Pilzkunde für die Hitlerjugend: Die Vereinnahmung des Waldes durch die Nationalsozialisten
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Les champignons, tous de petits nazis ;-)
12.11.2025 Gabriel Wolfson - Mit entsprechenden Publikationen wollte Hitler-Deutschland Groß und Klein dazu bringen, den „germanischen Blick“ auf die Natur wiederzugewinnen. Den Pilzen kam dabei eine besondere Rolle zu.
Auf den ersten Blick erscheint es vollkommen harmlos, womöglich etwas antiquiert, aus der Zeit gefallen, jedoch auf keine anstößige, sondern vielmehr rührselige Weise. Ein dünnes Buch, der Titel in geschwungener Schreibschrift, zahlreiche farbige Abbildungen enthaltend, die ein Mädchen mit blonden Zöpfen und rotem Kleid auf den verschiedenen Stationen ihrer abenteuerlichen Tagesreise in eine fabelhafte Welt zeigen. In „Hannerl in der Pilzstadt“ begleitet der Leser die junge Protagonistin bei der Pilzsuche in den Wald. Dort trifft sie auf den winzigen Morchelmann, welcher nach erfolgter Schrumpfung der Titelheldin ihr das verborgene Leben der sonderbaren Pilzleute im Unterholz offenbart. Nach dem gleichermaßen lehr- wie ereignisreichen Ausflug kehrt Hannerl schließlich ins traute Heim zurück.
Man könnte das Werk ohne Weiteres als gelungenen Wurf bezeichnen. Die Autorin Annelies Umlauf-Lamatsch vermochte mit ihrem fantasievollen Kunstmärchen eine spannungsreiche Handlung mit pädagogischem Mehrwert zu vereinigen.
In der farbenfrohen Pilzstadt, dem Hauptschauplatz des Geschehens, sind die Hausdächer den unterschiedlichen Hutformen von Pilzen nachempfunden, die wiederum Aufschluss über ihre Bewohner geben. „Ich wohne mit Frau und Kindern in der Morchelgasse, in einem Morchelhäuschen und trage darum die Morchelmütze“, heißt es in der Vorstellung des Morchelmanns recht konsequent. An der Spitze der Gesellschaft steht der Kaiserling, standesgemäß in einem goldgelben Palast residierend, in dem Hannerl nach bestandenen Gefahren eine Audienz gewährt wird. Indem die kleine Heldin mit Vertretern des Pilzvolkes, deren Charaktere kategorisch der botanischen Natur ihres jeweiligen Pilznamens entsprechen, zusammentrifft, lernt sie – und damit ihre lesenden Begleiter – auf eine einprägsame Art die vielfältige Pilzwelt kennen und zu bestimmen.
Der große Wermutstropfen, der diese erzieherische Absicht verbittert, ist ihre eigentliche Grundierung. Nicht die unbefangene Wissensvermehrung für Groß und Klein gab den Anlass für die Publikation, sondern die Sorge um „große volkswirtschaftliche Werte und noch größere Nahrungs- und Heilwerte“, die jährlich durch mangelnde Kenntnisse wie Sammelbereitschaft eingebüßt würden. Zur Vermeidung derartiger Verluste, zur Vermittlung der hierfür notwendigen Kompetenzen sei vorliegendes Büchlein vorgesehen, wie es im Vorwort unumwunden heißt. Als verantwortlich zeichnete Bernhard Hörmann, Reichsamtsleiter im Hauptamt für Volksgesundheit.
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Bernhard Hörmann, Reichsamtsleiter im Hauptamt für Volksgesundheit, ein fanatischer Nationalsozialistwikimedia commons
Pilze sammeln für die „Volkskraft“
Der Mediziner, ein fanatischer Nationalsozialist, hatte einst zu den aufstrebenden gesundheitspolitischen Entscheidungsträgern gehört, bis ihm im Zuge ungünstig verlaufener Machtkämpfe zweitrangige Funktionen zugewiesen wurden, welche er gleichwohl mit unvermindertem Diensteifer erfüllte.
Eine solche Position stellte die Reichsarbeitsgemeinschaft „Ernährung aus dem Wald“ dar, die Hörmann zum Zeitpunkt der Buchherausgabe 1941 leitete. Der im selben Jahr von ihm herausgegebene und bearbeitete „Pflanzen-Atlas I“, versehen mit allerhand Nützlichkeiten wie einem Pilzsammelkalender, unterstrich die auf die Erfassung weiterer Zielgruppen gerichteten Anstrengungen.
Anhebend mit einem pathetischen, auf die umfassenden Naturkenntnisse der Urahnen verweisenden Prolog wird gleichsam der profane Zweck dieser historischen Anleihe artikuliert: den germanischen Blick auf Wald und Flur „wiedergewinnen zum Nutzen unserer Volkskraft, unserer Volkswirtschaft und unserer Volksgesundheit“. Für die Erlangung derartig hehrer Ziele seien Pilze überaus wertvolle Verbündete, zum einen aufgrund ihres hohen Nährwerts („den meisten Gemüsen mindestens gleichzusetzen“), zum anderen wegen ihres Geschmackswerts („die besten Pilzsorten vielen Gemüsen überlegen“).
Sammelhinweise für die Hitlerjugend
Im Angesicht der durch Lebensmittelrationalisierungen gekennzeichneten Ernährungslage während der Kriegsjahre galt es viel, die nährstoffreichen Eigenschaften der Pilze in große Kreise der Bevölkerung zu tragen. Als vielversprechendes Mittel hierfür erkor Hörmann die Distribution von Pilzratgebern, die in leicht verständlicher Sprache die Speise- von den Giftpilzen zu unterscheiden und erstere fachgemäß wie schmackhaft zuzubereiten lehren sollten.
Von außerordentlicher Popularität erwies sich die „Einführung in die volkstümliche Pilzkunde“, ein bereits 1928 erschienenes und nach Kriegsbeginn ungemein begehrtes Nachschlagewerk. Nicht nur Privatpersonen bekundeten ihr Interesse. Als wenige Monate nach Entfesselung des Weltenbrandes eine Dienstvorschrift mit Sammelhinweisen für die Hitlerjugend angedacht war, wurde die Reichsjugendführung auf eben jenen Ratgeber verwiesen.
Ein anderer, das „Taschenbuch der Pilze“, sollte bis 1940 gar vierzehn Auflagen erfahren. Über die praktische Erkenntnismehrung hinaus fand sich in diesem auch Raum für die ästhetische Komponente der Pilzsuche. Naturromantische Klänge stimmen an, wenn die „heimatlichen Waldungen“ als eine „wahre Sinfonie von Rot und Gelb und Rotbraun“ beschrieben werden. Indes wirkt die Titulierung der in ihnen verborgenen Objekte der Begierde – „bleichsüchtige Florenkinder“ – etwas verdrießlich.
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Auch für die Hitlerjugend war eine Dienstvorschrift mit Sammelhinweisen für Pilze angedacht. Photo12/imago
Lehrgänge, Pilzwanderungen, mykologische Vorträge
Zu einer etwas gefälligeren Formulierung neigte die Deutsche Gesellschaft für Pilzkunde, die ihre bedingungslose Bereitschaft zur Hebung der „Waldschätze“ mittels eines 1935 datierten Merkblatts anmeldete. An das vaterländische Pflichtgefühl wiederholt appellierend, spornte der Vorstand zu einer Intensivierung der Bemühungen auf dem „Gebiet der volkstümlichen Pilzaufklärung“ an. Lehrgänge, Lehrwanderungen, Vortragstätigkeiten wurden als bewährte Formate gepriesen, doch als das wirkungsvollste Resultat patriotisch-mykologischer Emsigkeit hatte sich die Bemannung von Pilzberatungsstellen herausgestellt.
In der Reichshauptstadt zeugte von der Gültigkeit dieser Empfehlung der enorme Publikumsandrang in der Haupt-Pilzstelle am Botanischen Museum. Die noch zu Vorkriegszeiten erfolgte Errichtung ging auf den unermüdlichen Einsatz ihres künftigen Leiters zurück, Eberhard Ulbrich.
Seit der Jahrhundertwende ununterbrochen am Dahlemer Institut tätig, zunächst als Hilfsassistent, schließlich als Professor, verschrieb der gebürtige Berliner Gelehrte sein wissenschaftliches Streben gänzlich der Pilzwissenschaft. Erworbene Erkenntnisse vermittelte er in Hörsälen wie Volkshochschulen, auf Führungen, Ausstellungen, in den Kriegsjahren aber vor allem in der Königin-Luise-Straße.
Der ihm vorauseilender Ruf als Pilzsachverständiger machte Ulbrich zu einem gefragten Ansprechpartner, dessen Rat sowohl von Pilzgängern als auch in den Kabinetten der Entscheidungsmacht gefragt war. Als im Herbst 1944 der Präsident des Reichsgesundheitsamtes den Fachmann um Mitarbeit bei der Herausgabe eines aktualisierten Pilzratgebers ersuchte, verwehrte der Angefragte sich nicht, bat jedoch, seine Arbeitsbelastung durch „tägliche mündliche und schriftliche Auskunftserteilungen an die zahlreichen Besucher unserer Pilz-Auskunftstelle“ zu berücksichtigen.
Die kurz darauf beendete Fertigstellung der Neuausgabe begründete er mit der Notwendigkeit, die angesichts der „Terrorangriffe“ entstandenen Buchverluste auszugleichen. Er selbst war leidgeprüft: Arbeitsstätte sowie Wohnung fielen mitsamt unzähliger Unterlagen dem Luftkrieg zum Opfer.
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Spätestens gegen Ende des Krieges wurde offensichtlich, dass Pilze in der Verpflegung keine prominente Rolle spielen würden, so unser Autor.Granger/imago
Von der unübersehbaren Verschärfung des Geschehens an der Heimatfront wusste nicht minder eine hochrangige Arbeitsgruppe zur Koordination der Verwertbarkeit von Pilzen als Lebens- und Futtermittel zu berichten. In ihrem Abschlussbericht 1945 musste die Kommission unweigerlich einräumen, dass die Pilzernte mit 5,5 Millionen Kilogramm deutlich schwächer als erwartet ausgefallen sei. Sogar die Rekrutierung der Schuljugend und Lehrerschaft als Sammler und Inspekteure habe nicht zur Steigerung des Pilzertrages geführt; zu gravierend hätten sich Treibstoffmangel und Desinteresse der Aufgerufenen ausgewirkt.
Der Untergang des Großdeutschen Reiches bedeutete zwangsläufig das Ende der mit ungeheuerlichem organisatorischen Aufwand geschmiedeten Zweckallianz aus ideologisch gefestigten Verwaltungsbeamten, mykologischen Enthusiasten und politisch opportunen Schriftstellern.
Von der rückstandslosen Auflösung dieses unheiligen Paktes und dem Anbruch neuer Zeiten kündigte untrüglich die 1946 gedruckte Version von Hannerls Erlebnissen. Neben der kompletten Streichung der Vorrede kam es zu einer behutsameren Modifizierung des Nachworts. So werden anstelle von „Volksgenossen“ inzwischen „Mitmenschen“ adressiert, deren Naturgänge auch nicht mehr der „Sicherung des deutschen Lebens“ dienen, sondern schlichtweg einer reichlichen Pilzausbeute. Unverkennbar sollte der Wald fortan wieder überparteilich sein.
Gabriel Wolfson ist Doktorand der Geschichtswissenschaft an der Eberhard Karls Universität Tübingen.
