gehabt. Man könnte auch fragen, ob der Rassismus größer in den Städten oder in den Dörfern ist. Oder in ärmeren oder reicheren Regionen. Oder in gebildeten oder bildungsfernen Familien.

    Je länger ich es zu erklären versuche, desto mehr gerate ich in Erklärungsnot. Ich glaube, dass man es nicht auf einen einzigen Punkt bringen kann. Fakt ist doch, dass das zentrale Merkmal aller Fremdenfeindlichkeit die Abneigung gegen alles Fremde ist. Man versucht, die kleine Welt, die man kennt, zu schützen und zu konservieren. Das Absurde dabei ist, dass man jenen Fremden gegenüber am feindlichsten eingestellt ist, die man gar nicht kennt. Niemand hat meinen Mann in unserem Urlaub irgendetwas gefragt. Niemand hat ihn angesprochen und wissen wollen, woher er kommt, was er macht, wie er sich fühlt und welche Pläne er hat.

    „Es hat eher wenig mit der DDR zu tun“: Forscher über Rechtsextremismus in Ostdeutschland

    „Warum wird hier so viel gelächelt?“ – ein Sommertag auf Hiddensee

    An unserem Abreisetag hat mich unsere Vermieterin ein letztes Mal ermahnt. „Wenn Sie noch einmal eine Ferienwohnung benutzen sollten“, hat sie mir erklärt, „müssen Sie das Badezimmer aber richtig lüften, das geht ja gar nicht, das Wasser lief ja an den Wänden hinab!“ Ich habe sie nicht aufgeklärt, dass wir schon öfter in Ferienwohnungen übernachtet haben, sogar in komfortableren als der ihrigen, ich habe auch nicht widersprochen, dass das Fenster im Bad die ganze Zeit offenstand, ich hatte keine Lust, darüber zu streiten, das war mir einfach zu dumm. Ich habe nur erwidert, dass wir eigentlich ‚Auf Wiedersehen‘ hatten sagen wollen, woraufhin sie erwiderte: „Hm, na ja!“

    Was auch immer das heißen mag.

    Rahel von Wroblewsky, geboren 1964, ist Schriftstellerin und Lektorin. Sie lebt in Berlin.

  • Aus einer anderen Zeit: Petrus Olesen – der legendäre „Löwenpapa“ vom Berliner Zoo
    https://www.berliner-zeitung.de/open-source/open-source-vorlage-li.2349209

    9.9.2025 von Andreas Gängel - Sogar die Los Angeles Times berichtete vor 100 Jahren über den populären Tierpfleger, der sich nach eigener Auskunft vor Menschen mehr fürchtete als vor wilden Tieren.

    Es gab einmal eine Zeit, da kamen die Besucher des Berliner Zoos nicht nur wegen der Tiere. Die meisten Wärter, wie man die Pfleger damals nannte, hatten zu den Besuchern einen guten Kontakt. Da freuten sich die Wärter auf ihre Lieblingsgäste und die Tierfreunde suchten gern den Wärter auf, der sich um ihre Lieblinge kümmerte. Der Zoobesuch kostete werktags eine Mark, an Sonn- und Feiertagen 50 Pfennig, Kinder zahlten die Hälfte. So kamen sonntags manchmal fast 100.000 Besucher in den Zoo.

    Einer der populärsten Wärter war Petrus Olesen, dem die Raubtiere anvertraut waren. Die Besucher kamen immer wieder zu ihm. Gegenüber der Presse äußerte er 1934: „Es sind oft die Kaufleute, die in der Gegend um den Zoo beschäftigt als Zoo-Abonnenten ständige Besucher sind und in den Geschäftspausen abends nach dem Dienst oder Sonntags mit der Familie zu uns kommen.“ Zum Publikum befragt, meinte er: „Ach, ich sehe von weitem, ob ein Mensch ein Tierfreund ist oder nicht. Manche tun ja so, als ob sie die Tiere lieben, aber das ist alles Tünch, dieselben Menschen tun auch so, als ob sie die Menschen lieben – und lieben doch nur sich selbst. Aber die große Mehrheit der Besucher ist gut und anständig zu den Tieren.“

    Die Presse berichtete des Öfteren über Olesen. Selbst in der Los Angeles Times kam er am 21. März 1926 zu Wort. Dort bekundete er, dass er in 30 Jahren mehr Löwen, Tiger, Leoparden und Bären aufgezogen habe als jeder andere in Europa.

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    Das Hauptportal des Zoologischen Gartensimago/Arkivi

    Klein von Wuchs, aber mit Bärenkräften ausgestattet

    Dem gelernten Schmied, klein von Wuchs, aber mit Bärenkräften ausgestattet, hatten es die Raubtiere schon im Zirkus angetan. 1896 begleitete er eine Karawane zur Gewerbeausstellung in Berlin. Im Jahr darauf stellte er sich dem Berliner Zoodirektor Ludwig Heck vor. Er muss auf Anhieb überzeugt haben, denn ihm wurde gleich das „Kleine Raubtierhaus“ zugeteilt. Später war er für die „Bärenburg“ und ab 1902 für das „Große Raubtierhaus“ zuständig.

    Als Olesen eingestellt wurde, arbeiteten im Zoo, einschließlich der Restaurants, im Sommer 250 Personen. Für die Tiere waren 14 Hauptwärter zuständig, die von sieben Hilfswärtern und drei „Arbeitsfrauen“ unterstützt wurden. Für sie war mit Dienstwohnungen gesorgt. So wohnte Olesen Kurfürstendamm 9. Der Vorteil: Das Personal konnte auch außerhalb der Arbeitszeit schnell bei den Tieren sein. Wie wichtig das war, zeigte sich am 17. Oktober 1899 bei einem Brand frühmorgens im „Großen Raubtierhaus“. Trotz schneller Hilfe erstickte allerdings ein Jaguar, ein Löwenpaar wurde verletzt.

    Je mehr Menschen man kennenlernt, desto lieber gewinnt man die Tiere.
    Petrus Olesen

    1901 heiratete Olesen, 1904 kam die erste seiner vier Töchter zur Welt. Wie die Familie wohnte, ist unbekannt. Aber die Einrichtung seines Pflegeraums („Afrikanische Klause“) im Raubtierhaus ist überliefert: Ein Tropenhelm hing an der Decke. Gewehre, Jagdtaschen, Ferngläser und Schaufeln befanden sich neben Jagdtrophäen, Skeletten und ausgestopften Tiere in dem Raum. Und auf einem Schild war zu lesen: „Je mehr Menschen man kennenlernt, desto lieber gewinnt man die Tiere.“

    Olesen hatte zu seinen Tieren ein Verhältnis wie Eltern zu ihren Kindern. Daher nannte man ihn auch „Löwenpapa“. Furcht vor den Raubtieren hatte er keine: „Nein, ich habe mehr Furcht vor den Menschen als vor den Tieren.“ Das Vertrauen der Tiere erwerbe er „durch Ruhe, Ruhe, Ruhe und durch Geduld, Geduld, Geduld. Wenn die Tiere ihre Launen haben … dann warte ich, bis sie vorüber sind, ich pflege sie gesund, wenn sie krank sind, schlichte den Streit, wenn sie sich beißen.“

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    Versorgung der Tiere im Zooimago/TT

    Der Zoo musste 1923 zeitweilig geschlossen werden

    Ab 1920 geriet der Zoo in Schwierigkeiten. Deshalb musste er sogar 1923 zeitweilig geschlossen und ein Drittel der Belegschaft entlassen werden. Der Tierbestand hatte sich reduziert; Geld für den Ankauf von Tieren fehlte. Deshalb rüstete der Zoo 1924 die erste aus heutiger Sicht doch sehr fragwürdige Übersee-Expedition aus. Mehr attraktive Tiere sollten mehr Besucher anlocken. Zuletzt hatte sich Olesen bereits 1923 an einer Tierfangexpedition ins Somaliland und nach Abessinien (Äthiopien) unter Leitung des Privatdozenten Paul Vageler beteiligt.

    Diesem war klar, dass ein derartiges Unternehmen nur Erfolg haben würde, wenn ein erfahrener Tierpfleger dabei ist. Unter der Überschrift „Abessinische Geschenke“ schrieb der Zoodirektor in der Illustrierten Die Woche dazu: „Ein solcher Mensch ist unser Raubtierwärter Olesen, und sein schönster Traum war, wie ich selber und jeder ähnlich Veranlagte ihm nachfühlen kann, seit Jahren schon, einmal nach Afrika zu kommen. So mochte ich ihm den erbetenen Urlaub nicht abschlagen.“ Olesen brachte die fast einjährige Expedition Malaria und Schwarzwasserfieber ein.

    Vom Januar bis Mai 1025 fand dann die erste Tierfangexpedition des Zoos unter Leitung von Lutz Heck, Sohn des Direktors Ludwig Heck, nach Abessinien statt. Mithilfe der indigenen Bevölkerung gelang der Fang einer Vielzahl von Tieren. Ganz unproblematisch verlief die Unterstützung allerdings nicht, wie man der Presse eingestand: „Freilich hat es viel Mühe gekostet, die Eingeborenen dazu zu bewegen, sich zu diesen Fängen herzugeben. Auf manche Tiere, die bei ihnen als heilig galten oder sonstwie Gegenstand des Aberglaubens waren, zu jagen, konnten sie durch nichts überredet werden.“ Dennoch soll die Expedition mit fast 2000 Tieren zurückgekehrt sein.

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    Zoodirektor Ludwig Heck (M.) mit dem Bildhauer Georg RochRobert Sennecke/imago

    Auf großen Plakaten an den Zooeingängen wurden die „viele Kostbarkeiten und Seltenheiten“ angekündigt. Als man sie der Öffentlichkeit präsentieren konnte, erfreute sich der Zoo endlich wieder eines großen Tages. Und dadurch, dass ein Kamerateam der Ufa die Expedition begleitet und einen Dokumentarfilm mit dem Titel „Auf Tierfang in Abessinien“ gedreht hatte, hielt die Werbung an. Dieser Film, uraufgeführt am 18. Juni 1926 im Gloria-Palast, wurde ein Publikumserfolg. In einer Rezension kann man u.a. lesen: „Wie ein Kätzchen spielt der kleine Gepard mit seinem Wärter. Er ist jetzt herangewachsen und wird allabendlich nach dem Film von Dr. Heck in natura vorgeführt. Er spielt immer noch mit weichen Pfoten, ohne die Krallen zu zeigen, und das Berliner Publikum jubelt ihm zu.“

    Der Wärter war natürlich Olesen. So wurde er 1926 auch zum Oberwärter befördert. Die Presse schrieb dazu: „Mit dieser Beförderung werden die 27-jährigen Dienste eines der ersten Praktiker der Tierpflege im Zoologischen Garten belohnt. Olesen war in den letzten Jahren zweimal im Auftrag des Berliner Gartens in Afrika, zuletzt als Mitglied der Heckschen Tierfangexpedition.“

    An Parkinson erkrankt

    Von November 1927 bis Mai 1928 führte der Zoo die zweite Tierfangreise unter Leitung von Lutz Heck durch. Geplant war der Fang von Nashörnern, die es damals im Berliner Zoo noch nicht zu sehen gab. In einem Zeitungsartikel vom 15. Juni 1928 schilderte Olesen unter der Überschrift „Wie ich das junge Nashorn fing“ seine Erlebnisse dieser Reise.

    Nach langer Suche fand er „einen Kerl von unerhörter Stärke und Gewandtheit. Ich packte es um den Hals, aber es schleuderte mich hin und her und verletzte mir die Hand. Mittlerweile kamen die N. mit Büffellederstricken herbei und halfen mir, dem ungestümen Koloß Fesseln anzulegen … Ich habe es sehr lieb gewonnen und freue mich, daß es glücklich nach Deutschland gebracht werden konnte.“ Den Artikel schmücken Zeichnungen, wie Olesen das Nashorn fing und es betreute. In Berlin wurde es auf den Namen „Mtoto“ getauft.

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    Mtoto, das Nashorn, kam mit Olesen von einer Expedition zurückimago/Arkivi

    1931 übergab Ludwig Heck nach fast 43-jähriger Tätigkeit die Leitung des Zoos an seinen Sohn. Dieser sorgte 1937 für eine große Löwensteppe von ca. 2000 Quadratmetern mit drei heizbaren Flächen. Olesen, der mittlerweile an Parkinson erkrankt war, beendete in diesem Jahr seine Tätigkeit im Zoo und zog nach Schöneiche bei Berlin. Den Eingang seines Häuschens schmückten zwei stattliche Bronzelöwen und auf dem Grundstück wehte eine dänische Flagge.

    Im Dezember schrieb die Presse: „Er ist nun pensioniert; darum sitzt er im guten Anzug auf der Zoobank. Im Grunde genommen ist er jetzt Zoobesucher wie wir, aber darauf stelle sich einer mal von heute auf morgen ein, wenn man vierzig Jahre im Raubtierhaus gesorgt und gearbeitet hat. Wenn etwas los ist bei den Löwen, oder wenn der schwarze Panther nicht fressen will, wird man auch den pensionierten Papa Olesen von seiner Bank hereinholen, wenn er nicht schon selber zur Stelle ist.“

    In Schöneiche betreute Olesen das nahe gelegene Tiergehege des Gastwirtes Reinhold Grätz. Hier kümmerte er sich nunmehr um Rehe, Fasane, Hühner, Tauben und Kaninchen.

    Am 28. Mai 1947 verstarb Olesen. Mit ihm verschwand auch das Tiergehege in Schöneiche und die Erinnerung an einen außergewöhnlichen Tierpfleger aus einer anderen Zeit.

    Andreas Gängel, Jahrgang 1955, studierte Rechtswissenschaft und promovierte an der Humboldt-Universität zu Berlin. Er war Mitarbeiter und Forschungsgruppenleiter am Institut für Theorie des Staates und des Rechts der Akademie der Wissenschaften der DDR sowie Referent für Rechtspolitik im Deutschen Bundestag. Zudem arbeitete er als Buchlektor, Zeitschriftenredakteur und Publizist und veröffentlichte rechtstheoretische, rechtspraktische sowie rechts- und heimatgeschichtliche Texte.

    #Berlin #Zoo #Geschichte

  • Der Kampf um die Hutou-Festung : Wo der Zweite Weltkrieg sein Ende fand
    https://www.berliner-zeitung.de/open-source/der-kampf-um-die-hutou-festung-wo-der-zweite-weltkrieg-sein-ende-fa

    La dernière bataille de la deuxième guerre mondial ne finit que le 26 août 1945 bien après la capitulation du Japon . 2000 soldats soviétiques et tous les combattants japonais tombèrent sur le sol chinois lors de la dernière tragédie de la guerre. Il ne faudra jamais oublier leur sacrifice.

    https://www.youtube.com/watch?v=2rINnJat-5k


    Quand passent les cigognes (Летят журавли, Letiat jouravli)

    25.8.2025 von Frank Schumacher - Erst am 26. August 1945 fielen die letzten Schüsse des Zweiten Weltkriegs. Obwohl Japan längst kapituliert hatte, kämpfte es in China noch gegen die Rote Armee.

    Da steht er auf einem Felsen, 16 Meter hoch und 25 Meter lang bis zur Schwanzspitze, in der tief stehenden Sonne glänzt die Bronze matt. Sein Hinterteil reckt er demonstrativ dem Ussuri entgegen. Das andere Ufer ist bereits Russland, aber dort ist kein Mensch zu sehen. Diesseits ist auch nicht viel los, was gewiss dem kalten Wind geschuldet ist, der hier unablässig von Nord bläst. Heute stürmt es besonders. Deshalb stoppt auch der Kahnverleih unten am Ufer, man darf nicht wie sonst bis zur Mitte des Flusses fahren, der auf unserer, also der chinesischen Seite, Muling He heißt.

    Das Wasser strömt mal dahin und mal dorthin, es mäandert durch die Wälder, es gibt Nebengewässer und Arme, die Inseln umfließen. Um die kleine dort, Zhenbao Dao genannt, keinen Quadratkilometer groß, führten die beiden Anrainer 1969 Krieg – als gäbe es nicht schon genug unbewohntes Land auf beiden Seiten des Grenzflusses.

    Krieg ist auch der Grund, weshalb wir hier sind. Allerdings jener Krieg, der im August 1945 an eben diesem Ort endete. 1987 war ich in Hiroshima gewesen, Jahrzehnte später studierte dort mein Jüngster, Fritz Schumann, und kletterte über die Ruinen auf Okunoshima, einer der Stadt vorgelagerten Insel. Das waren die Reste einer Fabrik, in der seit 1929 – mit deutschem Knowhow – produziert worden war: in anderthalb Jahrzehnten genau 6600 Tonnen Senfgas, Phosgen und Blausäure.

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    Entwicklung biologischer Waffen in ChinaXinhua/imago

    Das international geächtete Giftgas setzten die japanischen Faschisten in den von ihnen eroberten Ländern ein, vorzugsweise in China. Beim Rückzug verscharrten sie die Behälter in chinesischer Erde, ohne die Orte zu notieren. Später konnten sie sich nicht mehr daran erinnern, überhaupt in China gewesen zu sein, gar Kriegsverbrechen verübt zu haben. Noch heute sterben Menschen an den Giftstoffen, wenn etwa bei Tiefbauarbeiten Tonnen zutage gefördert werden oder aus den durchgerosteten Behältern das Gift ins Grundwasser gelangt.

    Auf den Spuren der Kwantung-Armee

    Fritz recherchierte seit Jahren zu dem Thema in Archiven, befragte Beteiligte und Zeugen (die inzwischen alle verstorben sind), konsultierte weltweit Experten und ist inzwischen selbst einer. Gelegentlich begleite ich ihn auf Forschungsreisen, weil wir irgendwann gemeinsam ein Buch zu eben diesem Thema herausbringen werden. Darum sind wir auch hier, nachdem wir in der Provinzhauptstadt Harbin die Spuren der berüchtigten Einheit 731 der Kwantung-Armee studiert haben, jener Verbrecherbande, die mit chemischen und biologischen Waffen experimentierte und mindestens eine Viertelmillion Menschen auf diese Weise ermordete.

    Der Tiger aus gediegenem Blech ist geschlechtslos, bemerken wir, als wir zwischen seinen mächtigen Hinterbeinen stehen. Er soll der größte der Welt sein. Das steht nirgends, nicht einmal im Internet. Wikipedia kennt zwar die weitläufige Siedlung Hulin und weiß, dass sie transkribiert so viel wie Tigerwald oder Tigerkopf heißt, aber viel mehr hat die größte Enzyklopädie der Welt über diesen abgelegenen Ort in der Provinz Heilongjiang auch nicht mitzuteilen. Die deutsche Umschreibung erklärt allerdings, warum hier dieser gewaltige Tiger thront – und ich amüsiere mich bei dem Gedanken, in Schweinfurt, Darmstadt oder Pforzheim käme eine Marketingabteilung auf eine ähnlich verwegene Idee.

    Die Katze auf dem Felsen überragt nicht nur den Grenzfluss, den die ganze Welt kennt, sondern auch ein Wiesendreieck, das gesäumt wird von den zwölf Tieren, die den chinesischen Jahreskreis bilden: Ratte, Schwein, Hase, Schlange und so weiter. Diese hocken, jedes Tier für sich, auf schwarzen Marmorsockeln und heben die Nasen keck in den Wind, der die umstehenden Lärchen in Schieflage bringt. Nirgendwo ist ein Baum zu sehen, der kerzengerade in den Himmel wächst. Die Vegetationsperiode dauere hier von Ende Mai bis September, sagen die Chinesen, die vor ihre winzigen Häuser Plastikplanen gespannt haben, damit der kalte Wind nicht durch die Ritzen zieht. Das Leben im nordöstlichsten Zipfel des Landes ist hart, die Einkommen sind mit die niedrigsten im ganzen Land.

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    Blick über den Fluss Hulin in der Provinz HeilongjiangXinhua/imago

    Japan und Nazideutschland waren auch Waffenbrüder

    In Hulin, und das ist der Anlass unserer weiten Reise, wurde die letzte Schlacht des Zweiten Weltkriegs in Asien geschlagen. Chinas Geschichtsschreibung addiert die 1931 begonnene japanische Okkupation der Mandschurei und nachfolgende Kriegsverbrechen, weshalb aus Sicht der Chinesen dieser Krieg 14 Jahre dauerte und antifaschistischer Widerstandskampf war.

    Japan und Nazideutschland waren sowohl ideologische Bundesgenossen als auch Waffenbrüder. In jenen knapp anderthalb Jahrzehnten verloren etwa 35 Millionen Chinesen ihr Leben, was in den Weltkriegsstatistiken kaum ausgewiesen wird. Auf den Mordstätten Asiens führte man nicht so genau Buch wie in den Konzentrationslagern und an den Fronten des christlichen Abendlandes.

    Der Bau der Festung Hutou war von den Japanern in den 30er-Jahren veranlasst worden. Hunderttausende Arbeitssklaven hauten unter mörderischen Bedingungen die größte Festungsanlage Asiens in den Fels, gedacht als Ausgangspunkt zur Eroberung Sibiriens. Das unterirdische Labyrinth der Festung erstreckte sich über zwölf Kilometer, die japanische Kwantung-Armee erklärte es zur „Maginot-Linie des Orients“. Die transsibirische Eisenbahn führte in nur 17 Kilometern Entfernung vorbei – die erreichte man damals von der Festung aus mit der 41-cm-Haubitze, welche 1000 Kilogramm schwere Granaten verschoss. Es war Japans größtes Geschütz. Damit traf man die einzige Bahnverbindung zwischen Chabarowsk und Wladiwostok.

    90 Tage nach dem Sieg der Anti-Hitler-Koalition in Europa eröffnete die Sowjetunion – den westlichen Verbündeten war’s versprochen – die „zweite Front“ gegen die Japaner. Am 8. August 1945. Zwei Tage zuvor hatten die USA Hiroshima atomisiert, am Tag darauf stieg über Nagasaki der Atompilz auf.

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    Eine sowjetische Motorkolonne überquert im August 1945 das Große Hinggan-Gebirge.Simon Raskin/imago
    Sturm auf die Hutou-Festung

    Eine Woche nach der sowjetischen Kriegserklärung an Tokio forderte der Tenno, der japanische Kaiser, in einer Rundfunkansprache seine Soldaten auf, die Waffen niederzulegen. „Jetzt hat der Krieg fast vier Jahre gedauert. Trotz des Besten, das von allen geleistet wurde – des tapferen Kampfes der Land- und Seestreitkräfte, des Fleißes und der Emsigkeit Unserer Staatsdiener und des hingebungsvollen Dienstes Unserer einhundert Millionen Menschen –, hat sich die Kriegssituation nicht unbedingt zum Vorteil Japans entwickelt, während die allgemeinen Entwicklungen der Welt sich gegen sein Interesse gewandt haben.“

    Auch in der Festung Hutou empfing man die Radio-Aufforderung zur Kapitulation – doch die Besatzung hielt die Forderung für eine Verschwörung und widersetzte sich. Die Emissäre, die die vor der Festung zusammengezogenen Sowjettruppen entsandten, wurden enthauptet. Nachdem alle Verständigungsangebote gescheitert waren, stürmten 20.000 Rotarmisten das Labyrinth mit Bombern und Kampfflugzeugen, Panzern und Pionieren. Die Russen kämpften sich tagelang durch die unterirdischen Gänge, attackiert von 1500 Japanern. Am Ende streckten noch 53 von ihnen die Waffen – mehr waren dazu nicht in der Lage, die anderen waren alle tot. Auch etwa 2000 Rotarmisten bezahlten den Irrsinn mit ihrem Leben.

    In dem Geflecht der tropfnassen Gänge, düster und kalt, kann man noch die Einschusslöcher an den Wänden sehen und mit den Händen spüren. Uns fröstelt. Die kleine Chinesin mit der großen Goldrandbrille im dünnen dunkelblauen Hosenanzug, die uns durch die unterirdischen Aufenthaltsräume und Munitionslager führt, bibbert, spricht jedoch warmherzig von maruta, die diese Tunnel in den Berg trieben. „Maruta“ nannten die japanischen Herrenmenschen die Chinesen: „Holz“, keine Subjekte, sondern Objekte, mit denen man nach Gutdünken verfuhr.

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    In den Tunneln der Hutou-Festung kam es zu heftigen Kämpfen zwischen der sowjetischen Armee und den japanischen Verteidigern.Imaginechina-Tuchong/imago

    Die Innenausstattung ist verrottet oder in der Hitze der Flammenwerfer verbrannt. Im modernen Museum, das vor einigen Jahren oberirdisch hinzugefügt wurde, ist die Geschichte der Festungsanlagen dokumentiert. Im Internet ist das Studium der Artefakte und dazugehöriger Erläuterungen (noch) nicht möglich. Die Chinesen, ansonsten technikaffin wie kaum ein anderes Volk, tun sich schwer damit, diesen Teil ihrer Geschichte ins Netz zu stellen.

    Kanonen, die weg sind, können nicht mehr schießen

    Auf den dreisprachigen Tafeln (Chinesisch, Russisch, Englisch) erfährt man auch, dass die Sowjetsoldaten alle Waffen und Geschütze mit sich führten, als sie wieder abzogen. Moskau wusste bei Kriegsende nicht, wie sich die Beziehungen zum Nachbarn künftig gestalten würden. Und Kanonen, die weg sind, können bekanntlich nicht mehr schießen. Die Russen ließen aber einen Obelisken auf dem höchsten Punkt der Festungsanlage zurück sowie eine Platte mit kyrillischen Lettern, die Stalin rühmt, den „Generalissimus der Sowjetunion“, und an die tapferen Kameraden der 1. Fernostfront erinnert, die die Stadt und die Festung Hutou von japanischer Besatzung befreiten.

    Vor dem Museum dehnt sich ein riesiger Parkplatz, der gesäumt wird von Darstellungen der Vergangenheit. Am Fuße eines meterhohen Denkmalsockels, darauf ein Rotarmist und ein chinesischer Soldat mit einem Gewehr, stehen acht Militärs (darunter sogar eine Frau), übermannsgroß und in Bronze. Im Museum waren auch ihre Köpfe zu sehen. Einer jedoch fehlte: Hauptmann Kim Il-sung. Zufall oder Absicht? Belegt ist, dass der Koreaner in der 88. Schützenbrigade der 2. Fernostfront der Roten Armee als Bataillonskommandeur kämpfte.

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    Die Säule auf dem Huxiao-Berg erinnert an das Ende des Zweiten Weltkriegs.Imaginechina-Tuchong/imago

    Wenige Autokilometer entfernt, auf dem höchsten Punkt des Huxiao-Berges, lag einst der Führungspunkt der Festung, das Headquarter. Davon ist nichts geblieben. Vor anderthalb Jahrzehnten wurde dort auf fast 30 Hektar ein Gedenkpark angelegt. „Memorial Park at The End of World War II“ ist in einen Findling gemeißelt. Er liegt am Fuße einer breiten Treppe, auf der wir über viele Stufen zu einer Säule emporsteigen, auf der eine allegorische Figur, umflattert von mehreren Vögeln, eine Taube gen Himmel reckt.

    Links und rechts der Stiegen finden sich Steine mit Texten und Kunstwerke unterschiedlicher Art, eine Chronik des Krieges. Mal martialisch, mal heroisch, mal metaphorisch, mal misslungen. An manchen Stellen bröckelt auch bereits der Beton, die Anlagen in Treptow und Tiergarten befinden sich in einem deutlich besseren Zustand. Nun ja, in Berlin ist nur das politische Klima rau, nicht auch das Wetter.

    So viele Menschen scheinen sich auch nicht nach Hutou zu verirren. Wir sind die einzigen Besucher. Die Blumen am Sockel der Siegessäule sind schon lange vertrocknet. Um 15.30 Uhr am 26. August 1945 endete die Schlacht um die Festung Hutou, steht dort zweisprachig. „Exactly 11 days after the Japanese Emperors’s announcement of surrender“ wurde „Hutou zum Endpunkt des Zweiten Weltkriegs“.

    Alles und alle unter einem Himmel, sagen die Chinesen. Wann wird man je verstehn, sang Marlene Dietrich.

    Frank Schumann ist Verleger des 1990 gegründeten Verlages Edition Ost.

    #Chine #Japon #URSS #histoire #guerre #Mandchoukouo #Mandchourie

  • Wie Gäste zweiter Klasse: Was mich als Berliner am Flughafen BER gewaltig nervt
    https://www.berliner-zeitung.de/open-source/wie-gaeste-zweiter-klasse-was-mich-als-berliner-am-ber-gewaltig-ner

    22.6.2025 Fehmi Ucar - Am Taxistand des BER fühlt man sich als Berliner oft wie ein Bittsteller. Wer „nur nach Rudow“ will, merkt schnell: Willkommen ist man hier nur mit Fernziel.

    Dies ist ein Open-Source-Beitrag. Der Berliner Verlag gibt allen Interessierten die Möglichkeit, Texte mit inhaltlicher Relevanz und professionellen Qualitätsstandards anzubieten.

    Der BER ist das Tor zur Hauptstadt. Doch wer aus Berlin kommt und nur nach Hause will, steht oft vor verschlossenen Türen – zumindest gefühlt. Denn wer am Taxistand „Rudow“ sagt, erntet nicht selten einen Blick, der Bände spricht. Ein kurzes Zögern, ein genervtes „Na gut“, und schon weiß man: Willkommen ist man hier nicht.

    Was ist das für ein Flughafen, der Berlinerinnen und Berliner behandelt, als gehörten sie nicht dazu? Menschen, die in angrenzenden Stadtteilen wohnen – keine zehn Minuten entfernt –, werden behandelt, als wollten sie eine Extratour durch halb Brandenburg erzwingen. Dabei wollen sie nur eins: heimkommen.

    Das Problem liegt im System. Nur Taxis aus dem Landkreis Dahme-Spreewald dürfen am BER offiziell Fahrgäste aufnehmen. Berliner Taxis dürfen das nicht – es sei denn, sie gehören zu den wenigen mit Sondergenehmigung. Die Folge? Viele Fahrer hoffen auf lange Strecken und reagieren frustriert, wenn jemand nur nach Rudow möchte.

    Ernüchterung statt Erleichterung

    Für die Fahrgäste ist das mehr als nur unangenehm. Es ist ein Gefühl der Ausgrenzung – mitten in der eigenen Stadt. Man fliegt Tausende Kilometer, ist müde, hat Gepäck, vielleicht sogar eine schwangere Begleitperson dabei und wird am Taxistand behandelt, als würde man jemanden um einen Gefallen bitten. Besonders in den späten Abendstunden ist das ein echtes Problem. Die öffentlichen Verkehrsmittel fahren seltener, die Wege sind weiter, das Bedürfnis nach einer unkomplizierten Heimfahrt ist groß. Doch statt Erleichterung wartet Ernüchterung.

    Berliner, die am BER landen, fühlen sich wie Gäste zweiter Klasse, obwohl sie praktisch vor der Tür wohnen. Das ist nicht nur ein emotionales Thema, sondern auch eine Frage der Fairness. Warum wird die Hauptstadtbevölkerung an einem Hauptstadtflughafen benachteiligt? Warum bekommt jemand aus Cottbus problemlos ein Taxi am BER, während ein Rudower fast um die Heimfahrt betteln muss?

    Dabei liegt eine Lösung auf der Hand. Keine Gesetzesänderung, kein monatelanges Verfahren, sondern eine einfache Struktur vor Ort: zwei Taxi-Schlangen. Eine für Langstrecken, eine für Kurzstrecken. Wer bereit ist, auch nahe Ziele zu bedienen, stellt sich entsprechend an. So kann jeder selbst entscheiden, worauf er wartet, und jeder Fahrgast weiß, wo er hingehört.
    Für wen ist dieser Flughafen eigentlich da?

    Solche Modelle gibt es an anderen Flughäfen längst. Sie funktionieren, weil sie fair, transparent und effizient sind. Sie nehmen den Druck aus der Situation – auf beiden Seiten. Niemand muss sich rechtfertigen, niemand fühlt sich gezwungen. Der BER will international glänzen. Aber echtes Niveau zeigt sich im Nahbereich. Und echte Gastfreundschaft fängt nicht bei Langstrecken an, sondern beim Nachbarn..

    Wer schon am Flughafen spürt, dass seine Adresse nicht zählt, fragt sich unweigerlich: Für wen ist dieser Flughafen eigentlich da? Berlin ist nicht nur Hauptstadt, Berlin ist Heimat. Und wer aus dem Urlaub, von der Dienstreise oder dem Wochenendtrip zurückkommt, sollte sich nicht wie ein Fremder fühlen, nur weil er in Rudow wohnt.

    Fehmi Ucar ist gebürtiger Berliner. Er ist selbstständig in der Baubranche tätig und verwaltet zudem Immobilien in Berlin. Mit offenen Augen für die Entwicklungen in seiner Stadt verfolgt er besonders Themen rund um Mobilität, Stadtbild und Alltagsprobleme.

  • Als der Dreifachmörder Oswald Trenkler die Berliner in Angst und Schrecken versetzte
    https://www.berliner-zeitung.de/open-source/als-der-dreifachmoerder-oswald-trenkler-die-berliner-in-angst-und-s

    Die Autorin kriegt am Ende den Moralischen, aber sonst ist die Geschichte gut - man erfährt etwas über die Zustände bei der Berliner Polizei vor der „Zentralen Mordinspektion“ des Ernst Gennat.

    23.7.2025 von Bettina Müller - Er war ein Mann, der nichts zu verlieren hatte: Als Oswald Trenkler im Jahr 1912 eine ganze Familie ermordete, stand er selbst bereits mit einem Fuß im Grab.

    Die Berliner Kriminalstatistik ist eine Lektüre des Grauens, damals – 1912 betrug die Zahl der aufgefundenen Leichen Erwachsener 226 – wie heute: 2024 mussten insgesamt 117 Menschen ihr Leben lassen. Nicht ablesbar war 1912, dass jemand in Serie gemordet oder aber gleich drei Menschen auf einmal erschlagen hatte – und das innerhalb einer Stunde. Bis Oswald Trenkler, der schwindsüchtige Schlossergeselle aus Klein-Schönau in Sachsen, die Berliner eines Besseren belehrte. Ein Täter, der – so die einhellige Meinung der Presse – „weit über die Reichshauptstadt Berlin hinaus allgemeines Aufsehen“ erregte. Denn Oswald Trenkler, dieser geistig nicht gesunde Täter, hatte 1912 tatsächlich innerhalb einer Stunde die gesamte Familie Schulze aus der Alten Jakobstraße 94/95 mit einem Schlageisen dahingemetzelt. Wie hatte es zu diesem Dreifachmord der von der Presse so viel zitierten „Bestie in Menschengestalt“ kommen können?

    Oswald Trenkler, Sohn eines „braven und in seinem Heimatort sehr geachteten Mannes“, ist ein schmächtiger und blasser kleiner Mann. Ein Entlassungsschein aus dem Gefängnis – auch enthalten in einer Kriminalakte des Polizeiamtes der Stadt Leipzig – zeugt von seinem ungesunden Äußeren. Der ledige 1883 in Klein-Schönau in Sachsen geborene Schlossergeselle ist demnach bereits Anfang 1899 wegen schweren Diebstahls vom Landgericht Bautzen zu einer sechsmonatigen Gefängnisstrafe verurteilt worden, und das im Alter von 15 Jahren. Noch im selben Jahr ist er rückfällig geworden, ebenso 1901 und 1904.

    Doch die Strafen werden nie von einer Läuterung gekrönt, im Gegenteil. Was genau er sich 1904 hat zuschulden kommen lassen, geht aus der Akte nicht hervor. Es muss jedoch gravierend gewesen sein, weil er für diese Straftat vom Königlichen Landgericht Dresden zu sechs Jahren Freiheitsentzug verurteilt wurde, die Strafe aber nicht im Gefängnis absitzen musste, sondern in einem für die Gefangenen von den Bedingungen her noch strengeren Zuchthaus.
    Ziellos, verarmt und todkrank

    30. Dezember 1910. Während viele Menschen gut gelaunt dem Jahresausklang entgegensehen, wird Trenkler aus dem Zuchthaus Waldheim entlassen. Da steht er nun mit seinen wenigen Habseligkeiten und weiß nicht so recht, wohin mit sich. Er ist mittlerweile nicht „nur“ ein Dieb, sondern auch ein Betrüger, so viel weiß man bereits. Aber er ist auch schwer krank, weil er sich in Waldheim die Tuberkulose eingefangen hat. Und die ist gnadenlos und wird aus ihm schnell ein blutspuckendes Wrack machen, dessen Lebenszeit in der Folge rasant abnimmt. Der Mann hat nichts mehr zu verlieren. Das rechtfertigt jedoch nicht im Geringsten, was sich über ein Jahr später ereignen wird, als Trenkler sich entschließt, nach Berlin zu gehen.

    Man weiß nicht, wie Trenkler seine Zeit bis zu jenem schicksalsträchtigen Januartag des Jahres 1912 verbracht hat. Wann er sich letzten Endes dazu entschied, einen Raub zu begehen, angeblich, um eine teure, aber eigentlich sinnlose Kur zu finanzieren. Die Morde will er nicht geplant haben. Und auch sonst war später vor Gericht von Demut im Schatten des Damoklesschwertes Tuberkulose bei ihm rein gar nichts zu erkennen.

    Seine Wahl fällt auf die Familie Schulze in der Alten Jakobstraße. August Schulze, das Oberhaupt der Familie, kennt er flüchtig. Der 50-jährige Schulze hat dort einen kleinen Laden, an den sich eine kleine Wohnung anschließt, der ihm, seiner Frau Anna und der 18-jährigen Tochter Margarete ein Zuhause bietet, das in Wirklichkeit aber schon lange keins mehr ist. Immer öfter bekommen Nachbarn Streitigkeiten des Ehepaars mit und wissen auch, dass Schulze „Damenbekanntschaften zweideutiger Art“ pflegt.

    17. Januar 1912. Es ist ein Mittwoch, an dem es bei Schulzes mal wieder laut wird. Die Nachbarn kennen das und kümmern sich nicht weiter darum. Sie ahnen nicht, dass es sich bei dem Lärm diesmal um einen Kampf um Leben und Tod handelt.

    Trenkler hat sich durch eine Seitentür in die Wohnung geschlichen und als erstes die Tochter attackiert. Im Todeskampf reißt sie noch den Ofen von der Wand. Als nächstes erschlägt er die Mutter und zieht dann die beiden Frauenkörper in die Eckwinkel der Stube.

    Als der ahnungslose August Schulze aus dem Schwimmbad nach Hause kommt, lauert sein Mörder bereits im Schrank auf ihn. In dem Moment, in dem der Hausherr die Stube betritt, weicht er entsetzt zurück. Überall Blut, und da! Frau und Tochter liegen regungslos auf der Erde. Er wird vielleicht noch kurz einen eisigen Windhauch in seinem Rücken verspürt haben, mit Sicherheit aber einen wahnsinnigen Schmerz, als Trenkler hinter ihm aus dem Schrank stürzt und ihm ohne zu zögern mit dem schon blutbefleckten Eisen auf den Schädel schlägt. Schulze ist längst bewusstlos zu Boden gesunken, da drischt Trenkler wie ein Wahnsinniger immer noch auf ihn ein.

    „Schreckenstat eines geisteskranken Juweliers“?

    Außerhalb des Ladens geht das Leben in Berlin seinen Gang. Es ist erst Mittagszeit, Trenkler hat tatsächlich am helllichten Tag gemordet. Mindestens eine Stunde lang hat er regelrecht gemetzelt und die Wohnung durchwühlt. Und das alles ungeachtet der Tatsache, dass jeden Augenblick jemand den Juwelierladen hätte betreten können. Dann verlässt Trenkler mit seiner Beute den Laden und schaut nicht mehr zurück.

    Der Berliner Kriminalpolizei bietet sich ein grauenhaftes Bild. Zunächst vermuten die Beamten eine Familientragödie, sodass das Berliner Tageblatt noch am selben Tag in der Abendausgabe fälschlicherweise von der „Familientragödie in der Alten Jakobstraße“ berichtet, die die „Schreckenstat eines geisteskranken Juweliers“ gewesen sei. Die aufgebrachte und zugleich verängstigte Bevölkerung wähnt sich erleichtert in Sicherheit, doch die ist nur von sehr kurzer Dauer, als bekannt wird, dass die gesamte Familie Schulze Opfer eines noch unbekannten Raubmörders geworden ist.

    Am 23. Januar 1912 werden die drei Toten unter großem Andrang auf dem alten Luisenstadtkirchhof in der Bergmannstraße beerdigt. Der Friedhof wird sogar von 10 bis 12 Uhr geschlossen, damit Angehörige und Freunde sich in aller Ruhe von den Toten verabschieden können. Die Verunsicherung ist riesig, der Druck auf die Kriminalpolizei zunehmend. Trenkler ist derweil mit seiner Beute nach Sachsen geflohen. Die Liste der gestohlenen Preziosen ist ellenlang – doch Trenkler denkt wohlweislich zunächst gar nicht daran, die Sachen zu verhökern, um sich nicht in Gefahr zu bringen.
    Ein Händler kommt Trenkler auf die Schliche

    Schließlich geraten drei junge Männer in den Fokus der Ermittlungen. Sie sind einem Omnibusschaffner aufgefallen, weil sie ihre Fahrkarten am Tattag mit blutigen Geldstücken bezahlt haben und zudem Blutflecken auf Hosen und Stiefeln hatten. Doch die Verdächtigen entpuppen sich als unbescholtene Fahrstuhlführer und der Schaffner als ein Mann mit zu viel Fantasie.

    Vier lange Wochen arbeitet die Polizei auf Hochtouren und das ohne Erfolg. Bis Trenkler einen Fehler begeht, der der letzte in seinem Leben wird. Als er in Dresden den Versuch macht, einem Althändler einige wenige Schmuckstücke zu verhökern, vergleicht der sie sofort mit einer Liste, die er – und andere Trödler im ganzen Land – von der Berliner Kriminalpolizei bekommen hat. Das Spiel ist aus für Oswald Trenkler! Für diesen merkwürdig gleichgültigen Täter, dem es, so der Eindruck von Prozessbeobachtern, offenbar völlig egal war, was er getan hatte.

    Ein kurzes Leugnen im Verhörraum, dann sieht der Mörder ein, dass es keinen Zweck hat: Er gesteht. Schließlich legt er auch vor Gericht Rechenschaft über sein verpfuschtes Leben ab, an dem ausschließlich er Schuld hat, niemand anders sonst. Er erzählt, dass er von Schwindsucht geplagt wird, die ihn bald dahinraffen wird, weil er bereits im Endstadium ist. Doch drei Leben für eins, diese Rechnung darf für die Justiz nicht aufgehen. Der Prozess wird für Trenkler zur Qual. Er ist so gut wie tot, spuckt ganze Näpfe mit Blut voll, die Verhandlung muss mehrmals vertagt werden und kann schließlich gar nicht mehr zu Ende gebracht werden. Am 26. Februar 1913 verstirbt Oswald Trenkler in seiner Zelle in Alt-Moabit.

    „Drum stopfe dir die Ohren zu wie ich. Und laß dein innerstes Gelüsten los, Das ist der Todgeweihten letztes Recht“, hieß es im Nibelungenlied aus dem Mund des Mörders Hagen von Tronje, der mit einem ähnlichen Mordrausch wie Trenkler endete. Doch Letzterer war keine Sagengestalt. Er war ein Mensch aus Fleisch und Blut. Und dieser Mann, der in seinen Träumen stets „furchtbare Bilder“ vor sich gehabt hatte, der von Mord, Stechen, Schießen fantasierte, was „in seinen Gedanken lebte und ihn nicht schlafen ließ“, hatte sich ab einem gewissen Punkt unwiderruflich für seinen ganz persönlichen Weg in die Hölle entschieden. Und dabei wollte er andere mitnehmen, sich auch an der Gesellschaft rächen, die ihm in seinen Augen übel mitgespielt hatte.

    Es war in gewisser Weise für den Täter auch eine gefährliche Gemengelage. Eine ungünstige genetische Veranlagung, Folgen einer möglichen Haftpsychose und das Damoklesschwert der Tuberkulose – all das hatte den bereits angeschlagenen geistigen Zustand dieses Täters verschlimmert und ihn in der Folge noch gnadenloser werden lassen. Aus einem Dieb war so ein Dreifachmörder geworden.

    Hätte man damit rechnen können? Wohl kaum. Zumindest gab es nach seinem Aufenthalt in Waldheim erste Anzeichen für eine bevorstehende Krise, die dann aber zum Amoklauf mit Blutrausch eskalierte – zum Beispiel heftige Erregungs- und Rauschzustände mit Schaum vor dem Mund. Doch ohne Intervention von Polizei, Justiz und Ärzten konnte nichts und niemand mehr diesen Täter, der „immer wilder“ geworden war, aufhalten. Schon gar nicht die Rechtsprechung. August, Margarete und Anna Schulze hatten das mit ihrem Leben bezahlen müssen.

    Bettina Müller lebt als freie Autorin in Köln und schreibt für verschiedene Zeitungen und Zeitschriften, vor allem historisches True Crime, über Kunst, Kultur und Literatur der Weimarer Republik, Reise und Genealogie. Im Herbst erscheint im Berliner Ammian-Verlag ihr Buch „Die Masseuse mit der Hundepeitsche“ (Zwölf historische Kriminalfälle aus Berlin und Umgebung).

    #Berlin #Kaiserreich #Geschichte #Kriminalität

  • Krenz, die DDR-Grenzer und der Schießbefehl : Eine Replik der Vorab-Besserwisser
    https://www.berliner-zeitung.de/open-source/krenz-die-ddr-grenzer-und-der-schiessbefehl-eine-replik-der-vorab-b

    Vous vous demandez toujours pourquoi en 1989 il a suffi que le peuple se pointe aux points de passage entre Berlin-Est et Berlin-Ouest pour ouvrir les barrières entre les états ? Dans des situations comparables les régimes dictatoriaux préfèrent généralement tirer plutôt que d’accepter une ouverture.

    La réponse est simple. Tout le monde, y compris le militaire et la majorité des cadres du parti, était d’accord que le régime frontalier devait changer.

    Dans cet article deux anciens enseignants de l’école militaire des gardes-frontière racontent leurs efforts pour préparer une transformation du système militaire des frontieres.

    28.7.2025 von Artur PechRolf Ziegenbein - Die Debatte um das Grenzregime der DDR zeigt: Hinterher ist jeder schlauer. Doch unsere Autoren haben sich schon vor 1990 für eine Reform eingesetzt.

    Dies ist ein Open-Source-Beitrag. Der Berliner Verlag gibt allen Interessierten die Möglichkeit, Texte mit inhaltlicher Relevanz und professionellen Qualitätsstandards anzubieten.

    Im Interview des Verlegers der Berliner Zeitung, Holger Friedrich, mit Egon Krenz zum Erscheinen des dritten Bandes der Krenz-Memoiren tauchte das Problem wieder auf, inwieweit die Toten an der damaligen Staatsgrenze der DDR hätten verhindert werden können. Krenz, der ehemalige Staatsratsvorsitzende, verwies auf das Dilemma zwischen der Schutzwürdigkeit jedes menschlichen Lebens einerseits und der weltpolitischen Notwendigkeit des Schutzes der Staatsgrenze der DDR als Systemgrenze andererseits. Sein Fazit lautete: „Ich weiß bis heute nicht, wie wir es hätten anders machen können.“

    In der Folge druckte die Berliner Zeitung zwei Beiträge zu diesem Thema ab. Michael Günther vertrat am 23. Juni (online 18. Juni) die Auffassung, dass Veränderungen am Grenzregime möglich gewesen seien, Frank Schumann rechtfertigte im Beitrag vom 4. Juli (online 29. Juni) die damaligen Entscheidungen und Handlungsweisen der DDR- Führung. Das Thema ist also immer noch aktuell.

    Nun hat Frank Schumann im (Online-)Titel seines Beitrages diejenigen, die nachträglich Überlegungen zu einem veränderten Grenzregime der DDR anstellen, als „Hinterher- Besserwisser“ abqualifiziert. Das wirft die Frage auf, ob es vielleicht „Vorher- Besserwisser“ gegeben hat?

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    Ja, eine solche kleine Gruppe von Offizieren in mittleren und höheren Führungsfunktionen der Grenztruppen hat es in den letzten Jahren der Existenz der DDR gegeben – und die Autoren gehörten dazu. Ausgangspunkt unserer Überlegungen war, dass das Grenzregime so, wie es existierte, nicht bleiben konnte und dringend veränderungsbedürftig war.

    Grenzer sprengen im Jahr 1974 Minen am Todeszaun im Lappwald bei Helmstedt.

    Grenzer sprengen im Jahr 1974 Minen am Todeszaun im Lappwald bei Helmstedt.Rust/imago

    Das Regime an der Grenze fügte der DDR außenpolitisch, aber auch innenpolitisch immensen Schaden zu – mehr, als es nutzte. Die Räumung der Minenfelder war 1984 ein Schritt in die richtige Richtung, aber man hätte dabei nicht stehen bleiben dürfen. Mit Blick auf aktuelle Entwicklungen sei angemerkt: Die Räumung der Minen an der Grenze der DDR erfolgte, nachdem die Minenkonvention im Dezember 1983 in Kraft getreten war, aus der jetzt die baltischen EU-Staaten und Polen austreten, weil sie ihre Ostgrenze verminen wollen.
    Ein „Frontdienst im Frieden“

    Durch die nach dem 13. August 1961 erfolgte Unterstellung der Grenzsicherungskräfte vom Ministerium des Innern zum Ministerium für Nationale Verteidigung traten jedenfalls gravierende Veränderungen ein. Der polizeiliche Schutz- und Überwachungsauftrag blieb dem Wesen nach erhalten, trat aber zunehmend hinter die in einem möglichen Kriegsfall zu erfüllenden Aufgaben zurück.

    Dass die Durchsetzung der Grenzordnung eine polizeiliche Aufgabe war, wurde vom Ministerium für Nationale Verteidigung zunehmend ignoriert. Der nun zuständige Minister sprach vom Grenzdienst als „Frontdienst im Frieden“ und bezeichnete Handlungen an der Grenze als „Gefecht im Frieden“. In einem Gefecht ist aber immer auch mit Toten zu rechnen.

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    Es blieb aber nicht bei der Wortwahl. Der Grenzdienst wurde nach militärischen Grundsätzen organisiert. Die für die Nationale Volksarmee erlassenen Dienstvorschriften wurden zu wesentlichen Teilen für die Grenztruppen gültig erklärt. Für die Wehrpflichtigen gab es dort nur die „Gefechtsausbildung“, eine Vorbereitung zur Erfüllung von Polizeiaufgaben erfolgte nur minimal.

    NVA-Soldaten während einer Übung. Die NVA-Dienstvorschriften waren im Wesentlichen auch für die Grenztruppe gültig.

    NVA-Soldaten während einer Übung. Die NVA-Dienstvorschriften waren im Wesentlichen auch für die Grenztruppe gültig.Sächsische Zeitung/imago
    Die Grenztruppen standen unter Dauerstress

    Ein Höhepunkt dieses für die Handlungen im Frieden fehlerhaften Denkens war die nunmehr eingeführte und bis Mitte der Achtzigerjahre gültige Vergatterungsformel: „Grenzverletzer sind festzunehmen bzw. zu vernichten.“ Sie war dem militärischen Denken geschuldet, nach dem es im Gefecht darum geht, den Gegner zu bekämpfen, niederzuhalten oder eben zu vernichten. Das stand in krassem Widerspruch zu den in der DDR geltenden Bestimmungen zum Gebrauch von Schusswaffen.

    Die Offiziere der Grenztruppen wurden an den militärischen Lehreinrichtungen militärisch hoch qualifiziert, hatten aber dort über viele Jahre keine Ausbildung im einschlägigen Staats- bzw. Strafrecht, vom Völkerrecht ganz zu schweigen. Da dieses Recht aber die Grundlage ihres Handelns an der Grenze in Friedenszeiten bildete, war das letztlich unhaltbar.

    Während die Grenztruppen durch extreme Belastungen unter Dauerstress standen und es immer wieder zu Toten an der Grenze kam, beriefen sich der zuständige Minister und sein Chef des Hauptstabes auf ihr militärstrategisches Denken. Sie bedauerten zwar jeden Toten, hielten die Opfer des Grenzregimes aber letztlich für einen Kollateralschaden im Kalten Krieg, wie sie verklausuliert in ihrem Buch „Ohne die Mauer hätte es Krieg gegeben“ (Edition Ost, 2011, S. 7) eingestanden.
    „Staat und Recht“ wird erst ab 1985 unterrichtet

    Die genannte kleine Gruppe von Offizieren wollte für den Grenzdienst in Friedenszeiten weg von diesem militärischen Denken. Sie versuchte zunächst, durch Publikationen auf Veränderungen im Denken Einfluss zu nehmen. Da das wegen der Militärzensur schwierig war, wich sie auf wissenschaftliche Arbeit, vor allem auf Forschungsvorhaben für die zukünftige Entwicklung des Grenzschutzes der DDR, aus.

    An der Offiziershochschule Rosa Luxemburg, an der die zukünftigen Offiziere für die Grenztruppen ausgebildet wurden und auch Weiterbildung für das bestehende Offizierskorps erfolgte, gelang es erst 1985 – gegen energischen Widerstand aus dem Ministerium für Nationale Verteidigung – das Lehrfach „Staat und Recht“ einzuführen und einen entsprechenden Lehrstuhl zu gründen.

    Egon Krenz (Stellvertreter des Vorsitzenden des Staatsrates), NVA-Armeegeneral Heinz Keßler (Minister für Nationale Verteidigung) und Horst Sindermann (Präsident der Volkskammer) im Jahr 1987 (v.l.n.r.)

    Egon Krenz (Stellvertreter des Vorsitzenden des Staatsrates), NVA-Armeegeneral Heinz Keßler (Minister für Nationale Verteidigung) und Horst Sindermann (Präsident der Volkskammer) im Jahr 1987 (v.l.n.r.)Stana/imago

    Es sei erwähnt, dass das reformorientierte Denken von Offizieren der Politischen Verwaltung der Grenztruppen ausging. Sie hätten nicht aktiv werden können, wenn nicht der Chef der Politischen Verwaltung mit dem Dienstgrad Generalleutnant schützend seine Hand über sie gehalten hätte. Während sich die Aktivitäten der Gruppe in Publikationen und wissenschaftlichen Arbeiten bis heute nachweisen lassen, hat sich der Generalleutnant allerdings schriftlicher Stellungnahmen enthalten. Das hätte ihn wohl auch seine Dienststellung gekostet.

    Was die in einem möglichen Krieg durch die Grenztruppen zu erfüllenden Anforderungen betrifft, so hätten sie im Hinblick auf die Dominanz des Polizeidienstes als paramilitärische Aufgabe gelöst werden können. Dabei sollte nicht übersehen werden, dass die Achtzigerjahre glücklicherweise ohnehin durch Entspannungs- und Abrüstungspolitik gekennzeichnet waren. Wenn Panzerbataillone aufgelöst wurden, wäre es wohl an der Zeit gewesen, auf die militärische Doppelfunktion der Grenztruppen zu verzichten. Die Sowjetunion hätte in diesem Fall ebenso vor vollendete Tatsachen gestellt werden müssen wie bei der Minenräumung.

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    Es geht also nicht nur um „Hinterher-Besserwisserei“. Es gab auch Menschen, die vorher ihrem Land dienen wollten, indem sie Vorschläge für Änderungen des Grenzregimes unterbreiteten. Das war damals durchaus auch mit persönlichen Risiken verbunden und Anfeindungen wirken bis heute nach. Wer sich den Fehlern der DDR stellt, muss auch darüber nachdenken.

    Artur Pech war bis 1989 Leiter der Unterabteilung gesellschaftswissenschaftliche Ausbildung im Kommando der Grenztruppen.

    Rolf Ziegenbein war bis 1989 Stellvertreter des Kommandeurs der Offiziershochschule der Grenztruppen für Ausbildung und Forschung.

    #Allemagne #histoire #mur #DDR #frontière #rideau_de_fer

  • Palästinenser in Berlin: „Die Aussage von Bildungsministerin Prien hat mich tief verletzt“
    https://www.berliner-zeitung.de/open-source/palaestinenser-in-berlin-die-aussage-von-bildungsministerin-prien-h

    Allemagne : Quand l’antisemitisme sert de prétexte au racisme anti-arabe.

    19.7.2025 von Marcel Nashwan - Die palästinensische Community sei „ordentlich radikalisiert“, sagt Bildungsministerin Prien. Unser Autor ist entsetzt von diesem Generalverdacht.

    Am 28. Juni 2025 äußerte sich Bildungsministerin Karin Prien im Interview mit der Bildzeitung zu Antisemitismus an Schulen. Auf die Frage, wie Schulen mit wachsendem Extremismus umgehen sollen, sagte sie: „ ... wir haben alleine in Berlin hier 40.000 Palästinenser, die hier leben. Die sind offensichtlich ordentlich radikalisiert durch ihre entsprechenden Communities. Mich stört das sehr.“

    Diese Aussage hinterlässt mich tief verletzt und verstört. Ich frage mich: Wie kann eine amtierende Bildungsministerin im Jahr 2025 eine ganze Bevölkerungsgruppe pauschal als radikalisiert bezeichnen und das mit direktem Verweis auf deren Herkunft? Was rechtfertigt es, einem so großen Teil der Gesellschaft ohne Differenzierung Extremismus zu unterstellen und das in einem Kontext, der keinerlei belegbare Grundlage erkennen lässt?

    Es gibt nicht die palästinensische Community

    Diese Formulierung trifft mich nicht nur als Bürger dieses Landes, sondern ganz unmittelbar als Mensch. Ich bin Sohn eines muslimischen Palästinensers aus dem Gazastreifen. Meine Familie lebt seit Jahrzehnten in Deutschland – mein Vater und meine Schwester als Ärzte, meine Mutter als Krankenschwester, ich selbst studiere Rechtswissenschaften in Berlin. Wir sind nicht nur in dieser Gesellschaft angekommen, wir tragen sie aktiv mit: durch medizinische Versorgung, durch Engagement, durch das Bekenntnis zu rechtsstaatlichen Werten. Und dennoch stellt diese Aussage uns – wie viele andere – pauschal unter Generalverdacht. Sie setzt Zugehörigkeit mit Gefährdung gleich.

    Prien spricht später von der „palästinensischen Community“, aus der die Radikalisierung hervorgehe. Diese Formulierung begegnet mir häufig – in den Medien, im Alltag. Aber es gibt nicht die palästinensische Community. Es gibt Familien, säkulare wie religiöse Menschen, politisch konservative wie progressive Stimmen, Künstler, Studierende, Eltern, Rentner – wie in jeder anderen gesellschaftlichen Gruppe auch. Solche Aussagen verkennen diese Realität. Sie reduzieren komplexe Biografien auf ein vermeintlich homogenes Risikoprofil.

    Noch schwerwiegender wird Priens Rhetorik ab Minute 9:35, in der sie sagt: „Wir haben selbstverständlich migrantischen Antisemitismus in Deutschland. […] Und der wird auch von Palästinensern vertreten, die natürlich aus ihrer Geschichte heraus wiederum so aufgewachsen sind, dass ihr Feindbild Israel ist […]“

    Auch hier erfolgt eine pauschale und historisch unzulässige Verkürzung. „Unsere Geschichte“, wie Prien sie nennt, ist nicht monolithisch, nicht ideologisch vorgeprägt und erst recht nicht auf ein Feindbild Israel zu reduzieren. Mein Vater kam als junger Mann zum Medizinstudium nach Deutschland. Aus Überzeugung, nicht aus Zwang. Ich selbst habe in Münster eine christliche Grundschule besucht, dort jüdische Lieder wie Shalom Aleichem gesungen und früh gelernt, was kulturelle Offenheit bedeutet.

    Meine Sozialisierung – wie die vieler anderer palästinensischstämmiger junger Menschen in diesem Land – ist geprägt von Bildung, von Neugier, von demokratischen Werten und dem Willen zur Mitgestaltung. Die Vorstellung, wir würden kollektiv mit einem „Feindbild“ aufwachsen, ist nicht nur falsch, sondern entmündigt uns und unterstellt uns eine ideologische Vorprägung, die weder biografisch noch gesellschaftlich haltbar ist. Wer daraus automatisch ideologische Feindschaft ableitet, konstruiert eine ethnisch definierte Schuldvermutung und spricht uns allen ab, mündige und demokratisch verantwortungsvolle Haltungen selbst zu entwickeln.

    Ich bin nicht die Ausnahme. Ich bin ein Teil der Realität, die sich nicht in Schlagzeilen und Feindbildern abbildet. Doch genau deshalb muss ich widersprechen. Solche Aussagen stellen gesellschaftliche Zugehörigkeiten infrage, erzeugen Misstrauen gegenüber ganzen Gruppen und verschieben die Grenze des Sagbaren von sachlicher Kritik hin zur ethnisch grundierten Stigmatisierung.

    Ich wünsche mir eine andere Sprache. Eine, die differenziert, nicht spaltet. Eine, die fragt, nicht zuweist. Und vor allem eine, die erkennt: Nicht Herkunft trennt uns, Sprache tut es.

    Marcel Nashwan studiert im 8. Semester Jura an der Humboldt-Universität zu Berlin, hat dort bereits einen Bachelor of Law im Völker- und Europarecht abgeschlossen und ein vertiefendes Auslandssemester an der Bahçeşehir-Universität in Istanbul absolviert.

    #Allemagnr #Palestine #racisme

  • Ein Glücksfall: Die wiederentdeckten Filme der Staatlichen Filmdokumentation der DDR
    https://www.berliner-zeitung.de/open-source/die-wiederentdeckten-filme-der-staatlichen-filmdokumentation-der-dd

    11.7.2025 von Frank Schirrmeister - Im Staatsauftrag wurden Dokumentationen des Alltags in der DDR hergestellt, verschwanden aber ungesehen im Archiv. Nun können sie kostenlos besichtigt werden.

    Sämtliche Filme, die in der DDR gedreht wurden, unterlagen der behördlichen Zensur und verbreiteten demzufolge höchst selten ein reelles Abbild des sozialistischen Alltags. Alle Filme? Nein! Es gab eine Nische, in der Filmemacher weitgehend frei von staatlicher Bevormundung arbeiten und (Dokumentar-)Filme drehen konnten, die keiner Abnahmepflicht durch die Hauptverwaltung Film im Kulturministerium unterlagen. Einzige, aber wesentliche Voraussetzung war, dass kein gewöhnlicher Zeitgenosse diese Filme jemals zu Gesicht bekommen sollte, sie zeitlebens der DDR also weder im Kino noch im Fernsehen oder auf Festivals liefen. Klingt seltsam? Durchaus, aber genau das war der Auftrag der Staatlichen Filmdokumentation, einer Abteilung des Filmarchivs der DDR.

    Aus heutiger Sicht mutet es wie die Ausgeburt einer kafkaesken Bürokratie an, dass eine kleine Schar von Filmemachern im Staatsauftrag zwischen 1971 und 1986 filmische Dokumentationen des Alltags in der DDR herstellte, die dann jedoch nie öffentlich gezeigt werden durften und im Archiv verschwanden. Dort lagerten sie und gerieten in Vergessenheit. Erst seit etwa zehn Jahren wird der Bestand systematisch erschlossen und im Bundesarchiv digital aufbereitet.

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    Auch die Arbeit wurde vom SFD dokumentiert.fossiphoto/imago

    Das Berliner Zeughauskino präsentierte gerade erstmals in einer Filmreihe eine Auswahl dieses hochinteressanten Materials einer staunenden Öffentlichkeit. Tatsächlich hat man solcherart ungeschminkte, authentische filmische Einblicke in verschiedenste Aspekte des Alltags- und Arbeitslebens der DDR nie bisher gesehen. Eine Fundgrube für Historiker, Ethnologen, Interessierte, Nostalgiker, Soziologen ...!

    Faszinierende Reportage über die Berliner Stadtreinigung

    Gemäß dem Selbstverständnis als Arbeitsgesellschaft spielte die Dokumentation der Arbeitswelt eine zentrale Rolle. In den zahlreichen Filmen, in denen Arbeiter beobachtet und befragt, Arbeitsprozesse sowie Fort- und Rückschritte untersucht werden, wird deutlich, welch hohen Stellenwert die Arbeit für den Alltag der Menschen hatte, zugleich aber auch, unter welch widrigen Umständen die Arbeit oft verrichtet wurde.

    In einem Bericht über den VEB Elektrokohle Berlin, dem einzigen Hersteller für Graphitprodukte in der DDR, spricht der Werksleiter freimütig über den völlig überalterten Maschinenpark; die Bilder aus den Werkshallen dazu unterstreichen das eindrücklich, unterstützt durch das körnige Schwarzweiß des 16mm-Filmmaterials.

    Ebenso faszinierend ist eine Reportage über die Berliner Stadtreinigung. Einen Tag lang werden die Männer eines Müllautos auf ihrer Tour durch den Prenzlauer Berg begleitet. Fast hat man vergessen, in welchem Ausmaß die Gebäudesubstanz des Altbaubezirks von Baufälligkeit und Verfall gezeichnet war. An verwitterten Fassaden vorbei geht die Fahrt durch die Gegend um den Kollwitzplatz; wo sich heute die bourgeoise Bohème in den unbezahlbaren Eigentumswohnungen räkelt, schleppen die Müllmänner die schweren Tonnen durch finstere Treppenhäuser und verwahrloste Hinterhöfe. Am Ende der Schicht sortieren sie den Müll notdürftig beim Ausladen auf der Deponie. Auffällig viel Brot befindet sich darunter, was vom Irrsinn einer fehlgeleiteten Subventionspolitik erzählt, die zu solcherart Missachtung von Lebensmitteln führte, die letztlich oftmals an die Schweine verfüttert wurden.

    Andere Themenfelder beschäftigen sich mit Familiensituationen und Formen des Zusammenlebens, sei es eine Straßenumfrage zum Thema „Was halten Sie von Partnerschaft ohne Trauschein?“ (die meisten finden das tolerabel) oder eine Untersuchung von Lebens- und Wohnverhältnissen im Gebiet des Berliner Scheunenviertels.

    Überhaupt das Wohnen: Kaum etwas beschäftigte die Menschen mehr und griff in ihr Leben ein, wie der Mangel an Wohnraum bzw. dessen schlechter Zustand. Zwar versuchte die Parteiführung, mit massenhaftem, standardisiertem Wohnungsbau diesen Mangel zu mildern, gleichzeitig verfielen jedoch die Innenstädte, mussten Familien in eigentlich unzumutbaren Verhältnissen wohnen, entstand das Phänomen illegal besetzter Wohnungen.

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    Wohnraum war eines der kontinuierlichen Problemfelder der DDR-Gesellschaft und wurde auch von der SFD dokumentiert.Sächsische Zeitung/imago

    Jeder Anflug von Nostalgie vergeht beim Anblick der Schlange vor der „Wohnraumlenkung“ genannten Behörde und den dort geführten Bittgesprächen im Kampf um eine bewohnbare Wohnung. Zitat: „Nun bitte ich den Herrn Stadtbezirksrat für Wohnungswesen, für meinen Sohn doch nun die Möglichkeit zu suchen, eine Wohnung zu bekommen.“

    Vollends die Fassung verliert der Betrachter beim Report über zwei Familien mit jeweils einem Kind, die sich eine kleine Hinterhof-Zweiraumwohnung teilen müssen und deren Fazit auf die entsprechende Frage hin tatsächlich lautet: „Als Notfall würde ich uns nicht unbedingt bezeichnen.“ Immerhin kostet die Wohnung lediglich 37,50 Mark, auch das eine unsinnige Subventionierung, erwachsen aus der Erfahrung der Wohnungsnot in den 1920er Jahren, in der die führenden Genossen des Landes politisiert wurden.

    Auch Bühnenstücke und Musik wurden gemaßregelt

    Die ideellen Anfänge der Staatlichen Filmdokumentation (SFD) liegen im Dunkel der Eiszeit nach dem 11. Plenum des Zentralkomitee der SED 1965, auf dem fast eine ganze Jahresproduktion der Deutschen Film AG (Defa) dem Verbot anheim fiel und auch Bücher, Bühnenstücke und Musik gemaßregelt wurden. In den Jahren danach reifte unter den Funktionären die Idee, den widersprüchlichen Weg hin zum wahren Sozialismus filmisch zu dokumentieren, ihn aber fürs Erste ins Archiv zu verbannen, um „unsere Menschen“ nicht zu verwirren.

    Das hat wohl mit dem paternalistischen Grundverständnis der führenden Genossen zu tun, die am besten wussten, was man dem Volk, dem „großen Lümmel“ (H. Heine) zumuten durfte und was lieber nicht. Wenn schon die offizielle Kunstproduktion einen propagandistischen Auftrag zu erfüllen hatte, sollte wenigstens inoffiziell ein unverstellter Einblick in realsozialistische Lebensverhältnisse festgehalten und für die Nachwelt archiviert werden.

    Das entsprach dem marxistischen Sendungsgedanken von der „historischen Mission“, demzufolge der Weg hin zum Kommunismus ein gesetzmäßiger war. Wenn dann sozusagen das Ende der Geschichte erreicht wäre, sollten die Filme vor zukünftigen Generationen Zeugnis ablegen vom schwierigen Anfang und den mühevollen Schritten, die gegangen werden mussten.

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    Der Prenzlauer Berg in der DDR-ZeitJürgen Ritter/imago

    Für Recherchen außerhalb der Hauptstadt fehlte oft das Geld

    Unter diesen Vorzeichen entstanden ungefähr 300 sehr unterschiedliche Filme, die einen ungeschminkten und vor allem unzensierten und propagandafreien Einblick in den realen DDR-Alltag zeigten. Man kann gar nicht genug betonen, welchen Schatz dieser Bestand für Historiker darstellt, weil er die Quellenlage zur DDR-Geschichte erheblich erweitert.

    Bemerkenswert ist die erratische Vielfalt der Themen und Herangehensweisen, mit denen die Filmemacher dem Volk sozusagen auf´s Maul schauten. Mit dem Auftrag, möglichst die gesamte Gesellschaft zu dokumentieren, drangen sie in sonst ungesehene Nischen vor und fingen Stimmungen und Momente ein, in denen sie einen ungewöhnlich offenen Blick auf die DDR und ihre Menschen warfen. Unter filmischen Gesichtspunkten ist das Material durchaus spröde und manchmal unbeholfen; da die Filme ja nie zur Veröffentlichung vorgesehen waren, verzichtete man weitgehend auf filmische Stilmittel wie eine narrative Montage oder einen Spannungsbogen; häufig wirken sie wie ungeschnittenes Rohmaterial, was es ja auch war.

    Die Spannung ergibt sich nicht aus einer geschickten Dramaturgie, sondern aus der Authentizität des Gezeigten. Manch Unzulänglichkeit war den begrenzten finanziellen Mitteln geschuldet. Das ist auch der Grund, weshalb die meisten Filme in Berlin gedreht wurden; für Recherchen außerhalb der Hauptstadt fehlte oft das Geld oder das einzige Fahrzeug der Abteilung war kaputt.

    Eine Zensur war gar nicht notwendig

    Eine Aufgabe der SFD war es auch, wichtige Persönlichkeiten des öffentlichen Lebens, aus Kunst und Kultur zu ihren Lebzeiten filmisch festzuhalten. Etwa die Hälfte der Produktion besteht aus „Personendokumentationen“, darunter Künstler, Schauspieler, Schriftsteller, aber auch Handwerker aussterbender Gewerke, Puppenspieler. Sogar ein Keramiker, überzeugter Christ und Wehrdienstverweigerer, bereichert die illustre Runde, womit die Kollegen bei der SFD bis an die Grenze des Mach- bzw. Zeigbaren gingen.

    Eine staatliche Abnahme, also Zensur, musste es für diese Filme gar nicht geben, auch ohne wusste jedermann, wie weit er gehen durfte. Die berühmte Schere im Kopf hatten die meisten auch ohne behördliche Überwachung verinnerlicht. Deutlich wird das in einem gefilmten Gespräch zwischen dem Chefredakteur der Literaturzeitschrift „Sinn und Form“ Wilhelm Girnus sowie dem Schriftsteller Günther Rücker und Autor Wolfgang Kohlhaase. Die drei reden über die Freiheit der Kunst, zu früh abgebrochene Diskussionen und die Notwendigkeit, abweichende Meinungen zuzulassen.

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    Gegen Ende der DDR war die Vision aufgebraucht und die Staatliche Filmdokumentation wurde eingestellt. Im Bild: Honecker im Palast der RepublikStana/imago

    Einerseits ist es berührend zu sehen, mit welch nachdenklicher Ernsthaftigkeit abgewogen und gesprochen wird, mit einem (naiven) Glauben daran, dass Gespräch nützlich und Veränderung möglich ist. Andererseits wirkt die Runde zugleich wie ein groteskes Schauspiel, denn alle drei reden gekonnt um den großen Elefanten im Raum herum – das Wort Zensur fällt kein einziges Mal. Noch größer wird der Elefant, wenn man erfährt, dass dieser Film 1978 entstand, keine zwei Jahre nach der Ausbürgerung Wolf Biermanns und den sich anschließenden Repressalien gegen missliebige Künstler.

    1986 wurde die Abteilung schließlich aufgelöst. Folgt man der Historikerin Anne Barnert, die ein Buch über diesen Komplex herausgegeben hat, wurde das Privileg der SFD, unzensierte Einblicke in den DDR-Alltag zu geben, für die Funktionäre zunehmend zum Problem. Die Visionen waren aufgebraucht, der Zukunftsoptimismus verblasst. Und wann sollte diese Zukunft überhaupt sein? In dreißig, fünfzig oder hundert Jahren?

    Das Bundesarchiv hat diese Antwort vorweggenommen, in dem sie die filmischen Dokumente eines gesellschaftlichen Experiments (und dessen Scheitern) dem Vergessen entzogen und damit sozusagen festgelegt hat, dass jetzt die Zukunft ist – die freilich kaum etwas mit der einst imaginierten zu tun hat.

    Nun werden Sie, liebe Leserinnen und Leser, vermutlich bedauern, die (durchgehend ausverkaufte) Filmreihe im Zeughauskino verpasst zu haben, aber dem kann abgeholfen werden: Mittlerweile kann der gesamte Bestand der Staatlichen Filmdokumentation online im digitalen Lesesaal des Bundesarchivs besichtigt werden, kostenlos und ohne Anmeldung. Über die letzten Jahre sind die erhaltenen Filmkopien komplett digitalisiert worden. Angesichts knapper Kassen eine bemerkenswerte Leistung, die auch für die Bedeutung dieses Konvoluts für Zeithistoriker spricht.

    Frank Schirrmeister ist studierter Historiker, Fotograf und Bildredakteur aus Berlin. Außerdem schreibt er. Mehr Infos unter www.bildstelle.net

    #DDR #film_documentaire

  • Warum Stadtentwicklungssenator Christian Gaebler seinen Titel nicht verdient hat
    Hubertus Müller für die Allianz der baukulturell engagierten Bürgervereine
    https://www.berliner-zeitung.de/open-source/warum-stadtentwicklungssenator-christian-gaebler-seinen-titel-nicht

    20.6.2025 von Hunertus Müller - Die Allianz der baukulturell engagierten Bürgervereine ist enttäuscht von dem, was Gaebler bis dato gemacht oder eben nicht gemacht hat.

    Der schon des Öfteren angekündigte Masterplan „Berliner Mitte“, dessen Zielsetzung laut Stadtentwicklungssenator Christian Gaebler hochwertige, zusammenhängende, öffentliche Straßenräume in den Bereichen Friedrichstadt, Dorotheenstadt, Friedrichswerder sowie Alt-Berlin und Alt-Cölln sind, ist leider immer noch nicht veröffentlicht.

    Die Allianz der baukulturell engagierten Bürgervereine begrüßt selbstverständlich das Bekenntnis zu Aufwertung der Innenstadt mit gleichzeitiger Wahrung der Berliner Identität. Beleuchtet man die Vielzahl der Aussagen des Senators in einem Interview mit der Berliner Zeitung zu den unterschiedlichsten Bereichen der Stadt genauer, sehen wir jedoch in vielen konkreten Punkten eine erhebliche Diskrepanz zwischen Anspruch und Wirklichkeit.

    Entsprechende Weichenstellungen wurden bisher in keinem geplanten Projekt initiiert. Im Gegenteil werden über 20 Jahre alte Bebauungspläne und Verkehrsführungen aus der Zeit der ehemaligen Senatsbaudirektorin Lüscher weder überprüft noch aktualisiert und entsprechend modifiziert. Die Möglichkeit einer Umsetzung der Berliner Identität scheint damit fast unmöglich zu sein.

    Bäume fällen für die „Grüne Lunge“?

    Beginnen möchten wir mit dem Filetstück der Berliner Mitte, dem Bereich der ehemaligen Berliner Altstadt. Christian Gaebler verkündet hier mit Stolz, dass die Umgestaltung des Rathausforums um die Marienkirche begonnen habe.

    Uns erscheint es jedoch widersprüchlich, wenn ein zentraler Bereich mit unübertroffen guter Anbindung an den öffentlichen Nahverkehr in eine sogenannte Grüne Lunge umgewandelt werden soll und wenn dafür zudem ein großer Bestand gesunder Bäume am Spreeufer gefällt wird. Eine artifizielle Parklandschaft mit Attraktionen wie einem „Sprühnebel“, der nur an wenigen Tagen im Jahr nutzbar ist, kann dies nicht kompensieren. Die Politik dagegen feiert diese Lösung als „resilienten“ Städtebau.

    Der historische Bezug bleibt dabei unklar und ein guter, da zentraler Baustein gegen den Wohnungsmangel in der Stadt wird damit auch nicht geschaffen. Zukunftsgerichtet wäre stattdessen eine Reurbanisierung im Sinne der Europäischen Stadt mit an der Historie orientierten Leitbauten: kleinteilig, mit gemischter Infrastruktur, Wohnen, Gewerbe, Kleingewerbe sowie überschaubaren Bewohner-Communitys, die sich aktiv um die Pflege begrünter Innenhöfe als Beitrag zur Schwammstadt und damit zur Klimaregulierung kümmern.

    Der historische Bezug sollte durch die erwähnten Leitbauten wie das Moses-Mendelssohn-Haus und das Probst-Grüber-Haus hergestellt werden. Historische Kelleranlagen, die noch unter dem heutigen Pflaster liegen, müssen in neue Nutzungen integriert werden. Das inzwischen unter Denkmalschutz gestellte Nikolaiviertel wäre hier städtebaulich und zu Teilen auch formal eine richtungsweisende Orientierungshilfe für eine berlinorientierte Umbauung der Marienkirche.

    Zu wenig Kommunikation

    Gaebler betont im Interview auch, dass es im Bereich der Mühlendammbrücke durch den Abriss der Brücke mit den anschließenden Vierteln Alt-Cölln und dem Molkenmarkt vorangehen würde. Es zeigt sich aber, dass während der über Jahrzehnte bestehenden Trennung der Senatsressorts Verkehr und Stadtentwicklung anscheinend zu wenig kommuniziert wurde. Nun kann sich die Stadtentwicklung durch den offensichtlichen Vorrang für den Verkehr nur noch anpassen. Die Entwicklung von Berlin-Typika an Berlins ältestem Marktplatz, dem Molkenmarkt und eines Cöllnischen Fischmarktes, müssen eine Illusion bleiben.

    Gerade der Abriß der Mühlendammbrücke aber zeigt, dass die baustellengegebene Einspurigkeit zu keinen nennenswerten Verkehrsstaus geführt hat. Um die Berliner Identität zu wahren, hätte der Brücken-Neubau also deutlich schmaler als der jetzt in der Ausführung befindliche, fast gleich breite Ersatzbau sein dürfen.

    Eine Reminiszenz an die historisch an diesem Ort verankerte Brückenbebauung hätte zwingend realisiert werden müssen. Die Folge wäre eine hohe Aufenthaltsqualität über dem Wasser mit direktem Anschluss an das Nikolaiviertel gewesen. Gleichzeitig hätte dieser Bereich damit hochgradig identitätsstiftend werden können.

    Schlendern statt Verkehr

    Was ist an diesem Ort an Berlin-Identität und Innenstadtaufwertung noch möglich? Zuerst muss, wie bereits in den Neunzigerjahren geplant (damaliges Senatsplakat „Ende der Autobahn“), die Gertraudenstraße historisch verschwenkt und deutlich verschmälert werden. Dazu gehört auch, den Verkehr über die alte Gertraudenbrücke zu führen und auf eine sich schon in Planung befindende Neue Gertraudenbrücke zu verzichten, um damit einen der ältesten Berliner Stadtplätze, den Spittelmarkt, wiederzugewinnen. So wird Verkehrsraum gegen bewohnten, urbanen Platzraum getauscht.

    Die verschmälerte Gertraudenstraße muss dann als Straßenraum mit Aufenthaltsqualität durch kleinteilige Gebäude gefasst werden. Das entspricht hier leider der Quadratur des Kreises wegen der bereits existenten, von der anfangs bereits erwähnten Modernistin Regula Lüscher auf den Weg gebrachten Gebäude.

    Das Gebäude der Industrie- und Handelskammer; das Hotel mit dem ortstypischen Namen Capri, das in seiner Kubatur dem Cöllnischen Rathaus nachempfunden sein soll; der Solitär des Petri, bei dem ein Zeilenbauanschluss unmöglich erscheint; das Folgebauwerk der gesprengten Petrikirche, das House of One, das formal ein fast fensterloser Kubus aus der üblichen Moderne-Schublade ist; der blau-weiss karierte WBM-Wohnbau auf der Fischerinsel mit einem archäologischen Fenster, wo eine gemauerte mittelalterliche Latrine zur städtebaulichen Witzfigur verkommt … Warum tut sich Berlin so viel geballte Hässlichkeit an? Eine Aufwertung der Innenstadt scheint hier unmöglich zu sein. Mit Spannung erwarten wir deshalb zu speziell diesem Bereich den Masterplan.

    Die uns bekannten Planungen sind fünf von einer Jury prämierte Stadthäuser mit Flachdächern, alle gleich hoch. Historisch befanden sich hier acht Grundstücke mit Altstadthäusern unterschiedlicher Höhe. Gaebler betont jedoch hier den historischen Bezug durch die Orientierung am alten Stadtgrundriss. Dafür hätte es aber einer Verlegung der Straßenführung bedurft. Zum jetzigen Stand sollen hier weder am historischen Stadtgrundriss orientierte noch auf entsprechender kleinteiliger Parzellenstruktur Altstadtbauten mit berlintypischen Charakteristika entstehen. Das hat der Senator im Interview nur in seinem Sinne schöngeredet.
    Keine Aufenthaltsqualität am Molkenmarkt

    Am ursprünglichen Ort von Berlins ältestem Marktplatz, dem Molkenmarkt, spricht der Senator davon, dass hier bereits eine Neuordnung des Stadtraumes sichtbar werde. Aber eine sogenannte historische Verschwenkung einer weiterhin fast autobahnbreiten Grunerstraße wird keinen Stadtplatz für Menschen mit Aufenthaltsqualität und Berliner Flair als Platzraum kreieren können. Die stadträumliche Wiedergewinnung des Platzes als verbindendes Platzelement zwischen zukünftigem Klosterviertel und Nikolaiviertel kann unseres Erachtens hier so nicht gelingen.

    Weiter führt Herr Gaebler aus, dass die Bebauungsleitlinien für das Klosterviertel einen Rahmen gäben. Dabei ginge es aber nicht darum, irgendwelche besonderen Gestaltungsmerkmale anzubauen: Allein die Formulierung „irgendwelche besonderen Gestaltungselemente“ überrascht uns. Es existieren sehr wohl zielführende, Berlin-typische Merkmale in Form, Detail und Materialität – Elemente, die auch im Masterplan avisiert sind.

    Auch die Aussage, im Block B gäbe es Gewerbe aber bis hin zur Parochialgasse Wohnbereiche, lässt uns aufhorchen. Ein derartiges Konzept ist genau die Entflechtung urbaner Funktionen aus den Sechzigerjahren und entspricht nun überhaupt nicht dem modernen Konzept einer gemischten Infrastruktur wie die der legendären „Kreuzberger Mischung“.

    Merkwürdig klingt auch, dass entlang der Parochialgasse und des Großen Jüdenhofs „offene“ Bereiche liegen sollen. Als Ersatz für den verkehrüberfluteten Molkenmarkt? Im stadtgestalterischen Sinn sind „offene Bereiche“ ein Widerspruch zu den historischen Begriffen „Gasse“ und „Hof“, die durch geschlossene Raumkanten definiert sind.

    Ein klares Bekenntnis des Senators zur vollständigen Rekonstruktion des Großen Jüdenhofs, einem Ort von herausragender Bedeutung für die Berliner Identität vermissen wir gänzlich.

    Banale Gebäude nach dem üblichen Vorstadtmuster

    Da Gaebler auch bei der Erschließung der Gebäude für einfache, nicht kostentreibende Lösungen plädiert, haben wir die Befürchtung, dass hier banale Gebäude nach dem üblichen Vorstadtmuster entstehen, ausgeführt von der schon erwähnten WBM. Aber die WBM ist hier einer der wichtigsten Bauträger.

    Wir möchten in diesem Zusammenhang betonen, dass gerade formal in Größe und Form variierende Eingangstüren und Portale, die eine differenzierte Erschließung widerspiegeln, charakteristische Merkmale Berliner Architektur sind und nicht per se Kostentreiber sein müssen.

    Vorbei an der Klosterkirchenruine sowie im Block A zwischen der Alten Münze und dem Großen Jüdenhof solle es einen Kulturpfad geben. Ob das für eine Berliner Identität reicht, wagen wir zu bezweifeln. Um dem weiteren Verfall der Klosterkirchen-Ruine entgegenzuwirken, bedarf es einer Überdachung als Minimalforderung. Aber wir halten, ganz im Sinne des vom Senator postulierten Credos der Berliner Identität, ein Gesamtkonzept für wichtig.

    Berlins ältestes Gymnasium, das Gymnasium zum Grauen Kloster, muss als Gesamtensemble mit einer behutsam rekonstruierten Franziskaner-Klosterkirche wieder einen angemessenen Platz in einem altstädtischen Gesamtgefüge erhalten.

    Hinsichtlich der Friedrichstraße hat Herr Gaebler richtig eingeschätzt, dass Büros allein die Gegend nicht beleben können. Wir sehen hier in der „Berliner Mischung“ den Schlüssel zum Erfolg. Das Überangebot an Gewerbefläche muss hier zu großen Teilen möglichst schnell durch Funktionsumwidmung zugunsten von Wohnraum reduziert werden. Erst wenn in der Friedrichstraße wieder Menschen verschiedener Gesellschaftsschichten und Herkunft leben, kann dort wieder das gewünschte urbane Flair entstehen.

    In Hinblick auf die Berliner Identität muss es eine klare Definition von erlebbarem Stadtraum mit Aufenthaltsqualität geben. Straßenräume müssen durch kleinteilige, abwechslungsreiche Gebäude gefasst werden, deren Höhen sich weitestgehend an der Berliner Traufhöhe orientieren. Die Straßenbreite muss in Proportion zu den sie einfassenden Häusern stehen. Der Wechsel von Straßen und Platzraum ist ein charakteristisches Ortstypikum. Vielfältige Dachlandschaften, oft mit Gauben und Giebelwänden, sind weitere typische Berliner Merkmale.

    Wir nehmen daher die Schlussäußerung des Interviews mit unserem Senator ernst: Man solle merken, dass man sich im historischen Zentrum von Berlin befindet, mit historischem Bezug und der Wahrung der Berliner Identität an diesem zentralen Ort. Deshalb erwarten wir von Gaebler, dass er sich bei allen künftigen städtebaulichen, ästhetischen und verkehrsrelevanten Entscheidungen an seine eigenen Aussagen erinnert und diese Konzepte mit politischer Tatkraft zielgerichtet umsetzt.

    Hubertus Müller wuchs in Neukölln im Rixdorfer Umfeld auf. Er studierte Architektur und Kunstpädagogik und war 40 Jahre am Luise-Henriette-Gymnasium in Tempelhof für Kunst, Werken und Sport angestellt. Er ist Vorstandsmitglied im Verein Berliner Historische Mitte e.V.

  • Als Spionagethriller verklärt: Was am 11. Juni 1985 tatsächlich auf der Glienicker Brücke passierte
    https://www.berliner-zeitung.de/open-source/als-spionagethriller-verklaert-was-am-11-juni-1985-tatsaechlich-auf

    Eigentlich kennt man die Geschichten und die Bezeichnung des Anwalts Vogel als Menschenhândler am Ende Artikels ist überflüssiger Quatsch. Als Gedâchtnisstütze, die ein parrt der Termine und Namen zusammenfast ist dieser Text lesenswert. Ab ins Archiv, Klappe zu.

    7.6.2025 von Armin Fuhrer - Vor 40 Jahren fand auf der Glienicker Brücke der größte Agentenaustausch des Kalten Krieges statt. Doch auf der Liste der Freigelassenen fehlte ein wichtiger Name.

    Dies ist ein Open-Source-Beitrag. Der Berliner Verlag gibt allen Interessierten die Möglichkeit, Texte mit inhaltlicher Relevanz und professionellen Qualitätsstandards anzubieten.

    Ein frostiger Wintertag im Jahr 1983, das Wetter ist so eisig wie der Kalte Krieg zwischen den Supermächten USA und Sowjetunion. Auf der Glienicker Brücke zwischen Berlin und Potsdam soll eine spektakuläre Aktion stattfinden, ganz im Geheimen: ein Austausch von Spionen zwischen dem KGB und der CIA. Doch plötzlich zerreißt ein ohrenbetäubender Lärm die angespannte Stille, als die Brücke durch eine Explosion in die Luft fliegt. Chaos überall, Tote, Verletzte.

    So wie der Berliner Autor Andreas Pflüger diesen spektakulär gescheiterten Agentenaustausch am Beginn seines Spionagethrillers „Wie sterben geht“ schildert, hat er niemals stattgefunden – die Realität war viel banaler. Und dennoch bildete die Glienicker Brücke die Kulisse für den größten Agentenaustausch in der Geschichte des Kalten Krieges, und zwar vor genau 40 Jahren, am 11. Juni 1985.

    Der Austausch, zu dem es an diesem Tag kam, war bereits der zweite an diesem Ort. Schon 1962 hatten Washington und Moskau hier jeweils einen ihrer Leute übergeben: den sowjetischen KGB-Spion Rudolf Iwanowitsch Abel, der auf Atomspionage spezialisiert und nach seiner Festnahme 1957 zu einer 30-jährigen Haftstrafe verurteilt worden war, auf der einen Seite – und den CIA-Piloten Francis Gary Powers, der 1960 über sowjetischem Gebiet mit seiner Lockheed U-2 abgeschossen und verhaftet worden war, auf der anderen Seite. Die Szene, als Powers und Abel am Morgen des 10. Februar 1962 grußlos in der Mitte der Brücke aneinander vorbeigehen, ist der Höhepunkt des Films „Bridge of Spies“ von Erfolgsregisseur Steven Spielberg aus dem Jahr 2015, der zum Teil am Originalschauplatz gedreht wurde.

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    Francis Gary Powers vor dem Committee on Armed Services nach seiner FreilassungGRANGER Historical Picture Archive/imago

    Ikonischer Ort

    Weil US-Präsident John F. Kennedy darauf pochte, dass Abel viel „wertvoller“ sei als Powers, ließen die Sowjets schließlich am selben Tag unmittelbar vor den beiden Spionen auch noch einen weiteren Häftling, den angeblichen Fluchthelfer Frederic Pryor frei. Allerdings musste er die Grenze am Checkpoint Charlie passieren.

    Später wurden eine Reihe weiterer Spione freigelassen, zum Beispiel der Stasi-Spitzel Günther Guillaume, der jahrelang Bundeskanzler Willy Brandt ausspioniert hatte, oder Heinz Felfe, ein Maulwurf des KGB im Bundesnachrichtendienst (BND). Doch das geschah meistens am innerdeutschen Grenzübergang Wartha/Herleshausen. Aber die 148 Meter lange Brücke über der Havel zwischen Berlin und Potsdam, die direkt nach dem Beginn des Mauerbaus am 13. August 1961 geschlossen worden war, spielte dennoch eine wichtige Rolle beim Austausch von Agenten zwischen Ost und West. Sie gehört damit neben der Mauer und dem Checkpoint Charlie an der Friedrichstraße in Berlin-Mitte zu den geradezu ikonischen Orten des Kalten Krieges in der geteilten Stadt.

    Größter Agentenaustausch des Kalten Krieges

    Es sollte nach 1962 allerdings 23 Jahre dauern, bis auch die Glienicker Brücke wieder zum Schauplatz eines Agentenaustausches wurde. Bei dieser Aktion handelte es sich dann aber um den größten Agentenaustausch des gesamten Kalten Krieges. An jenem historischen 11. Juni 1985 gelangten 25 als Spione und Agenten verurteilte Menschen aus DDR-Gefängnissen in die Freiheit sowie vier, die im Westen in Haft gesessen hatten.

    Der Mann, um den es eigentlich ging, war allerdings gar nicht darunter: Anatoli Schtscharanski, ein russisch-jüdischer Menschenrechtsaktivist. Schon bald nach der Verhaftung des damals 29-Jährigen im März 1977 in Moskau hatte die Regierung von US-Präsident Carter mit ihren Bemühungen, Schtscharanski freizubekommen, begonnen. Moskaus Führung war das Thema ziemlich lästig.

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    DDR-Anwalt Wolfgang Vogel, 1986Heinrich Sanden/dpa

    DDR-Anwalt mit besten Drähten

    Die diplomatischen Geheimgespräche hatten acht Jahre zuvor begonnen und auf Ost-Seite wurden sie vornehmlich von einem Mann geprägt: Wolfgang Vogel. Der DDR-Anwalt mit besten Drähten zum Ministerium für Staatssicherheit hatte sich den Einsatz für in der DDR inhaftierte Spione und Menschenrechtsaktivisten auf die Fahne geschrieben und war bereits beim Austausch von 1962 dabei gewesen. Seitdem hatte er sich einen guten Ruf als fähiger und vertrauensvoller Unterhändler erworben – nicht nur bei den eigenen Leuten bis hin zu Erich Honecker, sondern auch auf der anderen Seite, also in Bonn und Washington. Dass er von dem modernen Menschenhandel selbst natürlich auch profitierte, nahm er gerne in Kauf.

    Am Fall Schtscharanski aber biss sich Vogel mehrere Jahre lang trotz einiger Reisen in die USA die Zähne aus. Zu schlecht war Ende der Siebziger- und Anfang der Achtzigerjahre die Stimmung zwischen Ost und West – zumal in Washington mit Ronald Reagan ein neuer Präsident an die Macht gekommen war, für den die Sowjetunion das „Reich des Bösen“ war. Das kam bei den starken Männern in Moskau nicht gut an.

    Erschwerend hinzu kamen die dortigen ungesicherten Machtverhältnisse nach dem Tod des greisen KPDSU-Generalsekretärs Leonid Iljitsch Breschnew. Seine zwei nicht minder greisen Nachfolger Juri Andropow und Konstantin Tschernenko starben jeweils schon kurz nach ihrer Amtsübernahme. Ein Richtungswechsel kündigte sich erst an, als am 11. März 1985 mit Michail Gorbatschow ein deutlich Jüngerer die Führung übernahm, der bald einen Reformkurs einschlug.

    Geheime Unterlagen der US-Marine nach Ost-Berlin geschmuggelt

    Ein Streitpunkt war die Einschätzung Moskaus, bei Schtscharanski handele es sich um einen Agenten – während Washington darauf beharrte, er sei ein politischer Gefangener. Außerdem verfügten die Amerikaner in den Augen der Sowjets lange über keine adäquate menschliche Verhandlungsmasse. Das änderte sich vor allem mit der Verhaftung des DDR-Physikers Alfred Zehe 1983. Er hatte während einer Gastprofessur in Mexiko geheime Unterlagen der US-Marine nach Ost-Berlin geschmuggelt und war verhaftet worden, als er an einer Tagung in Boston teilnahm. Das war ein schwerer Schlag für die DDR-Führung.

    Aber es gab noch weitere Hochkaräter, die Anfang der Achtzigerjahre verhaftet und verurteilt wurden: der polnische Geheimdienstoffizier Marian Zacharski, der aufgeflogen war, als er geheime Rüstungspläne der USA ausspionierte und zu lebenslanger Haft verurteilt worden war; der bulgarische Handelsattaché Penju Kostadinov und die DDR-Bürgerin Alice Michelson, die als KGB-Kurierin in den USA enttarnt und verhaftet worden war.

    Vier Ost-Spione im Austausch gegen 25 West-Agenten

    Auf der Liste der Amerikaner standen 25 Namen von Spionen oder Männern und Frauen, die als solche zu Gefängnisstrafen verurteilt worden waren, obwohl es sich in Wahrheit um Menschenrechtsaktivisten handelte. Es waren im Vergleich zu den Ost-Spionen minder schwere Fälle, aber Vogel hatte dennoch zunächst Mühe, den in Ost-Berlin federführenden Minister für Staatssicherheit Erich Mielke von dem Deal zu überzeugen. 25 im Austausch gegen vier, das sei doch kein gutes Geschäft, meinte Mielke, ließ sich dann aber umstimmen.

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    Limousinen des amerikanischen Außenministeriums auf dem Weg zum Agentenaustausch auf der Glienicker BrückeValdmanis/imago

    Nach zähen und langwierigen Verhandlungen sollte es endlich zum Agentenaustausch kommen. Als Tag wurde der 11. Juni festgelegt, als Ort die Glienicker Brücke. Sie hatte den Vorteil, dass sie von beiden Seiten gut einsehbar und erreichbar war.

    Der 11. Juni war ein herrlicher Sommertag mit strahlend blauem Himmel. Das Wasser der Havel glitzerte, in der Ferne waren kleine Segelboote zu sehen. Aber statt der beschaulichen Atmosphäre, die sonst an dieser abgelegenen Stelle herrschte, lag Anspannung in der Luft. Der Termin war für zwölf Uhr angesetzt. Auf der westlichen Seite liefen schon Stunden zuvor amerikanische Sicherheitsleute in Anzügen und mit Knöpfen im Ohr, über die sie Funkkontakt halten konnten, geschäftig hin und her; auf der anderen Seite konnte man Stasi-Leute beobachten. Vor Ort war auch der US-Diplomat Richard Burt, der noch im selben Jahr Botschafter seines Landes in der Bundesrepublik werden sollte.

    Deutlich nach Burt traf Vogel ein, chauffiert von seiner Frau Helga in seinem goldfarbenen Mercedes mit dem DDR-Kennzeichen IS-92-67. Die Häftlinge der Ost-Seite waren mit einem Bus zum Ort des Geschehens gefahren worden, nichtsahnend, was bevorstand. Noch während einer Pause vor dem Erreichen der Glienicker Brücke war ihnen gesagt worden, dass jeder Fluchtversuch mit einem tödlichen Schuss der Bewacher enden würde.

    Kurz vor dem Austausch bestieg Vogel den Bus und teilte ihnen mit, warum sie hergefahren worden waren. Bei fast allen war ungläubige Freude die Reaktion, zwei aber nahmen das Angebot an, aus familiären Gründen in der DDR zu bleiben. Die vier Häftlinge der Westseite wurden in einem Chevrolet-Kastenwagen herangefahren – und dann fand der Austausch in der Mitte der Brücke statt.

    Manche der Ost-Häftlinge brachen in Tränen aus, als sie im Westen waren. Wolfgang Vogel umarmte Zehe, Alice Michelson den Anwalt. Und dann war die kurze Zeremonie auch schon wieder vorbei. Vogel und Burt verabschiedeten sich voneinander, die Autos entfernten sich und um 13 Uhr lag die Glienicker Brücke wieder so still wie sonst auch in diesen Jahren der Teilung, in der sie ihren Sinn, zwei Ufer zu verbinden, verloren hatte.

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    Nach dem Agentenaustausch werden die ausgetauschten Gefangenen zur amerikanischen Botschaft gefahren.Valdmanis/imago

    Der Austausch bleibt nicht lange geheim

    Ein Ziel hatten die Ost-Seite nicht erreicht – die Geheimhaltung der ganzen Aktion. Eine Journalistin der ARD-„Tagesschau“ war die Sache, vermutlich von den Amerikanern, gesteckt worden, sodass der ebenso undramatische wie spektakuläre Agentenaustausch weltweit über die Fernsehgeräte gezeigt wurde. Vogel hatte bereits wenige Tage vorher befürchtet, dass so etwas passieren würde. Die Amerikaner wollten „offenkundig eine ziemliche Show mit viel Personen und Autos inszenieren“, schrieb er in einem internen Bericht.

    Es war der zweite und vorletzte Agentenaustausch auf der Glienicker Brücke. Acht Monate später, am 11. Februar 1986, konnte schließlich auch Anatoli Schtscharanski, um den es ja ursprünglich eigentlich gegangen war, die Brücke in die Freiheit überqueren. Denn nach dem Amtsantritt Gorbatschows in Moskau entspannte sich das Verhältnis zwischen Ost und West allmählich.

    Rechtsanwalt und Menschenhändler Vogel, der insgesamt am Austausch von rund 150 Agenten sowie am Freikauf von rund 33.000 politischen Häftlingen der DDR beteiligt gewesen sein soll, erwarb sich endgültig einen geradezu legendären Ruf. Heute ist der größte Agentenaustausch des Kalten Krieges nur noch eine Erinnerung, der unter anderem Inspiration für spannende Agententhriller bietet.

    Armin Fuhrer ist Journalist, Historiker und Autor mehrerer Bücher.Das ist ein Beitrag, der im Rahmen unserer Open-Source-Initiative eingereicht wurde. Mit Open Source gibt der Berliner Verlag allen Interessierten die Möglichkeit, Texte mit inhaltlicher Relevanz und professionellen Qualitätsstandards anzubieten. Ausgewählte Beiträge werden veröffentlicht und honoriert.

    #Berlin #Wannsee #Königstraße #Glienicker_Brücke #Geschichte #Spionage #Kalter_Krieg

  • „Skandalöse Umstände“ : Deshalb fordert ein pensionierter Polizeibeamter eine Rentenform
    https://www.berliner-zeitung.de/open-source/skandaloese-umstaende-deshalb-fordert-ein-verrenteter-polizeibeamte

    A partir de l’age de 67 ans les employés allemands ont droit á une retraite à hauteur de 45 pour cen t du revenu moyen de 45 ans d’activité professionnelle.

    Il y a ume catégorie d’employés qui échappe à ce régime de misère. Les fonctionnaires d’état touchent 73 pour cent de leur dernier salaire après 44 ans de service sans égard de leur age et reçoivent une prime supplémentaire s’ils arrêtent de travailler avant l’age de retraite officielle.

    C’est encore plus injuste quand on considêre que les fonctionnaires n’ont jamais côtisé un centime.

    https://www.deutsche-rentenversicherung.de/DRV/DE/Rente/Allgemeine-Informationen/Wissenswertes-zur-Rente/FAQs/Rente/Rentenniveau/Rentenniveau_Liste.html#2ef8c1be-3d63-45a7-969d-f93c7e49

    Bis zum Jahr 2025 garantiert der Gesetzgeber ein Rentenniveau in Höhe von mindestens 48 Prozent. Sollten die Vorausberechnungen der Bundesregierung im jährlichen Rentenversicherungsbericht ein Absinken des Rentenniveaus auf unter 43 Prozent bis zum Jahr 2030 prognostizieren, sind dem Gesetzgeber geeignete Maßnahmen zum Gegensteuern vorzuschlagen. Das ergibt sich aus den Vorschriften im SGB VI. Für die Zeit nach 2030 ist bislang keine Untergrenze für die Entwicklung des Rentenniveaus vorgesehen.

    Voici la désctiption de sa situation d’un retraité du type fonctionnaire / Beamter.

    30.5.2025 von Jochen Sindberg - Unser Autor erläutert, wie er von den Ungerechtigkeiten des Rentensystems profitiert. Und warum der Vorstoß von Arbeitsministerin Bas keine Wirkung zeigen wird.

    Nach 44 Dienstjahren als Polizeibeamter bin ich seit April dieses Jahres im regulären Ruhestand, mit 63 Jahren. Ich erhalte sehr auskömmliche Versorgungsbezüge, was mich freut. Gleichzeitig beschämt mich der Blick auf die Renten von Menschen, die zum Beispiel bis zur Altersgrenze in einem Pflegeberuf gearbeitet haben.

    Das Rentensystem und die parallele Altersversorgung von Beamten sind eine schwere Verletzung des Gerechtigkeitsgefühls der allermeisten Menschen – jedenfalls wenn ihnen die „Besonderheiten“ gerade bei gut versorgten Empfängern von öffentlicher Altersalimentation überhaupt klar und bekannt wären.

    Nun sind das alles keine Staatsgeheimnisse und beispielsweise bei Regierungswechseln kann man sich kurz die Augen reiben, wenn man von den Übergangszahlungen und Pensionsanwartschaften hört. Dieses Thema wird aber dann wieder (wunschgemäß) von anderen Schlagzeilen verdrängt, sodass hier seit Jahrzehnten keine Bewegung erkennbar ist. Im Gegenteil hat die Selbstbedienung von Parteien, Amtsträgern und den vielen Interessierten im öffentlichen Dienst immer weiter um sich gegriffen, wie es zum Beispiel Hans Herbert von Arnim seit Jahrzehnten beobachtet und öffentlich beklagt. Fraglich ist, ob es neben den sachlichen Gründen auch politisch aussichtsreiche Kräfte gibt, daran etwas zu ändern.

    Nun haben wir von einem ersten politischen Anlauf zur Reform und insbesondere zur Einbeziehung von Beamten, Selbstständigen (und auch Abgeordneten etc.) erfahren. Bärbel Bas, die neue Arbeitsministerin, hat das Thema aufgemacht. Es dauerte nicht lange, bis dieser Vorstoß mit den üblichen Methoden entwertet wurde.

    Immer die gleichen Spielchen

    Dabei tauchen die immer gleichen Spielchen auf, wonach das Ganze sehr teuer werden könnte, niemand müsse sich Sorgen machen, Besitzstände würden gewahrt werden, im Übrigen ist das ja gar nicht Bestandteil des Koalitionsvertrages und so fort.

    Ich bin sehr pessimistisch, wenn ich diese Vorzeichen wahrnehme. Es erinnert mich an unzählige wichtige Themen, die an Kommissionen überwiesen werden, wo sie dann im Mahlwerk der Interessen und ihrer mächtigen Vertreter ihr trauriges und kaum bemerktes Ende finden.

    Ich schätze die Reformkraft gerade beim Thema Renten und Pensionen als sehr schwach ein, wofür es viele Gründe gibt. Zunächst aber ist entscheidend, dass wir uns darüber klar werden, wo die Reise hingehen soll und vor allem, welche privilegierenden Systemunterschiede keine hinreichende sachliche Begründung haben und deshalb eben nicht bewahrt, sondern geändert werden müssen. Um nicht vor allem auf andere zu zeigen, beschreibe ich mal meine begünstigte Situation.

    Ich bin mit Vollendung des 63. Lebensjahres regulär in den Ruhestand gegangen. Diese Altersgrenze ist eine Begünstigung, die unter anderem mit den angenommenen Belastungen des Vollzugsdienstes begründet wird. Das ist für viele nachvollziehbar. Bei näherem Hinsehen sind aber die allermeisten der Vollzugsbeamten nicht oder mindestens nicht dauerhaft prägend in durch Vollzugstätigkeiten und Schichtdienst belasteten Arbeitssituationen. Ich zum Beispiel hatte auch immer mal Einsätze zu führen, auch nachts oder am Wochenende, aber das war selten.

    Im Übrigen haben Pflegekräfte im Vergleich eine sehr anstrengende Arbeit, geprägt von körperlichen und psychischen Belastungen, insbesondere auch durch unregelmäßige Arbeitsmodelle oder eben Schichtarbeitsmodelle. Eine Privilegierung muss sich also an den tatsächlichen und besonderen Belastungen orientieren und darf sich nicht nach einem formalen Status richten.

    Fragwürdige Ausgleichszahlung in Höhe von 4000 Euro

    Ich erhalte etwas mehr als 71 Prozent meines letzten Gehalts als Versorgung und damit weit mehr als im normalen Rentensystem. Hinzu kommt eine Abweichung, die gravierend ist, aber oft wenig Beachtung findet. Meine Pension wird nicht wie bei der Rente aus dem gesamten Arbeitsleben berechnet, sondern aus dem letzten, also höchsten Amt. Dieser Umstand führt übrigens zu einem grotesken wie skandalösen Umstand.

    Um möglichst vielen Beamten höchstmögliche Versorgung zu gewähren, werden in großem Umfang und systematisch Beamte noch kurz vor ihrer Pensionierung (zwei Jahre vorher, damit es Grundlage für die Versorgung wird) in höhere Besoldungsstufen befördert. Hierdurch werden die Stellen relativ schnell wieder frei und können noch vielen anderen zu höchstmöglicher Versorgung verhelfen. Wenn der tatsächlich leistungsstärkste Beamte dieses Amt im Alter von zum Beispiel 40 Jahren verliehen bekäme, wäre das so nicht möglich.

    Um diese Methode gerichtsfest zu machen, ist objektive Leistungsbewertung dem gewünschten Ergebnis nachgeordnet. Es wird vielfach unter Mitwirkung der Personalvertretungen festgelegt, wer in den Genuss der Beförderungen kommen soll. Erst dann werden die Leistungsbeurteilungen passend erstellt. Das gilt sicher nicht in allen Verwaltungen, es ist aber sehr weit verbreitet. Allein ein Blick auf die letzten Besoldungen der Pensionsempfänger dürfte da eine deutliche Sprache sprechen. Gegenüber den meisten Rentenempfängern ist das eine zusätzliche Ungerechtigkeit.

    Zum Abschluss der kleinen Selbstbetrachtung noch eine Kuriosität, die Beamte begünstigt und über die die meisten (auch ich) nur den Kopf schütteln können: Ich wurde also mit 63 Jahren Pensionär mit feinen Bezügen. Auch wenn bei meiner Einstellung in den Dienst im Jahre 1980 die reguläre Pensionsgrenze für Berliner Polizeibeamte bei 60 Jahren lag, empfinde ich meine Situation als Privileg. Entgegen diesem Gefühl gibt es eine Regelung, die auf dem Gedanken basiert, dass die im Vergleich zu Rentnern frühe Pensionierung ein Nachteil ist, weil man ja ab diesem Zeitpunkt weniger Geld bekommt. Diesem Gedanken folgend habe ich tatsächlich eine Ausgleichszahlung von circa 4000 Euro erhalten.

    Polizisten genießen als Beamte mannigfaltige Vorzüge bei der Berentung.

    Privilegien, die dem Gerechtigkeitssinn massiv widersprechen

    Selbst wenn man diesem Gedankenkonstrukt ein wenig folgt, sieht heute die Lage sehr viel anders aus. Es gibt auch für Vollzugsbeamte die Möglichkeit der Lebensarbeitszeitverlängerung (dann sogar mit einer Zulage von 20 Prozent!). Außerdem gehen viele, die es wollen, auch noch anderen Tätigkeiten nach, sodass sie mit wenig Aufwand leicht wieder ihre 100 Prozent erreichen können.

    Wenn jetzt also argumentiert wird, dass eine groß angelegte Reform mehr kosten würde, als sie einbringt, steckt darin schon der Entschluss, an den Privilegien festzuhalten – Privilegien, die einem halbwegs ausgewogenen Gerechtigkeitssinn massiv widersprechen.

    Ich bin aber auch deshalb pessimistisch, weil eine breit und öffentlich angelegte Reformdiskussion die Bezüge von Parlamentariern und vielen anderen Posteninhabern im großen politischen Betrieb ins grelle Licht stellen würde. Das liegt nicht im Interesse derjenigen, die über Jahre und Jahrzehnte ein System gebaut und ein Netz geknüpft haben, das ihnen auch in schwierigen Zeiten Posten und ein gutes Auskommen samt Altersversorgung sichert.

    Das Parteibuch ist wertvoller als fachliche Qualifikation

    Es gibt zwar immer auch „Betriebsunfälle“ wie bei der RBB-Intendantin Patricia Schlesinger, die ihr Amt entgegen ihrer Rolle als „Vierte Gewalt“ missbrauchte, Spitzen der Berliner Verwaltung, unter anderem die Polizeipräsidentin, mit Luxusessen auf Kosten der Gebührenzahler bewirtete. Das konnte man dann nicht mehr heilen. Wenn wir aber davon hören, dass Frau Schlesinger mit Aussicht auf Erfolg auf Zahlung von Versorgungsbezügen von mehr als 15.000 Euro klagt, sind wir alle sehr erstaunt.

    Man sollte aber wiederum nicht staunen, dass dieser Vorgang öffentlich nur kurz geflackert hat und dann wieder verschwand. Würden wir uns die Mühe genauerer Betrachtung machen und würde das auch von gemeinwohlorientierten öffentlichen Medien unterstützt, würde sichtbar werden, dass die Posten in diesen Tausenden von öffentlichen Stellen, Organisationen, Verwaltungen, Medien zum einen mit erstaunlichen Dotierungen verbunden sind und eine große Nähe zu und Einfluss von den sogenannten etablierten Parteien besteht. Parteibücher können dann wertvoller sein als fachliche Qualifikationen, wenn zum Beispiel Personen aus dem unmittelbaren politischen Betrieb ausscheiden und erstaunlich schnell und lukrativ „untergebracht“ werden.

    Auch das sind Formen von kostspieligen Ungerechtigkeiten zulasten der Allgemeinheit, die meist auch noch ineffizient sind und nicht selten weiteren Missbrauch von Macht fördern.

    Es braucht einen Bürgerrat

    Das dysfunktionale System der Altersversorgung gehört tatsächlich und schon längst auf die Tagesordnung. Wenn die derzeit Begünstigten – und das sind auch die „Mächtigen“ – nicht bereit sind, einen ehrlichen Kassensturz zu machen, und die derzeitige Lage nicht offen und für alle verständlich dargelegt wird, werden wir weiterwursteln. Leider ist es nicht zuletzt der hartnäckige und nicht selten künstlich hergestellte Dauerkrisenmodus, der verhindert, dass wir in voller Verantwortung auch für viele zukünftige Generationen und nach gewissenhafter Abwägung der möglichen Wege kluge und faire Entscheidungen treffen.

    Ich schlage einen Bürgerrat vor, bestehend aus per Los ausgewählten Menschen, der wesentliche Elemente einer Reform diskutiert und dann konkrete Vorschläge macht. Ich kann mir nicht vorstellen, dass bei der großen Klarheit der Schieflagen bei einem solchen Verfahren keine praktikablen und von den meisten als gerecht empfundenen Ergebnisse auf den Tisch kommen. Allein, es wird nicht passieren.

    Jochen Sindberg war bis April 2025 Leitender Kriminaldirektor im Landeskriminalamt Berlin, überdies bis 2018 Leiter der Polizeiakademie.

    #Allemagne #retraites

  • NS-Verbrechen in Polen : Was mein Großvater im Krieg tat, verfolgt mich bis heute
    https://www.berliner-zeitung.de/open-source/ns-vergangenheit-in-polen-was-mein-grossvater-im-krieg-tat-verfolgt

    Les crimes des nazis ordinaires ont détruit leurs familles. Puis il y a la génération née entre 1920 et 1925. Trop jeunes pour avoir participé à la montée du nazisme ils ont tous participé à la guerre et ses horreurs. Une génération perdue. Cet article décrit l’influence néfaste d’un grand père à peine plus agé. On comprend qu’en Allemagne tout le monde a plus ou moins participé aux crimes du régime ou a été au courant des actes de barbarie.

    Dans « Ascenseur pour l’échafaud » de 1958 Louis Malle introduit un tel personnage allemand qui complète l’image du monde abominable des protagonistes malheureux domimé d’abord par le marchand d’armes assassiné au début.

    25.5.2025 von Andrea-Yvonne Müller - Der Großvater unserer Autorin arbeitete im besetzten Polen für die Nazis. Sie begibt sich auf die Spurensuche – doch die Frage nach seiner Schuld bleibt.

    Mein Großvater – er hieß Otto Berger – heuerte gleich nach dem Zweiten Weltkrieg bei den Sowjets an, weil er perfekt Russisch sprach. Dann wurde er aber ziemlich schnell wieder entlassen. Er hatte sein Fähnchen schlicht nach dem Wind gedreht, nach denen, die den Krieg gewonnen hatten.

    Es ist davon auszugehen, dass er zuvor mithalf, Polen aus ihren Häusern und Wohnungen zu vertreiben. Mein Großvater war im Auftrag der Nazis ins Katasteramt von Wągrowiec geschickt worden. Das ist eine Kleinstadt in der Nähe von Poznan. So landete seine ganze Familie während des Zweiten Weltkriegs im eroberten Polen. Sie zog von der deutschen Provinz Burg bei Magdeburg in die polnische, um Hitler in den Ostgebieten ergeben zu dienen.
    „Der Opa, der war so ein Schürzenjäger“

    Otto Berger hatte drei Kinder. Meine Mutter war eines davon. Über das, was in Polen geschah, bewahrte sie stets Stillschweigen. Wenn ich fragte, bekam ich stets die Antwort: „Ach, der Opa, der war so ein Schürzenjäger, deswegen wurde er zur Bewährung nach Polen geschickt.“ Und weil Oma so eifersüchtig gewesen sei und nicht geglaubt habe, dass es in Wągrowiec anders sein würde als daheim, sei sie mit den Kindern hinterhergegangen.

    Das klingt harmlos; nach Ehekram eben. Doch ihre kleine Schwester, meine spätere Tante, hatte anderes zu erzählen. „Wir wohnten dort direkt am Bahnhof. Ich streunte viel herum, so auch an den Bahngleisen. Da standen die Züge, Viehwaggons, mit den Menschen. Ich hörte ihr Stöhnen, die Rufe nach Wasser.“ Meine Tante war Jahrgang 1933, war also um die zehn Jahre alt. Erst später habe sie erfahren, wohin diese Züge fuhren – nach Auschwitz. Die älteste Tochter meines Großvaters war zu dieser Zeit schon im heiratsfähigen Alter. Sie verliebte sich in Polen in einen deutschen Offizier und heiratete.

    Beide sah ich in meinem Leben sehr selten; sie wohnten im Westen. Ich wuchs in der DDR auf. Kontakte waren unerwünscht; manchmal kamen Westpakete mit Kaffee, Orangen und Schokolade, mit Sammelbildchen. Dass die Familie in Ost und West zerteilt wurde, hatte mit der deutschen Teilung zu tun, vor allem aber mit der Nazi-Vergangenheit meines Großvaters.

    Leider ist es unglaublich kompliziert, zu ergründen, wie schwer seine Schuld wiegt. Das Hochzeitsfoto seiner ältesten Tochter vom Februar 1944 zeigt neben meiner Großmutter einen Mann in SS-Uniform. Den Schulterstücken zufolge ist es ein hoher Offizier. Allerdings wird heute in der Familie behauptet, der Mann auf dem Foto sei nicht der Opa. Bedauerlicherweise tauchte das Foto erst auf, nachdem meine Mutter und meine beiden Tanten verstorben waren. Ich kann niemanden mehr fragen, der direkt dabei gewesen ist.

    Aus den Unterlagen des Großvaters geht jedoch hervor, dass er genau das war – ein Offizier. Er war Mitglied der NSKK (Nationalsozialistisches Kraftfahrkorps), einer paramilitärischen Unterorganisation der NSDAP. Während des Zweiten Weltkrieges war diese Organisation – im Rahmen der Umsetzung und Legitimierung des „Generalplans Ost“ in großem Ausmaß an den Deportationen von Juden und dem Holocaust beteiligt.

    Bevor mein Großvater vor diesem Hintergrund nach Wągrowiec geschickt wurde, war er im Katasteramt in Burg beschäftigt. In einem Bewerbungsschreiben für eine Neuanstellung nach dem Krieg findet sich dieses Zitat von ihm: „Mit dem 1. April 1940 wurde ich durch die Regierung Magdeburg an die Regierung Hohensalza zwecks Aufbau der Katasterämter im Osten abgeordnet und dem Katasteramt Wongrowitz zugeteilt. Meine Arbeit bestand in der Überprüfung der poln. Mutterpausen-Neumessung-Fortschreibungen, Berichtigung Ergänzung der Flurbücher.“
    „Lerne gehorchen, wenn du einmal befehlen willst“

    1943 – auch das geht aus dem Schreiben meines Großvaters hervor – wurde er zur Wehrmacht eingezogen. Hier soll er am Russland-Feldzug beteiligt gewesen sein. Üble Geschichten davon, wie Dörfer systematisch und ohne Rücksicht auf die Bevölkerung nach Lebensmitteln durchsucht wurden, werden auch heute, 80 Jahre nach Kriegsende, nur hinter vorgehaltener Hand in der Familie erzählt. Die Tagebücher meines Großvaters wurden vernichtet; es gibt nur noch einzelne Blätter aus früheren Jahren. Allerdings findet sich darauf ein bemerkenswerter Satz: „Lerne gehorchen, wenn du einmal befehlen willst.“

    Seine „Arbeit“ in Polen bekam mein Opa wohl aufgrund seiner brillanten Russischkenntnisse. Er hatte 1925 eine Prüfung in russischer Sprache an der Universität in Halle abgelegt. Der Mann, den ich in meinem Leben nie kennenlernte, muss sehr sprachbegabt gewesen sein – auch Polnisch habe er schon bald fließend gesprochen.

    In Wągrowiec bewohnte er mit seiner Familie ein kleines Haus. Ich fragte mich bei meinen Recherchen, ob dort zuvor jemand anders gelebt hatte und ob mein Großvater die Bewohner damals selbst herausgeworfen hatte oder herauswerfen ließ, um darin zu wohnen. In der polnischen Kleinstadt wurde während des Krieges nach offiziellen Angaben ein Drittel der Bevölkerung – vor allem Juden – aus ihren Wohnhäusern verjagt und deportiert. Viele starben. In dieser Zeit war die Stadt von den Deutschen in Eichenbrück umbenannt worden.

    Meine Cousinen sagen, unser Opa habe das Haus dort selbst errichtet. Im Katasteramt Wągrowiec konnte ich auf eine Nachfrage hin keine befriedigende Antwort erhalten. Man schrieb mir, dass es schwierig sei, alle historischen Dokumente zu durchsuchen. So wandte ich mich an das örtliche Heimatmuseum. Hier erhielt ich schnell Antwort: „Ich habe auch keine Grundlage, um Ihre Annahmen hinsichtlich der Beteiligung Otto Bergers an der Vertreibung der polnischen Bevölkerung zu bestätigen. Seine Kompetenzen und der von Ihnen angegebene Beschäftigungsort (Katasteramt) können darauf hinweisen, aber um dies zu bestätigen, wäre es notwendig, eine Bestätigung in Dokumenten aus polnischen oder deutschen Archiven zu finden“, so Marcin Moeglich.
    Die deutschen Archive lassen auf sich warten

    Also wandte ich mich an die deutschen Behörden. Das Bundesarchiv-Militärarchiv antwortete auf meine Anfrage hin, dass die verwahrten Unterlagen zur Verleihung von Kriegsauszeichnungen sowie die wehrmachtgerichtlichen Unterlagen für die Zeit des Zweiten Weltkrieges, die im Bundesarchiv, Abteilung Militärarchiv vorhanden sind, geprüft worden seien. Meinen Großvater betreffend haben keine Unterlagen ermittelt werden können. Es wurde aber eine Empfehlung gegeben, einen Rechercheauftrag für eine personenbezogene Recherche zu Unterlagen des Bundesarchivs über Militärangehörige mit Benutzerantrag zu stellen.

    Der Antrag läuft nun seit Anfang Februar. Bisher wurde nur der Eingang bestätigt. Weitere Nachfragen zum Stand der Bearbeitung werden von vornherein ausgeschlossen. „Bitte sehen Sie von Nachfragen zum Stand der Bearbeitung ab. Sie erhalten nach Abschluss der Bearbeitung unmittelbar unsere Antwort“, heißt es in der betreffenden Mail.

    Es ist jedoch aufgrund der Nachkriegs-Geschichte meines Opas davon auszugehen, dass er nicht nur ein „einfacher Mitläufer“ war. Die Rote Armee, in die er nach dem Krieg und Entlassung aus amerikanischer Gefangenschaft als Dolmetscher vermittelt worden war, entließ ihn bald wieder. Darauf hin bewarb er sich, inzwischen im Alter von 53 Jahren, im Jahr 1947 bei der Verwaltung in Burg, die ihn jedoch mit Hinweis auf die gesetzlichen Bestimmungen – dem Verbot der Beschäftigung von Alt-Nazis im Zuge der Entnazifizierung in der sowjetischen Besatzungszone – abwies.

    Meinem Opa muss in diesem Moment klar geworden sein, dass er im Osten keine Karrieremöglichkeiten mehr hatte, verließ daraufhin Familie und Burg, um in den Westen Deutschlands zu gehen, der es mit der Entnazifizierung nicht so genau nahm. Hier landete er in Karlsruhe.

    Die Familie im Osten der heutigen Bundesrepublik sagt, er habe dort beim Bundesnachrichtendienst gearbeitet. Die Familie im Westen verneint das. Eine Anfrage beim BND half auch nicht weiter. Man habe keine „Fundstellen“ zu Otto Berger ausmachen können. „Leider war in der Frühzeit der BND Geschichte die Aktenführung noch nicht sehr organisiert, was insbesondere für Außenstellen (hier Gehlen, d.A.) galt. Falls es Aktenunterlagen dann zu Otto Berger gab, ist es leider auch wahrscheinlich, dass diese dann nicht geregelt aufgehoben worden waren.“

    Seine Aktivität während des Krieges, so wird eingeräumt, mache es durchaus wahrscheinlich, dass der Nachrichtendienst sich für seine Kenntnisse und Sprachfähigkeiten interessiert haben könnte. „Leider lässt sich eine Zusammenarbeit oder Beschäftigung nicht mehr verifizieren oder mit Sicherheit ausschließen“, lautet abschließend die Einschätzung vom Bundesnachrichtendienst.

    Für seine Enkel in der DDR interessierte er sich nicht

    Otto Berger starb 1980 in einem Karlsruher Altersheim. Er hat sich nie für seine Kinder und Enkel in der DDR interessiert. Er kam nicht einmal zu Besuch, um uns kennenzulernen. Wahrscheinlich konnte er das aufgrund seiner Vergangenheit im Zweiten Weltkrieg nicht; vielleicht hätte er hier im Osten zu DDR-Zeiten Schlimmes für sich befürchten müssen. Nur er selbst wusste genau, was er damals getan hatte. Im Westen blieb er ungeschoren.

    All das ist lange her. Und doch sind die Wunden nicht geschlossen; im Gegenteil. Aus meiner Sicht klaffen sie weit auf. Die Ereignisse jetzt zum 80. Jahrestag des Kriegsendes und der Zerschlagung Nazi-Deutschlands, der unterschiedliche Umgang heute mit den westlichen Alliierten auf der einen Seite und der Roten Armee auf der anderen Seite ist zutiefst erschütternd. Deren Opfer und Verdienste sind genauso zu würdigen wie die der Amerikaner, der Engländer und der Franzosen.

    Rund 27 Millionen Sowjetbürger mussten im Zweiten Weltkrieg sterben. Viele von den Menschen starben als Soldaten, damit das Sterben endlich aufhört. Ich muss leider davon ausgehen, dass auch mein Großvater in diesem Krieg schwere Schuld auf sich geladen hat – vor allem in Polen und auf dem Territorium der früheren Sowjetunion.

    Andrea-Yvonne Müller wuchs im thüringischen Gotha auf, machte ihr Abitur an der Kinder- und Jugendsportschule in Zella-Mehlis und studierte nach der Schule in Leipzig Journalistik. Sie arbeitete 34 Jahre bei der Märkischen Allgemeinen Zeitung. Darüber hinaus ist sie Buchautorin und Übersetzerin aus dem Polnischen.

    #Allemagne #histoire #nazis #famille #guerre

  • Tod und Terror im Havelland : Das Ende des Zweiten Weltkrieges am dunkelsten Ort Deutschlands
    https://www.berliner-zeitung.de/open-source/das-ende-des-zweiten-weltkrieges-am-dunkelsten-ort-deutschlands-li.

    La guerre est tojours un calvaire pour la population civile. Les femmes en souffrent d’abord. Après on ne veut rien savoir, trop douloureuses sont les suites de l’époque nazie. Les souvenirs de crimes et souffrances ont systématiquement été évités dans les histoires familiales transmises. Encore aujourd’hui à l’école des enseignants d’histoire « sautent » l’époque entre 1933 et 1950.

    Il est évident qu’aujourd’hui la majorité des politiciens et fonctionnaires n’ont aucune idée de ce que la guerre fait aux hommes, femnes et enfants. C’est trop abstrait pour les motiver à défendre la paix.

    Les forces obscures du capitalisme peuvent alors faire leur travail sans rencontrer de résistance. On livre des armes aux belligérants, on jouit des profits qu’on programme avec des crédits sans limite et on accuse chaque voix critique de collaborer avec l’ennemi qu’on appelle Poutine .

    Les riches ont besoin de la grande déstruction de capitaux et d’hommes pour faire redémarrer la machine économique défectueuse en crise permanente. Combien d’années encore avant l’hécatombe européenne ?

    Nous nous rappellons malgré les efforts de propagnde. Est-ce que cela changera le cours des événement à venir ?

    10.5.2025 von Burghard Zacharias - Unser Autor hat recherchiert, was sich in seinem Heimatort Gülpe im Frühjahr 1945 zugetragen hat. Und wie es seiner Familie dabei erging.

    Gülpe im Havelland, heute unter Astronomen als dunkelster Ort Deutschlands gut bekannt, war im Jahre 1945 ein abgelegenes, lediglich über eine Pflasterstraße sowie über Feldwege zugängliches Dorf. Die quasi am Rande der Welt wohnenden Gülper hatten im Frühjahr 1945 gehofft, dass der Krieg an diesem unbedeutenden Ort vorbeigehe. Genau das hat der Krieg nicht getan. Das Geschehen von damals in Gülpe ist nach heutigem Wissen repräsentativ für das Geschehen in vielen anderen Orten im damaligen Mitteldeutschland.

    Zu Friedenszeiten lebten in Gülpe etwas über 100 Menschen. Am Ende des Zweiten Weltkrieges beherbergte Gülpe über 400 Menschen, Einheimische, Ausgebombte, Flüchtlinge aus den deutschen Ostprovinzen, Schwarzmeerdeutsche, jeweils etwa 20 Fremdarbeiter und Kriegsgefangene. Jede bewohnbare Fläche mit Dach über dem Kopf war besetzt.

    33 Männer waren während des gesamten Krieges als Soldaten eingezogen worden, von diesen sind bis Ende des Krieges 17 gefallen. Einen der Soldaten, ein Ritterkreuzträger, der überlebt hatte, haben die Russen nach Kriegsende im Ort mehrmals gesucht. Er wurde nicht entdeckt und ist schließlich in Westberlin untergetaucht.

    Die Fremdarbeiter wohnten bei den Bauern, für die sie tätig waren, in Kammern bzw. Verschlägen im Wohnhaus oder im Stall. Zu essen bekamen sie auf dem jeweiligen Gehöft. Die Kriegsgefangenen waren konkreten Bauernwirtschaften zugeordnet. Dort wurden sie auch individuell verpflegt. Zum Schlaf war für sie zentral eine Scheune mit einfachen Betten und Mobiliar umgebaut worden. Diese Unterkunft wurde über Nacht abgeschlossen.

    Kanonendonner über Rathenow

    Zwei der Kriegsgefangenen sind in Gülpe zu Tode gekommen, ein Russe, der sich im Dezember 1944 erhängt hat, und ein Pole, der Mitte März 1945 nach einer Feier in Erwartung des baldigen Eintreffens der Sieger an Alkoholvergiftung gestorben ist. Ihr Grab wird bis heute von den Gülpern gepflegt. Wo andere im Einzelnen abgeblieben sind, ist nicht überliefert.

    Ängstlich mitbekommen hatten die Gülper den Kanonendonner über Rathenow, wo bis Anfang Mai gemäß eines von Generalfeldmarschall Keitel vor Ort gegebenen Befehls mit dem Ziel gekämpft wurde, den deutschen Truppen, die bei Tangermünde sich über die Elbe hin zu den Amerikanern in Kriegsgefangenschaft begaben, den Rücken freizuhalten.

    Über die Havel bauten in den letzten Apriltagen deutsche Soldaten aus Angler- und Fischerkähnen sowie abgehängten Scheunentoren eine Behelfsbrücke, über die sie sich in Richtung Elbe absetzten. Auch versprengte Soldaten kamen einzeln oder in Gruppen durch den Ort. Wenn sie darum baten, erhielten sie von den Gülpern Nahrungsmittel. Beim Übergang über die Havel entledigten sich viele ihrer Waffen und Munition. Entsprechend Herumliegendes war auch Jahre nach dem Krieg noch eine außerordentliche Gefahrenquelle, hat aber glücklicherweise nicht zu Schaden geführt.

    Einen schwerstbeladenen Verpflegungswagen haben die abziehenden Soldaten nicht über die schwankende Behelfsbrücke bugsieren können. Er blieb stehen und war nach Abzug der Soldaten im Nu von den Gülper Einwohnern, inklusive den Fremdarbeitern, leergeräumt.

    Wertsachen vergraben und Kartoffeln gepflanzt

    Die „Ur“-Gülper hatten kurz vor Eintreffen der polnischen Soldaten Wertsachen vergraben sowie Kartoffeln gepflanzt. Letzteres, um im Herbst, wenn hoffentlich alles ruhiger geworden sein sollte, wenigstens Kartoffeln zum Essen zu haben.

    Gülpe ist nicht von Russen, sondern von einer polnischen Einheit besetzt worden. Kurz nach deren Einmarsch waren die Fremdarbeiter und Kriegsgefangenen verschwunden. Bekannt ist, dass ein dienstverpflichtetes, etwa 18-jähriges Mädchen aus der Ukraine, das bei einem Fischer tätig war, sich beim Ankommen der Sieger im Schilf des Gülper Sees versteckt hatte, weil sie nicht nach Hause zurückwollte. Ihr soll es gelungen sein, über Westberlin in Deutschland zu bleiben.

    Eine Einwohnerin hat berichtet, dass sich ihre Familie in relativ gut erhaltener Kleidung beim Einmarsch der Polen vor dem Haus versammelt hatte. Der Nachbar von gegenüber stand mit einer Fleischbüchse in der Hand zur Begrüßung der fremden Soldaten an seinem Hoftor. Einer der ankommenden Polen hatte ohne zu zögern die Büchse gegriffen und nach den Worten „Uri, Uri“ die Armbanduhr des Nachbarn mitgehen lassen. Anschließend, so die Einwohnerin weiter, hätte sich die Familie unbehelligt ins Haus zurückgezogen.

    Dann sei bis spät in die Nacht alles ruhig geblieben. Aber etwa um 1.30 Uhr hätte ein starkes Schießen mit Gewehrfeuer und Kanonendonner begonnen. Meine Familie wusste nicht, dass es um einen von des SS in Strodehne gehaltenen Havelübergang für sich absetzende deutsche Truppen ging, den die Russen einnehmen wollten.

    Die Frauen in unserer Familie befürchteten, dass bald in Gülpe gekämpft werden würde und sie in die Kampfhandlungen hineingeraten würden. Sie drehten durch und wollten sich im Schlafzimmer das Leben nehmen. Sie schnitten sich, aber auch mir, dem damals Dreijährigen, am Handgelenk in den Arm, es blutete stark, jedoch waren bei allen Personen die Pulsadern nicht getroffen. Der urplötzlich im Schlafzimmer auftauchende Großvater konnte das Ausbluten unterbinden.

    Tote mit ausgestochenen Augen

    Am nächsten Tag wurde klar, was seit dem Einmarsch der Polen passiert war. Frau L. P, die hinter ihrem Haus noch etwas zum Verstecken eingraben wollte, war erschossen worden. G. R. hatte sich erhängt. Die Gründe sind nicht bekannt. Frau A. F. war vergewaltigt worden und hatte sich danach ebenfalls erhängt. Der Ortsgruppenführer der NSDAP war unter Prügeln durch den Ort gerieben worden. An seiner Kleidung hat man ihn erkannt, als man am nächsten Tag seinen Leichnam am Ortsrand im Gebüsch liegend entdeckt hatte. Ebenfalls totgeprügelt war H. S. worden. Seine Leiche hatten zwei Kinder außerhalb vom Ort am nächsten Tag gefunden. Mit Schaudern, so wurde später berichtet, hätten die Kinder erzählt, wie sie die neben dem Toten liegenden ausgestochenen Augen gesehen haben.

    Zu den Schwarzmeerdeutschen, die im Saal der Dorfgaststätte quartierten, waren spät in der Nacht Soldaten mit der Forderung gekommen, dass die Frauen sofort zum Kartoffelschälen mitzukommen hätten. In der Vermutung, dass das nur ein Vorwand wäre, um die Frauen draußen zu vergewaltigen, hatte einer ihrer Männer versucht, sich dem entgegenzustellen. Auch er wurde brutal zusammengeschlagen. Am nächsten Tag ist er seinen Verletzungen erlegen.

    In ihrem als Erlebnisbericht zu den letzten Tagen des Weltkriegs im Jahre 2008 veröffentlichten Buch „Mitten am Rande“ führt meine Mutter Luise Zacharias eine Vielzahl weiterer Fälle von Einzel- und Gruppenvergewaltigungen auf, die im Mai 1945 den Frauen in Gülpe angetan wurden, u. a. war E. Z. durch die Vergewaltigung schwanger geworden, M. L. war nach der Vergewaltigung geschlechtskrank. Beiden Frauen hat ein deutscher Arzt in ihrer Pein geholfen. Im Sommer 1945 wurde die in Gülpe stationierte polnische Einheit durch eine sowjetische Einheit ersetzt. Entsprechend einer Order von höherer Stelle verhielten sich die Russen den Frauen gegenüber zurückhaltender als die Polen. Es kam dennoch zu weiteren Vergewaltigungen.

    Von zwei Episoden sei zum Abschluss dieses Artikels noch berichtet. Sie sind eigentlich undenkbar, aber glücklicherweise für den Schreibenden dieses Berichts genau so abgelaufen.

    Harry Zacharias arbeitete auf dem auf Reparaturarbeiten an Flugzeugen spezialisierten Flughafen Werder in Wehrmachtsuniform als Werkmeister. Anfang Mai standen die Russen kurz vor dem Flugplatz. Dem Flugplatzkommandanten und seinen Männern war bewusst, dass die kleine deutsche Truppe gegen die Übermacht der Russen den Flugplatz nicht mit Erfolg verteidigen kann und der Krieg ja eigentlich so gut wie zu Ende ist. Also machten die auf dem Flugplatz Tätigen sich individuell auf den Weg nach Hause. Unterwegs wurde Zacharias von einer russischen Streife aufgegriffen und in das in Berlin Spandau errichtete Kriegsgefangenenlager gebracht. Die Insassen dieses Lagers waren tags zuvor per Bahn auf den Weg Richtung Sowjetunion geschickt worden.

    Der Wodka floss in Strömen

    Am Tag nach der Einlieferung von Zacharias, dem 8. Mai, feierte die Lagerwache den von der deutschen Wehrmacht bestätigten russischen Sieg. Der Wodka floss in Strömen. Irgendwann war das Lagertor nicht mehr bewacht. Das nutzten die wenigen nach Abfahrt des Gefangenentransports noch in das Lager gebrachten deutschen Soldaten und machten sich auf und davon. Im zweiten Anlauf gelang es Zacharias danach, unentdeckt zu seiner Familie nach Gülpe durchzukommen.

    Alles schien gut zu sein, aber dann erließ der in Rhinow stationierte russische Gebietskommandeur eines Tages den Aufruf, dass sich alle in seinem Befehlsbereich ansässigen deutschen Männer bei ihm zu melden hätten. Seine Absicht war, unentdeckt zurückgekommene Soldaten herauszufiltern und sie als Kriegsgefangene Richtung Sibirien zu internieren.

    Zacharias hatte keine Chance, dem Aufruf nicht nachzukommen. Sein Wehrpass hätte ihm in Rhinow zur Identifizierung nichts genutzt, denn laut Wehrpass war er ja einer der gesuchten Soldaten. Also nahm Zacharias die Urkunde für sein Sportabzeichen zur Identifizierung mit. Genau in dem Moment, als er aufgerufen wurde, vor dem Gebietskommandanten zu erscheinen, wurde der Dolmetscher zum Kirschenpflücken in den Garten des Hauses beordert. Zacharias legte dem Kommandanten seine Urkunde vor. Der nicht Deutsch sprechende/schreibende Gebietskommandant sah Namen, Unterschrift und Stempel auf der Urkunde und akzeptierte sie als Ausweisdokument. Somit blieb Harry Zacharias über Jahre bis zu seinem Tode seinem diesen Bericht verfassenden Sohn als treu sorgender Vater erhalten.

    Für alle im Artikel aus Datenschutzgründen nur mit zwei beliebig gewählten Großbuchstaben benannten Personen liegen die Originalnamen vor.

    Burghard Zacharias, geboren am 12. November 1941 in Gülpe, ist studierter Mathematiker. Von 1968 an arbeitete er mehrere Jahren im DVZ Berlin, später im VE Kombinat Datenverarbeitung sowie zwischenzeitlich mehrere Jahre im ORZ Großdampferzeugerbau. Von 1990 bis 2009 hatte er einen Lehrauftrag an der Fachhochschule für Technik und Wirtschaft zum Thema EDV, später Betriebswirtschaft, war zudem von 1990 bis 2020 Hauptgesellschafter der PC POINT Computer- und Datendienst GmbH.

    #Allemagne #histoire #guerre

  • Moderne Elternschaft? Nach der Trennung endet bei der Kinderbetreuung die Emanzipation
    https://www.berliner-zeitung.de/open-source/elternschaft-nach-der-trennung-bei-der-kinderbetreuung-endet-die-em

    8.5.2025 von André Scholz - Das deutsche Familienrecht fördert immer noch alte Rollenbilder, belastet Mütter und Väter – und schadet vor allem den Kindern. Ein radikales Umdenken ist notwendig.

    Diesist ein Open-Source-Beitrag. Der Berliner Verlag gibt allen Interessierten die Möglichkeit, Texte mit inhaltlicher Relevanz und professionellen Qualitätsstandards anzubieten.

    Am Muttertag richtet sich der Blick oft auf traditionelle Rollenbilder. Doch gerade heute braucht es eine neue Debatte: Wie gestalten wir moderne Elternschaft nach einer Trennung? Noch immer wirken die gesetzlichen Rahmenbedingungen wie aus der Zeit gefallen – zulasten von Müttern, Vätern und vor allem: der Kinder. Dabei bietet gerade der Tag, der Müttern gewidmet ist, die Gelegenheit, über echte Gleichberechtigung nachzudenken – und sie zu verwirklichen.

    Trennung als Realität und Herausforderung

    Etwa die Hälfte aller Paare in Deutschland trennt sich, und etwa die Hälfte dieser Trennungen verläuft konfliktreich. Im deutschen Familienrecht entscheidet de facto die Mutter darüber, wie viel Betreuung der Vater übernehmen darf. Grundlage ist das Betreuungsverhältnis vor der Trennung, in dem die Mutter in der Regel den größeren Anteil übernimmt. Nach der Trennung verfestigt sich diese Struktur meist. Ein echter Neuanfang bleibt aus, obwohl er oftmals notwendig wäre.

    Hinzu kommt: In konflikthaften Trennungen wird die Kommunikation zwischen den Eltern oft massiv beeinträchtigt. Ohne funktionierende Abstimmung geraten viele Väter in eine Randrolle, die sie eigentlich nicht anstreben. Die bestehenden juristischen Strukturen verstärken diese Dynamik, statt neue Wege zu öffnen.

    Berufliche Perspektiven der Mütter: Wunsch und Wirklichkeit

    Fast 90 Prozent der getrennten Mütter wünschen sich eine bessere berufliche Perspektive. Doch das bestehende Betreuungsmodell blockiert diesen Wunsch. Ohne eine nennenswerte Entlastung durch den Vater oder durch staatliche Angebote bleibt eine umfassende Berufstätigkeit vielfach ein ferner Traum. Der Wunsch nach Teilhabe am Arbeitsleben scheitert oft an der Realität der Alleinverantwortung.

    Ein höherer Betreuungsanteil der Väter könnte eine echte Lösung sein – doch dieser Weg ist juristisch und finanziell vielfach verbaut. Gerade in einer Gesellschaft, die auf weibliche Fachkräfte angewiesen ist, erscheint dies paradox.
    Finanzielle Anreize: Verharren statt Veränderung

    Staatliche Regelungen zementieren die bestehenden Rollen: Bereits bei minimaler Mehrbetreuung erhalten Mütter umfassende Unterhaltsansprüche für die Kinder. Der Kindesunterhalt kann erhebliche Summen erreichen und muss nicht zweckgebunden verwendet werden. Die Durchsetzung dieser Ansprüche ist für den Mehrbetreuenden meist kostenfrei möglich (Verfahrenskostenhilfe), während das andere Elternteil oftmals hohe finanzielle Belastungen durch eine rechtliche Auseinandersetzung schultern muss.

    Viele Väter müssen dadurch Vollzeit arbeiten, um diese Verpflichtungen zu erfüllen – Zeit für eine umfassende Kinderbetreuung bleibt kaum. Diese Dynamik verhindert eine paritätische und vor allen Dingen partnerschaftliche Elternschaft und führt dadurch wiederum oft zu neuen Spannungen.

    Das Residenzmodell als Sackgasse

    So landen viele Familien im Residenzmodell: Die Mutter betreut, der Vater zahlt und sieht die Kinder spärlich. Ein echtes Umdenken wäre nur möglich, wenn man Kinderbetreuung und -unterhalt reformieren oder ein paritätisches Wechselmodell als Standardmodell für getrennte Eltern einführen würde. Doch wer verzichtet schon freiwillig auf gesetzlich garantierte finanzielle Leistungen?

    Stattdessen wird die bestehende Regelung nicht selten als Druckmittel genutzt. Im schlimmsten Fall führt dies zur Entfremdung der Kinder von einem Elternteil. Psychologen sprechen hier vom „Parental Alienation Syndrome“ (PAS) – ein Phänomen, das die seelische Gesundheit der Kinder massiv belastet.
    Gesellschaftliche Wahrnehmung: Das festgefahrene Bild

    In der Gesellschaft ist das Bild klar: Kinder gehören zur Mutter, Väter zahlen und besuchen am Wochenende. Jugendämter und Gerichte bestärken diese Ordnung. Symmetrische Wechselmodelle sind theoretisch möglich, scheitern aber praktisch oftmals an der fehlenden Zustimmung beider Elternteile. Bereits mangelnde Kommunikationsbereitschaft eines Elternteils reicht aus, um ein Wechselmodell zu verhindern.

    Auch Arbeitgeber, Schulen und Kindergärten haben sich auf die klassische Rollenteilung eingestellt. Ein Vater, der die Tagesbetreuung der Kinder übernimmt, wird oft skeptisch beäugt. Noch immer gelten Männer, die beruflich zurückstecken, um sich der Familie zu widmen, als Exoten.

    Kinder zwischen den Fronten: Die wahren Leidtragenden

    Rechtlich wird auf das Kindeswohl verwiesen – in der Praxis bleibt es häufig auf der Strecke. Kinder leiden unter Streitereien, Kontaktabbrüchen und Rollenkonflikten. Die psychischen Folgen sind dramatisch: Deutschland hat europaweit die höchste Dichte an Familientherapeuten.

    Auch Eltern selbst geraten in psychische Belastungsspiralen. Nicht selten folgen Depressionen, Burnout oder psychosomatische Erkrankungen. Die Überforderung durch Streit und Gerichtsverfahren wirkt langfristig zerstörerisch auf alle Beteiligten.

    Ein gleichberechtigtes Miteinander wäre im Interesse aller Beteiligten – insbesondere der Kinder. Denn Kinder profitieren am meisten von präsenten, verantwortungsbewussten Müttern und Vätern.

    Internationaler Vergleich: Deutschland hinkt hinterher

    Während fast alle westlichen Staaten das paritätische Wechselmodell als Standard etabliert haben, bleibt Deutschland bei manifestierten Strukturen von 1893 (!) im Familienrecht. Fast in der gesamten EU und in den Staaten unserer westlichen Welt wird hingegen beiden Elternteilen bei einer Trennung gleich viel Verantwortung (Rechte und Pflichten) zugesprochen.

    Eine Resolution des Europarats aus dem Jahr 2015 fordert eine entsprechende Änderung auch für Deutschland. Bislang ignorierten aber alle Bundesregierungen diese EU-Verpflichtung, obgleich andere EU-Vorgaben in Windeseile umgesetzt werden. Deutschland bleibt bei einer Gesetzgebung stehen, die in einer modernen Gesellschaft anachronistisch wirkt und den gesellschaftlichen Wandel blockiert.

    Profiteure des Status quo: Ein ökonomisches Netzwerk

    Vom bestehenden System profitieren Familienanwälte, Verfahrensbeistände und Gutachter. Ein Verfahren um die Kinderbetreuung kann schnell Zehntausende Euro kosten. Anwälte verdienen an jedem Streit, Gutachter erstellen teure Expertisen über das Kindeswohl, und staatlich finanzierte Begutachtungen sichern Arbeitsplätze.

    Auch diverse Lobbygruppen setzen sich dafür ein, die alte Ordnung zu bewahren. Progressive Ansätze finden wenig Gehör, werden oft als „Gefahr für das Kindeswohl“ abqualifiziert.

    Leidtragende: Eltern, Arbeitgeber und Gesellschaft

    Nicht nur Väter zahlen einen hohen Preis. Auch Mütter verlieren wertvolle berufliche Jahre. Arbeitgeber suchen vergeblich nach weiblichen Fachkräften. Und die Gesellschaft hält an Geschlechterrollen fest, die sie längst überwinden möchte.

    Ein veraltetes Familienrecht strahlt weit über den privaten Bereich hinaus – es verhindert echte Gleichstellung, blockiert individuelle Lebenswege und kostet die Volkswirtschaft wertvolle Ressourcen.

    Politische Perspektiven: Stillstand auf allen Ebenen

    Gesetzesinitiativen für ein modernes Familienrecht sind rar. Nur die FDP wagte in der Ampelkoalition einen zaghaften Versuch, das Wechselmodell als Standardmodell zu etablieren und die leidvolle Trennung zwischen Kindesunterhalt und Kinderbetreuung zu reformieren – vergeblich. Parteien aller Couleur scheuen die Auseinandersetzung mit einem emotional aufgeladenen Thema. Viele Politiker fürchten, in einen Konflikt mit mächtigen Interessengruppen zu geraten oder populistische Vorwürfe zu ernten. So bleibt das Familienrecht eine der größten Blockaden auf dem Weg zu echter Gleichberechtigung.

    Moderne Elternschaft braucht moderne Rahmenbedingungen. Es braucht ein Rechtssystem, das beide Eltern in die Pflicht nimmt. Es braucht gesellschaftlichen Rückhalt für Väter, die betreuen – und Mütter, die Karriere machen. Es braucht weniger Streit und mehr Kooperation.

    André Scholz ist in Prenzlauer Berg aufgewachsen und im Anschluss an seine Promotion seit 25 Jahren international als strategischer Unternehmensberater tätig. In Vorbereitung auf diesen Beitrag hat er eine Vielzahl von Hintergrundgesprächen mit den betroffenen Bundesministerien, einer Auswahl von Landesministerien, den familienpolitischen Sprechern aller Parteien, Richtern, Anwälten, Professoren und Hochschullehrerinnen im Familienrecht sowie mit diversen Lobby-Gruppen geführt.

  • Im Angesicht des Irrsinns: So erlebte ich als 13-Jähriger das Kriegsende in Berlin-Friedrichshagen
    https://www.berliner-zeitung.de/open-source/so-erlebte-ich-als-13-jaehriger-das-kriegsende-in-berlin-friedrichs

    7.5.2025 von Lutz Rackow - Unser Autor erinnert sich im Detail daran, was vor 80 Jahren am Rande Berlins passierte. Er berichtet von Irrungen und Wirrungen, von Absurditäten und Brutalitäten.

    Gemächlich trieben zwei weitere Wasserleichen in der schwachen Strömung spreeabwärts vom Müggelsee Richtung Köpenick. Vorbei an unserem Kajütboot, das wir selbst – vielfach verankert – versenkt hatten. Die Idee der Väter, womöglich per Boot vor der herannahenden Front zu fliehen, war längst aufgegeben worden. Sonst wären wir voraussichtlich in das Gebiet der „Kesselschlacht von Halbe“ südöstlich Berlins geraten, die zu diesem Zeitpunkt – wie wir viel später erfuhren – bereits in vollem Gange war.

    Die Zahl der Menschen, die dort in knapp 14 Tagen noch kurz vor Kriegsende umgebracht wurden, wird inzwischen auf bis zu 50.000 geschätzt. Deutsche und sowjetische Soldaten, Familien aus diesem Gebiet, Flüchtlinge, Kriegsgefangene, ein „Stalingrad vor den Toren Berlins“. Drei Wochen vor Kriegsende besonders sinnlos, vermeidbar, schrecklich, heute fast vergessen.

    Zwei Tage nach Hitlers Geburtstag am 20. April nahmen sich auch bei uns in Berlin-Friedrichshagen etliche Menschen selbst das Leben. Bevor die Russen da waren. Am Spreetunnel, in den der Bäckermeister H. ein großes Loch gesprengt hatte, warfen sie sich in das eiskalte Wasser, weil sie den Untergang des NS-Staates nicht überleben wollten. Wohl kaum „Haupttäter“, eher enttäuschte Fanatiker. Die Front war zu dieser Zeit noch etliche Kilometer entfernt.

    Außer Selbstmörder trieben auch ganze Sammelbände der NS-Partei-Postille Völkischer Beobachter an uns vorbei. Und ganze Bücherladungen in Kartons. Einen Band hatte ich neugierig herausgefischt. Es war „Der Mythos des 20. Jahrhunderts“, verfasst von Alfred Rosenberg, dem „Chefideologen der NSDAP“. Er hatte die Deutschen als „Volk ohne Raum“ ermuntern wollte, sich diesen im Osten zu rauben, weil die dort lebenden „Untermenschen“ ohnehin „ausgemerzt“ zu werden verdienten. Diese Vokabel, die wohl aus der Rattenbekämpfung stammte, hatte ich schon oft gehört und gelesen.
    Eine verängstigte Frau beschwor uns mit panischer Stimme

    Einen Tag vor der Eroberung Friedrichshagens ruhten die Angriffsspitzen der 1. Russischen Stoßarmee wohl noch in den flachen Schützengräben, die wir (mit eigenem Gartengerät) in den letzten Wochen im verwurzelten Sandboden der angrenzenden Müggelwälder hatten ausheben müssen. Für den „Volkssturm“, die Rentner- und Kinder-Miliz des „allerletzten Irrsinns“, wie das unser Vater nannte. Auch einen „Panzergraben“ gab es auf dem Spazierweg am westlichen Müggelsee-Ufer, der dort ein kleines Feuchtgebiet durchquerte. Weiß der Kuckuck, warum sich dorthin ein sowjetischer „T 34“ verirren sollte.

    Die Spree-Leichen trieben weiter. Mein Bruder und ich, wir waren schon mehrfach mit Handfeuergerät, Karabinern und sogar Panzerfäusten vom Vorgarten zum Ufer unterwegs gewesen. Zuletzt mit unserer Karre. Immer wieder lagen weitere Waffen im Gebüsch, außer Pistolen und Maschinenwaffen. Kriegsgerät sollte bei uns nicht gefunden werden. Alles wegen ängstlicher Bedenken, unser Grundstück würde als Heckenstellung benutzt oder missverstanden werden.

    Die Welle der Flüchtlinge war schon durch. Einige von ihnen waren erschöpft zu uns abgeschwenkt, hockten im Keller. Eine völlig verängstige Frau, die den Kühler ihres dampfenden Opel-Behelfslieferwagens bei uns nachfüllte, beschwor uns mit entsetzter Miene und panischer Stimme dringlich: „Um Gottes willen, fliehen Sie. Wir kommen aus Herzfelde, der Ort hat dreimal den Besitzer gewechselt. Was wir erlebt haben, entsetzlich!“ Doch unsere Familie war sich bereits zuvor einig geworden: Das Unvermeidliche wollten wir an Ort und Stelle im Unterstand zwischen Spree und Wohnhaus abwarten.

    Die kleinen Boote soffen im Handumdrehen ab

    Alsbald suchten uniformierte Deutsche die Flucht über die Spree. Sportboote wurden nebenan eilig aus Lagerschuppen der Wassergrundstücke gezerrt. Aber die kleinen Boote liefen im Handumdrehen voll, soffen ab. Schon eine Woche zuvor waren sogar die Paddelkähne in einer Volkssturm-Aktion durchlöchert worden. Der Roten Armee sollten sie wohl nicht als Übersetzhilfe dienen. Der Tunnel war inzwischen voll Wasser. Alles absurd. Einen Tag brauchten die sowjetischen Pioniere, um eine stabile Brücke über die Spree zu schlagen.

    Die fluchtartig zurückweichende, einst so stolze deutsche Wehrmacht trat hier nur noch nur in Gestalt einer dünnen Schwarmlinie aus müden Landsern, klapprigen Volksstürmern und ängstlichen Jungen, nicht viel älter als wir, in Erscheinung. Keine Hauptkampflinie, die sich geordnet vom Gegner löste. Mit Kanonen, Geschützen, Panzern, Panzerjägern mit Panzerfäusten, schweren MG oder dergleichen zogen sie sich in die von Goebbels kommandierte „Festung Deutsche Reichshauptstadt“ zurück.

    Plötzlich peitschende Einschläge

    Nur ein Sturmgeschütz mit Balkenkreuz, wie die gepanzerten Kanonen und Raupenketten (aber ohne „Dach“) hießen, parkte bei uns gegenüber. Die beiden Soldaten dort an Deck rauchten, sahen lässig aus, wie in der „Wochenschau“, im NS-Kino, dort stets von Siegesfanfaren begleitet. Anscheinend angstfrei, die Panzerkanoniere, eher zuversichtlich. Warum nur? Auf meine Frage, was denn nun wohl geschehen würde, bekam ich zur Antwort: „Wenn die ersten Iwans durch die Panzersperre auftauchen, kriegen sie eins vor den Latz. Und wir rollen eine Ecke weiter.“

    Auf der sonst menschenleeren Straße hüpfte ein Kerl tatsächlich in kompletter SA-Montur umher, einer der Familie P., als Super-Nazi in Friedrichshagen wohl allgemein bekannt. Die Panzer-Landser: „Such’ dir schon mal einen Baum aus. Auf Leute wie dich ist der Iwan besonders scharf.“ Ich habe ihn nie wiedergesehen.

    Plötzlich ein Krachen und Geschieße. Peitschende Einschläge. „Ratsch-Bum“ wurden die sowjetischen Granatwerfer genannt, die wegen der Splitterwirkung ihrer Geschosse besonders im Straßenkampf zum Einsatz kamen. Wir Kinder wussten schon allerhand über Waffen.

    Die Plünderer kamen erst später

    Inzwischen hockten wir längst alle, Familie, Nachbarn und Flüchtlinge, dicht gedrängt im Unterstand. Schnellfeuer, einzelne Feuerstöße, Ruhe. Irgendwann tauchten wir auf. Vom Nachbargrundstück wurden zwei in einer Mauernische kauernde Volkssturmmänner von Rotarmistinnen auf die Straße geschubst, dort eingesammelt.

    Vor unserem Zaun eine umgestürzte Zugmaschine. Um sie herum eine Gruppe getöteter deutscher Flaksoldaten. Schon ohne Stiefel. Die Männer kannte ich. Erst wenige Tage zuvor war ich von ihnen zum Schippen eines Walls um ihre Flakstellung am Fürstenwalder Damm kommandiert worden. Schussrichtung ihrer Kanone Kaliber 8,8: Strandbad Müggelsee. Sie waren wohl zu spät von dort geflohen.

    Die Angreifer waren bereits Richtung Köpenick unterwegs. Alles Mädels, in stabiler Montur, ohne Stahlhelme, mit Schnellfeuergewehren bewaffnet. Sie kümmerten sich nicht um die Häuser und ihre Bewohner. Die Plünderer kamen erst später, nachdem die endlosen Panzerkolonnen den Müggelseedamm und die Friedrichstraße (heute Bölschestraße) völlig verstopften hatten.

    Dazwischen bespannte Geschütze, einzelne Panjewagen, ein wildes Gedränge, dann langer Stau. Soldaten sprangen ab, zogen plündernd durch die Parterrewohnungen am Rand, suchten Beute, die in die Hosentasche passte. Nahe dem Bräustübl hatten sich alte Männer über einen Pferdekadaver hergemacht. Sie schnitten blutige Fleischbrocken heraus. Schaurig. Daneben ein zerschossenes Geschütz.

    Die toten Flaksoldaten waren an den Straßenrand geschleift worden. Niemand kümmerte sich um sie. Jemand hatte ihre Köpfe mit Fetzen abgedeckt. Zivilisten waren damit beschäftigt, die Einzelhandelsgeschäfte in der Friedrichstraße zu plündern. Tengelmann und Pommersche Meiereien. Wir kamen viel zu spät, hatten aber zuvor schon zwei Speckseiten aus den Großgaragen der Friedrichshagener Großschlächterei von Schwalbach erbeutet.

    Eine Bombe vernichtet das Ehepaar Opalka und ihren Schreibwarenladen

    Plötzlich Fluglärm. Flugs waren alle Rotarmisten in den Häusern verschwunden. Wir waren draußen geblieben. Die Maschine trug das Balkenkreuz. Wir hatten noch nicht begriffen, nunmehr auf der anderen Seite der Front zu sein. Irgendwo krachende Einschläge. Später war zu erfahren, dass eine Bombe das Ehepaar Opalka mit ihrem kleinen Schreibwarenladen an der Volksschule vernichtet hatte. Eine zweite erschlug eine alte Frau und einen plündernden Rotarmisten in der Rahnsdorfer Straße.

    Wir wurden alsbald aus dem Haus vertrieben, wo noch einige der gesparten Lebensmittel, Eingekochtes, Getrocknetes usw. im Keller lagerten. Hätten mein Bruder und ich die Speckseiten nicht erbeutet, wäre unsere Familie in den folgenden Monaten, von der Ruhr-Krankheit geschwächt, womöglich verhungert. Wie vor allem einige ältere Menschen in der Nachbarschaft.

    Bei der Großschlächterei von Schwalbach war am letzten Vormittag vor dem „Einmarsch“, noch – minutiös in präziser Wägung in Kleinportionen auf Lebensmittelkarten gemäß den Rationierungsregeln – Fleischwaren verkauft worden. Bis der Kampflärm näher kam. Niemand sagte: Nehmt reichlich, es werden noch härtere Mangelzeiten kommen. Schließlich lagerten Speckseiten bis unter die Dächer der LKW-Großgaragen auf dem Hof des Geländes. In Rahnsdorf war erst wenige Tage zuvor eine Bäckerei geplündert worden. Denunzianten zeigten das an. Die Täter wurden sofort durch ein NS-Standgericht umgebracht.

    Man hörte Schreie in der Nacht

    Die Erkenntnis „Befreiung“ war damals noch nicht angenommen. Es ging für die verängstigte Zivilbevölkerung zunächst darum, weiter zu überleben, ein Dach über dem Kopf zu behalten oder zu finden, vor Übergriffen und Willkür geschützt zu werden. Vergewaltigungen durch Siegersoldaten geschahen alsbald massenhaft. Dabei wurde auch Verteidigung mitunter brutal gebrochen, gemordet, in den Selbstmord getrieben. Man hörte Schreie in der Nacht.

    Das ganze enorme Ausmaß dieser Gewalt wurde nie festgestellt, geschweige denn erörtert. Alle Untaten wurden der Gesamtschuld des aggressiven NS-Regimes und seiner Verbrechen von einmalig gigantischem Ausmaß zugeordnet. Obwohl alsbald überall auf großen Plakaten ein Stalinwort zu lesen war: „Die Hitler kommen und gehen, aber das deutsche Volk, der deutsche Staat bleiben.“ Die zunächst erlebte Wirklichkeit sah leider vorwiegend ganz anders aus. Allzu lange und allzu böse wüteten einige der Sieger.

    Verhängnisvolles Weiterleben NS-geprägter stereotyper Vorurteile

    Verhaftungen deutscher Zivilisten, sogar Jugendlicher, gab es viele. Nach undeutlichen Regeln. Auch kleine und nur vermutete NS-Täter verschwanden in Lagern und Gefängnissen. Man erfuhr nichts über sie. Was war eigentlich mit den Kriegsgefangenen im Osten? Was wurde aus Land und Leuten östlich von Oder und Neiße und im östlichen Ausland? Keine Nachrichten, keine Erklärungen, alles ungewiss. Keine Zeitungen. Radios längst zwangsweise abgeliefert.

    Die sowjetischen Sieger verdarben für Jahrzehnte das Ansehen ihres eigenen diktatorisch geschundenen, brutal vom NS-Staat überfallenen Volkes und Landes, ihrer Soldaten und Kultur. Sie blockierten damit auch Möglichkeiten, Vertrauen und Zutrauen für ihre Politik zu gewinnen. Die Menschen im Land des unterlegenen NS-Regimes lösten sich so nur zögerlich und wenig von der Hass-Hetze der NS-Propaganda gegen die „Untermenschen“, denen sie sich nun ausgeliefert fühlten.

    Die diktatorische Besatzungspraxis und die würdelos wirkende Anpassung mit Denunziationen und Unterdrückungen sorgten für ein verhängnisvolles Weiterleben NS-geprägter stereotyper Vorurteile. Der Antikommunismus wuchs trotz solcher Warnungen, beispielsweise von Thomas Mann, der diesen als „Grundtorheit unserer Epoche“ klassifiziert hatte. Diesmal als Fehlurteil, wohl auch durch die Distanz zu seinem Refugium in Kalifornien verursacht.

    Lutz Rackow, geboren 1932, war zunächst Redakteur bei Der Morgen, der Tageszeitung der Liberal-Demokratischen Partei Deutschlands (LPD), studierte von 1956 bis 1961 Wirtschaftswissenschaften und Geschichte an der Technischen Universität Berlin. Im Anschluss war er bis 1993 freiberuflich als Journalist tätig (mit den Spezialgebieten Technik, Verkehr, Tourismus), danach als Berater und Projektbegleiter der Robert Bosch Stiftung in Stuttgart. Bis heute engagiert er sich ehrenamtlich als Zeitzeuge.

    #Berlin #histoire #libération #guerre

  • Frauenmörder, Häftling in Auschwitz und dann Kaufmann: Die seltsame Lebensgeschichte des Anton Ludwig
    https://www.berliner-zeitung.de/open-source/frauenmoerder-haeftling-in-auschwitz-und-dann-kaufmann-die-seltsame

    Der Beitrag sagt nichts zum Überleben im KZ. Die Gedchichte legt nahe, dass der Mann sich geschickt Wdie ertschätzumg der SS erarbeitete.

    26.4.2025 von Bettina Müller - Vor 80 Jahren wurde das KZ Mauthausen von den Amerikanern befreit. Einer der Häftlinge war Anton Ludwig, der 1920 eine Potsdamer Krankenpflegerin ermordet hatte.

    Dies ist ein Open-Source-Beitrag. Der Berliner Verlag gibt allen Interessierten die Möglichkeit, Texte mit inhaltlicher Relevanz und professionellen Qualitätsstandards anzubieten.

    „Potsdam, am 15. September. Die Polizeidirektion hier hat angezeigt, daß die Pflegerin Agnes Steinberg, 52 Jahre alt, wohnhaft in Potsdam, Berlinerstraße 5, geboren zu Potsdam, ledig, zu Potsdam Berlinerstraße 5 am achten September des Jahres tausendneunhundertzwanzig nachmittags um sieben Uhr tot aufgefunden worden sei. Die Stunde des erfolgten Todes ist nicht festgestellt worden.“

    Ein nüchterner Eintrag im Potsdamer Sterberegister, und das im reinsten Beamtendeutsch, das die Tragödie um diesen Sterbefall im Jahr 1920 lediglich durch den Hinweis auf die „Polizeidirektion“ erahnen ließ. So konnte man vermuten, dass Agnes Steinberg damals entweder eines unnatürlichen Todes gestorben war oder Suizid begangen hatte. Gewissheit bekam man dann durch die einschlägigen Potsdamer und Berliner Tageszeitungen: „Frauenmord in Potsdam!“, schrien die Zeitungsverkäufer auf den Straßen, und die Menschen rissen ihnen die Zeitungen förmlich aus der Hand.

    Diese und andere Meldungen trafen auf eine verwirrte Stadt. Die Potsdamer mussten sich final von der Monarchie verabschieden und so auch von dem altehrwürdigen Titel „Preußische Residenzstadt“. In Zeiten des Umbruchs war man besonders empfindlich. Dennoch sogen die Menschen mörderische Sensationsmeldungen noch gieriger auf als sonst. Ein seltsamer Widerspruch, hatten sie doch gerade erst das Grauen des Ersten Weltkrieges überlebt. Dieser Fall verstörte sie dennoch: Die 52 Jahre alte Krankenpflegerin Agnes Steinberg war in ihrer Wohnung, in der sie gemeinsam mit ihrer Mutter lebte, ermordet worden, und zwar ausgerechnet von „Ludwig Hohensee“, dem Mann, den sie selber während des Ersten Weltkriegs im Lazarett zu Potsdam gepflegt hatte. Doch das war nicht sein richtiger Name.

    Der Anfang vom Ende

    Nach Kriegsende waren sie sich zufällig in einem Potsdamer Café über den Weg gelaufen – große Wiedersehensfreude bei Agnes und dem vermeintlichen „Ludwig“, der 28 Jahre jünger war als sie. Man freundete sich an, dann kam man sich näher. Dass „Ludwig“ schon länger Bekanntschaft mit der Unterwelt von Berlin und Potsdam gemacht hatte, wusste Agnes nicht. Auch nicht, dass er es vor allem auf ihren äußerst wertvollen Schmuck abgesehen hatte, den sie von ihrem ehemaligen und früh verstorbenen Lebensgefährten erhalten hatte.

    Man weiß heute nicht mehr, ob „Ludwig“ tatsächlich nichts für Agnes empfand, Eigenaussagen fehlen. Gesichert ist jedoch, dass er sehr geschickt vorging. Er wartete auf den richtigen Zeitpunkt, um die Frau zu berauben und die Schmuckstücke zu verhökern. Das Geld wollte er in einschlägigen Etablissements verprassen, in Begleitung seiner eigentlichen Freundin, mit der er parallel zu Agnes ein Verhältnis pflegte. Doch aus Raub wurde Raubmord.

    Potsdam, den 8. September 1920. An diesem Mittwoch soll „Ludwig“ zum Kaffee kommen. Die nichtsahnende Mutter ist am Nachmittag zu einem Kaffeekränzchen bei Freundinnen eingeladen und kehrt gegen 19 Uhr zurück. Es muss ein grauenhafter Anblick gewesen sein. Die Tochter liegt blutüberströmt und leblos im Wohnzimmer. Um den Hals hat jemand eine Gardinenschnur geschlungen und ihren Kopf fürsorglich auf ein Kissen gebettet. Sämtlicher Schmuck in der Wohnung fehlt, überall aufgezogene Schubladen, Verwüstung, Verachtung.

    Endlich gestellt und verhaftet

    Währenddessen irrt „Ludwig Hohensee“, der eigentlich Anton Ludwig heißt und aus Neuhaus (Paderborn) stammt, wo er 1896 geboren wurde, mit seiner Beute durch die Gegend und überlegt, an wen er sie gewinnbringend verscherbeln soll. Es wird schon fast dunkel, als er über die Glienicker Brücke wandert und dann die Chaussee nach Wannsee entlangläuft. Am Bahnhof Wannsee will er sich eine Fahrkarte kaufen, trifft aber zufällig einen ihm flüchtig bekannten Uhrmacher. Und sofort will er dem Mann eine mit Brillanten besetzte Uhr aus der Beute verkaufen, weil er dringend Bargeld braucht.

    Der wohl grundsätzlich etwas misstrauische Uhrmacher will die Uhr erst in seiner Berliner Werkstatt prüfen, nimmt sie daher an sich, und die beiden Männer vereinbaren ein neues Treffen. Aber auch beim nächsten Treffen hält er „Ludwig“ hin, behauptet, er habe einen Käufer gefunden, der ihm das Geld aber erst am darauffolgenden Tag geben könnte. Um Mitternacht wolle er sich daher wieder mit ihm treffen. Als er von dem Frauenmord in Potsdam hört, macht er das einzig Richtige: Er geht zur Polizei.

    Auf dem Schreibtisch von Kriminalkommissar Gotthold Lehnerdt im Berliner Polizeipräsidium liegt der Bericht der Potsdamer Kriminalpolizei mit der Beschreibung der geraubten Schmuckstücke. Volltreffer! Das von dem Uhrmacher vorgelegte Schmuckstück ist mit dabei. Lehnerdt ist fest entschlossen, den Verbrecher dingfest zu machen, und scheut dabei auch den persönlichen Einsatz nicht.

    Zusammen mit seiner als Prostituierte verkleideten Ehefrau als vermeintliches Liebespaar getarnt, will Lehnerdt den Verbrecher und mutmaßlichen Mörder bei dessen Treffen mit dem Uhrmacher stellen. Es gelingt ihm, aber erst nach einem kurzen Handgemenge und nachdem er dem Verbrecher eine Waffe aus der Hand geschlagen hat. Endlich: Anton Ludwig ist erfolgreich gestellt und verhaftet worden. Ein Mörder sieht seiner gerechten Strafe entgegen. Und aus dem Lichthof des Berliner Polizeipräsidiums fährt schon bald ein Kraftwagen gen Potsdam. Anton Ludwig wird nach der Schilderung seiner Tat, die er – laut Gotthold Lehnerdt in seinem Buch „Mörder“ – „lächelnd und mit zynischer Frechheit“ gab, dorthin überführt.

    Und die Zellentür des Untersuchungsgefängnisses schloss sich hinter Anton Ludwig. Der Täter wurde vom Potsdamer Schwurgericht zunächst zum Tode verurteilt, dann aber nach mehreren psychiatrischen Gutachten als „gemeingefährlicher Geisteskranker“ klassifiziert, was in der Regel eine dauerhafte Unterbringung in einer „Irrenanstalt“ zur Folge hatte.

    Wo Ludwig die darauffolgenden Jahre verbrachte, ist unklar. Verbrecher verschwanden naturgemäß aus den Schlagzeilen, nachdem Berichte über die Verhaftung und den Prozess abgeebbt waren. Ab 1933 hatten sie schließlich auf keinerlei Milde zu hoffen, vor allem, wenn sie als „Berufsverbrecher“ galten. Diesen Menschen sprach man jegliches Recht ab, überhaupt je wieder in die Gesellschaft zurückzukehren. Ihnen drohte nicht nur das Gefängnis, sondern mitunter weitaus Schlimmeres. Doch ein Verbrecher belehrte sie eines Besseren: Anton Ludwig.

    Anfang Mai 1945. Amerikanische Truppen befreien das Konzentrationslager Mauthausen (Oberdonau). Am 23. Mai 1945 wird ein „Verfügungsbefehl für einen Gefangenen“ an den Leiter des Konzentrationslagers übermittelt, wonach auch Anton Ludwig zu entlassen sei. Eingeliefert worden war er laut „Häftlings-Personal-Karte“ bereits am 15. April 1943, vorher war er in Auschwitz. „SV“ – Sicherheitsverwahrung – hieß es außerdem auf der Karte, und das war ein Instrument der Nationalsozialisten, um lästige Gewohnheitsverbrecher „unschädlich“ zu machen. Legitimiert worden war das bereits 1934 durch das „Gesetz gegen gefährliche Gewohnheitsverbrecher und über Maßregeln der Sicherung und Besserung“.

    Doch Ludwig erwies sich nach der Befreiung als äußerst zäh, obwohl er Unvorstellbares erlebt hatte. Er hatte das Grauen von Auschwitz gesehen, die vielen Tausend Menschen, die nach der „panikartigen“ Evakuierung am 18. Januar auf dem Weg nach Mauthausen „elend zugrunde“ gingen: „Wer schlappmachte, wurde kaltblütig erschossen.“ Eine monatelang andauernde Zeit der Entbehrungen, die nicht alle Häftlinge überlebten.

    Es ist ein bewegender Bericht, den Ludwig später in einem Brief, der heute in einer Akte im Brandenburgischen Landeshauptarchiv aufbewahrt wird, seinem Bruder in Paderborn machte. Es war aber vor allem auch eine Abrechnung mit dem Nationalsozialismus, mit der „Mörderbande“ der SS-Leute, und auch mit Hermann Göring, dem „Feigling und eitlen Fant“. Dem Kriegsverbrecher wurde noch zugejubelt, während Menschen wie Ludwig, so schrieb er, „hinter die Kulissen geschaut“ hatten, also längst Bescheid wussten.

    Doch Anton Ludwig verschwand nicht vom Radar. Dieser Verbrecher war von den Nationalsozialisten nicht besiegt worden, im Gegenteil. „In letzter Minute“ hatten er und viele andere von den Amerikanern vor der Vernichtung gerettet werden können. Das war der endgültige Wendepunkt in seinem Leben. Er beschloss, die Kriminalität für immer hinter sich zu lassen, und kehrte wieder in die Gesellschaft zurück, wobei ihn Behörden unterstützt haben müssen: „K.L.[Konzentrationslager]-Leuten wird besonders geholfen.“

    Anton Ludwig ließ sich in Werder an der Havel nieder, wo er 1949 im Adressbuch als „Kaufmann“ eingetragen war. Es muss ihn jedoch eine chronische Krankheit gequält haben, regelmäßig fuhr er nach Berlin zur Charité, um sich behandeln zu lassen. 1961 hatte er dort seinen letzten Termin.

    Es ist ein Zwiespalt, das mit der Vergebung. Ein Mensch nimmt einem anderen Menschen gewaltsam das Leben. Reue zeigt er nicht. Doch dann führen die politischen Umstände zu einer jahrelangen Internierung. Als „Totengerippe“ stirbt er fast an den Folgen der Haft. Aber dann eine erstaunliche Resilienz und die Erkenntnis: „In kurzer Zeit werde ich mich wieder erholt haben.“ Sein Opfer hatte diese Möglichkeit nicht.

    #Deutschland #Potsdam #Berufsverbrecher #Nazis #Befreiung

  • Telefonüberwachung : Wie der Berliner Senat Antworten verspricht – und dann doch nicht gibt
    https://www.berliner-zeitung.de/open-source/die-tesla-files-das-buch-ueber-elon-musk-in-gruenheide-herrscht-die

    C’est fait. Désormais à Berlin aussi on dira au revoir aussi aux censeurs et espions à la fin de chaque conversation téléphonique. Sous son gouvernement chrétien-social-démocrate Berlin retrouve le charme de l’occupation alliée pendant la guerre froide.

    Déjà à l’époque chaque communication électronique passait par les centres d’écoute militaires, raisons principales pour l’absence des grandes entreprises allemandes de l’ancienne et future capitale du pays. L’espionnage industriel fait partie des raisons d’être de la plupart des services secrets.

    Encore récemment les écoutes préventives étaient interdites à la police berlinoise. Il leur fallait chaque fois une raison précise pour justifier l’intrusion. C’est fini, la voie est libre et on recommencera à demander aux flics dans notre ligne de télépgome qu’ils nous fassent les courses de fruits et légumes. Ah, comme c’est nostalgique !

    8.4.2025 von Andreas Kopietz - In Berlin kann die Polizei unbefristet Telefone überwachen. Grüne und Datenschützer sind dagegen.

    Die Mutter werde ihr Kind nie wiedersehen, droht der Ex-Mann. Zum Glück kann die Berliner Polizei aber seinen Aufenthaltsort per Handy-Ortung ermitteln. Doch inzwischen hat der Mann das Kind freigelassen. Eine Auswertung der durch Telekommunikations-Überwachung (TKÜ) erhobenen Standortdaten ist nicht mehr erforderlich.

    Fall 2: Die Polizei bekommt einen Tipp zu jemandem, der den Auftrag hat, einen Sprengsatz herzustellen. Am 21. Juni 2024 soll er die Bombe an den Auftraggeber übergeben. An dem Tag findet in Berlin ein Gruppenspiel der Fußball-EM 2024 statt. Die Polizei hört sein Telefon ab. Es stellt sich heraus, dass es nicht um Terror, sondern um Betrug und Erpressung geht.

    Solche Fälle sind es, in denen die Polizei zur Gefahrenabwehr Telefone überwacht oder Handys ortet. Von 2021 bis Ende vergangenen Jahres hat sie dies in insgesamt 101 Fällen getan. Diese Zahlen gehen aus einer Antwort der Innenverwaltung auf eine parlamentarische Anfrage der Grünen hervor. Darin sind auch das Beispiel der Kindesentziehung und des vermuteten Terroranschlags während der Fußball-EM aufgeführt.

    Der Senatsantwort liegt ein Streit zwischen Grünen und Linkspartei mit der CDU, der SPD und Innensenatorin Iris Spranger (SPD) am 11. März im Innenausschuss zugrunde. In der Debatte ging es darum, dass die Polizei künftig die Möglichkeit hat, zur Gefahrenabwehr unbefristet Telefone zu überwachen, wie in anderen Bundesländern auch.

    2021 hatte die damalige rot-grün-rote Regierung den Einsatz dieser Ermittlungsmethoden wegen der tiefen Eingriffe in die Grundrechte auf vier Jahre befristet. Die Ergebnisse sollten wissenschaftlich überprüft werden. Bevor die Überwachungsbefugnisse am 1. April ausgelaufen wären, stimmte das Abgeordnetenhaus Ende März einer entsprechenden Änderung des Allgemeinen Sicherheits- und Ordnungsgesetz (ASOG) zu.

    Berlins oberste Datenschützerin kritisiert fehlende wissenschaftliche Auswertung

    Die gefahrenabwehrende präventive TKÜ gehört nun also zum Standardrepertoire der Berliner Polizei – auch wenn sie deutlich seltener eingesetzt wird als TKÜ zur Strafverfolgung, die wiederum in der Strafprozessordnung geregelt ist. Eine wissenschaftliche Evaluation konnte laut CDU und SPD aber auch nicht mehr durchgeführt werden, unter anderem „wegen der hohen Anforderungen an eine Sicherheitsüberprüfung“ der unabhängigen wissenschaftlichen Sachverständigen.

    Nicht nur Grüne und Linke kritisieren die ASOG-Neuregelung und damit den Wegfall der wissenschaftlichen Überprüfung. Auch die Berliner Datenschutzbeauftragte Meike Kamp übt Kritik: Heimliche und eingriffsintensive Überwachungsmaßnahmen bedürften besonderer Rechtfertigung und kontinuierlicher Überprüfung – dies ist die klare Linie der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts, erklärte sie.

    Die Innenausschusssitzung vom 11. März kann auf der Webseite des Abgeordnetenhauses im Archiv angeschaut werden. Es brauche eine Evaluation, um zu entscheiden, ob so ein Instrument verhältnismäßig ist, sagt etwa Niklas Schrader (Linke). „Dieser Gesetzentwurf ist richtig und wichtig, da es um den Schutz vor terroristischen Straftaten geht“, begründet dagegen Senatorin Spranger. „Die präventive TKÜ ist in den anderen Bundesländern längst ein fest etabliertes Instrumentarium zur Verhütung schwerer Straftaten, auf das wir hier in Berlin nicht verzichten können.“
    „Wir haben solche Zahlen! Fragen Sie nach!“

    Nun fragt Vasili Franco (Grünen) die Senatorin: „Können Sie sagen, wie viele terroristische Taten verhindert wurden?“

    Und Schrader sagt: „Zu sagen, dann und dann hat es was gegeben, ist keine wissenschaftliche Evaluation. Sich von anekdotischem Wissen leiten zu lassen bei einem so tiefen Grundrechtseingriff, ist falsch.“

    „Wir reden nicht über Anekdoten, sondern über konkrete Gefahrenlagen, die es da draußen gibt“, empört sich Spranger bei Minute 1:35:30. „Wir haben solche Zahlen. Fragen Sie sie nach! Können Sie kriegen! Das als anekdotisches Wissen zu verunglimpfen, finde ich nicht in Ordnung.“

    Am nächsten Tag machte Franco von Sprangers Angebot Gebrauch und stellte seine Anfrage, um einen Beleg für die Wirksamkeit der Maßnahmen zu bekommen.

    Ein „Bündel von Maßnahmen“ zur Verbrechensbekämpfung

    Eine konkrete Statistik darüber, in wie vielen Fällen gegen Personen, gegen die Maßnahmen durchgeführt wurden, Strafverfahren eröffnet wurden, liefert die Senatsinnenverwaltung in ihrer Antwort allerdings nicht. Sie schildert lediglich einige exemplarische Fälle wie die eingangs erwähnte Kindesentziehung oder ein Verfahren wegen Bedrohung und eines wegen öffentlicher Aufforderung zu Straftaten. In einem Fall sei zunächst eine „ASOG-TKÜ“ richterlich beantragt und durchgeführt worden. Das ASOG-Verfahren sei später in ein Strafverfahren wegen des Verdachts der Vorbereitung eines Explosions- oder Strahlungsverbrechens überführt worden. „Das Strafverfahren wird derzeit noch bearbeitet. Es liegt noch kein Verfahrensausgang vor“, heißt es weiter.

    Bemerkenswert in der Antwort ist allerdings die Information, dass in den letzten vier Jahren elf Telefonüberwachungen wegen „Gefahr im Verzug“ durch die Polizei angeordnet wurden, doch nur eine im Nachhinein richterlich bestätigt wurde.

    Franco wollte unter anderem wissen, welche Straftaten seit 2021 wann aufgrund von TKÜ-Maßnahmen verhindert wurden. Eine statistische Erhebung von Daten im Sinne der Fragestellung erfolge nicht, lautet die Antwort. Dazu die Erklärung, dass der Erfolg polizeilicher Maßnahmen zur Gefahrenabwehr und vorbeugenden Verbrechensbekämpfung auf einem „Bündel von Maßnahmen“ beruhen könne und sich daher nicht zwingend nur auf einzelne Maßnahmen nach zurückführen lasse. Gefahrenabwehrrechtliche Überwachungsmaßnahmen dienten vielfach der Aufklärung von Gefahren, bevor die Schwelle zur Strafbarkeit überschritten sei.

    Aufgrund dieser Antworten aus Sprangers Behörde befindet Vasili Franco, dass sich der Senat über die Erfolge der Überwachungsbefugnis größtenteils in Schweigen hülle. „Auch auf Nachfrage ist der Senat nicht in der Lage, konkrete Fälle zu nennen, in denen die Telekommunikationsüberwachung terroristische Straftaten verhindert hätte. Eine wissenschaftliche Evaluation hätte hier eine echte Entscheidungsgrundlage für das Parlament schaffen können.“ Stattdessen plane die Koalition schon „den nächsten Angriff auf die Grundrechte“, sagte Franco mit Blick auf weitere von der Koalition geplante ASOG-Änderungen.

    #Allemagne #surveillance #espionnage #téléphone

  • „Die Tesla-Files“ – das Buch über Elon Musk : „In Grünheide herrscht die pure Angst“
    https://www.berliner-zeitung.de/open-source/die-tesla-files-das-buch-ueber-elon-musk-in-gruenheide-herrscht-die

    Depuis l’installation de Tesla sur le sol allemand nous sommes entrés dans un nouvel age des sectes totalitaires qui ressemble à une version accélérée high-tech de l’ère du déclin de l’empire romain.

    Il n’y a pas que le sous-empire privé de l’Ironman Musk qui menace notre existence puisque les élites ouest-européennes misent sur la victoire du bloc états-unien. Se débarasser des fanatiques de l’ultra-libéralisme nécessitera une campagne de reconquête humaniste unissant la majorité des forces populaires européennes.

    Avec le nouvel élan nationaliste états-unien sous Trump s’ouvre une fenêtre pour la création d’alliances et de coalitions humanistes européennes.

    8.4.2025 von Lena Reich - Ein Interview mit Sönke Iwersen und Michael Verfürden, die hinter die Fassade der Tesla-Gigacity geblickt und dabei zum Teil Verstörendes entdeckt haben.

    Dies ist ein Open-Source-Beitrag. Der Berliner Verlag gibt allen Interessierten die Möglichkeit, Texte mit inhaltlicher Relevanz und professionellen Qualitätsstandards anzubieten.

    Das nennt man eine glückliche Fügung. Während Elon Musk in diesen Tagen mit seinem Wirken ohne Unterlass Anlass zur Berichterstattung gibt und sich alle Welt fragt, was der reichste Mann der Welt im Schilde führt, erscheint in gebundener Form das, was die Journalisten Sönke Iwersen und Michael Verfürden in monatelanger Recherche über den einerseits gefeierten, andererseits kritisch beäugten Tech-Milliardär in Erfahrung gebracht haben. „Die Tesla-Files: Enthüllungen aus dem Reich von Elon Musk“ lautet der Titel des Buches. Es liest sich so spannend wie ein Wirtschaftskrimi.

    Herr Verfürden, Herr Iwersen, Sie haben gemeinsam ein Buch über Tesla veröffentlicht und sind jetzt Elon-Musk-Experten. Wieso hat sich der Tech-Milliardär überhaupt dazu entschlossen, den Wahlkampf von Donald Trump zu unterstützen?Verfürden: Musk hat Trump mit 250 Millionen US-Dollar unterstützt, weil sich die Schlinge um seinen Hals enger gezogen hat. Im Oktober hat er in einem Interview mit dem US-Journalisten Tucker Carlson gesagt, wie schlimm es für ihn wäre, sollte Kamala Harris die Präsidentschaftswahlen gewinnen. Musk sagte, er sei am Ende, wenn Donald Trump verliert. In seinen Worten: „If he loses, I’m fucked.“ Seit dem Amtsantritt von Trump hat Musk dann mit seinem Doge-Team alles dafür getan, dass seine Feinde verschwinden. Das waren in erster Linie Beamte, die verschiedene Ermittlungen gegen ihn und seine Unternehmen führten. Wegen Zweifel am Autopiloten, wegen des Verdachts auf Kursmanipulation, wegen Untätigkeit bei der Kontrolle von Hatespeech. Lina Kahn, die Chefin der US-Verbraucherschutzbehörde, ist zurückgetreten. Auch Gary Gensler, der Chef der US-Börsenaufsicht, ist nicht mehr im Amt.

    Musk während einer Kabinettssitzung im Weißen Haus

    Musk während einer Kabinettssitzung im Weißen HausSamuel Corum/imago

    Ihr 14-köpfiges Rechercheteam ist bei der Auswertung der Daten auf Probleme beim autonomen Fahren gestoßen. Wie sind Sie an die Daten gekommen?

    Iwersen: Der ehemalige polnische Tesla-Mitarbeiter Lukasz Krupski hat mich im November 2022 aus heiterem Himmel angerufen und mir erzählt, dass in dem Unternehmen sensible Daten einfach ungeschützt im Intranet rumliegen. Das konnte ich anfangs gar nicht glauben, aber nach einer Weile hatte ich über 100 Gigabyte. Privatadressen und Gehälter von 100.000 Mitarbeitern. Geheime Entwicklungsprojekte. Verträge. Tausende von Kundenbeschwerden zum Autopiloten.

    Was haben Sie mit den Daten gemacht?

    Iwersen: Wir haben Monate damit zugebracht, die Daten zu überprüfen. Am Ende hat Teslas eigene Rechtsabteilung bestätigt, dass sie echt sind. Wir sollten die Daten zurückschicken, bei uns löschen und Tesla dann die Löschung bestätigen. Außerdem schrieb uns der Anwalt, wir dürften die Daten nicht verwenden. Wir sind allerdings zu einer anderen Rechtsauffassung gekommen und haben gedruckt – erst einen Artikel und seither viele Dutzend mehr. Und wir haben nie wieder etwas von Teslas Anwälten gehört.

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    Sie haben Musk niemals selbst getroffen, sind ihm aber über die Datenauslesung sehr nahegekommen. Was hat Sie am meisten überrascht?

    Verfürden: Mich hat es überrascht, dass Musks System seit so langer Zeit funktioniert. Für ihn arbeiten weltweit über 100.000 Menschen, aber für Außenstehende ist Tesla eine Blackbox. Die Gewerkschaften können schwer Fuß fassen. Die Medien haben keinerlei Kontakte in die Werke, was völlig ungewöhnlich ist bei einem Unternehmen dieser Größe und Relevanz. Dass allgemein so wenig nach draußen ging, das ist wirklich total irre.
    Iwersen: Mir war nicht klar, seit wie viel Jahren Musk schon verspricht, dass man in einen Tesla einsteigen kann, sich auf die Rückbank legt und das Auto einen dann im Schlaf von A nach B fährt. Das geht schon zehn Jahre so. Wenn Leute Fragen stellen, warum es denn so lang dauert, gibt Musk einfach das nächste große Versprechen ab. Und alle glauben ihm. Er ist wirklich ein sehr guter Verkäufer.

    Sie schreiben in Ihrem Buch: „Uns fallen wenig andere Unternehmen ein, bei denen Wahrnehmung und Realität derart weit auseinanderklaffen wie bei Tesla.“ Wie meinen Sie das?

    Verfürden: Es gibt diese superlangen Excel-Tabellen mit Beschwerden von Kunden, die eigentlich nur den Schluss zulassen, dass das autonome Fahren noch sehr weit weg ist von dem, was Musk verspricht. In Gerichtsakten konnten wir sehen, was passiert, wenn jemand Musk für seine falschen Versprechen zur Verantwortung ziehen will. Dann sagen seine eigenen Anwälte, dass es doch klar sei, dass Musk nur übertrieben habe. Und dass diejenigen, die ihm geglaubt haben, selbst schuld seien.

    2022: Bundeskanzler Olaf Scholz (l.) und Elon Musk nehmen an der Eröffnung der Tesla-Fabrik in Grünheide teil.

    2022: Bundeskanzler Olaf Scholz (l.) und Elon Musk nehmen an der Eröffnung der Tesla-Fabrik in Grünheide teil.Patrick Pleul/dpa

    Musk gilt als Genie, als Revolutionär, als Arbeitstier. Er selbst nennt sich Weltverbesserer. Was ist das für eine Faszination, die von Elon Musk also ausgeht?

    Iwersen: Als wir mit der Recherche begannen, da war er noch total ikonisch. Ein Tech-Pionier, ein Rebell, ein Mann, der besessen ist von seiner Mission. Aber im guten Sinne. Seit seinem Einstieg in die Politik hat sich Musks Image dramatisch geändert. Viele halten ihn für gefährlich. Uns ist wichtig zu betonen, dass wir nicht bezweifeln, dass Musk ein Ausnahmeunternehmer ist. Ohne ihn wäre die Elektromobilität heute nicht da, wo sie ist. Ich kann mich erinnern, als die Gigafactory eingeweiht wurde. Die Fabrik sah aus wie ein Raumschiff, das gerade in Brandenburg gelandet ist. Es war ein Tempel der Technologie – ein absolutes Vorbild. Und es war Musk, der sein Raumschiff hier in Deutschland gelandet hat.

    Er ist schon ein sehr talentierter Mann …

    Iwersen: Musk hat alles neu erfunden. Seine Autos sind keine Autos, sondern Computer auf Rädern. Als Kind hat er viel gelesen, besitzt große mathematische Fähigkeiten, hat seine eigenen Computerspiele programmiert und viele seiner Ideen entstammen der Science Fiction. In Interviews kommt er immer wieder auf Isaac Asimov zu sprechen …

    … ein russisch-amerikanischer Biochemiker und Schriftsteller, der als Ur-Vater der Science Fiction gilt …

    Iwersen: … aus seiner Feder stammt „Foundation, I-Robot“. Musk hat die Bücher verschlungen. Auch Comics über Superhelden. Das betont er immer wieder. Jeder kann sehen, dass er sich irgendwie auch selbst für einen Superhelden hält. Er will, wie Spiderman und Thor, die Welt verbessern. Er braucht aber keinen Spinnenbiss oder einen Hammer. Er ist sehr intelligent und er hat sehr viel Geld. Er ist Ironman. Er nimmt die Sachen selber in die Hand und rettet die Welt. Und wenn der Superschurke nicht von der Nato oder von den US-Streitkräften gebändigt werden kann, dann klärt er das mit seiner Roboter-Flotte. Elon Musk schaltet seine Satelliten an, damit die ukrainische Armee wieder sehen kann. Weil das eben niemand anders kann. Von dieser Macht sind sehr viele Menschen angezogen, die ihn dafür bewundern. Darunter sind auch viele der Menschen, die für ihn arbeiten. Auch der Whistleblower Lukasz Krupski hat uns gesagt, er sei anfangs nicht einfach Mitarbeiter von Musk gewesen, sondern sein Jünger. Das gilt auch für Menschen in seinen anderen Unternehmen. Mit SpaceX will Musk den Weltraum erobern. Mit Neuralink will er Chips in unsere Gehirne einpflanzen, damit wir in Zukunft mit der Künstlichen Intelligenz mithalten können. Wenn man für Musk arbeitet, ist man nicht einfach bei ihm angestellt. Man ist Teil seiner Mission.

    Es ist erstaunlich, wie viel Macht Musk über jeden einzelnen seiner Mitarbeiter hat. Wie genau ist das System Tesla aufgebaut?

    Verfürden: Es gibt zwei Säulen in diesem System: Loyalität und Angst. Viele Mitarbeiter haben bei Tesla angefangen, weil sie Fans von Elon Musk oder der Technik sind. Sie wollen Teil der Mission sein und bekommen ständig eingebläut, dass alle um sie herum böse Absichten haben. Die Ölkonzerne. Die etablierten Autokonzerne. Die Medien. Die Politik. So entsteht eine Wagenburg – und in dieser Wagenburg eine ungeheure Loyalität. Das andere Führungsprinzip: Angst. Fast alle, die dort arbeiten, haben uns gesagt: „Du musst wahnsinnig gut aufpassen, was du im Werk sagst. Alles kann gegen dich verwendet werden.“ Wir wissen, dass Tesla Zehntausende von Lizenzen Code 42 erworben hat. Eine Spionagesoftware zum Schutz gegen die eigenen Mitarbeiter. Das legt einen Überwachungsstaat nahe. Und trotzdem ist es uns inzwischen gelungen, das Vertrauen der Leute zu gewinnen.

    Im Tesla Security Team in den USA arbeiten ehemalige CIA- und FBI-Leute. Gibt es etwas Vergleichbares auch in Deutschland?

    Verfürden: Ja. Tesla sucht gezielt ehemalige Polizisten, Soldaten und Geheimdienstler. In einer Stellenbeschreibung stand sogar, dass die Bewerber nicht nur innerhalb der Werksmauern Informationen sammeln sollten, sondern auch außerhalb.

    Die AfD war stark dagegen, dass Tesla nach Brandenburg kommt …

    Iwersen: Eigenartig, nicht? Die AfD war immer gegen Elektromobilität, weil sie das als Angriff auf die deutsche Mobilindustrie gesehen hat. Wenn die Betriebsratschefin Michaela Schmitz sagt, dass Tesla stolz darauf ist, 150 Nationen unter einem Dach zu beschäftigen, und nur wenige Zeit später der CEO sagt, die einzige Partei, die Deutschland retten kann, ist die AfD und Alice Weidel, müsste es doch einen Aufschrei im Betrieb geben oder die Chats im Intranet heiß laufen. Aber nichts passiert. In Grünheide herrscht die pure Angst. Informanten, die wir mittlerweile haben, haben uns gesagt: „Niemand will sich hier den Mund verbrennen. Du musst immer gewahr sein, dass jemand mitliest.“

    Erinnert Sie das auch an totalitäre Systeme?

    Verfürden: Es gibt jedenfalls Mitarbeiter, die von einer Diktatur, von Big-Brother-Tesla oder einer Art Sekte sprechen. Angestellte bekommen indoktriniert, sie sollten Elons DNA annehmen und müssten mehr so werden wie ihr Chef. Gleichzeitig leben sie in ständiger Angst, dass ihre Projekte scheitern könnten, weil Musk ihnen dazwischenfunkt.

    Immer wieder gab es Unfälle, auch in Brandenburg, bei denen der Verdacht besteht, dass der Autopilot nicht richtig agiert hat. Wie verhält sich der Konzern dazu?

    Iwersen: Fakt ist, dass es weltweit viele Kunden gibt, die sich über abruptes Beschleunigen oder Abbremsen beschweren. Die Service-Mitarbeiter sind angehalten, dazu keine schriftlichen Aussagen zu machen. Obwohl Tesla immer wieder betont, alle Daten zu sammeln, fehlen genau die zu den entscheidenden Zeitpunkten der Unfälle: Wenn also die Autos ungebremst gegen eine Mauer oder einen Baum fahren. Und das Deprimierende für die Hinterbliebenen: Ohne Daten kann man nicht beweisen, dass vielleicht der Autopilot an dem Unfall schuld war und nicht der Fahrer.

    Warum ist ein System wie Tesla im supersicheren Deutschland überhaupt möglich?

    Verfürden: Oft fehlt die Möglichkeit für die deutschen Behörden zu agieren. Ein Beispiel: Teslas versenkte Türgriffe sollen bei mehreren tödlichen Unfällen eine zentrale Rolle gespielt haben. Ersthelfer konnten Opfer nicht aus brennenden Fahrzeugen retten. Das stört offenbar auch das Kraftfahrt-Bundesamt. Aber die Genehmigung für den europäischen Markt erteilt das niederländische Pendant der Behörde. Diese Ohnmacht führt zu der absurden Situation, dass der Automobilklub ADAC Tesla-Fahrern auf seiner Homepage empfiehlt, stets einen Notfallhammer mitzuführen, um im Ernstfall die Fenster einschlagen zu können.

    Zu den Personen

    Sönke Iwersen ist Leiter des Investigativ-Ressorts beim Handelsblatt. Er ist dreifacher Träger des Wächterpreises, erhielt 2017 den Kurt-Tucholsky-Preis für Literarische Publizistik und 2019 den Deutschen Reporterpreis.

    Michael Verfürden ist seit 2020 Redakteur im Ressort Investigative Recherche beim Handelsblatt. Aufmerksamkeit erregte er insbesondere mit seinen Enthüllungen über den Skandalkonzern Wirecard.

    Lena Reich ist freie Autorin, arbeitet u.a. für arte journal und Junge Welt. Seit 2018 leitet Reich das Müll Museum in Berlin Gesundbrunnen.

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