Dlf Audiothek | Interview | Genderforscherin Geier zu Identitätspolitik

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  • Debatte um die Freiheit der Wissenschaft. Mit Widerspruch leben lernen

    Kann man an deutschen Universitäten noch frei forschen und lehren? Einige sehen die Wissenschaft durch eine wild gewordene Identitätspolitik bedroht. Stimmt nicht, sagt Kulturwissenschaftler Daniel Hornuff, man muss aber Gegenwind ertragen können.

    „Wir beobachten, dass die verfassungsrechtlich verbürgte Freiheit von Forschung und Lehre zunehmend unter moralischen und politischen Vorbehalt gestellt werden soll. Wir müssen vermehrt Versuche zur Kenntnis nehmen, der Freiheit von Forschung und Lehre wissenschaftsfremde Grenzen schon im Vorfeld der Schranken des geltenden Rechts zu setzen.“

    So heißt es in einem Manifest, das rund 70 Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler vor einigen Wochen veröffentlichten. Zugleich schlossen sie sich zum sogenannten „Netzwerk Wissenschaftsfreiheit“ zusammen. Denn die Wissenschaftsfreiheit sehen sie bedroht. Man sei inzwischen „erheblichem Druck ausgesetzt“, ja könne gar nicht mehr anders, als sich „moralischen, politischen und ideologischen Beschränkungen und Vorgaben zu unterwerfen.“ Fatal sei diese Entwicklung, da sie letztlich in die Selbstzensur führe.

    Mit dieser Einschätzung stehen die 70 offenbar nicht allein. Fast täglich melden sich Stimmen in diese Richtung. Erst vor wenigen Tagen ließ etwa Wolfgang Thierse wissen: „Menschen werden vom Diskurs ausgeschlossen an den Universitäten oder in den Medien, die unliebsame Ansichten haben, die einem nicht passen, die man ablehnt, und deswegen will man sie ausschließen.“
    Kein Eindruck der Grundrechteeinschränkung

    Mir stellen sich vor diesem Hintergrund einfache Fragen: Habe ich je in meinem Uni-Leben solche Erfahrungen gemacht? Gab es Situationen, in denen ich nicht sagen, lehren und forschen konnte, was ich aus inhaltlichen Erwägungen sagen, lehren und forschen wollte? Wer hat mich wann bei der Ausübung von Forschung und Lehre beschnitten?

    Tatsächlich hatte ich überhaupt noch nie den Eindruck, dass meine Grundrechte an Universitäten eingeschränkt worden seien. Seit meinem Studienbeginn im Jahr 2003 gab es nicht einen Versuch, mir gegenüber solche Einschränkungen durchzusetzen. Und das bis heute.

    Was ich allerdings erlebte und immer wieder erlebe – das ist Widerspruch. Selbst oft genug mit meinen Themen und Thesen aneckend, wird mitunter herzhaft kritisiert. Ich erinnere mich an ein Kolloquium, in dem ich erste Ansätze eines Habilitationsprojektes vorstellte. Die Reaktion der Teilnehmenden war verheerend – und keineswegs aus Ressentiments oder moralischen Reflexen. Sondern schlicht und einfach, weil ich mich methodisch völlig verrannt hatte.

    Der Moment war schmerzhaft – und er hätte dazu beitragen können, mich fortan mit dem Flair des Unterdrückten zu umgeben.
    Vieles ist heute begründungspflichtig

    Heute ist es nicht anders. Studierende fordern Begründungen ein. Sie wollen wissen, nach welchen Kriterien ich Literatur- und Lektürelisten zusammenstelle; warum sich meine Seminarthemen meist nur auf Kulturen des globalen Nordens konzentrieren; warum ich nicht offener für alternative Unterrichtsformate bin; und warum ich überhaupt zu so abseitigen Themen wie der politischen Ästhetik oder dem Design von Schönheitsoperationen forsche. Gäbe es nicht Wichtigeres, Entscheidenderes zu tun?

    Kolleginnen und Kollegen wiederum prüfen bei jedem Drittmittelantrag, bei jedem Vortrag, bei jedem Aufsatz, bei jedem Buch: Sind die Hornuff-Argumente stichhaltig? Lösen sie ein, was sie vorgeben? Gelingen ihnen neue Einsichten – oder reproduzieren sie nur Bekanntes? Die Ergebnisse, das ist kein Geheimnis, sind oft ernüchternd: Anträge werden abgelehnt, Bewerbungen versanden, Bücher werden nicht gelesen, und die Qualität meiner Vorträge wird gerne mal mit vorzeitigem Gehen quittiert.

    Wird meine Arbeit damit gecancelt oder gar unterdrückt? Nein. Würde ich das ernsthaft behaupten, wäre das ein höhnischer Kommentar gegenüber all jenen Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftlern, die unter tatsächlichen Repressalien leiden; die ihre Jobs verlieren, weil sie Forschungsgebiete vertreten, die einem autoritären Regime nicht passen; die im Gefängnis sitzen, weil sie zur falschen Zeit das Falsche veröffentlicht oder gesagt haben.

    Ja, Thesen sind begründungspflichtig, und es kann mächtigen Gegenwind geben. Aber wer nicht bereit ist, dies auszuhalten, überschätzt seine Bedeutsamkeit. Denn niemand hat Anspruch auf mangelnden Widerspruch. Auch nicht an der Uni.

    https://www.deutschlandfunkkultur.de/debatte-um-die-freiheit-der-wissenschaft-mit-widerspruch.1005.

    #Allemagne #liberté_académique #science #recherche #université #ESR

    • Genderforscherin Geier zu Identitätspolitik. „Wir müssen anerkennen, dass es Verschiedenheit in der Gesellschaft gibt“

      Die Genderforscherin Andrea Geier kritisiert eine Gleichsetzung von linker und rechter Identitätspolitik. Dadurch, sowie durch Begriffe wie „Cancel Culture“, „kommen Positionen in den Raum, die so tun, als ob Rassismus und Rassismuskritik irgendwie dasselbe seien“, sagte Geier im Dlf.

      Die Identitätspolitik von rechts führe zu Ausschließung, Hass und Gewalt, hatte Wolfgang Thierse am 25. Februar im Deutschlandfunk gesagt. Zugleich kritisierte der ehemalige Bundestagspräsident eine Cancel Culture in linker Identitätspolitik. „Das heißt, man will sich nicht mehr mit Leuten auseinandersetzen, diskutieren, den Diskurs führen, die Ansichten haben, die einem nicht passen. Das ist ziemlich demokratiefremd und wenn nicht sogar demokratiefeindlich“, so Thierse.

      Dieser Ansicht widerspricht Andrea Geier, Professorin an der Uni Trier für Literaturwissenschaft und Genderforschung. „Diese Art und Weise, über linke Identitätspolitik zu sprechen, die ist sehr alarmistisch geworden und die ist sehr problematisch geworden.“ Tatsächlich wolle linke Identitätspolitik eigentlich das, was Thierse ebenfalls wolle, sagte Geier – „nämlich eine Anerkennung von Vielfalt und Gleichheit“.

      Sie beobachte einen zunehmend alarmistischen Ton derer, die linke Identitätspolitik kritisieren und sich „selber zum Opfer machen einer Identitätspolitik anderer, die zum Beispiel rassismuskritisch ist – das müssen wir bearbeiten.“

      Um zu mehr gegenseitigem Verständnis in Diskursen zu gelangen, sei es wichtig, anzuerkennen, dass Erfahrungswelten anderer Menschen durchaus andere sein können als die eigenen, betonte Geier.

      „Als weiße Wissenschaftlerin hab’ ich bestimmte Probleme im akademischen Raum definitiv nicht, die schwarze Wissenschaftler und Wissenschaftlerinnen haben. Und wenn ich dann als Weiße angesprochen werde, ist das einfach eine Tatsache. Dafür kann ich nichts, aber dazu muss ich mich verhalten. Und das ist das, was eigentlich wichtig ist, wenn jemand angesprochen wird als weiße Person oder als männliche Person, zu fragen: Was hat das gemacht mit mir, was bedeutet das für meine Positionierung, was gibt mir das möglicherweise auch für Chancen, was hat mir das eröffnet?“

      Das Interview in voller Länge:

      Stephanie Rohde: Gefährden Rechte wie Linke mit ihrer Identitätspolitik den Zusammenhalt in der Gesellschaft?

      Andrea Geier: Rechte Identitätspolitik zielt darauf ab, diesen Zusammenhalt zu gefährden – es geht tatsächlich darum, eine bestimmte Idee von Volk und von Nation herzustellen –, während linke Identitätspolitik was anderes will. Sie will eigentlich das, was zum Beispiel Herr Thierse möchte, nämlich eine Anerkennung von Vielfalt und Gleichheit. Insofern ist jetzt erst mal wichtig, dass man das auseinanderhält. Rechte und linke Identitätspolitik wollen nicht dasselbe, sondern sie haben unterschiedliche Ziele, und umstritten ist bei linker Identitätspolitik, so wie Herr Thierse sie dargestellt hat, mit welchen Mitteln das geschieht. Diese Art und Weise, über linke Identitätspolitik zu sprechen, die ist sehr alarmistisch geworden und die ist sehr problematisch geworden. Das zeigt gerade so ein Begriff wie Cancel Culture, dass der in diesem Kontext fällt, wo es sozusagen um gefühlte Einschränkungen geht und gefühlte Verbotskulturen.

      Rohde: Genau das beklagt Wolfgang Thierse ja auch in dem Ton, den wir eben gehört haben, zu sagen, da werden missliebige Meinungen ausgeschlossen aus dem Diskurs. Man muss sich ja tatsächlich fragen, wie soll eine Verständigung stattfinden, wenn man nur noch in getrennten Räumen reden kann und die andere Seite eigentlich gar nicht mehr gehört werden darf mit ihrer Meinung.

      Geier: An diese Problembeschreibung stelle ich immer die Rückfrage: Wer wird denn hier von wem nicht gehört? Wir haben ein ganz interessantes Phänomen, dass Menschen, die eine große Reichweite haben, sehr öffentlichkeitswirksam darüber klagen, dass man irgendetwas angeblich nicht mehr sagen könne. Die sind sehr prominent vertreten in der Öffentlichkeit damit, dass man angeblich etwas nicht sagen könne. Das ist ein Paradox, dem muss man sich erst mal stellen. Das heißt, man muss die Rückfrage auch stellen: Wer kann denn wo überhaupt seine Meinung äußern, wer kann denn wen kritisieren, auf welchem Weg? Und dann kann man anfangen, diese gefühlten Einschränkungen tatsächlich sich anzuschauen, also die Idee von: Wer verbietet wem etwas? Ich finde es wichtig, Unsicherheit ernst zu nehmen – woher kommt dieser Eindruck, dass angeblich man etwas nicht mehr sagen könne? Und die Formulierung, finde ich, weist eher darauf hin, dass es eben tatsächlich darum geht, es geht um Unsicherheiten, weil sich Dinge ändern. Das heißt, wir sind in dem, was eigentlich genau eingefordert wird, wir sind in einem Aushandlungsprozess, wo es auch mal kritisch werden kann, wo es sogar vielleicht unangenehm werden kann, wo Deutungsmacht infrage gestellt wird, wo Positionen infrage gestellt werden, und das empfinden Leute als Angriffe, die sozusagen für sich in Anspruch nehmen, unbehelligt bleiben zu wollen und sich keinen unangenehmen Situationen aussetzen zu müssen und einfach zu behaupten, na ja, wir wollen eben Gemeinsamkeit, das will ich doch auch, aber die wollen die Regeln festsetzen, nach denen diese Gleichheit und diese Anerkennung sich ausdrücken soll. Das heißt, eigentlich wird denen, die Kritik üben, denen wird der Raum abgesprochen, das zu tun, und nicht denen, die immer schon ihre Meinung sagen konnten.

      Auch nicht-eigene Erfahrungswelten anerkennen

      Rohde: Das kann man aber auch anders sehen, also jetzt wieder mit Herrn Thierse gedacht tatsächlich. Man kann ja auch sagen, Identitätspolitik wird dazu genutzt, dass Menschen eben in Täter und Opfer unterteilt werden, also dass dem Opfer per se niemand widersprechen darf und der Täter oder die Täterin darf nicht mehr sprechen. Sehen Sie diese Tendenz nicht auch, dass da ganz klar sozusagen ein Signal gesendet wird, bestimmte Leute dürfen sich aus einer bestimmten Position heraus nicht mehr zu Wort melden?

      Geier: Ich sehe das in dieser Radikalität nicht. Was ich sehe, ist, dass wenn so Begriffe wie „Betroffenheit“ ganz negativ verwendet werden, und das zeigt sich bei Herrn Thierse, auch wenn er über Opfersein spricht. Wenn wir über Identitätspolitik sprechen, dann geht es ja erst mal darum, zu sagen, ich anerkenne, dass es in deiner Erfahrungswelt etwas gibt, was es in meiner nicht gibt, zum Beispiel hautfarbenbezogenen Rassismus als weiße Person, das erlebe ich nicht. Das heißt, ich muss erst mal anerkennen, dass die Erfahrungswelt anderer Menschen anders ist als meine eigene. Und diese Anerkennung, die ist der Ausgangspunkt. Wenn die nicht da ist, wenn so getan wird, als wenn es reicht, zu sagen, wir wollen doch alle gleich sein und wir wollen doch alle Vielheit und die wollen wir auch alle anerkennen, dann sorgt das natürlich auch für eine gewisse Unduldsamkeit, weil zum Beispiel über Rassismus schon sehr, sehr lange gesprochen wird. Über diese Gleichsetzung von linker und rechter Identitätspolitik, über so Begriffe wie Cancel Culture, kommen Positionen in den Raum, die so tun, als ob Rassismus und Rassismuskritik irgendwie dasselbe seien, weil das eine ist links und das andere ist rechts, und dann haben wir plötzlich eine Gleichsetzung von etwas, was wir als pluralistische Gesellschaft auf gar keinen Fall gleichsetzen dürfen. Ich glaube, es ist ganz wichtig, das auszudifferenzieren und nicht so zu tun, auf der einen Seite sind die Opfer und die haben plötzlich eine große Macht, sondern wir müssen diese Machtfantasien uns anschauen: Wer kann tatsächlich wem irgendwas verbieten? Wer hat die Deutungsmacht momentan? Wer hat wie viel Sprechraum und wer wird immer noch nicht gehört? Wenn wir diese Dynamik tatsächlich anschauen, dann bin ich sofort bereit zu sagen, das kann im Einzelfall sicher auch unangenehm sein oder es kann auch mal sich in Formen ausdrücken, die nicht in Ordnung sind, ja, aber das heißt nicht, dass das grundsätzliche Anliegen diskussionswürdig oder gar diffamierbar wäre mit diesem Begriff „Identitätspolitik“. Es ist ganz wichtig, diese Ansprüche ernst zu nehmen und den alarmistischen Ton derer, die linke Identitätspolitik kritisieren, den zurückzunehmen und von diesem Alarmismus und von dem Reden über Zumutung und sich selber zum Opfer machen einer Identitätspolitik anderer, die zum Beispiel rassismuskritisch ist, das müssen wir bearbeiten. Ich finde hier diese Opferpose, also die Art und Weise, wie man sich darüber aufregt, dass jemand anders Ansprüche an einen stellt und einen Raum der Verhandlung fordert von bestimmter Deutungsmacht oder Sprechpositionen, das sind alles berechtigte Ansprüche.
      Sich die eigene Position in der Gesellschaft verdeutlichen

      Rohde: Lassen Sie uns ganz kurz noch bei dieser Opferposition bleiben oder die Frage, wer spricht da, weil die ist ja zunehmend relevant geworden in dem Diskurs, also dass es vielleicht nicht mehr so viel darum geht, was wird eigentlich gesagt, isoliert betrachtet, sondern auch die Frage, von wem wird das gesagt. Herr Thierse beklagt ja, dass er da reduziert wird quasi auf seine Identität, und dann gesagt wird, weil er diese Identität hat, darf er nichts mehr sagen, also dass man nur darauf schaut, wer spricht da.

      Geier: Man kann das ganz schön rumdrehen, sich mal in die anderen Schuhe setzen und sagen, was die Angehörigen der Mehrheitsgesellschaft, also zum Beispiel Herr Thierse, gerade erfahren, ist, als Angehöriger einer Gruppe wahrgenommen zu werden – das ist eine klassische Minderheitenerfahrung. Das ist sozusagen etwas, was unserem Anspruch an Individualität, Menschen individuell wahrzunehmen, widerspricht. Insofern kann ich auch nachvollziehen, dass jemand sagt, wie kann man mich reduzieren auf solche Positionen. Aber das ist jetzt genau der Raum der Verhandlung, um zu sagen, schau her, was mit Minderheiten passiert, wie jemand zum Beispiel mit Rassismus konfrontiert wird aufgrund seiner Hautfarbe. Das hat nichts mit einer individuellen Einschätzung zu tun, sondern mit Projektionen und mit Stereotypisierungen und eben mit Diskriminierung. Erst wenn ich anerkenne, dass die Erfahrung, die eigene soziale Positionierung, etwas ausmacht in der Art und Weise, wie ich mich in der Gesellschaft bewege, aber auch wie ich Sprechräume gestalten kann, welche Möglichkeiten und Chancen mir eröffnet werden, erst wenn wir das anerkennen, dann können wir ja weitergehen einen Schritt und tatsächlich zu den Idealen kommen, die eingefordert werden, nämlich alle Menschen gleich zu behandeln und als Individuen anzusehen. Das heißt, ja, hier wird was spiegelbildlich gerade gemacht. Es wird gesagt, guck mal, was eigentlich mit uns als denen, die wir zu anderen gemacht werden – wie zum Beispiel People of Colour oder schwarze Deutsche –, was mit uns passiert, und wir spielen jetzt einfach mal zurück, dass das, was du dir erarbeitet hast, nicht alles auf individueller Leistung beruht, sondern erst mal auf einer Position.

      Als weiße Wissenschaftlerin hab ich bestimmte Probleme im akademischen Raum definitiv nicht, die schwarze Wissenschaftler*innen, und wenn ich dann als Weiße angesprochen werde, ist das einfach eine Tatsache. Dafür kann ich nichts, aber dazu muss ich mich verhalten. Und das ist das was eigentlich wichtig ist, wenn jemand angesprochen wird als weiße Person oder als männliche Person, zu fragen: Was hat das gemacht mit mir“ Was bedeutet das für meine Positionierung? Was gibt mir das möglicherweise auch für Chancen? Was hat mir das eröffnet? Und von da aus zu reflektieren und sozusagen den Sprung zu wagen, die Vorstellung zu wagen, wie es anders sein könnte und wie wir eigentlich in einer Gesellschaft zusammenleben wollen, in der nicht alle sozusagen dieselben Chancen qua bestimmter Merkmale haben.

      Rohde: Das heißt aber, Sie erwarten eigentlich von jemandem wie jetzt zum Beispiel Herrn Thierse, dass er sich auch positioniert und möglicherweise auch als Betroffenen empfindet, also tatsächlich auch seine Privilegien versteht, um dann die Betroffenheit der anderen Seite auch nachvollziehen zu können. Er äußert sich ja ein bisschen anders und sagt eben, die Betroffenheit sollte nicht entscheidend sein, also das subjektive Empfinden darf gar nicht entscheidend sein, sondern das vernünftig begründete Argument.

      Geier: Ich finde es falsch, das gegeneinander zu stellen. Die Tatsache, dass ich anerkenne, dass ich eine bestimmte Position in der Gesellschaft habe, widerspricht ja nicht der Tatsache, dass ich vernünftige Argumente vorbringen kann. Mir ist dieser Widerspruch, der hier aufgemacht wird, vollständig unklar. Worum es eigentlich zu gehen scheint, ist, dass eine Idee da ist von Erfahrungen machen – jemanden, irgendwie, emotional – und dann kann er nicht vernünftig sein. Das sind völlig falsche Überlagerungen. Worum es geht, ist, dass wir anerkennen, dass es Verschiedenheit gibt in der Gesellschaft und dass diese Verschiedenheit sozusagen zum Teil auch eben sich in die Diskriminierung und Privilegierung äußert und dass das eine Bedeutung hat. Das heißt ja nicht, dass wir uns nicht darüber verständigen können, das vernünftige Argument schließt das ja überhaupt nicht aus. Deswegen meinte ich vorhin, dass Betroffenheit so negativ konnotiert ist, ist selber ein Problem, denn es bedeutet ja nicht, dass ich keine vernünftige Beschreibung des Zustandes machen kann, es heißt nur, anzuerkennen, dass nicht alle von vornherein gleich sind, sondern Gleichheit das Ziel ist. Gleichheit kann nicht proklamiert werden, und einfach zu sagen, wir brauchen Gemeinschaft und deswegen haben wir sie jetzt, sondern daran muss gearbeitet werden. Die Voraussetzung dafür ist, anzuerkennen, was der Status quo ist, und das bedeutet eben zum Beispiel, sich bewusst zu machen, dass es Menschen gibt, die machen Rassismuserfahrungen, und andere, die machen keine.

      Rohde: Machen wir das mal konkret, und zwar am Beispiel von Blackfacing, also von Weißen, die sich zu Unterhaltungszwecken schwarz anmalen oder angemalt haben in Shows, im Theater. Wolfgang Thierse sieht dieses Blackfacing auch positiv, wir hören mal kurz rein:

      Thierse: Kulturelle Aneignung über Hautfarben und ethnische Grenzen hinweg muss möglich sein, das ist ein Wesenselement von Kultur. Grenzüberschreitung, Aneignung von anderem, von Fremdem, sich zueigen machen, dabei die Unterschiede zwar wahrzunehmen, das Eigene wahrzunehmen …

      Rohde: Frau Geier, übersieht man möglicherweise die positive Funktion von so etwas wie Blackfacing, wenn man es durchweg als rassistisch bezeichnet?

      Geier: Es gibt keine positive Kulturaneignung von Blackfacing, weil das ja voraussetzen würde, dass Blackfacing jemals Teil einer schwarzen Kultur war. Aneignen von einer anderen Kultur kann ich mir sowieso nur, was zu einer anderen Kultur gehört. Blackfacing ist immer schon ein Produkt einer weißen Fantasie. Es ist eine Darstellungspraxis, die kommt aus den sogenannten Minstrel Shows, also weiße Schauspieler*innen spielen für ein weißes Publikum, zur Belustigung eines weißen Publikums schwarz sein, führen das vor mit diskriminierenden stereotypisierenden Vorstellungen, und es macht es nicht besser, wenn man dann sozusagen so tut, als ob die individuelle Handlung in einem anderen Kontext – nehmen wir mal Theater – sozusagen das als eine andere Kulturpraxis bezeichnen würde. Das ist es nämlich genau nicht, denn da haben wir wieder eine weiße Tradition. Deswegen sind das alles Praktiken, die man wirklich in keiner Weise als positive Kulturaneignung beschreiben kann. Was Herrn Thierse fehlt, ist eine Idee von Macht.
      Die Haut anderer als Maske zu tragen? Eine Grenzüberschreitung

      Rohde: Wie meinen Sie das?

      Geier: Wenn ich Blackfacing als positive Kulturaneignung beschreibe, dann hab ich ja nicht nur eine Idee davon, dass ein Sichbefremdenlassen von anderem oder in andere Schuhe schlüpfen irgendwie eine nette spielerische Idee ist, sondern dieses Moment von Aneignung ist ja immer ein Moment von Macht. Und dann ist ja die Frage, wer eignet sich wessen Kultur an, und dann sind wir sofort auch in Räumen, wo klar ist, dass es hier Machtungleichheit gibt. Also die Kulturaneignung ist ja eine, die immer in einer Relation und in einer Beziehung funktioniert und nicht so unschuldig ist – jeder schlappt mal in irgend wessen anderen Schuhe, sondern die ist eine, die ist auch mit historischen Bedeutungen belegt, wer sich in wessen Schuhe und wessen Maskeraden sozusagen ausführen kann. Herr Thierse wischt das einfach mal beiseite und macht das zu einem lustigen, sozusagen befreienden oder bereichernden Spiel, und das ist es nicht. Jemand anderes Haut als Maske zu tragen, ist eine Aneignung, die auch eine Grenzüberschreitung ist.

      Rohde: Schauen wir noch auf die Gendersprache: Der Eindruck ist da bei einigen, auch bei Wolfgang Thierse, entstanden, dass gendersensible Sprache an Unis angeordnet wird. Stimmt das?

      Geier: Universitäten haben durchaus Leitfäden für geschlechtergerechte Sprache oder inklusiven Sprachgebrauch, aber wie das Wort schon sagt, das sind eben Leitfäden, und es gibt keinen Fall, in dem irgendwo klar gewesen wäre, dass einem Studierenden vorgeschrieben worden wäre, geschlechtergerechte Sprache zu nutzen und dann entweder eine Note verweigert oder schlechter bewertet worden wäre, weil nicht geschlechtergerechte Sprache benutzt worden ist. Herr Thierse behauptet das, und ich wüsste gerne mal, ob es irgendeinen Beleg dafür gibt. Ich kennen keinen.

      https://www.deutschlandfunk.de/genderforscherin-geier-zu-identitaetspolitik-wir-muessen.694.de.html

    • Message reçu via une liste sur le monde universitaire, reçu le 09.06.2021 :

      Dear colleagues, dear friends, dear companions,

      as you may have noticed, a debate about academic freedom has been
      initiated in the German-speaking academic landscape by the
      self-proclaimed »Netzwerk Wissenschaftsfreiheit/Network Academic
      Freedom«, that proposes an understanding of academic freedom with which
      we do not agree. We have devised a position with a different
      understanding of academic freedom, and we’re deliberately not focusing
      too much on this network but want to reclaim the term: academic freedom
      from discrimination, from exclusion and from precariousness. Please read
      for yourself:

      -----
      "We are a coalition of scientists who actively advocate for academic
      freedom. We understand academic freedom as a process to extend
      participation in science. Thus, it also means enabling: of research, of
      teaching and of spaces for critical debate about the system of science,
      whose functioning is also based on discrimination, precariousness and
      exclusion.

      Since its foundation the university is a place where power and knowledge
      meet in a particular way. The resulting responsibility cannot give
      grounds to a claim to academic freedom that defends the university as
      innocent or leaves it unquestioned, as academic freedom is primarily
      constrained by certain historically evolved relations of power whose
      structures and modes of operation favor only a few people, perspectives,
      and geographies. In many places, both scientists and entire disciplines
      struggle to literally survive. However, it is precisely science that has
      the tools and thus the task to highlight the limits of a freedom of
      knowledge production and to work on shifting these limits. From our
      understanding of academic freedom, we ask what concept of freedom is
      presupposed, if this freedom has never held true for everyone in the
      first place. In addition, we ask who claims and uses objectivity in what
      form to hold on to a discoursive sovereignty of a few. Academic freedom,
      we believe, can contribute to consistently more diverse and critical
      universities acting and standing in solidarity.

      Consequently, to us, academic freedom represents the basis for processes
      of negotiation. These processes can and must take place in science if
      science wants to satisfy its own claim to create valid knowledge -
      knowledge by and for many - and to constantly reflect on itself in these
      processes. The ideal of academic freedom can only be approached in this
      way and, at the same time, it can be ensured that science does not
      delink itself from current developments. In such a manner, it can work
      towards a participation in which the diversity of our society is
      reflected. We understand academic freedom as freedom from
      discrimination, exclusion and precariousness and thus as actively
      enabling of the production of knowledge, research and teaching of the
      many.“

      ------

      We don’t want to leave the concept of academic freedom to those who
      currently use it as a battle cry and would like to go online with our
      position very soon. We have created a website especially for this
      purpose with which we deliberately want to get involved in the debate:
      Netzwerk-Wissenschaftsfreiheit.org [1].

      Therefore, we are writing today with a call for initial signatures and
      would appreciate feedback with the respective names of people who would
      like to join us. Maybe the network as a whole would like to sign this as
      well.

      Please respond by June, 10th, so that we can go online with the first
      (as many as possible) names.

      We welcome signatures from all fields of work and academic career
      levels. Also, since we want to take advantage of the conventional
      signaling effect of academic titles, we invite you to use your titles.

      The next step on the website will be to not only publish this general
      statement, but to also publish various subject-specific statements that
      address the topic of academic freedom from the respective disciplines or
      broader perspectives (gender studies, critical race studies, etc.). We
      will issue a separate invitation to this effect. However, it is already
      possible to sign this short text as a group, association, etc..

      If you are interested, you can find more information about the discourse
      around the Academic Freedom Network under these two links:

      https://www.deutschlandfunkkultur.de/debatte-um-die-freiheit-der-wissenschaft-mit-widerspruch.1005.

      https://srv.deutschlandradio.de/dlf-audiothek-audio-teilen.3265.de.html?mdm:audio_id=906012