Früherer IS-Kindersoldat seit fast vier Jahren in Berlin in U-Haft

/berlin-untersuchungshaft-is-kindersolda

  • Früherer IS-Kindersoldat seit fast vier Jahren in Berlin in U-Haft
    https://www.rbb24.de/panorama/beitrag/2021/02/berlin-untersuchungshaft-is-kindersoldat-un-ausschuss-kinderrechte.html


    1984 Iranian volunteer children in front line of The war.

    Fall jetzt beim UN-Kinderrechtsausschuss - Früherer IS-Kindersoldat seit fast vier Jahren in Berlin in U-Haft

    26.02.21 | 12:22 Uhr

    Seit Mai 2017, also seit fast vier Jahren, sitzt ein mutmaßliches früheres IS-Mitglied in Berlin in Untersuchungshaft - damals war der junge Mann noch minderjährig. Jetzt befasst sich der UN-Ausschuss für Kinderrechte mit seinem Fall. Von Ulf Morling

    Seit November 2018 verhandelt der 1. Strafsenat des Berliner Kammergerichts gegen Raad A. (45) und Abbas (21). Es sind Vater und Sohn, beide Iraker sollen laut Bundesanwaltschaft IS-Mitglieder gewesen sein in ihrer Heimatstadt Mossul. Vor allem sollen sie beide an der Hinrichtung eines Offiziers einer paramilitärischen Polizeieinheit beteiligt gewesen sein, wenige Monate nach der Machtergreifung des IS in Mossul im Juni 2014.

    Raad A. soll zu den schwer bewaffneten und vermummten Männern gehört haben, die die Hinrichtung durchführten. Der mitangeklagte Sohn Abbas beschimpfte zuvor das Opfer und bespuckte es. Er war damals 15 Jahre alt und nach Überzeugung von Menschenrechtlern Kindersoldat. Für ihn gilt das Jugendstrafrecht, das den Erziehungsgedanken für den Täter in den Vordergrund stellt. Trotzdem gab es noch nie einen Jugendlichen, der länger mit der Unschuldsvermutung in Untersuchungshaft in der Jugendstrafanstalt Plötzensee saß: Im Mai werden es vier Jahre.

    Abbas in IS-Video zu sehen

    Oktober 2014: Eine Prozession von IS-Männern zieht durch Mossul. Mindestens neun waffenstarrende Männer führen in ihrer Mitte einen Mann, bekleidet mit einem weißen langen Hemd. Seine Hände sind hinter dem Rücken gefesselt. Hupende Autos folgen, stille Menschen begleiten den Zug. Der Propaganda-Filmtrupp des IS filmt alles. Auf dem Quassem-al-Khayat-Platz kommen die Männer leicht erhöht zum Stehen. Im Video ist Abbas zu sehen, er wirkt wie ein Kind, seine Stimme eher hoch, er ist der einzige, der keinen Bart tragen kann. Er ist 15. Abbas tritt im roten Pullover an den Todgeweihten heran, hebt den rechten Zeigefinger und beleidigt ihn. „Dank des Islamischen Staates haben sie dich hierher gebracht!“, sagt er, spuckt das Opfer an und verschwindet in der Menge. Dann fallen die Schüsse. Abbas Vater soll unter den maskierten Bewaffneten gewesen sein.

    Monate später flüchtet die Familie Abbas über die Türkei bis Berlin. Abbas lernt schnell Deutsch, hilft anderen Flüchtlingen im Heim beim Erlernen der Sprache, er lernt seine erste große Liebe kennen. Vater Raad, seine Mutter und die beiden kleinen Brüder werden als Flüchtlinge anerkannt. Doch dann werden Vater und Sohn im Mai 2017 festgenommen. Erst gibt es den Vorwurf des Rauschgifthandels. In dem Prozess erkennt der Richter Zeugen als Lügner und spricht Raad und Abbas frei. Doch sie bleiben in Untersuchungshaft. Der Vorwurf der Bundesanwaltschaft: Sie waren Mitglied im IS, an der Hinrichtung beteiligt und Raad soll in Berlin einen Selbstmordattentäter für die U-Bahn gesucht und für den IS geworben haben.

    Islamisten oder nicht?

    „Welche Handlungsoption hat so ein 15-Jähriger, umringt von neun schwer bewaffneten IS-Kämpfern? Soll er dann sagen: Das mache ich nicht?“, fragt Verteidiger Sven Peitzner. Abbas sei 15 Jahre alt gewesen, habe sein ganzes Leben lang nur Gewalt und Krieg erlebt: ob den Irak-Krieg und Saddam Husseins Sturz, den Bürgerkrieg, der Kampf mit den Islamisten. „Vater und Sohn sind keine religiösen Menschen“, sagt Abbas zweiter Verteidiger C. Marc Höfler. Im Gegenteil: Die Familie sei gut betucht und habe hohe Funktionäre im Saddam-Regime gehabt. Vater Raad A. komme aus der Nomenklatura der Baathisten, der Partei Saddam Husseins.

    Die Bundesanwaltschaft möchte zu den erhobenen Vorwürfen keine Stellung nehmen. Schließlich habe man beim Prozessbeginn vor dem 1. Senat des Berliner Kammergerichts Auskünfte gegeben. Das müsse genügen, heißt es aus Karlsruhe. Eine monatelange Interviewanfrage, um mit Abbas selbst zu sprechen über sein Leben im Irak und seine Einstellungen, wird von dem jungen Mann selbst sehr begrüßt, ebenso - und das ist selten - vom Leiter der Jugendstrafanstalt. Auch Justizsenator Dirk Behrendt stimmt letztlich zu.

    Doch der vorsitzende Richter des 1. Strafsenats verweigert schließlich den Zugang zum Jugendgefängnis. Zeugen könnten über die öffentlichen Äußerungen von Abbas unter Druck gesetzt, das Verfahren beschädigt werden, sagt er, obwohl ohnehin bei einem Interview unter Hochsicherheitsbedingungen drei Polizeibeamte anwesend gewesen wären. Selbst auf die Frage, ob jemals thematisiert wurde in den bisher 148 Verhandlungstagen, ob Abbas mit damals 15 Jahren nicht ein Kindersoldat gewesen sei, verweigert der Richter jede Information. Diese Auskunft könne den Eindruck der Befangenheit erwecken, wird mitgeteilt.

    Rekrutierung von unter 18-Jährigen völkerrechtlich verboten

    Vier Jahre Untersuchungshaft bedeutet für Abbas unter anderem: keine Ausbildung, keine umfassende Schule. Denn der Jugendliche ist ein Untersuchungsgefangener, der zweimal wöchentlich einen Prozesstermin hat. Außerdem unterliegt er strengen Sicherheitsauflagen. „Bei so einer langen Haftzeit hätte man ihm ruhig eine Ausbildung angedeihen lassen können. Das Problem ist, dass er zweimal die Woche beim Gericht ist“, sagt der Leiter der Jugendhaft, Bill Borchert.

    Als Kinderrechtsschutzorganisationen von Abbas erfahren, sind die Mitarbeiter betroffen. Ein solcher Umgang sei höchst fragwürdig. Denn Abbas sei, ob er freiwillig bei IS mitgemacht habe oder nicht, ein Kindersoldat gewesen. „Für bewaffnete Gruppen und Milizen wie den IS ist die Rekrutierung von unter 18-jährigen verboten“, sagt die irakkundige Henriette Hänsch von Terre des Hommes. Das sei völkerrechtlich so festgelegt. Ob die Kinder freiwillig dort mitmachten oder nicht, sie seien Kindersoldaten.

    Fall liegt beim UN-Kinderrechtsausschuss

    Erst Anfang Februar wurde dem UN-Ausschuss für Kinderrechte in Genf der Fall Abbas von dem „Deutschen Bündnis Kindersoldaten“ vorgelegt." Bekannt wurde er durch diese Recherche, weil es keinerlei Statistiken gibt, wie viele Kindersoldaten in Deutschland Zuflucht suchten. Die UN muss nun prüfen, ob Deutschland gegen die Kinderrechtskonvention von 1989 verstößt. Damit wäre international geltendes Recht verletzt.

    Noch vor einem möglichen Schuldspruch des Kammergerichts wird bereits die Abschiebung des inzwischen 21-jährigen Abbas in den Irak betrieben. Dort droht ihm zumindest Folter, sagt das Berliner Verwaltungsgericht und stoppte bisher alle Versuche der Abschiebung. Im letzten Sommer versuchte Abbas wegen dieser Pläne einen Suizid und überlebte nur knapp.

    Bis April ist derzeit der Prozess in Berlin terminiert.

    * Der Name des Vaters wurde von der Redaktion geändert. Der rbb nennt dagegen den richtigen Namen des jungen Mannes auf dessen ausdrücklichen Wunsch.

    #Iraq #Allemagne #guerre #daech #enfants_soldats