• Polizeigewalt in Frankreich: So aggressiv wie Le Pen | ZEIT ONLINE
    https://www.zeit.de/politik/ausland/2023-04/frankreich-polizeigewalt-innenminister-gerald-darmanin-rentenreform
    https://img.zeit.de/politik/ausland/2023-04/frankrei-polizeigewalt-demonstrationen-gerald-darmanin-innenminister/wide__1300x731

    Wie viele verletzte Polizisten und Demonstrierende wird es heute wieder geben? So lautet in Frankreich eine inzwischen übliche Frage an den vielen Protesttagen: Auch die Demonstrationen am Donnerstag gegen die Rentenreform im Nachbarland endeten in Gewalt – mit aufgebrachten Demonstrierenden und einzelnen Steinewerfern auf der einen Seite, mit Granatenwürfen, Gummigeschossen und Tränengaseinsätzen auf der Seite der Polizei. Für kommenden Donnerstag rufen die Gewerkschaften zum zwölften Aktionstag auf. Inzwischen aber sagen mehr als die Hälfte der Franzosen, dass sie „Angst vor körperlicher Gewalt“ hätten, wenn sie demonstrieren gehen.

    Verantwortlich für diese Eskalation ist ein Mann: Innenminister Gérald Darmanin. Ungeachtet der internationalen Kritik an der aggressiven Taktik seiner Polizei hat der radikalste Mann von Emmanuel Macron offenbar ein Ziel: den Präsidenten zu beerben.

  • Corona-Regeln in Frankreich : #autoritäres_absurdistan | ZEIT ONLINE
    Les règles du covid en France : #absurdistan autoritaire
    https://www.zeit.de/politik/ausland/2020-11/corona-regeln-frankreich-lockdown-polizei-quarantaene-attest-joggen-sport
    https://img.zeit.de/politik/ausland/2020-11/corona-regeln-frankreich-jogging/wide__1300x731

    Atteste, um das Haus zu verlassen, nur vor der Tür joggen, Wachmänner für Spielzeug: Frankreichs Lockdown ist so repressiv, dass auch sinnvolle Regeln in Verruf geraten.
    Von Annika Joeres

    Als Betty Bellion-Jourdan vor wenigen Tagen im westfranzösischen Biarritz aus dem Meer stieg, warteten vier Polizisten auf sie: Die 93-Jährige habe im Lockdown zwar das Recht, am Strand zu sitzen, nicht aber, im Wasser zu schwimmen. Seit Jahrzehnten krault die alte Dame täglich im Atlantik, auch in der winterlichen Kälte, und lindert so ihre Neuropathie in den Beinen, eine Nervenkrankheit. „Kein Spezialist, keine Massage kann mich so heilen, wie das Meer es tut“, sagte Bellion-Jourdan. Ein Polizist, so ist es auch in einem Video zu sehen, erwiderte nur: „Nach Artikel 46 der Verordnung 20-10 ist jeder Wassersport verboten.“ Bellion-Jourdan sollte eine Strafe von 135 Euro bezahlen, sollte sie sich dem Meer erneut nähern.

    Das Polizeiaufgebot für eine Handvoll Senioren am kilometerlangen Strand von Biarritz ist eine der Folgen vieler autoritärer Corona-Regeln der Regierung in Paris. Bürgerinnen und Bürger müssen sich jedes Mal, wenn sie das Haus verlassen, ein selbst unterschriebenes Attest ausstellen, warum sie vor die Tür treten. Etwa ein Attest, um die Kinder zur Schule zu bringen, ein zweites, um Hustensaft in der Apotheke zu holen, ein drittes, um Baguette einzukaufen, ein viertes, um zur Arbeit zu gehen. Auch bewegen können sich die Franzosen nur eingeschränkt: Sie dürfen nur eine Stunde Sport treiben, und auch nur im Radius von einem Kilometer. Wanderungen, Radtouren, Schwimmengehen sind unmöglich.

    Das führt dann etwa dazu, dass sich Joggerinnen auf den Straßen drängeln, statt sich in der Natur aus dem Weg zu gehen. Und dazu, so vermuten es Mediziner, dass Menschen auch den sinnvollen Regeln misstrauen, wie etwa der, die üblichen Begrüßungsküsschen bleiben zu lassen. Das bestätigt auch eine aktuelle Studie: „Mehr als 60 Prozent der Franzosen geben an, sich nicht mehr an die Regeln zu halten – doppelt so viele wie beim ersten Lockdown. Jeder Zweite gibt an, seit dem Lockdown trauriger zu sein.“

    An diesem Donnerstagabend wird Premierminister Jean Castex die Regeln für die kommenden Wochen verkünden: Voraussichtlich, so kommentierten zuvor Mitglieder der Regierung in Interviews, wird sich nichts an den Bestimmungen ändern. Dabei ist das Vertrauen der Bevölkerung auf einem europäischen Tiefstand. Zwei von drei Befragten glauben nicht, dass Präsident Emmanuel Macron sie gut durch die Corona-Krise führen wird. Denn die französische Bilanz ist verheerend: Obwohl das Nachbarland im Frühjahr und nun erneut eine der autoritärsten Antworten auf die Corona-Krise gab, ist die Zahl der Toten inzwischen höher als im lockeren Schweden.

    „Der Grat, außerhalb des Gesetzes zu stehen, ist sehr schmal geworden“

    Vor zwei Wochen hatte Macron einen zunächst vierwöchigen Lockdown verkündet. Darin haben nur Supermärkte und Apotheken geöffnet, kleinere Geschäfte wie Buchhandlungen oder Schuhläden sind geschlossen. Anders als beim ersten Lockdown im Frühjahr protestierten viele Kundinnen und Händler gegen die Regierung, auch einige Bürgermeister verabschiedeten Erlasse, nach denen alle Einzelhändler öffnen können. Aber die Regierung beschloss nur ein weiteres Verbot: Fortan dürfen auch Supermärkte keine Bücher, Spielzeuge, Kleidung und Schuhe mehr verkaufen. Wahlweise stehen dann Warnschilder oder Wachmänner vor den Winterstiefeln oder Regalen mit Teddybären, damit die Kunden nichts Verbotenes kaufen.

    Die Opposition – links wie rechts – kritisierte die Regeln als „einsame Entscheidungen ohne Sinn und Verstand“. Die Philosophin und Autorin Aïda N’Diaye sagt: „Man möchte lachen, aber wir sind in einer gefährlichen Absurdität angelangt.“ Gerade das Prinzip, sich Atteste ausstellen zu müssen, findet die Professorin gefährlich: Es verankere die permanente Selbstkontrolle, die Rechtfertigung vor dem Staat, in den Köpfen der Menschen. „Der Grat, außerhalb des Gesetzes zu stehen, ist sehr schmal geworden. Dazu reicht schon ein Spaziergang ohne Stoppuhr.“

    Macron hatte die Atteste in seiner Ansprache zum nochmaligen Lockdown als unausweichlich präsentiert, ohne Gründe zu nennen. Für N’Diaye führt diese repressive Politik allerdings zum Gegenteil des Gewünschten. Erwachsene würden wie Kinder behandelt. In der Folge reagierten Erwachsene eben auch wie Kinder: Sie begehrten auf und brächen auch sinnvolle Regeln, wie beispielsweise Abstand zu halten. „Ich beobachte Menschenmengen auf der Straße ohne Abstand, aber dafür mit zahlreichen Attesten.“

    Hinzu kommt: Frankreich hat außer dem rechtsextremen Rassemblement National kaum eine hörbare Opposition. Weder Konservative noch Sozialisten haben charismatische Köpfe, die Macrons Alleingängen etwas entgegensetzen könnten. Die Politikwissenschaftlerin Chloé Morin hat frühere Premierminister Frankreichs beraten und nun ein Buch darüber verfasst, wie technokratische Entscheidungen im Élysée-Palast getroffen werden – eine Publikation, von der ihr viele abrieten, weil sie sich ihre Karriere verbauen könnte.

    Morin sieht in der Corona-Politk eine „demokratische Apathie“. Sie prophezeit, dass langfristig der rechtsextreme Rassemblement National von den einsamen Entscheidungen an der Spitze des Staates profitiert. „Seine Parteichefin Marine Le Pen kann so erfolgreich ihre Anhänger gegen die Elite mobilisieren, weil es ein undurchsichtiges System gibt, an dem normale Menschen nicht teilhaben und das ihren Interessen widerspricht.“ Die hohen Beamten und Macrons Berater stammten alle aus der Eliteschule ENA, die sich vor allem durch ihre Gleichförmigkeit auszeichnen: Es sind meist Männer aus gut situierten Pariser Familien, deren Väter ebenfalls hohe Beamte waren. Morin bezeichnet sie als „Aristokratie“. Ihnen sei nicht bewusst, was so offensichtlich sei: dass es für eine fünfköpfige Familie in einer Dreizimmerwohnung eines grauen Vorortes unerträglich ist, nur eine Stunde am Tag an die frische Luft zu können.

    Tatsächlich ist Macrons Corona-Politik beinahe monarchisch. Weitreichende Beschlüsse über einen Lockdown oder eine Ausgangssperre werden in einem „Verteidigungsrat“ getroffen, in dem einige Minister, Verwaltungsbeamte und Offiziere sitzen, das Parlament kann nicht mitreden, über nichts abstimmen. „Eine Handvoll Menschen entscheidet im Geheimen darüber, ob das Land geschlossen wird – ohne jegliche Kontrolle“, sagt Morin. Am Ende verkündet der 42-jährige Präsident in den Hauptnachrichten seine Entscheidung – ohne, dass Fragen zugelassen werden. Der sanitäre Ausnahmezustand wurde für fünf Monate verabschiedet und er gibt der Regierung so weitreichende Befugnisse, dass die Liga der Menschenrechte (LDH) – eine NGO, die viele Erfolge vor Gericht für bürgerliche Rechte erstritten hat – heute sagt: „Wir können keine juristischen Schritte gegen Regeln des Lockdowns unternehmen, weil der Ausnahmezustand alles erlaubt.“

    Die Menschen finden einen Weg

    Eigentlich hatte der wissenschaftliche Beirat die Regierung Macron aufgefordert, Bürgerinnen und Bürger mehr an den weitreichenden Corona-Entscheidungen zu beteiligen. Das hat sie bislang nicht getan. Aber manche Bürgermeister versuchen der Pariser Allmacht etwas entgegenzusetzen. Der grüne Stadtchef von Grenoble, einer 160.000-Einwohner-Gemeinde in den Alpen, hat einen zufällig ausgelosten Bürgerrat einberufen: 120 Bürgerinnen und Bürger jedes Alters können ihre Sorgen benennen und darüber beraten, wie die Corona-Regeln verbessert werden können – auch wenn lokal wenig Spielraum bleibt. In einer ersten Runde am vergangenen Wochenende hat die Gruppe darüber diskutiert, wie alleinstehenden Menschen im Lockdown geholfen werden kann und wie sie weiterhin Sport treiben können.

    Landesweit arrangieren sich die Menschen mit den Regeln aus Paris: Sie füllen mehrfach ihre Atteste aus. Auf abgelegenen Wegen kreuzen sich Läuferinnen, wohl wissend, dass sie dort laut Gesetz nicht sein dürfen. In den Supermärkten holen Angestellte das Spielzeug hinter den Absperrungen hervor: Bauklötze und Puppen können im Internet gekauft und dann an der Kasse abgeholt werden.

    Und Schwimmerin Betty Bellion-Jourdan hat von ihrem Arzt Guillaume Barucq ein Attest erhalten, dass sie für ihre Gesundheit auf das Schwimmen angewiesen ist. „Im Meer riskiert niemand, sich mit Corona anzustecken, es ist umsonst und fördert die Gesundheit,“ sagt Barucq. Er empfange in seiner Praxis zunehmend Patientinnen und Patienten, die deprimiert seien und körperlich schwächer würden. Alle Menschen benötigten den Sport, um ihre Abwehrkräfte zu stärken, auch gegen Corona. „In was für einem Staat leben wir, in dem schwimmende Senioren mit einem Polizeiaufgebot aus dem Wasser gezogen werden?“, fragt der Arzt. Inzwischen hat die Sportministerin in Paris klargestellt, Menschen mit chronischen Krankheiten könnten weiterhin Sport treiben. Dafür benötigten aber alle, wie Bellion-Jourdan auch: ein neues Attest.

    • Pas mieux !

      « Le bilan français est catastrophique : bien que Paris ait au printemps et actuellement livré une réponse parmi les plus autoritaires contre la pandémie, le nombre de morts y ait plus élevé qu’en Suède où les mesures sont des plus libérales. »

      « La politique de Macron est quasi monarchique. Des décisions aux lourdes conséquences sont adoptées par un conseil de Défense qui comprend quelques ministres, des fonctionnaires et des officiers. Le parlement n’a pas son mot à dire et ne peut entériner les décisions. »