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  • KAPITALISMUS UND ARBEITERIMMIGRATION
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    Der Kapitalismus hat eine besondere Art der Völkerwanderung entwickelt. Die sich industriell rasch entwickelnden Länder, die mehr Maschinen anwenden und die zurückgebliebenen Länder vom Weltmarkt verdrängen, erhöhen die Arbeitslöhne über den Durchschnitt und locken die Lohnarbeiter aus den zurückgebliebenen Ländern an.

    Hunderttausende von Arbeitern werden auf diese Weise Hunderte und Tausende Werst (Längenmaß im zaristischen Russland, ein Werst entsprach 1.066,78 Meter – jW) weit verschlagen. Der fortgeschrittene Kapitalismus zieht sie gewaltsam in seinen Kreislauf hinein, reißt sie aus ihrem Krähwinkel heraus, macht sie zu Teilnehmern an einer weltgeschichtlichen Bewegung, stellt sie der mächtigen, vereinigten, internationalen Klasse der Industriellen von Angesicht zu Angesicht gegenüber.

    Es besteht kein Zweifel, dass nur äußerstes Elend die Menschen veranlasst, die Heimat zu verlassen, und dass die Kapitalisten die eingewanderten Arbeiter in gewissenlosester Weise ausbeuten. Doch nur Reaktionäre können vor der fortschrittlichen Bedeutung dieser modernen Völkerwanderung die Augen verschließen. Eine Erlösung vom Joch des Kapitals ohne weitere Entwicklung des Kapitalismus, ohne den auf dieser Basis geführten Klassenkampf gibt es nicht und kann es nicht geben. Und gerade in diesen Kampf zieht der Kapitalismus die werktätigen Massen der ganzen Welt hinein, indem er die Muffigkeit und Zurückgebliebenheit des lokalen Lebens durchbricht, die nationalen Schranken und Vorurteile zerstört und Arbeiter aller Länder in den großen Fabriken und Gruben Amerikas, Deutschlands usw. miteinander vereinigt.

    Amerika steht an der Spitze der Länder, die Arbeiter importieren. Hier die Angaben über die Zahl der nach Amerika Auswandernden:

    – im Jahrzehnt 1821–1830 99.000 Auswanderer,

    – im Jahrzehnt 1831–1840 496.000 Auswanderer (…),

    – im Jahrzehnt 1891–1900 3.703.000 Auswanderer,

    – in den neun Jahren 1901–1909 7.210.000 Auswanderer.

    Der Umfang der Auswanderung hat gewaltig zugenommen und verstärkt sich ständig. In den fünf Jahren von 1905 bis 1909 sind durchschnittlich über eine Million Menschen im Jahre nach Amerika (es handelt sich hier nur um die Vereinigten Staaten) übergesiedelt.

    Interessant ist dabei die Veränderung in der Zusammensetzung der Einwanderer (der Immigranten, d. h. sich in Amerika Ansiedelnden). Bis zum Jahre 1880 überwog die sogenannte alte Immigration, aus den alten Kulturländern England, Deutschland, zum Teil Schweden. Sogar bis 1890 haben England und Deutschland zusammen mehr als die Hälfte aller Immigranten gestellt.

    Mit dem Jahre 1880 beginnt eine unglaublich rasche Zunahme der sogenannten neuen Immigration, aus dem östlichen und südlichen Europa, aus Österreich, Italien und Russland. Aus diesen drei Ländern kamen Immigranten nach den Vereinigten Staaten von Nordamerika:

    – im Jahrzehnt 1871–1880 201.000,

    – im Jahrzehnt 1881–1890 927.000,

    – im Jahrzehnt 1891–1900 1.847.000,

    – in den neun Jahren 1901–1909 5.127.000.

    So wird den zurückgebliebensten Ländern der Alten Welt, die in ihrer ganzen Lebensordnung die meisten Überreste der Leibeigenschaft bewahrt haben, sozusagen gewaltsam Zivilisation beigebracht. Der amerikanische Kapitalismus entreißt Millionen von Arbeitern des zurückgebliebenen Osteuropa (und darunter Russland, das 594.000 Immigranten in den Jahren 1891 bis 1900 und 1.410.000 in den Jahren 1900 bis 1909 stellte) ihren halb mittelalterlichen Verhältnissen und stellt sie in die Reihen der fortgeschrittenen, internationalen Armee des Proletariats. (…)

    Deutschland, das mit Amerika mehr oder weniger Schritt hält, verwandelt sich aus einem Land, das Arbeiter abgegeben hat, in ein Land, das fremde Arbeiter heranzieht. Die Zahl der deutschen Immigranten in Amerika, die in dem Jahrzehnt von 1881 bis 1890 auf 1.453.000 angestiegen war, fiel in den neun Jahren von von 1901 bis 1909 auf 310.000. Dagegen betrug die Zahl der ausländischen Arbeiter in Deutschland in den Jahren 1910/1911 695.000 und in den Jahren 1911/1912 729.000. (…)

    Je zurückgebliebener ein Land, desto mehr ungelernte, landwirtschaftliche Arbeiter liefert es. Die fortgeschrittenen Nationen reißen sozusagen die besten Verdienstmöglichkeiten an sich und überlassen die schlechteren den wenig zivilisierten Ländern. Europa im allgemeinen (die »übrigen Länder«) liefert Deutschland 157.000 Arbeiter, davon über acht Zehntel (135.000 von 157.000) Industriearbeiter. (…)

    Die Bourgeoisie hetzt die Arbeiter der einen Nation gegen die der andern auf und sucht sie zu trennen. Die klassenbewussten Arbeiter, die begreifen, dass die Zerstörung aller nationalen Schranken durch den Kapitalismus unumgänglich ist, bemühen sich, die Aufklärung und Organisierung ihrer Genossen aus den zurückgebliebenen Ländern zu unterstützen.

    Wladimir Iljitsch Lenin: Kapitalismus und Arbeiterimmigration. Sa Prawdu Nr. 22, 29. Oktober 1913.