Patentschutz für Impfstoffe vorübergehend aussetzen !

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  • Patentschutz für Impfstoffe vorübergehend aussetzen! Teil 1
    https://www.heise.de/tp/features/Patentschutz-fuer-Impfstoffe-voruebergehend-aussetzen-6050368.html?seite=all

    22. Mai 2021 Wolfgang Lieb - Dem Leben von Hundertausenden und der Gesundheit von Milliarden Menschen muss höchste Priorität eingeräumt werden.

    „Höchste Priorität für geistiges Eigentum! - Patentschutz für Impfstoffe sichern“, das hat Friedhelm Ost in seinem Beitrag auf dem Blog der Republik gefordert. Einspruch, Euer Ehren! Halten zu Gnaden: Höchste Priorität haben die Gesundheit von Milliarden Menschen und das Leben von Hunderttausenden auf dem Globus - und deshalb plädiere ich für eine vorübergehende Freigabe der Patente für Impfstoffe, solange die Corona-Pandemie nicht eingedämmt ist.

    Ich gehöre somit zu den (Friedhelm Ost nutzt diesen auch historisch vorbelasteten Begriff) „Gutmenschen“, die für die Aussetzung des Patentschutzes für Corona-Impfstoffe eintreten. Und ich befinde mich dabei in guter Gesellschaft, wie etwa mit dem amerikanischen Präsidenten Joe Biden, mit dem UN-Generalsekretär António Guterres, mit dem Chef der Weltgesundheitsorganisation (WHO) Tedros Ghebreyesus, wie auch mit der neuen Generaldirektorin der Welthandelsorganisation (WTO) Okonjo-Iwela und weiteren mehr als 100 WTO-Mitgliedsländern, nicht zuletzt sei Papst Franziskus genannt.

    Auch Parteien wie etwa hierzulande die Linkspartei oder die Grünen/Bündnis 90 vertreten diese Forderung. Rund 400 Abgeordnete des EU-Parlaments und nationaler Parlamente haben sich kürzlich der Forderung von 175 Nobelpreisträgerinnen und -trägern sowie ehemaliger Staats- und Regierungschefs angeschlossen, den Patentschutz für Impfstoffe zeitweilig auszusetzen.

    Weil darüber in den Medien seltener berichtet wird, erwähne ich auch noch die Hilfsorganisationen Ärzte ohne Grenzen oder Amnesty International oder die internationale Fazilität zum Erwerb von Medikamenten „Unitaid“ sowie weitere über 200 Organisationen aus dem Globalen Süden oder die europäische Bürgerinitiative „Jeder verdient Schutz vor Covid-19! Kein Profit durch die Pandemie!“. Es sind noch viele weitere Einzelpersönlichkeiten und andere Organisationen mehr, die sich für die vorübergehende Freigabe des Patentrechts einsetzen.
    „Koalition der Willigen“ auch in der EU denkbar

    Selbst EU-Kommissionschefin Ursula von der Leyen (CDU), die bislang immer als unerbittliche Interessenvertreterin der Pharmaindustrie aufgetreten ist, erklärte nach dem Vorstoß des US-Präsidenten: „Die Europäische Union ist bereit, jeden Vorschlag zu diskutieren, der diese Krise wirksam und pragmatisch angeht“. In der Europäischen Union versuchen Belgien und Irland eine „Koalition der Willigen“ zu bilden. Die spanische Regierung hat vor dem EU-Gipfel in Porto am 7. Mai dafür geworben, dass sich die Europäer dem Vorstoß der USA anschließen. Auch der französische Präsident Emmanuel Macron und Italiens Regierungschef Mario Draghi äußerte sich offen gegenüber der US-Initiative.

    In den Ländern der G7 sind laut Umfragen sieben von zehn Menschen dafür, die Rezepturen und Technologien für die Impfstoffe zu teilen. Über 183.000 Unterschriften wurden in der Europäischen Union dafür gesammelt.

    Obwohl Bundeskanzlerin Angela Merkel (CDU) sich schon kurz nach der Zulassung von Corona-Impfstoffen für deren „gerechte globale Verteilung“ eingesetzt hat, meldete sie - ebenso wie Gesundheitsminister Jens Spahn und Entwicklungsminister Gerd Müller - Zweifel an der Initiative des US-Präsidenten an.1 Der SPD-Politiker Karl Lauterbach hat zwar den Anstoß zu einer Patentschutz-Freigabe durch Joe Biden begrüßt, glaubt aber nicht, „dass ein solcher Schritt große Unterschiede bei der Produktion der Impfstoffe machen würde“.

    Bundesaußenminister Heiko Maas (SPD) meinte zu einer Aufweichung des Patentschutzes: „Wenn das ein Weg ist, der dazu beitragen kann, dass mehr Menschen schneller mit Impfstoffen versorgt werden, dann ist das eine Frage, der wir uns stellen müssen“. Die Regierungsparteien CDU/CSU und SPD sowie die Oppositionsparteien FDP und AfD haben jedoch der Aufforderung von Linkspartei und Grünen, sich dem Washingtoner Vorstoß zur Aussetzung des Patentschutzes anzuschließen, am 6. Mai im Bundestag eine Absage erteilt. Lediglich Bundeswirtschaftsminister Peter Altmaier (CDU) stimmte aus Versehen dafür.

    Auf dem EU-Sozial-Gipfel am 7. Mai gab es für den Vorschlag einer Aussetzung von Patenten für Corona-Impfstoffe eine „Beerdigung zweiter Klasse“. Nur wenige Länder, wie etwa Frankreich, Polen und Spanien haben sich für mehr Entgegenkommen gegenüber dem Antrag von Südafrika und Indien beim TRIPS-Rat der Welthandelsorganisation (WTO) ausgesprochen, für die Dauer der Pandemie „auf einige Bestimmungen des TRIPS-Abkommens zur Prävention, Eindämmung und Behandlung von Covid-19“ zu verzichten.2

    Die Mehrheit der Teilnehmer auf dem Gipfel war nicht der Meinung, dass eine Freigabe „kurzfristig eine Wunderlösung“ sei. Weil man die USA aber nicht brüskieren wollte, bat am um eine Konkretisierung des US-Vorstoßes.

    Unsere Kanzlerin, die es nicht für nötig erachtete, auf einem „Sozial“-Gipfel persönlich anwesend zu sein, legte von Berlin aus nach:

    Ich habe hier noch einmal deutlich gemacht, dass ich nicht glaube, dass die Freigabe von Patenten die Lösung ist, um mehr Menschen Impfstoff zur Verfügung zu stellen.

    Zur Lage der Pandemie

    Impfstoffe sind nach Überzeugung der übergroßen Mehrheit die wirksamste Waffe im Kampf gegen die Corona-Pandemie. Diese weltweit verbreitete Infektionskrankheit wird auch hier erst eingedämmt sein, wenn sie überall auf der Welt eingedämmt ist. Niemand ist sicher, wenn nicht alle sicher sind. Je rascher die Pandemie zurückgedrängt werden kann, desto geringer ist das Risiko, dass sich neue Mutanten des Virus entwickeln, gegen die, die bisher entwickelten Impfstoffe, möglicherweise nicht mehr wirken könnten.

    Die Pandemie kann in einer Welt, die eng vernetzt ist, nicht allein in einzelnen Staaten oder Kontinenten bekämpft werden, sondern nur global. Deshalb müssten wirklich alle Möglichkeiten genutzt werden, um kurzfristig ausreichend Impfstoffe herzustellen und das für einen Preis, der auch ärmeren Ländern den Zugang zu den Vakzinen ermöglicht. In diesen Zielen sind sich eigentlich alle einig.

    Die Gesamtzahl der bestätigten Sars-CoV-2-Infektionen belief sich Anfang Mai 2021 auf weltweit 160 Millionen. Die Zahl der Todesopfer in Zusammenhang mit dem Coronavirus stieg auf mehr als 3,3 Millionen. Das Virus und seine inzwischen aufgetretenen Mutanten haben sich mittlerweile in mehr als 190 Ländern ausgebreitet. Derzeit werden aus Indien, Brasilien, den USA und Russland die höchsten absoluten Fallzahlen gemeldet.

    Um die Erdbewohner mit Erst- und Zweitimpfungen gegen die Sars-CoV-2-Viren zu immunisieren, werden etwa 14 Milliarden Impfdosen benötigt. Bis heute wurden weltweit 1,34 Milliarden Impfungen gegen das Virus verabreicht. Davon entfielen auf China 333 Millionen, auf die USA 263 Millionen, auf Europa 179 Millionen und auf Indien 175 Millionen Impfungen.3

    Gemessen an der Bevölkerungszahl liegt nach einer AFP-Zählung Israel in Führung, knapp 60 Prozent sind dort vollständig geimpft. Es folgen die Vereinigten Arabischen Emirate mit 51 Prozent der Bevölkerung, Großbritannien mit 49 Prozent und die USA mit 42 Prozent. Die EU-weite Impfquote liegt bei 21 Prozent. Spitzenreiter in der EU ist Malta, wo 47 Prozent der Einwohner bereits geimpft sind, gefolgt von Ungarn mit 37 Prozent. In Deutschland lag die Impfquote laut Robert-Koch-Institut am Freitag bei rund 39 Prozent der Bevölkerung - demnach waren 32,6 Millionen mindestens einmal geimpft und 10.9 Millionen Menschen bereits voll geschützt.
    Covax: Lösung für weltweit gerechte Verteilung der Impfstoffe?

    Um die Verbreitung des Virus unter Kontrolle zu bringen, müsste durch weltweite Impfungen eine Immunisierung eines Großteils der Weltbevölkerung erreicht werden und das möglichst rasch. Die Einschätzungen über den Prozentsatz der Impfungen für eine sogenannte „Herdenimmunität“ gehen unter Fachleuten auseinander, sie liegen zwischen 60 und 80 Prozent Geimpften.

    Auf europäischer Ebene hat Deutschland, zumal auf Drängen der Kanzlerin zunächst die Beschaffung von Impfstoffen der EU-Kommission übertragen. Die Argumente, dass damit ein Wettlauf innerhalb Europas verhindert werden sollte, bei dem die wohlhabendsten das Rennen gewonnen, damit aber die europäische Gemeinschaft durch einen aufkommenden Impfnationalismus gesprengt hätten, haben dabei eine entscheidende Rolle gespielt. Ob die EU-Kommission gut mit den Herstellern verhandelt, eindeutige Verträge ausgehandelt und ob sie ausreichend Finanzmittel angeboten hat, sei an dieser Stelle nicht weiter diskutiert.

    Die Chefin der Europäischen Arzneimittelagentur (EMA), Elmer Cooke geht davon aus, dass in ganz Europa 188 Millionen Dosen verteilt und 154 Millionen Dosen verabreicht wurden. Es sollen von der EU inzwischen auch 200 Millionen Dosen außerhalb Europas verteilt worden sein.4

    Die Exporte gingen auch in reichere Länder, etwa nach Japan, Kanada, Mexiko, Saudi-Arabien, Chile, Singapur und Australien, selbst nach Großbritannien und in die USA - also auch in Länder, die selbst Impfstoff-Exporte, wenn nicht gestoppt, so doch behindert haben.

    Um einen weltweit gleichmäßigen und gerechten Zugang zu Covid-19-Impfstoffen zu gewährleisten, haben 165 Staaten zusammen mit der WHO, mit einer Koalition für Innovationen in der Epidemievorbeugung (CEPI) und mit der öffentlich-privaten Impfallianz Gavi im April 2020 das Impfprogramm Covax (Covid-19 Vaccines Global Access) ins Leben gerufen.

    Ziele dieses Projekts sind die Förderung von Impfstoffforschung, die gemeinsamen Impfstoffbeschaffung, die Beschleunigung des Zugangs zu Covid-19-Instrumenten sowie deren gerechte Verteilung. Covax ist sozusagen eine Einkaufsgemeinschaft von inzwischen 190 Teilnehmern. Diese Beschaffungs-Initiative kann auch von den beteiligten reicheren Ländern in Anspruch werden.

    Geplant war, bis Mitte dieses Jahres rd. 330 Millionen und bis Ende 2021 zwei Milliarden Impfstoffdosen an die am stärksten gefährdete Bevölkerung - also etwa Risikogruppen oder medizinisches Personal - in 145 Ländern zu verteilen. 92 ärmere Länder wie etwa Nigeria, Indien, Ukraine, Syrien, Afghanistan oder der Jemen sollten bei der Beschaffung von Impfstoff bezuschusst werden, reichere Länder wie etwa Kanada sollten ihre aus dem Programm bezogenen Impfstoffe selbst bezahlen.

    Sechs Milliarden Dollar kostete das Beschaffungsprogramm bisher, davon hat die EU 600 Millionen Dollar gespendet und Deutschland allein unterstützt die Initiative „Access to Covid-19 Tools Accelerator (ACT-A)“ mit 1,5 Milliarden Euro, wovon ein Großteil an die Impfstoffplattform Covax gehen soll.

    Das Problem von Covax ist, dass Dutzende reichere Länder nicht über diese Einkaufssammelstelle, sondern über bilaterale Verträge mit Herstellern ihren Impfstoff besorgt und sich so den Löwenanteil (80 Prozent) der überhaupt verfügbaren Impfdosen gesichert haben. So gab noch Rande des EU-Gipfels in Porto am 7. Mai 2021 die Kommissionschefin Ursula von der Leyen stolz die Bestellung von bis zu 1,8 Milliarden Impfdosen für die Europäische Union bekannt.

    Über die bilaterale Beschaffung hinaus, besteht die paradoxe Situation, dass gerade die reichen Staaten wie die USA, Großbritannien oder die Europäische Union eine größere Nachfrage- und Verhandlungsmacht gegen die Anbieter haben und die Impfstoffe billiger beziehen können als viele ärmere Länder. Die Preisspanne soll bis zu 40 Dollar je Dosis reichen.

    Da die Produktionskapazitäten knapp sind und einzelne Staaten wie die USA und Großbritannien Exportverbote für Impfstoffe oder für deren Bestandteile auferlegten, lief die Initiative erst im März dieses Jahres richtig an und liegt - jedenfalls was die ärmeren Länder anbetrifft - weit hinter den gesteckten Zielen.

    Statt der ursprünglich geplanten 100 Millionen Impfdosen bis Ende März 2021, wurden tatsächlich gerade mal 38 Millionen verteilt, davon wurden 28 Millionen in Indien hergestellte (Zum Vergleich: Allein nach Deutschland wurden bis heute 41,3 Millionen Impfdosen geliefert). Covax konnte bislang keines seiner mit dieser Initiative verbundenen Versprechen halten.
    Immunisierung als Privileg

    Obwohl inzwischen auch in den meisten armen Ländern Impfkampagnen begonnen haben, ist die Impfung bislang vor allem ein Privileg der reichen Länder. Das zeigt auch eine interaktive Weltkarte über die Verimpfung und die geimpften Gruppen auf dem Portal Our World Data.

    Zwölf Länder in der Welt sind bislang ohne jegliche Impfung. In Asien sind es nur 4,5 Prozent, in Afrika sind es gerade gut ein Prozent genauso wenig wie etwa in Vietnam, die geimpft sind. In den ärmsten Ländern sind bis heute gerade mal 0,3 Prozent der verfügbaren Impfstoffe angekommen.

    Das Tragische ist, dass gerade ärmere Länder von den Auswirkungen der Covid-19-Pandemie in mehrfacher Hinsicht besonders betroffen sind. Etwa weil die Gesundheitsversorgung erheblich schlechter ist. Selbst in Deutschland musste ja für die intensivmedizinischen Versorgung von Covid-19-Patienten die Behandlung vieler anderer Krankheiten in den Kliniken zurückgestellt werden. Umso mehr trifft dies die Länder mit weiteren noch nicht beherrschten Krankheiten wie HIV, Tuberkulose oder Malaria. Schon aus Kostengründen leiden dort die anderen, nicht auf das Coronavirus ausgerichteten Impfprogramme.

    Selbst in Indien, wo einerseits der dort größte Impfstoffhersteller, das Serum Institute, den Impfstoff Covaxin und auch das Vakzin der britisch-schwedischen Firma AstraZeneca produziert, wurde bisher nur eine Quote für die Erstimpfung von schätzungsweise knapp 10 Prozent erreicht.

    Angesichts des akuten verheerenden Corona-Ausbruchs mit täglichen Infektionszahlen nach offiziellen Angaben (in absoluten Zahlen) um die 400.000 und gemeldeten Todesfälle an einem Tag um die 4.000 (die Dunkelziffer dürfte jedoch 5- bis 10-mal höher liegen) beansprucht Indien die landeseigene Impfstoff-Produktion neuerdings für sich selbst. Damit erhalten vor allem Hauptliefergebiete Indiens, nämlich ärmere Länder die versprochenen Dosen nicht.
    Die Kanzlerin droht Indien ganz unverhohlen

    In ziemlich herablassender Form hat daraufhin Kanzlerin Angela Merkel in der Fernsehsendung Berlin direkt diesem Land gedroht:

    Wir haben natürlich Indien überhaupt nur zu einem so großen Pharmaproduzenten auch europäischerseits werden lassen(!), in der Erwartung, dass Zusagen dann auch eingehalten werden, sollte das jetzt vielleicht nicht der Fall sein, werden wir umdenken müssen, das wird dann aber auch durchaus nicht nur zum Vorteil von unseren Handelspartnern sein.

    Kein Wunder, dass man angesichts solcher Anmaßung und Drohung dort empört ist; man verweist zu Recht darauf, dass zu der Zeit als Europa das Epizentrum der Pandemie war, es auch Indien war, das lebensrettende Medizin geliefert hat, jetzt, da dieses Land selbst ums Überleben kämpfe, verlange die Kanzlerin „Berlin zuerst“.

    Die Drohung der Kanzlerin gegenüber Indien ist in mehrfacher Hinsicht arrogant und doppelzüngig. Arrogant, weil es nicht an der Gnade oder an der Förderung der Europäer lag, dass Indien zum weltweit größten Hersteller von generischen Medikamenten wurde und dieses Land - gemessen an US-Qualitätskriterien - die meisten Produktionsanlagen für Arzneimittel hat.

    Nicht nur die Arzneimittelhersteller, sondern das gesamte Gesundheitswesen Deutschlands hängt „am Tropf“ der Importe aus Indien, das aber nicht, weil wir so generös waren, sondern schlicht, weil dort billiger produziert wird als in Europa und die Produktion aus Kostengründen ausgelagert wurde.

    Es ist auch doppelzüngig, wenn man die Impfquoten zwischen Deutschland mit rund 39 Prozent Erstimpfungen und Indien mit knapp zehn Prozent miteinander vergleicht, kann man schon daran ablesen um wie viel größer die Not dort ist. Selbst wenn man nicht auf die absoluten, sondern auf die relativen Infektions- und Todeszahlen schaut, ist die indische Situation in der Krankenversorgung gemessen an deutschen Maßstäben katastrophal. Man möchte nicht darüber spekulieren, wie es um die deutsche Exportbereitschaft für Impfstoffe stünde, wenn bei uns in der Krankenversorgung ähnliche Zustände einträten.

    Im Gegensatz zu Indien hat die Kanzlerin gegenüber der britischen oder der amerikanischen Regierung nicht mit Sanktionen gedroht, als diese den Export der bei ihnen produzierten Impfstoffen einschränkten bzw. die Ausfuhr durch entsprechende Verträge mit den Impfstoff-Produzenten massiv behinderten.

    Und schließlich: Hat nicht auch die EU-Kommission schärfere Regeln für deren Export eingeführt?

    Die Europäische Union verklagt nicht etwa die Staaten, sondern die Firma AstraZeneca darauf, dass sie die Lieferverträge nicht eingehalten habe und droht damit, den Vertrag auslaufen zu lassen.

    Es ist nicht zu leugnen, dass in den reichen Ländern schon längst damit begonnen wurde, in größerem Umfang Gruppen mit geringerem Risiko zu impfen - bei uns im Lande werden wohl demnächst sogar schon Jugendliche geimpft. In vielen ärmeren Ländern wurden nicht einmal die Hochrisikogruppen erreicht.

    Es bleibt bisher dabei, die ärmeren Länder müssen warten, was ihnen die reicheren an Impfstoff übrig lassen. Covax ist - bislang jedenfalls - nicht viel mehr als ein „Feigenblatt“ der Reichen.
    Es geht nicht (nur) um Moral

    Der Generaldirektor der WHO, Tedros Adhanom Ghebreyesus, hat erklärt, die Welt stehe „am Rande eines katastrophalen moralischen Versagens, dessen Preis die ärmeren Länder zahlen“.

    Die neue Generaldirektorin der WTO, die Nigerianerin Okonjo-Iwela, hält es nicht für akzeptabel, „dass zehn Länder 70 Prozent der Impfstoffdosen verwalten“.

    Der südafrikanische Präsident Cyril Ramaphosa nennt es eine „schmerzhafte Ironie“, dass in Afrika zwar die klinischen Studien durchgeführt wurden, der Kontinent aber um den Zugang zum Impfstoff betteln muss und er spricht gar von einer „Impfstoff-Apartheid“.5

    Nun will ich nicht in den Geruch eines „Gutmenschen“ kommen und (nur) moralisch argumentieren, obwohl es genügend und gute Argumente gäbe, dass die Pharma-Unternehmen und die reicheren Länder Solidarität mit der großen Zahl der ärmeren üben sollten, dass man keinen Impf-Nationalismus befördern und dass man für Gerechtigkeit bei der Verteilung des Impfstoffs eintreten sollte.

    Wenngleich diese wertbezogenen Argumente durchaus Gewicht haben, soll es hier vor allem um die Auseinandersetzung mit den Argumenten derjenigen gehen, die für den Patentschutz bzw. - überhöht ausgedrückt - für den „Schutz des geistigen Eigentums“ eintreten.

    Die Grundfrage ist: Was wiegt schwerer - der Schutz des geistigen Eigentums oder das Leben von Menschen, die dem Virus weitgehend schutzlos ausgeliefert sind?
    Wäre eine vorübergehende Aussetzung des Patentrechts überhaupt zulässig?

    Das Infektionsschutzgesetz (IfSG) bietet in der aktuell geltenden Fassung dem Bundesgesundheitsministerium die Möglichkeit, Ausnahmen von den Regelungen des Arzneimittelgesetzes und von anderen Gesetzen vorzusehen (§ 5 Abs. 2 Nummer 4 Buchstabe a) und b) IfSG), sowie Regelungen zur Preisgestaltung zu treffen (§ 5 Abs. 2 Nummer 4 Buchstabe f). Das Gesetz (§ 5 Abs 2 Nummer 5 IfSG) ermöglicht es, im öffentlichen Interesse anzuordnen, dass gemäß § 13 Abs. 1 des Patentgesetzes die Wirkung eines Patentes ausgesetzt werden könnte.

    Das bedeutet, dass die Bundesregierung - wohlgemerkt bei einer angemessenen Vergütung - die Hersteller von Impfstoffen ausnahmsweise im Interesse der öffentlichen Wohlfahrt veranlassen kann, Lizenzen an andere Firmen zu vergeben (§ 24 des Patentgesetzes), um die Produktionskapazitäten zu erhöhen. Die Politik könnte nach diesen Vorschriften auch über angemessene Preise für die Impfstoffe bestimmen.

    Darüber hinaus eröffnen auch die Regeln der Welthandelsorganisation (WTO), speziell das „Übereinkommen über handelsbezogene Aspekte der Rechte des geistigen Eigentums“ (Trips-Abkommen) die Möglichkeit, auf Verpflichtungen zum Schutz und zur Durchsetzung von Patenten vorübergehend zu verzichten.

    So haben Südafrika und Indien, unterstützt von einer Vielzahl von Ländern im Oktober 2020 an die Welthandelsorganisation (WTO) den Antrag gestellt, einige Verpflichtungen des Trips-Abkommens Abschnitt 1 (Urheberrechte und verwandte Schutzrechte), Abschnitt 4 (gewerbliches Design) , Abschnitt 5 (Patente) und 7 (Schutz nicht offenbarter Informationen) des Übereinkommens so lange auszusetzen, bis die Weltbevölkerung eine Immunität gegen das Virus entwickelt habe.

    Es wäre übrigens nicht das erste Mal, dass es zu einer Aussetzung bzw. Umgehung von Patentrechten der Pharma-Firmen käme. Das war auch schon in den 1990er-Jahren bei Medikamenten zur Aids-Bekämpfung so. Durch die Zulassung von Generika fielen die Preise für HIV-Medikamente um 99 Prozent. 2001 erstritten die Entwicklungsländer eine Doha-Erklärung zum Trips-Abkommen, die das Recht auf den Zugang zu Arzneimittel hervorhob.
    Wirkstoffgleiche Präparate könnten günstiger angeboten werden

    Derzeit beanspruchen Pharma-Unternehmen Patentrechte und kontrollieren damit die Produktion von Covid-19-Impfstoffen und legen auch frei den Verkaufspreis ihrer Medikamente in Verhandlungen mit den Abnehmern fest. Würde der Patentschutz vorübergehend ausgesetzt, könnten auch andere und damit mehr Hersteller größere Mengen des Impfstoffs produzieren und damit die Engpässe und Verzögerungen beim Impfen, die derzeit (noch massiv) bestehen, wenigstens ein Stück weit beseitigen.

    Es könnten sogenannte Generika (wirkstoffgleiche Nachahmerpräparate) zu günstigeren Preisen angeboten werden und es könnten durch eine länderübergreifende Zusammenarbeit sowohl die Rohstoffe besser genützt als auch zusätzliche Produktionskapazitäten geschaffen werden. Es würden damit allerdings die Möglichkeiten zur Gewinnerzielung für die bisherigen Patentinhaber eingeschränkt.

    Bislang blockieren die EU und hier vor allem Deutschland, Großbritannien und Japan den Vorstoß der ärmeren Länder in der WTO, eine Ausnahmeregelung zuzulassen (Siehe dazu die Karte der zustimmenden und ablehnenden Länder).

    Am 5. Mai ging ein Treffen des Allgemeinen Rates der WTO ohne Ergebnis auseinander. Auch auf dem G20-Gipfel unter italienischem Vorsitz wurde am Freitag, dem 21. Mai keine Einigung erzielt: In der Abschlusserklärung stimmten die Teilnehmer dem Vorschlag einer vorübergehenden globalen Aufhebung des Patentschutzes für Corona-Vakzine nicht zu. Angesichts des Streits habe die internationale Gemeinschaft anerkannt, wie wichtig die Patentrechte seien, um die Produktion zu beschleunigen, erklärte EU-Kommissionschefin von Ursula der Leyen in Rom.

    So stellt sich die Frage, ob die Erklärung des US-Präsidenten mehr ist als ein vorgeschobenes Propaganda-Argument gegen die Chinesen oder die Russen, die mit kostengünstigen Lieferungen ihrer Impfstoffe in ärmere Länder dort um politische Sympathie werben.

    Die Verfahren der internationalen Handelsregeln die einen Verzicht auf Patente erlaubten, sind allerdings schwerfällig und wenig praktikabel, vor allem sind sie langsam. Entscheidungen in der WTO müssen darüber hinaus im Konsens fallen. Wenn die EU, die allein ein Paket von 26 Stimmen hat, bei einer ablehnenden Haltung bleibt, schließt das eine Einigung aus. Vielleicht ermöglicht ja der überraschende Vorstoß der USA nunmehr einen Durchbruch, doch das dürfte noch viel Zeit in Anspruch nehmen. Zwischenzeitlich sterben aber hunderttausende Menschen.

    Um zu einer schnelleren Lösung zu kommen, fordert der Weltärztebund deshalb die Hersteller auf, ihre Patente eigenständig freizugeben. „Die Pharmaindustrie könnte jetzt die ganze Menschheit voranbringen, wenn sie freiwillig auf die Ausübung ihrer Patentrechte für die Impfstoffe verzichtet“, sagte der Vorsitzende Frank Ulrich Montgomery. „Freiwilligkeit wäre auch der Schlüssel zur Vermeidung drastischerer Maßnahmen durch Regierungen und Welthandelsorganisation“.

    Der Curevac-Chef Franz-Werner Haas hat für eine solche Lösung geworben. Die Firma Biontech, die mit Unterstützung von hunderten von Millionen Dollar der Regierung von Singapur dort eine Produktionsstätte aufbauen wird6, will armen Ländern aber beim Preis entgegenkommen und hat derzeit schon gestufte Preise.

    „Wir werden weiterhin Länder mit niedrigem oder unterem mittleren Einkommen mit unserem Impfstoff zu einem nicht gewinnorientierten Preis versorgen“, teilte das Unternehmen in Mainz mit. Auch AstraZeneca hatte schon früh angekündigt, keinen Gewinn erzielen zu wollen.

    Wenn also die Impfstoffhersteller bei den ärmeren Ländern keine gewinnorientierte Preise erzielen wollen, warum wehren sie sich dann aber gegen eine vorübergehende Freigabe des Patentschutzes?

    #capitalisme #maladie #covid-19 #vaccination