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  •  »Die Gewalt war grauenhaft, aber es war absolut kein Pogrom« 
    https://www.nd-aktuell.de/artikel/1185594.krieg-im-nahen-osten-die-gewalt-war-grauenhaft-aber-es-war-absolu

    Apropos de l’abus du souvenir de l’holocauste et pourquoi l’attaque du Hamas contre Israel le sept octobre il y a un an ne fut pas de pogrome antisemite. Dans l’interview l’historien explique aussi la différence entre la discrimimation historique des juifs dans les pasys arabes (qui exista aue même titre que celle des chrétiens) et l’antisemitisme européen.

    Interview: Raul Zelik - Der Historiker Enzo Traverso über Antisemitismus, den 7. Oktober und die Umdeutung von Erinnerung

    Rund 800 israelische Zivilisten und 400 Sicherheitskräfte wurden am 7. Oktober 2023 durch den Angriff der Hamas und anderer palästinensischer Gruppen getötet.

    Rund 800 israelische Zivilisten und 400 Sicherheitskräfte wurden am 7. Oktober 2023 durch den Angriff der Hamas und anderer palästinensischer Gruppen getötet.

    Foto: afp/Oren ZIV

    Bevor wir über Ihr Buch über den Krieg in Gaza sprechen, möchte ich mehr über Ihren Werdegang als Historiker erfahren. Sie stammen aus Italien, gingen 1985 nach Paris und haben dort mit dem brasilianischen Philosophen Michael Löwy gearbeitet. Viele Jahre lang haben Sie vor allem zum Antisemitismus geforscht. Wie kam es dazu?

    Die 1980er Jahre waren nicht unbedingt ein Jahrzehnt des Antisemitismus, die Zeit war eher vom Aufstieg der Islamophobie geprägt. Aber die Erinnerung an den Holocaust gewann damals an Bedeutung. Ich erinnere mich, dass der 40. Jahrestag der antisemitischen Gesetze in Italien 1978 noch überhaupt keine Rolle gespielt hatte. Doch nun änderte sich das. Der französische Dokumentarfilm »Shoa« von Claude Lanzmann wurde im Fernsehen gezeigt …

    … in Deutschland verhinderte der Bayerische Rundfunk damals die Ausstrahlung im ersten Programm …

    … und Primo Levis letztes Buch »Die Untergangenen und die Geretteten« erschien. Nach einer Phase der historischen Verdrängung eignete man sich Geschichte neu an. Außerdem war das Jahrzehnt von Migration geprägt. Italien wurde zum Einwanderungsland, überall in Europa stellte sich die Frage nach der religiösen, ethnischen und kulturellen Vielfalt als einem Merkmal europäischer Identität. Das alles veranlasste mich, mich mit der sogenannten »Judenfrage« zu beschäftigen. Wie das Wort schon nahelegt, war es eine Annäherung über den Marxismus. In Italien war ich als Jugendlicher in der radikalen Linken aktiv gewesen und in Paris begegnete mir nun der Soziologe und Denker Michael Löwy. Er ist eine sehr interessante Figur: Seine Familie kommt aus dem zentraleuropäischen Judentum, er selbst wurde in Brasilien geboren und lebte in den 1960ern einige Jahre in Israel. Bei Löwy sind kritische Theorie und Marxismus aus lateinamerikanischer Sicht gedacht. Das hat mich interessiert, und daraus ging mein erstes Buch hervor: »Die Marxisten und die jüdische Frage«.

    In Deutschland wurden Sie bekannt, weil Sie eine scharfe Kritik an der Linken formulierten. Sie sagten, dass der Marxismus die Bedeutung des Antisemitismus immer unterschätzt habe. Die Ableitung des Antisemitismus aus ökonomischen Interessen sei falsch.

    Mich hat zunächst die Rolle des Judentums im Marxismus interessiert. In Italien und Frankreich waren viele Juden im 19. Jahrhundert relativ gut in den Staatsapparat integriert gewesen, der Weg ins Establishment stand ihnen offen. Im deutschsprachigen Mitteleuropa und in Russland hingegen war das anders. Dort wurden sie, wie es Hannah Arendt ausgedrückt hat, als »Paria«-Minderheit behandelt. Das hat es begünstigt, dass sich viele von ihnen der revolutionären Linken zuwandten. Interessanterweise haben sich diese jüdischen Marxisten aber gar nicht als Juden begriffen. Internationalismus und Kosmopolitismus bedeuteten für sie die Überwindung der jüdischen Tradition. Sie waren »nicht-jüdische Juden«, wie Isaac Deutscher es genannt hat. Ich denke, das erklärt teilweise, warum der Marxismus lange Zeit so blind für den Antisemitismus war. Ganz in der Tradition der Aufklärung war er der Überzeugung, dass der Antisemitismus ein vormodernes Vorurteil sei. Ein archaisches, obskurantistisches Phänomen. Das hat alle marxistischen Strömungen der Zwischenkriegszeit geprägt. 1939 veröffentlichte Max Horkheimer den Essay »Die Juden und Europa«, in dem er Antisemitismus als Ausdruck des Monopolkapitals interpretierte. Und der Sozialwissenschaftler Franz Neumann schrieb 1942, als in Auschwitz die Gaskammern in Betrieb genommen wurden, dass die Juden für den Nationalsozialismus eine unverzichtbare Rolle als Sündenbock spielten und deshalb von den Nazis nicht vernichtet werden würden.

    Ihr neues Buch »Gaza faces History« geht jetzt über den Krieg gegen die palästinensische Bevölkerung. Vielleicht können Sie uns erst einmal schildern, wie Sie den 7. Oktober 2023 wahrgenommen haben, als Hamas die Mauer durchbrach und Hunderte Zivilisten tötete.

    Ich dachte, dass dieser Angriff einem Selbstmord der Palästinenser gleicht. Nach internationalem Recht darf sich ein unterdrücktes Volk auch mit Waffen zur Wehr setzen, aber es gibt illegitime Formen dieser Gewalt. Hamas, eine fundamentalistische Bewegung, verübte ein Massaker an Zivilisten, und das ist keine gerechtfertigte Form des Widerstands. Das war meine erste Reaktion, aber schon wenige Tage später wurde das von dem Entsetzen überlagert, wie über den 7. Oktober gesprochen wurde. Die westlichen Staatschefs und Medien setzten das Narrativ vom »größten Pogrom seit dem Holocaust« in die Welt. Das ist eine völlig falsche Darstellung. Ein Pogrom ist ein geplanter Gewaltausbruch, der von einem Regime gegen eine unterdrückte Minderheit in Gang gesetzt wird. Am 7. Oktober 2023 aber geschah das Gegenteil: Es war der geplante Gewaltausbruch einer unterdrückten Minderheit gegen ein Regime. Wie gesagt: Die Gewalt war grauenhaft, aber es war absolut kein Pogrom.

    Warum ist es so wichtig zu entscheiden, ob der Begriff des Pogroms passend ist?

    Weil mit diesem Narrativ ein Ziel verfolgt wird: Der 7. Oktober soll in die Geschichte des Antisemitismus eingeordnet werden. Nach dem Motto: Die Palästinenser hassen die Juden aus antisemitischen Motiven. Das jedoch verschleiert den zugrundeliegenden Konflikt. Die Palästinenser werden seit Jahrzehnten durch Israel unterdrückt, Gaza ist seit 2007 abgeriegelt. Mit dem Antisemitismus-Vorwurf soll diese Gewalt unsichtbar gemacht und die Reaktion Israels legitimiert werden. Und uns muss auch klar sein, dass diese Reaktion nicht einfach »übertrieben« oder »maßlos« ist. Die israelische Regierung verfolgt erklärtermaßen das Ziel, die materiellen Lebensbedingungen und Infrastrukturen in Gaza zu zerstören.

    Ich erinnere mich an das Bild einer jungen, halbnackten jüdischen Frau, die unter dem Ruf »Allah ist groß« wie eine Trophäe durch Gaza gefahren wurde. Palästinensische Kanäle haben die Bilder selbst verbreitet – das war keine israelische Propaganda. Ist das kein Hass auf Juden?

    Natürlich, es gab fürchterliche palästinensische Handlungen, die durch nichts zu entschuldigen sind. Aber ich könnte Ihnen auch Dutzende von Aufnahmen zeigen, auf denen man sieht, wie israelische Soldaten Palästinenser rassistisch erniedrigen. Diese Formen der Gewalt sind widerlich, aber sie haben mit der Dynamik des Krieges zu tun. Und in diesem Zusammenhang muss man sehen, dass Gaza ein abgeriegeltes Internierungslager, ein palästinensisches Ghetto ist. Die große Mehrheit der überwiegend sehr jungen Bevölkerung kennt nichts anderes als diesen Zustand. Es liegt auf der Hand, warum der Hass auf die Israelis in der palästinensischen Bevölkerung so verbreitet ist. Aber ich halte es für inakzeptabel, das als Wiederkehr jenes ewigen Antisemitismus zu interpretieren, wie er sich in der christlichen Welt entwickelt hat.

    Sie schreiben von einer Schuldumkehr: Der Westen habe die Israelis zu Opfern, die Palästinenser zu Tätern gemacht. In Wirklichkeit allerdings sei es umgekehrt. Ist es so einfach? Sicher, die Palästinenser sind Vertriebene. Sie leben in der Dritten Welt, während Tel Aviv zur Ersten gehört. Aber ein vergleichbarer Gegensatz besteht doch auch zwischen Gaza und Dubai.

    Mein Buch ist keine Unterstützung der arabischen Länder, die bei der Unterdrückung der Palästinenser Komplizen sind. Einige arabische Länder hatten ja gerade erst das sogenannte Abraham-Abkommen unterzeichnet, das auf einen Friedensschluss ohne Palästinenser abzielt. Wenn man den 7. Oktober verstehen will, dann muss man diesen Zusammenhang erkennen. Die extreme Gewalt ist Ausdruck der Ohnmacht der Palästinenser im Westjordanland und der siebzehnjährigen Abriegelung Gazas, an der sich Ägypten aktiv beteiligt. Der 7. Oktober war die Antwort von Hamas auf die arabisch-israelischen Friedensverträge. Und tatsächlich hat Hamas erreicht, dass heute eine Friedenslösung ohne die Palästinenser nicht mehr vorstellbar ist. Ich wiederhole es noch einmal: Das entschuldigt ihre Gewalt nicht, und Hamas wusste, dass ihre Aktion Israels Rache heraufbeschwören würde. Es geht mir also gewiss nicht um eine dichotomische Sicht, bei der Israel der Bösewicht und die arabischen Länder die Opfer sind. Es gibt einen regelrechten Wettbewerb zwischen den antijüdischen Parolen der Hamas und den rassistischen Drohungen der israelischen Regierung – das ist beides überhaupt nicht hilfreich.

    Ist die arabische Erzählung vom harmonischen Zusammenleben der muslimischen Welt mit den Juden vor der Gründung Israels nicht auch eine Legende?

    Ich denke, wir sollten das deutlich vom Antisemitismus der westlichen Welt unterscheiden. Die Lage der Juden in der arabischen Welt war über Jahrhunderte deutlich besser als die in den christlichen Ländern. Trotzdem gab es auch dort eine Diskriminierung. Und mit der Staatsgründung Israels und den arabisch-israelischen Kriegen wurde die Stimmung in Algerien, dem Irak, Marokko oder Ägypten immer feindseliger gegen die jüdischen Gemeinden in diesen Ländern. Aber Netanjahus Erzählung, dass der Großmufti von Jerusalem als Ideologe hinter dem Holocaust steckte, ähnelt den antisemitischen Verschwörungserzählungen der Rechten. Das ist völliger Unsinn. Ich denke, dass wir es hier mit einer zionistischen Mythologie von einem universellen Antisemitismus zu tun haben, der den traditionellen Antisemitismus und seine Erzählung einer jüdischen internationalen Konspiration in gewisser Hinsicht spiegelt. In Wirklichkeit gab es im ehemaligen Ottomanischen Reich eine sehr reiche jüdische Kultur, die ab 1948 von den arabischen Ländern und Israel zerstört wurde.

    Ihr Buch »Gaza faces History« ist mittlerweile auf Italienisch, Spanisch, Französisch und Englisch veröffentlicht worden. Aber obwohl es sich stark auf die deutsche Debatte bezieht, gibt es bei uns bislang keine Ausgabe. Warum?

    Es wird demnächst in dem kleinen Verlag »Wirklichkeit Books« erscheinen, was mich sehr freut. Aber es stimmt: Größere Verlage haben abgewunken. Und auch wenn ich nicht sagen würde, dass ich das Buch für eine deutsche Leserschaft geschrieben habe, stimmt es, dass es die Situation in Deutschland zum Ausgangspunkt nimmt. In Deutschland wurde nämlich nicht nur der Holocaust geplant, sondern auch die Erinnerungspolitik spielt eine besondere Rolle. Das halte ich für sehr bemerkenswert. In Italien fehlt bis heute jede Aufarbeitung der eigenen Verbrechen. Obwohl der italienische Faschismus 1935 einen Völkermord in Äthiopien organisierte und Konzentrationslager in Libyen einrichtete, wird darüber in Italien nicht gesprochen. Deutschland hingegen hat einen wichtigen erinnerungspolitischen Prozess durchgemacht.

    Sie sagen aber auch, dass sich das gerade verschiebt.

    Ja, meiner Meinung nach erleben wir gerade eine Metamorphose der Erinnerung, die zunehmend als Vehikel zur Unterstützung des genozidalen Kriegs Israels in Gaza dient. Das hat fürchterliche Konsequenzen, denn es zerstört etwas, das über Jahrzehnte erkämpft werden musste. Das Holocaust-Mahnmal in Berlin wurde ja nicht einfach so gebaut, sondern musste in einem schmerzhaften Prozess durchgesetzt werden. Viele Menschen in der Welt werden jetzt zu der Einschätzung gelangen: »Wenn die Erinnerung an den Holocaust dazu dient, einen Genozid wie den in Gaza zu verüben, dann ist Erinnerung etwas Gefährliches.« Die Instrumentalisierung der Erinnerung wird letztlich dazu beitragen, den Geschichtsrevisionismus zu befeuern. Das halte ich für extrem beunruhigend.

    Der Kampf gegen den Antisemitismus gilt in Deutschland als »Staatsräson«. Sie schreiben in Ihrem Buch, das sei ein brandgefährlicher Begriff. Was steckt hinter der Staatsräson?

    Man kann es bei Machiavelli nachlesen: Die Staatsräson ist so etwas wie die dunkle, verborgene Seite des Rechtsstaats. Sie erlaubt es einer liberalen Demokratie, die die Todesstrafe längst abgeschafft hat, Hinrichtungen im eigenen Interesse zu organisieren. Oder wie in Guantanamo ein Gefängnis einzurichten, das außerhalb des nationalen und internationalen Rechts steht. In diesem Sinne steht die Staatsräson im Widerspruch zur Demokratie und ist über dem Gesetz angesiedelt. Oder wie es Giorgio Agamben ausgedrückt hat: Sie ist der Ausnahmezustand. Wenn Olaf Scholz und Angela Merkel von »Staatsräson« sprechen, heißt das, dass es etwas gibt, das über dem Recht steht. Und damit vermittelt man: Ihr könnt machen, was ihr wollt. Ich halte es für extrem wichtig, dass der Kampf gegen Antisemitismus in Deutschland ins geschichtliche Bewusstsein integriert wurde. Aber der Kampf gegen den Antisemitismus ist nicht identisch mit der Verteidigung Israels.

    Ist nicht auch in der internationalen Linken vieles durcheinander geraten? In vielen Ländern wird Hamas von Linken als »nationale Befreiungsbewegung« gefeiert. Dabei zeigt die Entwicklung des Iran seit 1979 doch recht deutlich, wo religiöse Revolutionen dieser Natur hinführen: sie sind antifeministisch, antikommunistisch und reaktionär.

    Ja, Hamas ist eine antidemokratische, autoritäre, frauenfeindliche und homophobe Bewegung und wäre in einer freien Gesellschaft der Feind der Linken. Das liegt auf der Hand. Aber wer zum palästinensischen Widerstand gehört und wer nicht, entscheiden nicht wir, sondern die Palästinenser. Selbstverständlich würden wir uns etwas anderes wünschen, aber Tatsache ist, dass Hamas die führende Kraft des Widerstands gegen die Besatzung ist. Ihre Mitglieder sind es, die in den Tunneln gegen Israel kämpfen, und deshalb erkennt mittlerweile wohl auch eine Mehrheit der Palästinenser im Westjordanland die Hamas als Führungskraft an. Auch Israel sieht das so: Man verhandelt mit der Hamas, nicht mit der PLO.

    Worin könnte eine emanzipatorische Lösung des Nahost-Konflikts bestehen? Dass alle Menschen, die heute dort leben, bleiben und alle, die vertrieben wurden, zurückkehren können?

    Das Bleiberecht der Juden wird auch von Hamas nicht infrage gestellt. 2014 und 2017 gab es Veränderungen in der Hamas-Charta, die besagen, dass die Organisation einen Staat in Gaza, der Westbank und Ost-Jerusalem errichten will. Außerdem gab es vor 1948 in Palästina eine jüdische Gemeinschaft, deren Existenz als selbstverständlich erachtet wird. Und es existiert heute eine israelische Nation mit einer lebendigen Sprache und Kultur. In diesem Konflikt geht es meiner Ansicht nach deshalb nicht um das Existenzrecht dieser Nation, sondern um das Recht der Juden, in einem Staat der Juden und für die Juden zu leben. Einem Staat, der allein für Juden reserviert ist – und das in einem Territorium, in dem auch Millionen Palästinenser leben. Heute gilt »From the river to the sea« in vielen Ländern als antisemitische Parole. Aber wer den Landstrich zwischen Fluss und Meer faktisch allein für sich beansprucht, ist Israel. Die israelische Armee kontrolliert das ganze Gebiet, und die israelische Regierung hat klar gesagt, dass sie keinen zweiten Staat dort dulden wird. Es ist also der heute vorherrschende radikale Zionismus, der eine rassistische Interpretation des »From the river to the sea« propagiert.

    Muss Israel zu einer Zweistaatenlösung gezwungen werden?

    Die Anerkennung Palästinas durch Spanien und andere EU-Staaten ist eine gute Sache, aber ich glaube nicht an die Zweistaatenlösung. Aufgrund der Geografie, der Infrastrukturen und der demografischen Durchdringung wird das kaum durchsetzbar sein. Die einzige denkbare Friedenslösung ist ein plurinationaler Staat, möglicherweise eine Föderation oder eine andere, neu zu erfindende Form, die die völlige Rechtsgleichheit aller Bürger garantiert. Unabhängig davon, ob sie sich als Palästinenser, Juden, Muslime, Christen oder etwas anderes begreifen, und unabhängig davon, ob sie Hebräisch oder Arabisch sprechen. Das ist zugegebenermaßen schwierig. Aber ein Staat, der Juden aus der ganzen Welt die Staatsbürgerschaft garantiert, aber die Rückkehr der von dort vertriebenen Bevölkerung und ihrer Nachkommen verhindert – das ist inakzeptabel. Anderswo scheint uns das mittlerweile selbstverständlich. Die BRD beruhte lange Jahre auf einem »ius sangunis«, dem Blutsrecht. Die Nachkommen deutschstämmiger Menschen aus Russland wurden aufgenommen, während die seit Generationen in Deutschland lebenden Migranten Fremde blieben. Ein solcher Volksbegriff kann keinen Bestand haben. Ich verstehe nicht, warum die BRD, die ihre Staatsbürgerschaft reformiert hat, uneingeschränkt ein Land verteidigt, das 2018 zu einem »völkischen Staat« geworden ist. Ethnoreligiöse Staaten sind Anachronismen. Wenn Israel diesen Widerspruch nicht löst, wird es trotz aller militärischen Stärke nicht überleben.

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    Der Historiker Enzo Traverso, Jahrgang 1957, politisierte sich im Italien der 1970er Jahre, ging 1985 nach Paris und forschte dort vor allem zur Bedeutung des Antisemitismus. Seit einigen Jahren ist er Professor an der Cornell University, New York. Wenige Monate nach der Eskalation des israelisch-palästinensischen Krieges im Oktober 2023 veröffentlichte er das Buch »Gaza faces History«, in dem er der europäischen Erinnerungspolitik vorwirft, sich in ein Werkzeug zur Rechtfertigung der Massaker an der palästinensischen Bevölkerung verwandelt zu haben .

    #Allagne #Italie #Israel #Gaza #Éthiopie #colonialisme #antisemitisme

  • Busfahrer über BVG-Krise: »Mittlerweile ist es die Hölle«
    https://www.nd-aktuell.de/artikel/1185514.oepnv-busfahrer-ueber-bvg-krise-mittlerweile-ist-es-die-hoelle.ht

    24.9.2024 von Christian Lelek - Unter der BVG-Krise leidet auch das Fahrpersonal

    Die Berliner Verkehrbetriebe stecken in einer handfesten Krise. Regelmäßig wird ein neuer Notfahrplan präsentiert, der das Angebot eindampft, sodass sich die Anfahrhäufigkeit veringert. Trotzdem fallen immer mehr Züge aus. Konnte die BVG im Jahr 2022 noch 99,2 Prozent aller geplanten U-Bahn-Fahrten anbieten, waren es bis August dieses Jahres 93 Prozent. Jede 15. U-Bahnfahrt fiel aus.

    Auch das Busangebot nimmt entgegen der Aussage von BVG-Vorstand Henrik Falk kontinuierlich ab. Falk hatte im August behauptet, das reale Busangebot der BVG sei so groß wie nie. Einer Analyse des Centers Nahverkehr Berlin zufolge, auf den sich ein RBB-Bericht beruft, sank die Fahrleistung der BVG-Busse von angebotenen 94,5 Millionen Fahrkilometern 2021 mittlerweile auf 90,2 Millionen Fahrkilometer – in etwa so viel wie 2016. So die Prognose. Bestellt habe das Land Berlin eigentlich 97,9 Millionen Kilometer. Für 2030 sind 101 Millionen Buskilometer vereinbart. Dass sie erreicht werden, während Vorstandschef Falk ein Wachstum innerhalb der nächsten zwei bis drei Jahre ausschließt, ist fraglich.

    Die Krise spüren nicht nur die Fahrgäste. Gerade die Beschäftigten sind tagtäglich mit dem eingeschränkten Betrieb der landeseigenen Verkehrsbetriebe konfrontiert. Dabei scheint der Mangel an tauglichen Fahrzeugen und Personal nur ein Aspekt zu sein, der zu einer erhöhten Arbeitsbelastung führt. Umgekehrt scheinen, wenn man den Beschäftigten glaubt, die Arbeitsbedingungen ein Grund dafür zu sein, dass Kolleg*innen ihr Arbeitsverhältnis beenden.

    Jan Förster fährt seit 18 Jahren für die BVG. Exemplarisch schildert er »nd« eine Fahrt von vergangener Woche auf der Linie 265 von Schöneweide zum Märkischen Museum: »Statt 7,58 geplanter Stunden, hatte ich am Ende 8,45 Stunden gearbeitet und dabei nur einen Bruchteil meiner Pausen genommen.« Am Ende habe er ensprechend Verspätung gesammelt, die er an den nächsten Kollegen übergeben habe. Sie fahre regelmäßig dem Fahrplan hinterher, sagt Försters Kollegin Petra Roth. Sowohl Roth als auch Förster sind Mitglieder im Personalrat der BVG. »Wenn du 20 Minuten hinterherhängst, drückst du dir schonmal einen Toilettengang weg. Ich versuche dann trotzdem eine kleine Pause zu machen, meine Stulle zu essen und eine Zigarette zu rauchen«, sagt Roth. Mittlerweile habe die BVG die Fahrzeiten für die einzelnen Strecken zwar verlängert, gleichzeitig aber die Ein- und Ausfahrten zu den Betriebshöfen verkürzt, sagt Roth.

    »Manchmal komme ich mir vor, als müssten wir an vorderster Front die Prügel einstecken für das, was andere zu verschulden haben.«
    Petra Roth Busfahrerin

    Von ganz jung bis ganz alt würden die Fahrgäste zudem immer respektloser, wie Roth sagt. »Dann bekomme ich einen Spruch gedrückt und werde sitzen gelassen, ohne dass ich antworten kann«, sagt sie. »So was nimmst du den Arbeitstag über mit.« Ihr Kollege pflichtet ihr bei. Er sei eigentlich ein leidenschaftlicher Busfahrer, sagt Förster. »Mittlerweile ist aber das, was man als Busfahrer innerhalb wie außerhalb des Busses erlebt, die Hölle.« Die auf das Hauptstadtimage gemünzten Werbekampagnen der BVG hätten geradezu dazu eingeladen, sich in den Fahrzeugen gehen zu lassen. Damit zurück blieben aber die Fahrer, sagt Förster. Auch die Verkehrssituation habe sich verändert. Es gehe rücksichtsloser und aggressiver zu. »Manchmal komme ich mir vor«, sagt Roth, »als müssten wir an vorderster Front die Prügel einstecken für das, was andere zu verschulden haben.« Roth meint, vorprogrammierte Ansagen des Unternehmens könnten dazu führen, dass das Fahrpersonal nicht persönlich den Kopf hinhalten muss, wenn es darum geht, Probleme zu kommunizieren.

    Förster spricht davon, dass die BVG ihre digitales Potenzial nicht ausschöpfe. »Warum muss ich, wenn selbst die Fahrzeiten jedes Fahrzeugs in Echtzeit eingesehen werden können, Vorfälle, die sich während der Fahrt ereignen, auf Zetteln dokumentieren«, fragt er.

    Doch nicht für alles sei das Unternehmen verantwortlich. Die Verkehrspolitik trage entschieden dazu bei, dass nicht die volle Leistung erbracht werden könne. »Es hat mit der Personalsituation erstmal nichts zu tun, wenn die Vorrangschaltung der Ampeln nicht funktioniert, wenn Bezirke unabgesprochen voneinander verzögernde Baustellen gewähren.« Und dann sei da noch der Faktor Geld: Der BVG stünden für das, was der Senat mit ihr will, zu wenig Mittel zur Verfügung, sagt Förster.

    Stichwort Geld: Das sei ein Ansatzpunkt, die Belastung zu kompensieren und den Beruf attraktiver zu machen, sagt Försters Kollegin Roth. Die alleinerziehende Mutter mit zwei Kindern müsse inzwischen über 100 Euro für einen Wochenendeinkauf aufbringen. Auch Miete und Energie seien teurer geworden. Nächstes Jahr steht die Tarifrunde zum Entgelt bei der BVG an.

    Förster plädiert mit Blick auf den hohen Krankenstand für mehr Regenerationszeit in Form von längeren Wendezeiten und mehr Urlaub. Elemente, die eigentlich im Manteltarifvertrag geregelt werden, der erst dieses Jahr erneuert wurde. Vor einigen Jahren hat Förster seine Arbeitswoche von 37,5 auf 31 Stunden reduziert. Ihm seien während der Fahrten durch die große Belastung immer mehr Fehler unterlaufen. »Ich habe dann eigenständig die Reißleine gezogen.«

    Roth vermisst auch den innerbetrieblichen, »fast schon familiären Zusammenhalt«, den sie zu Beginn kennengelernt habe. Damals habe sie gewusst, wer vor ihr fährt und wer hinter ihr. Man habe sich verabredet, um die Heimwege teilweise gemeinsam zu verbringen. Heutzutage sei das anders.

    Sicher liege es an der hohen Fluktuation, vielleicht auch an der heutigen Generation und zunehmenden Sprachbarrieren oder daran, dass jede*r mehr auf sich schaue, sagt Roth. »Früher gab es ein Verständnis davon, dass wir zusammen stark sind.« Noch sei es so, dass ein Kern von Mitarbeiter*innen vor den Arbeitskämpfen die Kolleg*innen durch ihren Enthusiasmus mitreißen könnte. »Darauf hoffe ich auch für die anstehende Tarifrunde. Dennoch wird die gewerkschaftliche Kultur immer weniger weitergegeben.«

    #Berlin #Verkehr #Arbeit #Gewerkschaft #BVG

  • Polizeipraxis zwischen staatlichem Auftrag und öffentlicher Kritik: Herausforderungen, Bewältigungsstrategien, Risikokonstellationen

    Das Forschungsprojekt hat Diskriminierungsrisiken in der Polizeiarbeit untersucht. In der ethnografischen Studie werden die Arbeitsprozesse des Einsatz- und Streifendienstes, der Kriminalpolizei und der Bereitschaftspolizei soziologisch beschrieben und dabei diskriminierungsanfällige Alltagspraktiken identifiziert. In Abgrenzung zu anderen Projekten, die überwiegend Einstellungen und Wertehaltungen von Polizeibeamtinnen und Polizeibeamten untersuchen, liegt das Forschungsinteresse hier auf polizeilich funktionalen Routinen, Praxismustern und Verfahren, denen Risiken für Diskriminierung innewohnen (institutionelle Diskriminierung).

    https://www.pa.polizei-nds.de/forschung/projekte/forschungsprojekt-polizeipraxis-zwischen-staatlichem-auftrag-und-oeff

    #rapport #police #racisme #discrimination #Allemagne

    ping @cede

    • Die Polizei ist rassistisch

      Neue Studie zu struktureller Diskriminierung im Polizeialltag vorgelegt

      Dass Polizeibeamt*innen in Deutschland im Alltag Rassismus praktizieren, belegen Berichte von Betroffenen seit Jahren. Inzwischen gibt es auch eine Reihe von Urteilen zum »Racial Profiling«, also gezielten Kontrollen von Menschen, denen die Polizei einen Migrationshintergrund unterstellt und die nur deshalb in eine Maßnahme geraten. Diese Praxis widerspricht der Europäischen Menschenrechtskonvention, die in Artikel 14 ein Diskriminierungsverbot bestimmt.

      Eine Studie der Polizeiakademie Niedersachsen hat untersucht, welche polizeilichen Arbeitsprozesse die beobachtete Diskriminierung begünstigen. Astrid Jacobsen und Jens Bergmann haben dazu in verschiedenen Abteilungen den Alltag von Polizist*innen im Streifendienst, bei der Bereitschaftspolizei oder der Kriminalpolizei analysiert.

      (#paywall)

      https://www.nd-aktuell.de/artikel/1185113.strukturelle-diskriminierung-die-polizei-ist-rassistisch.html

  • Selbstredendes Dasein
    https://www.nd-aktuell.de/artikel/1086819.marx-und-sprache-selbstredendes-dasein.html

    Combien de langues parlait Karl Marx et quel rapport a cette question avec l’écriture inclusive.

    4.5.2018 von Peter Porsch - Dass es Marx und noch mehr Engels mit der Sprache und den Sprachen hatten, ist unbestritten. Zu Zeiten des »real existierenden Sozialismus« bemühten sich fleißige Menschen wie einst die mittelalterlichen Mönche, die »Heiligen Schriften« zu durchforsten und alle Belege für die Beschäftigung der beiden mit Sprache zu sammeln und dokumentieren. So entstand im Institut für Marxismus-Leninismus beim ZK der SED ein schließlich 726 Seiten umfassendes Konvolut zu »Karl Marx/Friedrich Engels. Über Sprache, Stil und Übersetzung« (Heinz Ruschinski und Bruno Retzlaff-Kresse, Berlin 1974).

    Marx und Engels beherrschten die klassischen Sprachen Griechisch und Latein, was ihnen bereits in ihren Abiturzeugnissen bescheinigt wird. Engels erweiterte diese Fertigkeit auf etwa 20 Sprachen. Marx bewegte sich ziemlich sicher nebst der deutschen Muttersprache im Englischen, Französischen und Spanischen. Es wird ihm von Zeitgenossen für diese Sprachen grammatische Korrektheit nachgesagt. Es wird ihm freilich auch seine mangelhafte Aussprache vor allem des Spanischen angekreidet. Die Beschäftigung mit der damals die Linguistik beherrschenden Historisch-Vergleichenden Sprachwissenschaft eines Jacob Grimm und anderer ermöglichte ihm zumindest das Lesen in den meisten modernen europäischen Sprachen. Engels hätte mit seinen Ausführungen über Sprachen und Mundarten, hervorgehoben jene über den Fränkischen Dialekt, auch als passabler Sprachhistoriker seiner Zeit gelten können.

    Sprache war für Marx (und natürlich auch Engels) »das praktische, für andere Menschen existierende, also auch für mich selbst erst existierende wirkliche Bewußtsein« (Marx/Engels, »Die Deutsche Ideologie«, MEW 3, S. 30). Es war ein gesellschaftliches Bewusstsein. Diese Feststellung führt nun zum vielleicht wichtigsten Marx-Zitat über das Wesen von Sprache: »Die Sprache selbst ist ebenso das Produkt eines Gemeinwesens, wie sie in andrer Hinsicht selbst das Dasein des Gemeinwesens und das selbstredende Dasein desselben.« (Marx, »Grundrisse der Kritik der politischen Ökonomie«, MEW 42, S. 3). Damit ist Sprache in das unbestreitbare wechselseitige Verhältnis mit der Gesellschaft eingebettet: »In dem Akt der Reproduktion selbst ändern sich nicht nur die objektiven Bedingungen … sondern die Produzenten ändern sich, indem sie neue Qualitäten aus sich heraus setzen, sich selbst durch die Produktion entwickeln, umgestalten, neue Kräfte und neue Vorstellungen bilden, neue Verkehrsweisen, neue Bedürfnisse und neue Sprache.« (MEW 3, S. 402)

    Sprache erzählt uns in ihrer jeweiligen historischen Ausprägung etwas über die Gesellschaft. Dies geschieht natürlich nicht historisch synchron. Als »selbstredendes Dasein der Gesellschaft«, bekommt Sprache eine eigenständige, von der Entwicklung und dem Entwicklungsstand der Gesellschaft relativ losgelöste Existenz. Ehe sie der gesellschaftlichen Entwicklung folgt, kündet sie auch von vorherigen und überkommenen Zuständen in der Gesellschaft.

    Es reflektieren sich also die Kämpfe in der Gesellschaft auch in der Sprache auf der ihr eigentümlichen Weise und bestimmen ihre Veränderung. Insofern kann man ein Stück strukturalistischer, von Ferdinand de Saussure begründeter, methodologischer Festlegung folgen, die »Sprache an und für sich selbst« sei der Gegenstand der Sprachwissenschaft, unabhängig von ihrem Gebrauch. (vgl. F. de Saussure, »Grundfragen der allgemeinen Sprachwissenschaft«, Berlin 1967, S. 279) Marx kann das jedoch völlig zu Recht nicht genügen. Sprache funktioniert wohl nach ihren eigenen Regeln, sie »lebt« aber in ihrer Verwendung, ist in dieser untrennbar mit Gesellschaft verbunden. Das macht Sprachsoziologie bzw. Soziolinguistik zum notwendigen methodischen Prinzip von Sprachanalyse.

    Versuchen wir eine Aktualisierung anhand des derzeit fast fanatisch ausgetragenen Streits um das sogenannte Gendern in der Sprache. Dazu kehren wir zunächst zu Marx und Engels in die »Deutsche Ideologie« zurück. »Die Gedanken der herrschenden Klasse sind in jeder Epoche die herrschenden Gedanken, d. h. die Klasse, die die Mittel zur materiellen Produktion zu ihrer Verfügung hat, disponiert damit zugleich über die Mittel zur geistigen Produktion, so daß ihr damit zugleich im Durchschnitt die Gedanken derer, denen die Mittel zur geistigen Produktion abgehen, unterworfen sind.« (MEW 3, S. 46)

    Im Sinne des Eingangszitats von der Sprache als praktisches Bewusstsein gilt das eben auch und nicht zuletzt für Sprache. Marx deckt das auf und geht zugleich der Sprache auf den Leim. Marx weiß: »Der gesellschaftliche Fortschritt lässt sich exakt messen an der gesellschaftlichen Stellung des schönen Geschlechts (die hässlichen eingeschlossen).« (Marx an Kugelmann, MEW 32, S. 583) Die nicht einmal unter relativierende Anführungsstriche gestellte Benennung der Frauen als »schönes Geschlecht« lässt ahnen, welche Eigenschaften von Frauen in patriarchalen Gesellschaften relevant waren. Marx erkennt wohl, dass seine Feststellung für die Frauen allgemein gilt, weil er sie auch für die »hässlichen« gelten lässt, genau genommen bräuchte er aber eine »neue« Sprache, um seinen Gedanken explizit auch als kritischen Gedanken für das Überkommene zu kennzeichnen. Gesellschaftlicher Fortschritt, wie er ihn versteht, besteht ja gerade darin, dass Frauen sich von der Bindung an ihr Aussehen befreien und zum Subjekt ihrer Emanzipation werden.

    Für eine Gesellschaft, in der das der Fall ist, ist Sprache demnach erst dann das »selbstredende Dasein« derselben, wenn dies unmissverständlich zum Ausdruck kommt. Nehmen wir an, dass aktuell wenigstens der selbstbewusste Kampf von Frauen für ihre Emanzipation charakteristisch für unsere Gesellschaft ist, dann dürfen wir uns wenigstens nicht wundern, dass engagierte Frauen dies auch sprachlich verankert wissen wollen; also eindeutig und ausdrücklich mitgemeint sein wollen, wenn von Personen in der Gesellschaft die Rede ist. Strukturalistische Analyse meint, dies sei durch das sogenannte »generische Maskulinum« ausreichend getan. Das grammatische Maskulinum habe zwei Funktionen: Es drücke das natürlich Männliche aus und zugleich das Allgemein-Menschliche, Funktionen Hervorhebende.

    Der in Sprache ausgedrückte gesellschaftliche Zustand verselbstständigt sich als Gedanke davon und nimmt die »Form der Allgemeinheit« an. (vgl. MEW 3, S. 47) Für Sprache an und für sich betrachtet mag das ausreichen und sogar stimmen. Ärztinnen sind dann Bestandteil der Gruppe von »Ärzten«. Der Sprache als »selbstredendes Dasein des Gemeinwesens« wird es heute nicht mehr gerecht. Weil Sprache eben im Gebrauch lebt, stellt man immer wieder fest, sollen Menschen, einen Arzt, einen Lehrer, einen Polizisten, einen Kunden beschreiben, so läuft es in der großen Mehrzahl der Fälle auf die männliche Version hinaus. Erst wenn man nach einer Ärztin, einer Lehrerin, einer Polizistin oder einer Kundin fragt, werden Frauen genannt.

    Feministische Linguistik sucht nun im Verein mit »aufgeweckten« Frauen Lösungen. Die fallen von Sprache zu Sprache verschieden aus, weil die Sprachsysteme für die Reflexion des natürlichen Geschlechts unterschiedliche Angebote machen. Das Deutsche bietet verschiedene Möglichkeiten an. Zwei verschiedene Wörter - »Meine Damen und Herren«. Das Splitting - »Studentinnen und Studenten«. Beim Wort »Studentinnen« ist jedoch das Ausgangswort männlich. Weiblich wird es erst durch die Ableitung, was manche schon als diskriminierend empfindet. Hier bietet sich die Substantivierung des Partizips an - »Studierende«.

    Die Versuche, eine geschlechtergerechte Sprache zu entwickeln, sind vielfältig. Die Widerstände sind heftig. In die gesetzten Normen der Rechtschreibung wird durch neue Zeichen eingegriffen. Letztlich wird die Sprach- bzw. Kommunikationsgemeinschaft über Brauchbares und Bleibendes entscheiden. Marx ist auch bezüglich der Sprache kein Prophet, sondern wie in allem »nur« Analyst, der uns wohl allgemeine Entwicklungstendenzen aus gegebenen Widersprüchen ableiten, nicht aber die konkrete Gestalt der Ergebnisse vorhersagen kann.

    Mit Gewissheit gilt auch für Sprachgeschichte, was Marx gleich zu Beginn seines »Achtzehnten Brumaire des Louis Bonaparte« anmerkt: »Die Menschen machen ihre eigene Geschichte, aber sie machen sie nicht aus freien Stücken, nicht unter selbstgewählten, sondern unter unmittelbar vorgefundenen, gegebenen und überlieferten Umständen. Die Tradition aller toten Geschlechter lastet wie ein Alp auf dem Gehirne der Lebenden.« (MEW 8, S. 115) Und es gilt für Neues in der Sprache mutatis mutandis, was Marx für eine neu zu lernende Sprache weiß: »So übersetzt der Anfänger, der eine neue Sprache erlernt hat, sie immer zurück in seine Muttersprache, aber den Geist der neuen Sprache hat er sich nur angeeignet, und frei in ihr zu produzieren vermag er nur, sobald er sich ohne Rückerinnerung in ihr bewegt und die ihm angestammte Sprache in ihr vergißt.«

    Prof. Dr. Peter Porsch, 1944 in Wien geboren, studierte Germanistik zunächst an der Universität seiner Geburtsstadt und ab 1968 an der FU Berlin. 1973 übersiedelte er in die DDR und lehrte an der Karl-Marx-Universität in Leipzig Linguistik; 1997 bis 2001 war er Vorsitzender der PDS in Sachsen. Porsch ist Vorsitzender der Rosa-Luxemburg-Stiftung Sachsen .

    #langue #Karl_Marx #histoire #écritiure_inclusive

  • Digitalisierung und extreme Rechte: Digitale Seifenblasen machen Nazis | nd-aktuell.de
    https://www.nd-aktuell.de/artikel/1184919.digitalisierung-und-extreme-rechte-digitale-seifenblasen-machen-n

    Quand la droite publie un livre fantôme. #DDR #WTF

    Herr Kowalczuk also wurde vor den Wahlen rauf und runter interviewt: Er hätte sich für sein Buch keinen besseren Zeitpunkt aussuchen können. Was den Inhalt betrifft, werde ich mir ganz sicher nicht anmaßen, seine Kompetenz anzuzweifeln. Könnte ich auch gar nicht, selbst wenn ich wollte. Da das Buch quasi seit Erscheinen vergriffen ist, es ist gerade gar nicht möglich, es zu lesen.

  • Internationale Linke formulieren »Appell für den Frieden«
    https://www.nd-aktuell.de/artikel/1184953.ukraine-krieg-internationale-linke-formulieren-appell-fuer-den-fr


    Janine Wissler, Jeremy Corbyn, Luciana Castellina: Der Westen soll »nicht in Waffen, sondern in Diplomatie investieren«

    2.9.2024 von Pauline Jäckels - Rote Rosen für den Frieden: Linke aus über zehn verschiednen ländern sind andereist, um über Friedensperspektiven für die Ukraine zu sprechen.

    Rote Rosen für den Frieden: Linke aus über zehn verschiednen ländern sind andereist, um über Friedensperspektiven für die Ukraine zu sprechen. Foto: nd/Pauline Jäckels

    Eine Gruppe Linker hat am Wochenende in Berlin einen »Appell für den Frieden in der Ukraine« veröffentlicht. Zu den Unterzeichnern gehören Politiker und Aktivisten aus der ganzen Welt, die zur Konferenz der Rosa-Luxemburg-Stiftung »Diplomatie jetzt!« zusammengekommen waren. Darunter die Linke-Chefin Janine Wissler, der Ex-Labour-Chef Jeremy Corbyn, die italienische Linkspolitikerin Luciana Castellina, Mónica Valente von der brasilianischen Arbeiterpartei und Kazuo Shii von der Kommunistischen Partei Japans. Sie fordern: Westliche Regierungen sollen »nicht in Waffen, sondern in Diplomatie investieren«.

    Den Großteil des Konferenztages hatten die linken Vertreter aus über zehn verschiedenen Ländern damit verbracht, sich über schon existierende Diplomatie-Initiativen aus Brasilien, Indien, China und Südafrika auszutauschen. Einen solchen dezidiert linken Austausch habe es noch nicht gegeben, sagt Ines Schwerdtner, die Moderatorin der Konferenz, dem »nd«.

    Am Morgen hatten der ukrainische Friedensaktivist und Kriegsdienstverweigerer Yurii Sheliazhenko und der russische Politiker Evgeni Stupin die Teilnehmenden über russische und ukrainische Perspektiven zu einer möglichen Friedenslösung nach dem russischen Angriffskrieg informiert.

    Zum Ende der Tagung trugen Stiftungsleiter Heinz Bierbaum und Luciana Castellina den gemeinsamen erarbeiteten Friedensappell auf Deutsch und Englisch vor: »Wir stehen an der Seite der ukrainischen Bevölkerung und aller Opfer dieses Krieges, die so schnell wie möglich Frieden, Wiederaufbau und Freiheit verdienen.« Klar sei aber, dass dies ohne diplomatische Verhandlungen nicht erreichbar ist. Deshalb müssten die Zivilgesellschaft und die internationale Gemeinschaft alle Anstrengungen unternehmen, um den Weg für einen Waffenstillstand und anschließende Gespräche für »einen dauerhaften Frieden zu ebnen«.

    Statt sich damit zu befassen, welche »Waffen als Nächstes an die Ukraine geliefert werden sollen«, wollten die Linken Wege entwickeln, wie die europäischen und westlichen Regierungen dazu beitragen können, Friedensgespräche zu ermöglichen. Dabei komme es darauf an, »die diplomatischen Initiativen aus China, Brasilien, den afrikanischen oder anderen Ländern aufzugreifen, um die Kriegsparteien zu einem Ende des Krieges zu bewegen«.

    Trotz unterschiedlicher Positionen innerhalb der Linken zur Ukraine-Frage sei eine gemeinsame Position möglich, so die Unterzeichner: »Ein gemeinsamer Appell für Verhandlungen und Druck auf die westlichen Regierungen, nicht in Waffen, sondern in Diplomatie zu investieren.«

    Anscheinend gab es auch unter den Konferenzteilnehmenden unterschiedliche Ansichten zur Frage der Waffenlieferungen. In der englischen Version des Appells hieß es nämlich: »nicht nur in Waffen, sondern auch in Diplomatie« – statt: »nicht in Waffen, sondern in Diplomatie«. Die deutsche Version ohne »nur« sei aber die finale Vision, so Heinz Bierbaum.

    #international #gauche #paix #guerre #Ukraine

  • Seenotrettung: Am Anfang waren Unternehmer

    Das erste zivile Rettungsschiff finanzierten Millionäre.

    »Helden zur See« betitelte eine deutsche Zeitung das Porträt des Millionärsehepaars Christopher und Regina #Catrambone, das am 25. August 2014 das erste zivile Rettungsschiff ins zentrale Mittelmeer schickte. Die beiden hatten während einer Kreuzfahrt eine Schwimmweste im Wasser entdeckt, was sie nach eigenen Angaben zum Nachdenken über die steigende Zahl ertrinkender Geflüchteter brachte. Also gründeten die Catrambones die gemeinnützige Hilfsorganisation #Migrant_Offshore_Aid_Station (#MOAS), kauften für acht Millionen Dollar die 40 Meter lange »Phoenix« und stachen in See.

    Auf dem umgebauten Trawler stationierte die Besatzung zwei Helikopterdrohnen mit Nachtsicht- und Wärmebildkameras. Zwischenzeitlich konnten die Catrambones für die Kombüse Stephan Staats gewinnen, der als »Koch der Superreichen« für teures Geld weltweit mit Millionären auf ihren Yachten unterwegs ist.

    MOAS beschreibt die Gründung auf seiner Webseite als Reaktion auf den Schiffbruch vor der italienischen Insel Lampedusa, bei dem im Oktober 2013 mindestens 368 Menschen starben. Italien startete daraufhin die Marinemission »Mare Nostrum«, die in beinahe einem Jahr 150 000 Menschen an Bord nahm. Auf Druck der Europäischen Union stellte die Regierung in Rom »Mare Nostrum« wieder ein, am 1. November 2014 übernahm Frontex mit der wesentlich mickriger ausgestatteten Mission »Triton«. Ihr Ziel war nicht mehr die Rettung von Menschen, ihr Einsatzbereich umfasste auch nur küstennahe italienische Gebiete. Dort wartete die EU-Grenzagentur, wer die Überfahrt lebend überstanden hatte, und nahm von den Asylsuchenden Fingerabdrücke für den Antrag in Italien. Diese Politik setzt Frontex bis heute fort.

    Weil bei »Triton« nicht Menschenleben, sondern Migrationsabwehr im Fokus stand, gründeten vier Familien aus Brandenburg ebenfalls 2014 den Verein Sea-Watch und sammelten Geld für ein erstes, gleichnamiges Schiff, das am 20. Juni 2015 erstmals im Einsatz war. Damals wie heute kritisiert der Verein, dass die EU nicht für eine adäquate zivile Seenotrettung auf dem Mittelmeer sorgen will – was deshalb Hilfsorganisationen übernehmen müssen.

    Organisationen wie #Sea-Watch geht es aber auch um größere Politik. Der Unternehmer #Harald_Höppner, der den Verein initiiert hatte, betonte schon damals die »multiplen Krisen«, die Menschen in die gefährliche Flucht treiben: Kriege, Klimawandel, Armut, Hunger.

    Mit der 70 Meter langen »Sea-Watch 5« hat der Verein dieses Jahr ein weitaus größeres Schiff in Betrieb genommen, betreibt außerdem das 14-Meter-Rettungsboot »#Aurora« und konnte zwei Vereine von Pilot*innen dafür gewinnen, seit 2017 mit kleinen Flugzeugen nach Booten mit Geflüchteten zu suchen.

    Die von europäischen Organisationen ins zentrale Mittelmeer entsandte zivile Rettungsflotte ist inzwischen auf rund 20 Schiffe angewachsen – die allerdings wegen Werftzeiten, Reparaturen oder Rotationen nicht immer gleichzeitig unterwegs sind. Finanziert werden die beispiellosen Missionen größtenteils durch Spenden.

    In Deutschland konnten die Vereine mit politischem Druck 2022 für einen Bundestagsbeschluss sorgen, wonach die Bundesregierung vier Jahre lang jährlich zwei Millionen Euro für die Seenotrettung ausgibt; die Gelder werden verwaltet vom Verein »United 4 Rescue«, der auch Spenden kirchlicher Organisationen erhält.

    Früh waren die Aktivist*innen auf See auch Repression ausgesetzt. Anfangs ging diese hauptsächlich von libyschen Milizen aus, die als »Küstenwache« bereits 2016 mit Waffengewalt die Brücke der »Sea-Watch« besetzten. Diese Bedrohungen setzen sich bis heute fort. Seit 2023 macht den Organisationen vor allem ein neues italienisches Gesetz zu schaffen, wonach Schiffe, wenn sie zu viel retten, festgesetzt und die Kapitän*innen mit Geldstrafen belegt werden können.

    https://www.nd-aktuell.de/artikel/1184726.eu-grenzen-seenotrettung-am-anfang-waren-unternehmer.html

    #histoire #sauvetage_en_mer #sauvetage #ONG #migrations #réfugiés #Méditerranée #mer_Méditerranée #frontières
    ping @_kg_

  • Mindesttarif für Uber-Fahrten kommt später
    https://www.nd-aktuell.de/artikel/1184463.verkehrspolitik-mindesttarif-fuer-uber-fahrten-kommt-spaeter.html

    13.8.2024 von David Rojas Kienzle - Der Berliner Senat plant für über Apps wie Uber und Bolt gebuchte Fahrten Mindesttarife, aber erst für Anfang 2025
    Fahrdienstleister wie Bolt, Uber oder Freenow können in Berlin noch mindestens bis Ende 2024 Kampfpreise anbieten.

    Man muss es Uber, Bolt, Freenow und Co. lassen: Das Angebot, dass die Plattformen machen, ist transparent. Bevor man eine Fahrt bucht, ist klar, wie viel man für die avisierte Strecke zahlt. Und meistens sind die Preise auch günstig. Günstiger zumindest als in klassischen Taxis.

    Dieser Preisvorteil ist aber ein Problem. »Das ist ein ruinöser Dumpingwettbewerb«, sagt etwa der verkehrspolitische Sprecher der Linksfraktion im Abgeordnetenhaus, Kristian Ronneburg. Auch aus der Branche selber kommen kritische Stimmen. Der Geschäftsführer von Freenow hatte in einer Ausschusssitzung im Februar gesagt, dass das Geschäftsmodell legal wirtschaftlich langfristig nicht zu betreiben sei.

    Der Senat plant nun, Mindesttarife für über in Apps gebuchte Fahrten einzuführen. Das ist aber ein langwieriger Prozess. Man strebe an, die Erarbeitung einer beschlussfähigen Anordnung im Wege der Allgemeinverfügung bis Jahresende abzuschließen, schreibt die Senatsverwaltung für Mobilität in der Antwort auf eine schriftliche Anfrage des Linke-Politikers Kristian Ronneburg. Ex-Verkehrssenatorin Manja Schreiner hatte noch im Februar angekündigt, dass dies im Sommer oder Herbst geschehen werde

    Dabei sind die Folgen des Preisdumpings in dem Gewerbe genauso desaströs wie bekannt. Im Wettbewerb um die Beförderung von Personen greifen nicht wenige Mietwagenunternehmen, die für die großen Plattformen ihre Dienste anbieten, zu unlauteren Mitteln. Das für die Zulassung zuständige Landesamt für Bürger- und Ordnungsangelegenheiten hat schon mehr als 1600 Mietwagen wegen fehlender Zulassungen aus dem Verkehr gezogen. Und im Juli hatten Recherchen des RBB ergeben, dass ein Netzwerk von mindestens 61 Unternehmen mit mehr als 1300 Autos systematisch Steuern und Sozialabgaben hinterzogen hat.

    Einer der Punkte, mit dem die Verkehrsverwaltung die Langwierigkeit der Erarbeitung der Verordnung für Mindesttarife begründet, ist, dass im Rahmen der Verhältnismäßigkeitsprüfung auch die Auswirkungen der im Juni eingeführten Festpreisoption auf die Taxinachfrage zu evaluieren seien. Diese neu eingeführte Festpreisoption ermöglicht es Taxiunternehmen seit dem 1. Juli, genau wie Uber und Co, vorab Preise oder Preiskorridore festzulegen. Mit dieser Regelung soll einer der Wettbewerbsnachteile für Taxen beseitigt werden. »Das eine hat mit dem anderen nichts zu tun«, meint hingegen Ronneburg. Das Problem seien nicht nur die Wettbewerbsnachteile für Taxen, sondern vielmehr die Praxis im Mietwagengewerbe mit all ihren Problemen.

    »Gerade bei der Einhaltung des Mindestlohns gibt es in der Branche ein Problem«, sagt Ronneburg. Die Mindesttarife müssten sich an realistische Preisen orientieren. »Wir haben seit drei Jahren eine neues Personenbeförderungsgesetz und seither hat sich noch nichts geändert«, so Ronneburg weiter. Das sei ein Missstand, vor allem da Berlin im Fokus der Branche sei.

    Die Verkehrsverwaltung hingegen verweist auf die juristische Komplexität der rechtlichen Umsetzung preisregulierender Vorgaben. Sowohl nationale als auch europarechtliche Vorgaben seien zu beachten. Auch externe Rechtsexpertise werde herangezogen. »Natürlich betritt man juristisches Neuland«, sagt Ronneburg, »aber dafür, ob man vorankommt, ist der politische Wille entscheidend.« Es habe den Anschein, dass die Verwaltung Klagen gegen die Mindesttarife befürchte.

    Diese Befürchtung ist nicht von der Hand zu weisen. Die Stadt Leipzig hatte 2021 Mindesttarife eingeführt, wogegen ein Mietwagenunternehmer Klage eingereicht hat. Auch der Europäische Gerichtshof hat 2023 Mindesttarife in Barcelona kassiert. Diese könnten nicht mit dem Ziel gerechtfertigt werden, die wirtschaftliche Lebensfähigkeit der Taxidienste zu gewährleisten, so das Gericht. Argumente, um einzugreifen, gibt es aber auch ohne Vergleich mit dem Taxigewerbe genug. Einer der Anbieter, Freenow, hat schon im April angekündigt, sich zurückzuziehen, weil das Unternehmen zu dem Schluss gekommen sei, dass man Gesetze brechen müsse, um über die Runden zu kommen.

    #Berlin #LABO #UBER #Regulierung

    • Dazu:
      #Personenbeförderungsgesetz (#PBefG)
      § 51 Beförderungsentgelte und -bedingungen im Taxenverkehr
      https://www.gesetze-im-internet.de/pbefg/__51.html

      (1) Die Landesregierung wird ermächtigt, durch Rechtsverordnung Beförderungsentgelte und -bedingungen für den Taxenverkehr festzusetzen. Die Rechtsverordnung kann insbesondere Regelungen vorsehen über

      1.
      Grundpreise, Kilometerpreise und Zeitpreise sowie Festpreise für bestimmte Wegstrecken,
      2.
      Zuschläge,
      3.
      Vorauszahlungen,
      4.
      die Abrechnung,
      5.
      die Zahlungsweise und
      6.
      die Zulässigkeit von Sondervereinbarungen für den Pflichtfahrbereich.

      Die Landesregierung kann die Ermächtigung durch Rechtsverordnung übertragen. Für Fahrten auf vorherige Bestellung können Festpreise bestimmt oder Regelungen über Mindest- und Höchstpreise getroffen werden, innerhalb derer das Beförderungsentgelt vor Fahrtantritt frei zu vereinbaren ist.
      (2) Sondervereinbarungen für den Pflichtfahrbereich sind nur zulässig, wenn

      1.
      ein bestimmter Zeitraum, eine Mindestfahrtenzahl oder ein Mindestumsatz im Monat festgelegt wird,
      2.
      eine Ordnung des Verkehrsmarktes nicht gestört wird,
      3.
      die Beförderungsentgelte und -bedingungen schriftlich vereinbart sind und
      4.
      in der Rechtsverordnung eine Pflicht zur Genehmigung oder Anzeige vorgesehen ist.

      (3) Bei der Festsetzung der Beförderungsentgelte und -bedingungen sind § 14 Abs. 2 und 3 sowie § 39 Abs. 2 entsprechend anzuwenden.
      (4) Die ermächtigten Stellen können für einen Bereich, der über den Zuständigkeitsbereich einer die Beförderungsentgelte und -bedingungen festsetzenden Stelle hinausgeht, in gegenseitigem Einvernehmen einheitliche Beförderungsentgelte und -bedingungen vereinbaren.
      (5) Für die Anwendung der Beförderungsentgelte und -bedingungen gilt § 39 Abs. 3 entsprechend.

  • Digitales Pflaster
    https://www.nd-aktuell.de/artikel/1184241.digital-offensiven-digitales-pflaster.html

    4.8.2024 von Anne Roth - Wenn die Infrastruktur kaputtgespart ist, nutzt auch der neue Online-Service nichts, weiß Anne Roth

    »Leider konnten wir keinen Termin für Sie vereinbaren«, schrieb mir der Terminservice meiner Krankenkasse vor ein paar Tagen.

    Ich hatte eine Überweisung einer Fachärztin für eine ambulante Untersuchung im Krankenhaus – plus Empfehlung, welches es sein sollte. Als ich dort anrief, wurde ich gefragt, ob ich privat versichert sei, und als ich verneinte, gab es einen Termin im November. Kann ja nicht sein, dachte ich und erinnerte mich, dass meine Kasse gelegentlich freundlich darauf hinweist, dass sie superpraktische digitale Services anbietet, darunter einen, der Fachärzt*innen-Termine findet. »Nutzen Sie unseren Online-Service!«

    Gesagt, getan. Ich mag digitale Angebote: Ich muss nirgends hin, kein stundenlanges Warten in Telefonschleifen, und ich muss mit niemandem reden. Vorsichtshalber hatte ich im Terminformular angegeben, dass ich für so eine Untersuchung nicht nur in Berlin überall hinführe, sondern bis zu 50 Kilometer drumherum, um auf der sicheren Seite zu sein. Es gibt über 100 Krankenhäuser in Berlin, da würde sich was finden, dachte ich.

    Pustekuchen. In der Hauptstadt eines der entwickeltsten Länder der Welt gibt es zwar allerhand digitale Services, aber eine kleine Lücke in der Gesundheitsversorgung. Wenn ich Fragen habe, könne ich mich noch mal melden, stand in der Mail vom Terminservice. »Wir sind gern für Sie da.« Ich schrieb hin und erfuhr, dass ich selbst bei einem anderen Krankenhaus, dem Uni-Klinikum XY, nachfragen könne. Ergebnis: Einen Termin dort könnte ich im Januar 2025 haben.

    Meine Kasse wird von Jahr zu Jahr digitaler: Ich kann Krankenscheine hochladen, Bonuspunkte sammeln (leider verfallen die nach einem Jahr, da wäre ein digitaler Warn-Service praktisch) oder Fitness-Apps ausprobieren. Und eben Fachärzt*innen-Termine buchen lassen – wenn es welche gäbe. Vielleicht wäre es besser, wenn die Kassen ihre Energie darauf konzentrierten, die Gesundheitsversorgung zu verbessern. Dann bräuchte ich auch keinen Service, der zu nichts führt.

    Dass digitale Tools und Apps Probleme lösen sollen, die kein bisschen digital sind, gibt es gerade wieder an jeder Straßenecke zu sehen. Der Berliner Regierende Bürgermeister Kai Wegner bestritt seinen Wahlkampf mit der Losung, dass in Berlin endlich alles funktionieren sollte. Dass es keine Termine in Bürgerämtern gibt – ein Problem, über das der Rest der Republik so lacht wie ganz Europa über die Deutsche Bahn –, sollte irgendwie digital gelöst werden. Zwei Wochen nur noch sollte die Wartezeit schon Ende 2023 dauern, aber, naja, das ging schief. Kürzlich musste Wegner konstatieren: »Wir haben das 14-Tage-Ziel noch nicht bis Ende 2023 erreichen können.« Noch nicht. Vielleicht will er das ja noch schaffen, aber im Sommer 2024 jedenfalls gibt es Termine weder digital noch analog. Während ich dies schreibe, erklärt mir die berlinweite Suche nach einem Termin für die Beantragung eines Personalausweises: »Leider sind aktuell keine Termine für ihre Auswahl verfügbar.«

    Wo das Personal für die Ämter fehlt, hilft auch keine schönere Website.

    Ebenfalls sportlich auf mehr Digitalisierung setzt die Postbank und kündigt an, dass es in Berlin künftig nur noch 20 Filialen geben soll, davon nur noch fünf mit den gewohnten Post-Dienstleistungen. Die Postbank soll zu einer »Mobile-First-Bank« werden. Ich kenne nicht viele Menschen, die ohne nachzudenken erklären können, wie viele Passwörter, Einmal-Nummern oder Spezial-Sicherheits-Apps sie gebraucht haben, um ihr Online-Banking einzurichten. Die meisten segeln irgendwie durch das Verfahren und hoffen, dass alles gut geht. Dass das keine gute Grundlage für den sicheren Umgang mit Geld ist, ist klar, aber wird schon, die Bank schreibt ja, dass wir das so machen sollen. Meistens geht es vermutlich auch gut, aber hier liegt einer der Gründe, warum es auch allerhand Leute gibt, die lieber einen Bogen ums Online-Banking machen. Dazu kommen jene, die die dafür nötigen Geräte gar nicht haben.

    Weil es für die Postbank billiger ist, einfach keine Filialen zu unterhalten, setzt sie auf das Prinzip »Wer nicht hören will, muss fühlen«. Warum wird nicht endlich ein verständliches und nachvollziehbares System entwickelt, das für alle Banken dasselbe ist? Ich bin überzeugt, dass sich Menschen eher auf neue, digitale Methoden einließen, wenn sie gut erklärt würden und weniger verwirrend wären, aber die Postbank setzt lieber auf Pädagogik aus dem letzten Jahrhundert: Wenn die Leute nicht freiwillig mitmachen, müssen sie eben gezwungen werden. Es sei ja zu ihrem Besten, irgendwann werden sie schon erkennen, dass es digital einfach besser geht. In diesem Fall vermutlich der Bank. Wenn es keine Überweisungsautomaten mehr gibt, bleibt den Postbank-Kund*innen ja nichts anderes übrig, als es irgendwie online hinzukriegen.

    Diese Erzählung findet sich ziemlich häufig: Digital ist besser, und wer nicht mitmacht, ist zu alt oder unmodern. Dabei könnten digitale Hilfsmittel ganz großartig sein – wenn es gut durchdachte, sichere und leicht verständliche digitale Methoden gäbe, deren Ziel es ist, uns den Alltag zu erleichtern. Alt und unmodern ist die Methode, Menschen zu etwas zu zwingen, was sie nicht verstehen.

    Bei der Postbank liegt das Problem ein bisschen anders als bei Krankenhäusern oder Bürgerämtern: Im einen Fall ist die App ok, kann aber die fehlenden Angebote nicht ersetzen, im anderen versteht niemand, wie Online-Banking funktioniert, was bei einigen zu Verweigerung führt. So oder so aber wird das, was digital ersetzt wird, aus Kostengründen zusammengestrichen.

    Digitalisierung ist viel zu oft eine schlechte App, die wie ein Pflaster auf ganz andere Probleme geklebt wird, die entstehen, weil die notwendige Infrastruktur zum Funktionieren einer Gesellschaft kaputtgespart wird. Ein Digitalisierungsproblem ist das allerdings nicht.

    Anne Roth

    Anne Roth gehört zu den Pionierinnen linker Netzpolitik. Für »nd« schreibt sie jeden ersten Montag im Monat über digitale Grundrechte und feministische Perspektiven auf Technik.

  • Arbeitskampf : Gewerkschaft : Kein Streik am Klinikum in Weimar
    https://www.zeit.de/news/2024-07/31/gewerkschaft-kein-streik-am-klinikum-in-weimar

    Les églises allemandes ne sont pas soumis au code du travail en ce qui concerne la représentation de ses employés par les syndicats. Cette exception juridique est contestée par le syndicat Ver.di qui voudrait engager des négatiations tarifaires pour les employés des cliniques à Weimar. Le tribunal du travail de la ville doit alors décider si une grève est légale pour les employés d’un hôpital qui est la propriété d’une entreprise privée qui est contrôlée par l’église

    31.7.2024 - Thüringen
    Arbeitskampf: Aufgrund eines laufenden Gerichtsverfahrens führt die Gewerkschaft Verdi den geplanten Warnstreik am Klinikum Weimar nicht durch. (Symbolbild)
    Aufgrund eines laufenden Gerichtsverfahrens führt die Gewerkschaft Verdi den geplanten Warnstreik am Klinikum Weimar nicht durch.

    Die Gewerkschaft Verdi hat einen für Donnerstag geplanten Warnstreik am Klinikum Weimar abgesagt. Hintergrund sei ein laufendes Gerichtsverfahren, teilte ein Gewerkschaftssprecher am Abend mit. Bisher gebe es keine rechtskräftige Entscheidung zu dem geplanten Warnstreik. Die Gewerkschaft kritisiert, dass das Arbeitsgericht Erfurt die mündliche Verhandlung zum Eilverfahren auf einen Termin nach dem geplanten Ausstand angesetzt habe. «Dieses Verfahren haben wir so noch nicht erlebt», sagt Verdi-Landesfachbereichsleiter Bernd Becker.

    Die Evangelische Kirche Mitteldeutschland, die Diakonie Mitteldeutschland und das Sophien- und Hufeland-Klinikum Weimar hatten zum zuvor beim Arbeitsgericht Erfurt eine einstweilige Verfügung gegen den Warnstreik-Aufruf eingereicht. Die wiederholten Streikandrohungen widersprächen dem verfassungsgemäßen Selbstbestimmungsrecht der Kirchen, hieß es in einer gemeinsamen Mitteilung der kirchlichen Verbände. Das evangelische Krankenhaus sei nicht befugt, in Tarifverhandlungen mit der Gewerkschaft einzutreten. Für Kirchen gilt ein eigenes Arbeitsrecht.

    Kirche gegen Gewerkschaft
    https://www.nd-aktuell.de/artikel/1184077.warnstreik-am-klinikum-weimar-kirche-gegen-gewerkschaft.html

    29.7.2024 von David Bieber -
    Verdi ruft zu ganztägigem Warnstreik am Klinikum Weimar auf

    Jetzt also doch: Nach mehreren Androhungen und trotz eingereichter Unterlassungsklage der Evangelischen Kirche Mitteldeutschland, kurz EKM, will Verdi mit einem Warnstreik auf die Rechte der Beschäftigten auch bei kirchlichen Trägern aufmerksam machen. Die Dienstleistungsgewerkschaft hat die Beschäftigten des Sophien- und Hufeland-Klinikums Weimar für kommenden Donnerstag, zur Teilnahme an einem ganztägigen Warnstreik aufgerufen.

    Hintergrund ist die Weigerung der Evangelischen Kirche, der ihr zugeordneten Diakonie Mitteldeutschland sowie der beiden Krankenhäuser, Tarifverhandlungen mit Verdi aufzunehmen. Sie verweisen auf den sogenannten Dritten Weg, der der Kirche laut der im Grundgesetz verbrieften Trennung von Staat und Kirche Selbstbestimmung bei Lohnfindung sowie bei der Gestaltung der Arbeitsbedingungen ermöglicht.

    Auf nd-Nachfrage heißt es von der EKM, dass demnach Entscheidungen möglichst im Konsens getroffen werden sollten. »Konflikte werden nicht über Mittel des Arbeitskampfes, sondern durch ein verbindliches Schlichtungsverfahren gelöst.« Heißt: Tarifverhandlungen mit der Gewerkschaft und Streikmaßnahmen in kirchlich-diakonischen Einrichtungen liegen außerhalb des kirchlichen Rahmens und sind daher unzulässig. »Unsere Gemeinwohlorientierung steht da in einem offenherzigen Widerspruch zum Arbeitskampf«, erklärt die EKM, die bereits vor einer Woche Klage gegen Verdi beim Arbeitsgericht Erfurt eingereicht hat.

    Für Bernd Becker, bei Verdi in Thüringen für das Gesundheitswesen zuständig, sei es ein »Unding im Jahre 2024 und völlig aus der Zeit gefallen«, dass die Klinikleitung in Weimar Warnstreiks mit juristischen Mitteln verhindern will. »Die Beschäftigten nehmen lediglich ihr demokratisches Grundrecht in Anspruch. Sie wollen selbst auf ihre Arbeitsbedingungen Einfluss nehmen – in Tarifverhandlungen auf Augenhöhe.« Es gebe ein Recht auf Koalitionsfreiheit, um Arbeits- und Wirtschaftsbedingungen tariflich zu regeln und notfalls auch streikweise durchzusetzen.

    Zugleich stellte das »Dreigestirn« von Kirche, Diakonie und Klinikum klar, dass »Gewerkschaften auch in diakonischen Unternehmen eingeladen sind, sich in die Tarifgestaltung einzubringen«. Die gewerkschaftliche Betätigung sei erwünscht in den arbeitsrechtlichen Kommissionen – allerdings ohne Arbeitskampf.

    Es geht also bei der Auseinandersetzung um Grundsätzliches: einen Kulturkampf zwischen einem laut Kritikern althergebrachten kirchlichen System, das jahrzehntelang unantastbar zu sein schien, und einem (neuen) gewerkschaftlichen Selbstverständnis, das infrage stellt, was viele Beschäftigte seit Langem umtreibt. Hierzu gehört auch die Abschaffung des Dritten Weges. »Wir halten ihn im Gegenteil für modern und gut geeignet, den permanenten Veränderungen in der Arbeitswelt durch das Konsensmodell in der Arbeitsrechtssetzung zu entsprechen«, erwidert die EKM. Vielmehr sei das »Gewerkschaftsmodell von Streik und Ausgrenzung« überkommen, weil es auf Kampf und nicht auf klug austarierte Kooperation setze.

    »Die Beschäftigten wollen selbst auf ihre Arbeitsbedingungen Einfluss nehmen – in Tarifverhandlungen auf Augenhöhe.«
    Bernd Becker Verdi

    Oft liegt das Lohngefüge im kirchlichen Arbeitskontext unterhalb von dem im öffentlichen Dienst. Im Sophien- und Hufeland-Klinikum gelten bisher die Arbeitsvertragsrichtlinien der Diakonie Mitteldeutschland. Anfang dieses Jahres waren dort die Entgelte um 4,9 Prozent angehoben worden bei gleichzeitiger Reduzierung der Wochenarbeitszeit von 40 auf 39 Stunden; zum kommenden Jahr gibt es ein weiteres Lohnplus von 5,4 Prozent sowie einen zusätzlichen Urlaubstag, teilt die EKM mit. Seit 2019 wurden demnach Lohnerhöhungen von insgesamt 30,6 Prozent beschlossen. Die Entgelt-Anpassungen im öffentlichen Dienst beliefen sich laut EKM im selben Zeitraum auf 18,85 Prozent.

    Die Beschäftigten im Klinikum Weimar kritisieren laut Verdi, dass sie immer nur in der Zuschauerrolle bei den Verhandlungen sind. Hinter den Kulissen und ohne demokratische Beteiligung werde über ihre Arbeitsbedingungen entschieden, befindet Gewerkschaftssekretär Becker. Ein weiterer Kritikpunkt ist, dass insbesondere langjährige Beschäftigte und Hilfskräfte gegenüber den Tarifverträgen des öffentlichen Dienstes deutlich schlechter gestellt sind.

    Auf der einen Seite reklamiere die Kirche, hier die Klinikleitung in Weimar, kirchliche Sonderrechte, auf der anderen Seite sei sie ein eigenständiges und damit profitorientiertes Wirtschaftsunternehmen, kritisiert Becker. »Beschäftigte in den Bereichen Essensversorgung, Cafeteria und Reinigung sind in Tochtergesellschaften ausgegliedert, nur um die Löhne zu drücken.« Zudem seien Beschäftigte im Labor und die meisten Hebammen nach Angaben nicht mehr in kirchlicher Anstellung. »Für alle diese Kolleginnen und Kollegen gilt das weltliche Arbeitsrecht, für andere aber nicht«, sagt der Gewerkschafter. »Das passt hinten und vorne nicht.«

  • Kokain und Kriminelle: Eine ganz weiße Spur
    https://www.nd-aktuell.de/artikel/1184108.ecuador-kokain-und-kriminelle-eine-ganz-weisse-spur.html

    Funktioniert wie #Uber

    30.7.2024 von Karin Gabbert - In #Ecuador eskaliert der Krieg gegen die #Drogenmafia

    Anfang Januar 2024 inszenierte das organisierte Verbrechen in Ecuador für einige Tage einen regelrechten Bürgerkrieg. Bei der Besetzung eines ecuadorianischen Fernsehsenders und in mehreren Gefängnissen kam es zu Geiselnahmen, Schießereien und zum Einsatz von Autobomben. Seitdem steht das Land unter Schock.

    Präsident Daniel Noboa hat den bewaffneten Banden umgehend den Krieg erklärt und das Militär auf die Straße geschickt. Für seine Politik der harten Hand bzw. den »Krieg gegen die Drogenmafia und Narco-Terroristen« erhält er viel Zuspruch. Doch die versprochene Sicherheit ist ausgeblieben. Die Mehrheit der Gesellschaft scheint noch immer wie gelähmt.

    Zwischen Manta im Norden und der Hafenmetropole Guayaquil im Süden kämpfen die ecuadorianischen Banden derzeit erbittert um die Kontrolle von Straßen und Stadtvierteln. In der Grenzstadt Durán etwa bekriegen sich Chone Killers, Latin Kings und Los Lobos. Trotz massiven Militäreinsatzes sind hier seit Jahresbeginn etwa 200 Menschen bei Bandenkämpfen ums Leben gekommen.

    Dennoch verkündete Präsident Noboa kürzlich, seine Regierung habe »den Ecuadorianern den Frieden zurückgegeben«. Er rühmte seine Erfolge, vor allem Zehntausende Festnahmen und sinkende Mordraten. Doch viele Menschen halten diese Zahlen für unglaubwürdig, denn die Wirklichkeit vor Ort spricht eine andere Sprache.

    Mehr Macht fürs Militär

    Die Regierung verwickelt sich in Widersprüche. Einerseits muss sie Erfolge im Krieg gegen die Drogenmafia vorweisen, andererseits gegenüber dem Verfassungsgericht begründen, warum sie weiter das Militär einsetzt. Im Mai behauptete Noboa, die kriminellen Banden hätten sich wegen der staatlichen Militäroffensive in die Küstenprovinzen zurückgezogen, und verhängte dort den Ausnahmezustand. Das Militär darf deshalb ohne Begründung Wohnungen durchsuchen.

    Ein derart hartes Vorgehen wird auch dadurch erleichtert, dass die Kriminellen pauschal zu »Terroristen« erklärt werden. Der Juraprofessor Luis Córdoba wendet sich gegen das entsprechende Dekret, in dem es lapidar heißt: »Nichtstaatliche Kriegsparteien, die sich in der Zivilbevölkerung verstecken und den Staat angreifen, müssen neutralisiert werden«. Córdoba kritisiert: »Da die Feinde sich als Zivilisten tarnen, ist die Antwort (...) von Haus zu Haus zu gehen, um die Verbrecher zu finden, die sich als Bürger tarnen«.

    Die Narcobanden, denen in Ecuador schätzungsweise 50.000 Personen angehören, sind Teil eines internationalen Netzwerks. Sie arbeiten für transnationale kriminelle Unternehmen wie die mexikanischen Kartelle Sinaloa und Jalisco Nuevoa Generación, aber auch für europäische Mafia-Gruppierungen.

    Ecuador droht im Kampf gegen die Drogengewalt nun den gleichen Irrweg zu gehen wie zuvor bereits Mexiko und Kolumbien. Gegen die Narcobanden mit Soldaten ins Feld zu ziehen, hat dort das Gewaltniveau in schwindelerregende Höhen getrieben. Mexiko hat den Anti-Mafia-Kampf seit 2006 immer weiter militarisiert. Seitdem sind 116.000 Menschen verschwunden und 460.000 getötet worden.

    Wie in Mexiko operiert auch das ecuadorianische Militär unter einem rechtlichen Sonderstatus. Laut dem Dekret 206 vom März 2024 werden alle Aufträge des Militärs fünf Jahre lang geheim gehalten. Das hatte die US-Regierung gefordert – im Gegenzug liefert sie nun Ausrüstung, Ausbildung und Spionagesoftware für das ecuadorianische Militär. Auch hier liegt eine Parallele zu Mexiko, wo das Militär von den USA die Spionagesoftware Pegasus erhielt, die sie dann auch gegen Zivilist*innen und Regimegegner*innen einsetzte.

    In Mexiko ist die Armee längst selbst zum Teil des Drogenbusiness geworden. Es gibt Anzeichen, dass sich das ecuadorianische Militär – bisher die Institution, die in der Bevölkerung das größte Vertrauen genießt – ebenfalls zunehmend in korrupte Strukturen verstrickt.

    Mit eiserner Faust

    Ein Merkmal des militarisierten Drogenkrieges ist der Angriff auf Aktivist*innen. Dabei handelt es sich um sogenannte lideres sociales, also Menschen, die sich für Umwelt-, Menschen- oder Arbeitsrechte einsetzen. Dieses Vorgehen kennt man aus Kolumbien, wo Drogenhändler jahrzehntelang vom Staat in Ruhe gelassen wurden, weil sie für diesen die Drecksarbeit übernahmen, sprich: unliebsame Oppositionelle ermordeten. Verstrickt sind oftmals auch internationale Großunternehmen. Erst im Juli wurde der Bananenkonzern Chiquita, der die verantwortlichen Paramilitärs in Kolumbien finanziert hatte, in den USA dazu verurteilt, 38 Millionen US-Dollar Entschädigung an die Familien ermordeter Arbeiter in Kolumbien zu zahlen.

    Auch in Ecuador gibt es inzwischen Morddrohungen der Mafia gegen Gewerkschafter*innen und Menschenrechtsverteidiger*innen. Die Bananenexporteure haben die Arbeiter*innen auf ihren Plantagen schon immer bedroht und dafür Schlägertrupps angeheuert. Jetzt übernehmen Banden des organisierten Verbrechens, die eng mit der Polizei in den Plantagengebieten zusammenarbeiten, diese »Dienstleistung«.

    Die ecuadorianische Regierung, die erst seit November 2023 im Amt ist, nutzt den Drogenkrieg auch dafür, die Interessen transnationaler Konzerne mit Gewalt durchzusetzen. An manchen dieser Konzerne sind Firmen im Besitz der Präsidentenfamilie direkt beteiligt; die Familie Noboa gilt als reichste des Landes. So ging das Militär beispielsweise, kurz nachdem der Präsident im März Verträge mit kanadischen Bergbauunternehmen unterzeichnet hatte, gegen zwei Dorfgemeinschaften vor. Diese hatten sich gegen die Konzerne gewehrt, die auf ihrem Gebiet Silber, Gold und Kupfer abbauen wollten – obwohl ecuadorianische Gerichte dies zuvor gestoppt hatten. Zwanzig Bewohner*innen wurden schwer verletzt, 70 als »Terroristen« angeklagt.

    Kein Wunder, dass Menschenrechtsaktivist*innen aus Mexiko und Kolumbien warnen, in Ecuador könne geschehen, was in ihren Ländern bereits passiert sei. Immerhin hätten ecuadorianische Organisationen im Vergleich mit ihnen einen Vorteil – nämlich die Möglichkeit, sich auf das Kommende vorzubereiten, also etwa Menschenrechtsverletzungen umfassend zu dokumentieren sowie Schutzräume und Rechtsberatung zu schaffen.

    Doch es geht inzwischen um mehr: nämlich um die Frage, ob emanzipatorische Politik überhaupt noch möglich ist oder in der Eskalation der Gewalt zwischen Armee und paramilitärisch organisierten Drogenbanden aufgerieben wird. Dies hängt eng mit der grassierenden Armut im Land zusammen, die von der Noboa-Regierung ignoriert wird. Sie führt dazu, dass es den Drogenkartellen leichtfällt, Bandenmitglieder anzuwerben. In den Armenvierteln schicken manche Eltern ihre Kinder bereits nicht mehr zur Schule, weil sie auf dem Schulhof als Drogenkuriere rekrutiert werden.

    In Ecuador hat nur ein Drittel der erwerbsfähigen Bevölkerung einen formellen Job, also einen 40-Stunden-Vertrag mit einem Einkommen von mindestens 460 US-Dollar im Monat (dem Mindestlohn). Vor allem arbeitslose Jugendliche und junge Berufstätige sehen daher keine Perspektive mehr für sich. Angesichts der Armut und Gewalt erwägt Umfragen zufolge inzwischen fast die Hälfte der Bevölkerung die Auswanderung.
    Europa auf Koks

    Die dramatische Situation in Ecuador hat direkt mit Europa zu tun – genauer: mit der dortigen Nachfrage nach Kokain. Europa ist der größte Absatzmarkt für Kokain, der Konsum hat sich seit 2015 verdreifacht. Ein Indiz des steigenden Konsums sind die Beschlagnahmungen durch die Zollbehörden. Im vergangenen Jahr wurden europaweit 300 Tonnen Kokain sichergestellt. In Deutschland waren es 35 Tonnen, die vor allem im Hamburger Hafen beschlagnahmt wurden – sieben Mal mehr als vor fünf Jahren.

    Ein Großteil des Kokains kommt in Obst-Containern aus Ecuador. Manchmal verlieren angesichts der Massen von Kokain, die in Europa anlanden, selbst die Drogenhändler die Kontrolle. Im Frühjahr rieben sich Lagerarbeiter*innen in mehreren Supermärkten in Berlin und Brandenburg die Augen, als sie insgesamt 220 Kilogramm Kokain in Bananenkisten aus Ecuador fanden.

    Rund um den Hamburger Hafen hat sich mit dem Kokainhandel längst eine Schattenwirtschaft entwickelt: ein Netzwerk aus kriminellen Unternehmern, Investoren, Maklern, Transporteuren, Betreibern von Bunkern zur Drogenlagerung, Geldwäschern, verknüpft mit »Dienstleistungen« wie Erpressung und Auftragsmorden. Nach Angaben des NDR-Journalisten Benedikt Strunz gab es in den letzten 15 Monaten mindestens zwölf Schießereien des organisierten Verbrechens rund um den Hafen. Kurz: Der internationale Kokainhandel gerät, auch in Deutschland, immer mehr außer Kontrolle.
    Die Großen lässt man laufen

    Gibt es im Kampf gegen die Drogenmafia Alternativen zur Gewaltspirale? Wenn man Geldwäscher ins Gefängnis bringt, schwächt das die Mafia unmittelbar, denn sie sind, anders als einfache Bandenmitglieder, nur schwer zu ersetzen. Wer die Mafia treffen will, muss auf ihre Profite zielen, weiß auch der mexikanische Professor Raul Benítez. »Man muss sehen, wer ins Gefängnis kommt. Wenn es nur die Bandenmitglieder sind, hört das Problem nie auf. Du musst die Punkte angreifen, an denen der Drogenhandel wächst. Das Geld muss bei einer Bank gewaschen werden, durch Kredite auf Konten von Unternehmern, der Mittelschicht usw. Nur wenn man die kriminelle Ökonomie angreift, diejenigen, die sie unterstützen, die Korrupten, wird man Erfolg haben.«

    Da es um Milliardengeschäfte geht, müsste eine effektive Antidrogenpolitik vor allem dessen Profiteure ins Visier nehmen. Doch dazu fehlt der Wille. Im Fokus der Anti-Drogen-Politik stehen meist die Falschen, sprich: die Armen.

    Cristina Vega ist Professorin in der ecuadorianischen Hauptstadt Quito und unterstützt Organisationen, die die Rechte jener vertreten, die in den Gefängnissen regelmäßig Hunger leiden, erpresst und auch ermordet werden. »Der kriminelle Kapitalismus hat mehrere Ebenen«, sagt Vega. »Ganz unten stehen die Jugendlichen, die sich den Banden anschließen; ganz oben diejenigen, die den lateinamerikanischen Drogenhandel – das Zusammenspiel von mexikanischen Kartellen mit Europa und den USA – vorantreiben. Die militärische und polizeiliche Antwort des ecuadorianischen Staates rückt nur die unterste Ebene ins Blickfeld. Die kriminellen Eliten hingegen bleiben unangetastet. So entsteht der Eindruck, unsere Sicherheit oder Unsicherheit sei vom Verhalten der ärmsten Teile der Bevölkerung abhängig, nicht von den oberen Akteuren, von denen wir wissen, dass auch der Staat und die Sicherheitskräfte auf ihre Weise mit verwickelt sind.«

    Der Krieg gegen die Drogenmafia ist also nicht zuletzt auch eine Art Klassenkampf von oben. Fest steht: Mit immer weiterer Militarisierung werden die Banden nicht zu stoppen sein.

    Karin Gabbert leitet das Regionalbüro der Rosa-Luxemburg-Stiftung in Quito, Ecuador.

    Kooperation mit der Rosa Luxemburg Stiftung

    Die Rosa-Luxemburg-Stiftung unterhält mehr als zwei Dutzend Auslandsbüros auf allen Kontinenten. Im Rahmen eines Kooperationsprojektes mit »nd« berichten an dieser Stelle regelmäßig Mit­arbeiterinnen und Mitarbeiter über Entwicklungen in den verschiedensten Regionen. Alle Texte auf: dasnd.de/rls

  • Italien : Mimmo Lucanos Rückkehr

    Der frühere Bürgermeister des kalabrischen Dorfes Riace ist wieder im Amt – und er zieht ins EU-Parlament ein

    Domenico Lucano wurde verurteilt, weil er sein Amt als Bürgermeister missbraucht haben soll. Dabei hat er sich in Riace sich um die Belange der Geflüchteten gekümmert und ist progressiv mit dem Thema Migration umgegangen.

    Domenico Lucano wurde verurteilt, weil er sein Amt als Bürgermeister missbraucht haben soll. Dabei hat er sich in Riace sich um die Belange der Geflüchteten gekümmert und ist progressiv mit dem Thema Migration umgegangen.

    Domenico Lucano ist zurück auf der politischen Bühne. In dieser Woche hielt das Europaparlament seine konstituierende Sitzung in Straßburg ab, und Lucano war unter den neu gewählten Abgeordneten. Auf der Liste der italienischen Alleanza Verdi e Sinistra (Grün-Linke Allianz) zog der 66-Jährige ins Parlament ein.

    Lucano, genannt Mimmo, kümmerte sich in dem kalabrischen Dorf Riace seit 1998 um die Aufnahme von Geflüchteten. Der Ort war vom Aussterben durch Abwanderung bedroht und blühte durch den Zuzug überwiegend junger Menschen auf. Gemeinsam mit Einheimischen arbeiteten sie in Werkstätten mit alter Handwerkskunst aus aller Welt und in kleinen Läden. 2004 wurde Lucano zum ersten Mal als Bürgermeister gewählt, als Kandidat der Liste »Ein anderes Riace ist möglich«, deren Name von den Weltsozialforen inspiriert war. Immer mehr Geflüchtete kamen, finanziert durch Fördermittel für die Aufnahme. Riace galt als Gegenentwurf zu menschenunwürdigen Lagern und zur Ausbeutung in der Landwirtschaft. Als Willkommensdorf wurde Riace weltberühmt und Lucano mit vielen Preisen geehrt.

    Das gefiel aber nicht allen in der Politik. Die Regierung in Rom stellte die Auszahlung der Fördermittel ein, Lucano wurde überwacht, als Bürgermeister abgesetzt und für fast ein Jahr aus Riace verbannt, weil ihm der Einsatz für Flüchtlinge wichtiger war als die akribische Einhaltung bürokratischer Auflagen. 2022 wurde er zu über 13 Jahren Gefängnis verurteilt. Lucano soll der Kopf einer kriminellen Vereinigung gewesen sein, die zum eigenen Vorteil Geflüchtete aufgenommen habe. Allerdings wurde das Urteil im Berufungsprozess im Herbst 2023 aufgehoben, eine geringfügige Strafe zur Bewährung ausgesetzt.

    Ins EU-Parlament konnte die italienische Grün-Linke Allianz sechs Abgeordnete entsenden, die sich dort jedoch auf zwei Fraktionen aufgeteilt haben. Domenico Lucano und Ilaria Salis gehören der Europäischen Linken an, die anderen vier den Europäischen Grünen – darunter auch der frühere Bürgermeister von Palermo, Leoluca Orlando, der sich wie Lucano für die Rechte von Geflüchteten einsetzt. Trotz dieser Aufteilung arbeiten die zwölf Abgeordneten der Grün-Linken Allianz im italienischen Parlament weiterhin zusammen.

    Als am 9. Juni das Europäische Parlament gewählt wurde, fanden in Italien auch Kommunalwahlen statt. Lucano feierte in seinem Heimatdorf Riace ein Comeback: Sechs Jahre nach seiner Absetzung wurde er erneut als Bürgermeister gewählt. Gegenüber dem Online-Magazin »Open« betonte er am Mittwoch in Straßburg die Bedeutung, die das Lokale für ihn hat: »Das Bewusstsein, einen eigenen Beitrag zu leisten, um die Welt nach und nach zu verändern, das ist für mich der Sinn der Politik. Und je kleiner die Dörfer sind, desto mehr gibt es diesen Sinn: Politik ist letztlich eine direkte menschliche Beziehung zu den Leuten.« Allerdings könnte es mit den Sitzungsverpflichtungen zwischen Straßburg und Brüssel schwierig werden, diese Beziehungen in Riace zu pflegen.

    Noch ist nicht bekannt, wer Lucano in Riace vertreten wird, wenn er im EU-Parlament ist. Von dieser Person wird viel abhängen für die weitere Entwicklung in dem Dorf. Auch die Beschäftigten in Lucanos Büro in Riace, das ihm als EU-Abgeordneter zusteht, werden bei der Verbindung der Themen vor Ort mit der großen Politik auf europäischer Ebene eine wichtige Rolle spielen.

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    In Riace leben derzeit 50, 70 oder mehr Geflüchtete. Wie viele es sind, weiß niemand so genau, sowohl oben im Bergdorf als auch unten an der Küste in Marina. Sie schlagen sich mit Jobs in der Landwirtschaft und als Tagelöhner durch. Nur wenige haben noch bezahlte Arbeit in den Willkommensprojekten. Ein wichtiges Vorhaben für die lokale Wirtschaft ist die Ölmühle, die von dem Verein Città Futura (Stadt der Zukunft) betrieben wird. Dort gibt es wenigstens für einige Zeit bezahlte Arbeit, sowohl in der Olivenernte als auch in der Ölproduktion selbst.

    Noch immer gibt es Zuzug in Riace. Im Juni sei eine Familie aus Afghanistan aufgenommen worden, teilte Lucano auf dem Facebook-Account der Menschenrechtsbibliothek »La Vecchia Posta Riace« (Die alte Post) mit. Diese wurde von Kirsten Müller-von der Heyden in einem ehemaligen Postgebäude gegründet. Sie zog vor einigen Jahren nach Riace, um das Willkommensdorf zu unterstützen. Sie arbeitet in der Ölmühle mit und sammelt Spenden für das Dorf. Bald werde auch eine Familie aus Syrien erwartet, berichtet sie.

    Die Fortführung der Aufnahme Schutzsuchender in Riace wird derzeit aus den Mitteln des Manconi-Fonds finanziert, ebenso wie die Werkstätten. Dieser Fonds war ursprünglich gegründet worden, um die finanziellen Forderungen aus den Prozessen gegen Mimmo Lucano und seine Mitstreiter*innen zu bezahlen. Auf ausdrücklichen Wunsch von Lucano wurden sie jedoch für die Weiterführung der Aufnahme eingesetzt. Allerdings ist der Manconi-Fonds fast ausgeschöpft, sodass die weitere Finanzierung der Aufnahme und der Projekte nicht gesichert ist.

    Die Banca Etica, die dem europäischen Verband ethischer und alternativer Banken und Finanzierungseinrichtungen angehört, war nach der Einstellung der Auszahlung der Fördergelder eingesprungen, sodass wenigstens ein Teil der Löhne und Mieten weiterhin bezahlt werden konnte. Vieles wurde auch durch private Spenden ermöglicht. Das Problem ist aber: Nach dem relativ glücklichen Ende der Berufungsverhandlung von Lucano fordert die Banca Etica nun das Geld zurück. Riaces Anwälte versuchen wiederum, die ausstehenden Fördermittel vom italienischen Staat einzufordern. Solche rechtlichen Auseinandersetzungen können allerdings Jahre dauern.

    Bei der ersten Sitzung des Gemeindeparlaments von Riace habe der bisherige Bürgermeister Antonio Trifoli an eine gute Zusammenarbeit zum Wohl des Ortes appelliert, berichtet Müller-von der Heyden. Trifoli war 1999 einer der Mitgründer des Vereins Città Futura, während seiner Zeit als Bürgermeister stand er jedoch Matteo Salvinis rechter Partei Lega nahe. Das von Mimmo Lucano aufgestellte Ortsschild mit der Aufschrift »Stadt der Aufnahme« (città dell’accoglienza) hatte Trifoli entfernen lassen und stattdessen ein Schild mit den Heiligen Cosma und Damiano aufgestellt. Lucano will es nicht entfernen, sondern ergänzen mit der Aufschrift »Schutzheilige der Roma und der Migranten«.

    Um das Ortschild von Riace gab es eine Kontroverse: Ex-Bürgermeister Antonio Trifoli ließ das von Mimmo Lucano aufgestellte Ortschild mit der Aufschrift »Stadt der Aufnahme« entfernen. Jetzt steht dort eine Tafel mit den Heiligen Cosma und Damiano.

    Um das Ortschild von Riace gab es eine Kontroverse: Ex-Bürgermeister Antonio Trifoli ließ das von Mimmo Lucano aufgestellte Ortschild mit der Aufschrift »Stadt der Aufnahme« entfernen. Jetzt steht dort eine Tafel mit den Heiligen Cosma und Damiano.

    Zu einer tragfähigen lokalen Ökonomie ist es in Riace noch ein weiter Weg. »Statt in kleinen Läden im Dorf einzukaufen, fahren die Leute mit dem Auto zum Supermarkt oder bestellen online«, erzählt Müller-von der Heyden. Dabei wäre es so wichtig, dass das Geld in Riace bleibt. Sie denkt über die Herstellung von Delikatessen wie Marmeladen, Aufstriche oder eingelegtes Gemüse nach. »Die Räume der Ölmühle stehen ja die meisten Monate leer«, sagt sie, »dort könnten wir versuchen, die Voraussetzungen für die Herstellung weiterer Produkte zu schaffen. Aber es ist schrecklich, wir haben zurzeit kaum Wasser.« Die Klimakatastrophe ist seit Jahren in Südeuropa deutlich spürbar.

    Das Wasser wird in Riace nachts, manchmal auch schon tagsüber abgestellt und darf nur noch zum Kochen und zur Körperreinigung verwendet werden. Die Gärten dürfen nicht mehr bewässert werden, und so wächst auch immer weniger. Der Boden sei so trocken, erzählt Müller-von der Heyden, dass die Schafe und Ziegen nicht mehr ausreichend Futter fänden und keine Milch mehr gäben. Kürzlich sei einem Hirten bei einem Flächenbrand auch das als Tierfutter zugekaufte Heu verbrannt. Sie sorgt sich auch wegen der Olivenernte in diesem Jahr. Manche Bäume bilden wegen der Trockenheit keine Früchte mehr aus. »Das Holz wird trocken und brüchig, und wenn Olivenbäume brennen, dann explodieren sie geradezu wegen des Ölgehalts.«

    https://www.nd-aktuell.de/artikel/1183839.migration-italien-mimmo-lucanos-rueckkehr.html

    #Riace #Mimmo #Elisabeth_Voß #Carla_Kirsten_Müller-von-der-Heyden

    @cdb_77

    • Solidaritätsveranstaltungen in Berlin

      Kirsten Müller-von der Heyden organisiert die Filmreihe »Solidarität mit Mimmo Lucano und Riace. Widerstand – es wird gerettet. Punkt. .

      Dienstag, 23. Juli: »Un Paese de Resistencia« (Ein Land des Widerstands, 2024) von Shu Aiello und Catherine Catella (Regie) und Serena Gramizzi (Produktion). Der Dokumentarfilm zeigt das Wunder von Riace, die Repression und den Widerstand dagegen. Im anschließenden Filmgespräch mit Kirsten Müller-von der Heyden gibt es die Gelegenheit, Neuigkeiten aus Riace zu erfahren.

      Dienstag, 30. Juli: »Un Mare di Porti Lontani« (Ein Meer von fernen Häfen, 2024), Dokumentarfilm von Marco Daffra (Regie und Produktion), im Anschluss Publikumsgespräch (Seenotretter*innen angefragt).

      Freitag, 2. August: »Das neue Evangelium« (2020) von Milo Rau (Regie) und Fruitmarket, Langfilm & IIPM (Produktion). Der halb dokumentarische Film zeigt Lebenssituation und Revolte ausgebeuteter migrantischer Arbeiter in der süditalienischen Stadt Matera. Im Anschluss gibt es ein Gespräch mit Christiane Lüst vom Umweltzentrum »Öko & Fair« in Gauting bei München. Sie verkauft Olivenöl aus Riace, bietet mehrmals jährlich Gruppenreisen nach Italien an und vertritt die italienische Nocap-Bewegung, die gegen Ausbeutung in der Landwirtschaft kämpft und alternative Produktions- und Vertriebswege organisiert.

      Ort: Sandalia, Schillerstraße 106, Berlin-Charlottenburg. Beginn jeweils um 19 Uhr.

  • Uber und Co: Kriminelle Netzwerke bei Mietwagenunternehmen
    https://www.nd-aktuell.de/artikel/1183805.verkehrspolitik-uber-und-co-kriminelle-netzwerke-bei-mietwagenunt

    17.7.2024 David Rojas Kienzle - Mietwagenunternehmen werden ins Ausland verkauft und so Steuerprüfungen und Strafermittlungen erschwert

    Je mehr bekannt wird über Mietwagenfirmen, die für die Fahrdienstleister Uber, Bolt und Freenow tätig sind, desto mehr zeigt sich, dass kriminelle Machenschaften in der Branche gang und gäbe sind. Wie Recherchen des Senders RBB ergeben haben, werden dort vermutlich systematisch Steuern und Sozialabgaben hinterzogen.

    Mindestens 61 Unternehmen sollen ein System von »Firmenbestattungen« genutzt haben. Firmen sollen von derselben Notarin angemeldet und nach zwei bis drei Jahren abgemeldet und nach Bulgarien verkauft worden sein. Laut RBB sollen die Firmen um die 1300 Autos im Einsatz gehabt haben – gut ein Viertel aller vorhandenen Mietwagen. In der Regel werden neu gegründete Unternehmen erst nach 18 bis 24 Monaten von Steuerprüfern unter die Lupe genommen. Werden sie vorher ins Ausland verkauft, haben die Finanzämter kaum eine Handhabe.

    Auch Strafermittlungen gestalten sich schwierig, da mit dem Verkauf ins Ausland Geschäftsunterlagen, Kassenbücher und Überweisungsbelege zu den neuen Eigentümer*innen wandern. Die betreffenden Firmen haben den Recherchen zufolge nicht nur unglaubwürdig niedrige Umsätze angegeben, sondern auch kaum Personalkosten. Es wurden also vermutlich nicht nur Steuern hinterzogen, sondern auch Sozialabgaben nicht gezahlt.

    Eine Sprecherin der Senatsverkehrsverwaltung teilt »nd« mit, dass das Problem mit den Mietwagenfirmen bekannt sei. Insofern hätten die Rechercheergebnisse nicht überrascht. Es seien bereits 1600 illegale Fahrzeuge aus dem Verkehr gezogen worden und es gebe eine Arbeitsgruppe in der Verwaltung, die sich nur mit diesem Thema beschäftige. In dem Moment, in dem bekannt sei, dass Steuern hinterzogen werden, könne man die Genehmigung entziehen. Allerdings könne man aus rechtsstaatlichen Erwägungen nicht einfach auf Verdacht handeln. Gemeldete Mietwagenfirmen würden von den Plattformen gesperrt und es gebe eine Vereinbarung, dass Firmen nur unter bestimmten Voraussetzungen für die Plattformen fahren dürften.

    »Wir haben es hier mit einem kriminellen Netzwerk zu tun«, sagt der SPD-Abgeordnete Tino Schopf. Ihn störe am meisten, dass alle betroffenen 1300 Fahrzeuge eine Genehmigung vom zuständigen Landesamt für Bürger- und Ordnungsangelegenheiten (Labo) hatten. Schopf hatte bereits 2023 Akteneinsicht genommen. Dabei war herausgekommen, dass viele Unternehmen niemals eine Genehmigung hätten erhalten dürfen.

    Dass es mittlerweile eine hochkarätig besetzte Arbeitsgruppe gebe, sei richtig und das erkenne er auch an, sagt Schopf. »Man muss dann aber auch das Richtige tun. Alles steht und fällt mit der Qualität der Antragsbearbeitung.« Da müsse man viel genauer hinschauen und vor allem die rechtlichen Standards einhalten. Da in der Vergangenheit so große Fehler passiert seien fordert Schopf eine personelle, fachliche und konzeptionelle Erneuerung bei der Behörde. »Die Senatsverwaltung und auch das Labo müssen sich die Frage gefallen lassen, warum man das so lange schleifen lassen hat.«

    Da in der Vergangenheit so große Fehler passiert seien, fordert Schopf eine personelle, fachliche und konzeptionelle Erneuerung bei der Behörde. Von den Machenschaften der Unternehmen seien ja auch die Berliner Steuerzahler betroffen, merkt Schopf an. »Und das alles, weil eine Behörde viele Jahre geschlampt hat. Was muss noch alles passieren, damit die zuständige Senatsverwaltung endlich handelt? Mit einem Flickenteppich an Maßnahmen wird es jedenfalls nicht gelingen diesen kriminellen Sumpf trockenzulegen!«

    #Berlin #Uber #Kriminalität

  • Shelley Duvall: Königin des Schreis
    https://www.nd-aktuell.de/artikel/1183684.nachruf-shelley-duvall-koenigin-des-schreis.html

    La scream queen de Shining est morte.

    12.7.2024 von Larissa Kunert - Shelley Duvall, bekannt unter anderem aus Stanley Kubricks »Shining«, ist mit 75 Jahren gestorben

    Das Grauen steht ihr ins Gesicht geschrieben. In der Rolle der Wendy Torrance in Stanley Kubricks Horrorklassiker »Shining« (1980) flüchtet Shelley Duvall durch ein verlassenes Hotel, um ihrem mörderischen Ehemann Jack (Jack Nicholson) zu entkommen. Erst im letzten Moment gelingt es ihr, mit ihrem kleinen Sohn den Ort, an dem auch längst Verstorbene ihr Unwesen treiben, hinter sich zu lassen. Duvall wirkte schon äußerlich wie gemacht dafür, die ins Verhängnis geschlitterte junge Mutter zu mimen: Kulleraugen, volle Lippen und eine zierliche Nase gaben ihr einen unschuldigen Look, dem aber doch etwas gleichsam Überzeichnetes, Unheimliches eignete. Züge, die sich einbrennen. Zu Unrecht wurde Duvall für ihren Part in »Shining« für die »Goldene Himbeere« nominiert: Sie steht dem wie gewohnt meisterhaft spielenden Jack Nicholson in kaum etwas nach. Und das hatte offenbar seinen Preis: Duvall beschrieb die Dreharbeiten später als traumatisierend, da sie auf Kubricks Wunsch emotional fordernde Szenen dutzende Male wiederholen musste.

    Mit »Shining« als »Scream Queen« (Schreikönigin) in die Filmgeschichte eingegangen, war Duvall als Schauspielerin keineswegs auf das Horrorgenre beschränkt. So drehte sie etwa auch sieben Filme mit dem New-Hollywood-Regisseur Robert Altman, dessen Crew sie einst entdeckt hatte. Für ihre Rolle in seinem satirischen Psychodrama »Drei Frauen« (1977) erhielt sie den Darstellerpreis in Cannes. Anfang des Jahrtausends zog sich die an einer psychischen Krankheit Leidende aus der Öffentlichkeit zurück; für den Horrorfilm »The Forest Hills« (2023) von Scott Goldberg kehrte sie allerdings nach über 20 Jahren noch einmal auf die Leinwand zurück. Es sollte ihr letzter Film sein: Am 11. Juli starb Duvall 75-jährig in ihrer Heimat Texas.

    #cinéma

  • Gaza-Krieg : Hinrichtungen von Zivilisten, willkürliche Gewalt
    https://www.nd-aktuell.de/artikel/1183577.naher-osten-gaza-krieg-hinrichtungen-von-zivilisten-willkuerliche


    Viele Zerstörungen im Gazastreifen erfolgen auch aus purer Lust, berichtet das Magazin »+972« . Vorher plündern israelische Soldaten die Häuser »wie einen Souvenirladen« . Foto : dpa/XinHua/Mahmoud Zaki

    Les crimes de l’armée israëlienne ne sont pas un secret. On ne cache même pas. Ses soldats s’en vantent sans réserve dans réseaux sociaux. Pourtant on préfère dénoncer les crimes qu’on peut mettre en relation avec l’armée russe en Ukraine. Le ND fait exception à cette règle.

    9.7.2024 Matthias Monroy - Zeugenaussagen israelischer Soldaten enthüllen gravierende Menschenrechtsverletzungen in Gaza

    In einem neuen Bericht beschreibt der Journalist Oren Ziv im Magazin »+972« abermals schwerwiegende Menschenrechtsverletzungen durch israelische Soldaten im Gazastreifen. So seien Schießbefehle gegen Zivilisten gelockert und diese »standrechtlich« erschossen worden. Auch Häuser seien systematisch und »aus Langeweile« von den Besatzungstruppen zerstört worden. Israelische Soldaten hätten mitunter auch nur mit Panzern, Mörsern oder Artillerie geschossen, um ihre Präsenz zu demonstrieren.

    Die am Montag veröffentlichten Enthüllungen von »+972« basieren auf Aussagen mehrerer Soldaten, die von der israelischen Menschenrechtsorganisation Breaking the Silence gesammelt wurden. Das in Israel erscheinende Magazin will mit dem Bericht darüber die dringende Notwendigkeit internationaler Intervention und einer umfassenden Überprüfung der militärischen Praktiken deutlich machen.

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    Als Quellen dienen auch Videos, die von dem in Katar ansässigen Sender Al Jazeera veröffentlicht wurden. Sie zeigen die Erschießung Unbewaffneter durch israelische Soldaten. Sechs israelische Soldaten hätten »+972« bestätigt, dass sie praktisch ohne Einschränkungen auf Palästinenser schießen dürfen. Zivile Opfer würden als »Terroristen« gezählt, um die Statistiken zu verbessern. Einer der Zeugen belegt dies mit mitgehörten Funksprüchen, wonach Soldaten eine palästinensische Familie erschossen. »Zuerst hieß es ›vier Personen‹. Daraus wurden dann zwei Kinder und zwei Erwachsene, und am Ende waren es ein Mann, eine Frau und zwei Kinder.«

    Viele Soldaten behandelten die Häuser laut dem Bericht »wie einen Souvenirladen« und plünderten alles, was die Bewohner nicht mitnehmen konnten. Beträchtlich viele bewohnte Häuser würden systematisch niedergebrannt. Dies habe zu großflächigen Zerstörungen und Obdachlosigkeit unter der palästinensischen Bevölkerung geführt.

    Zerstörungen erfolgten aber auch aus purer Lust: Einer der Zeugen beschreibt dazu einen Vorfall während des jüdischen Chanukka-Festes im Dezember, wonach »das ganze Bataillon zusammen das Feuer eröffnete, wie ein Feuerwerk, einschließlich Leuchtspurmunition. Es gab eine verrückte Farbe, die den Himmel erleuchtete, und da Chanukka das ›Fest der Lichter‹ ist, war das ein Symbol dafür.«

    Die Soldaten berichteten zudem von zahlreichen zivilen Opfern, darunter auch Kinder, die in sogenannten No-go-Zonen getötet werden. Diese Zonen sind oft nicht klar gekennzeichnet, sodass Zivilisten darin unwissentlich in Gefahr geraten können. Leichen oder Körper von Schwerverletzten blieben häufig unbeachtet liegen und würden von streunenden Tieren gefressen, schreibt Oren Ziv. Vor der Ankunft internationaler Hilfskonvois würden Tote und mitunter auch Lebende mithilfe von Bulldozern verscharrt, um den Eindruck einer humanitären Krise zu vermeiden.

    Der Bericht schildert auch die Gleichgültigkeit gegenüber dem Leid der palästinensischen Bevölkerung. In militärischen Einsatzzentralen tönten demnach »Jubelschreie«, wenn Drohnen Aufnahmen der Zerstörung von Gebäuden übertragen. Einige Soldaten hätten aber auch moralische Bedenken bezüglich der Entmenschlichung von Palästinensern geäußert, insbesondere wegen der wahllosen Tötung von Zivilisten und der Zerstörung von Wohnhäusern.

    »+972« zitiert in dem Bericht auch die israelische Organisation Yesh Din, die in den Einsätzen Kriegsverbrechen sieht. Dass es keine angemessene Untersuchung dieser Vorfälle durch israelische Behörden gegeben habe, verweise auf eine systematische Straffreiheit. Die weitgehende Freiheit beim Einsatz von Schusswaffen in der israelischen Armee geht laut »+972« auf Schussregeln zurück, die seit den 80er Jahren nicht offengelegt würden. Diese Richtlinien seien derart lax, dass sie auch zu mindestens 28 durch »Friendly Fire« getöteten Soldaten geführt hätten.

    Seit Beginn des Gaza-Krieges veröffentlicht das Magazin »+972« kontinuierlich kritische Berichte über die israelische Besatzungspolitik und Menschenrechtsverletzungen. Oren Ziv schrieb dazu unter anderem über die Einschränkung der Meinungsfreiheit in Israel. Der Filmemacher und Autor Yuval Abraham hat in dem Magazin eine Recherche zu einem automatischen System für die Zielauswahl im Gaza-Krieg publiziert. Abraham berichtete außerdem, dass der frühere Mossad-Direktor Yossi Cohen persönlich in einen geheimen Plan verwickelt gewesen sein soll, die damalige Chefanklägerin des Internationalen Strafgerichtshofs unter Druck zu setzen, um Ermittlungen zu Kriegsverbrechen gegenüber Palästinensern zu verhindern.

    Auch ein aktueller Bericht in der israelischen Zeitung »Haaretz« legt nahe, dass das Militär am 7. Oktober und im anschließenden Gaza-Krieg Menschenrechtsverletzungen beging und sogar vorsätzlich eigene Staatsangehörige tötete. So hätten israelische Soldaten am späten Vormittag des 7. Oktober den Auftrag erhalten, nach dem Angriff der Hamas auf Fahrzeuge und Stellungen zu schießen, in denen sich sowohl israelische Zivilisten als auch Soldaten befanden. Diese Anweisung folgt der sogenannten »Hannibal-Direktive«, wonach Geiselnahmen um jeden Preis verhindert werden müssen – auch wenn dies auf Kosten des Lebens eigener Staatsbürger geht.

    Wie viele Zivilisten oder Soldaten aufgrund des Befehls verletzt oder getötet wurden, bleibt in dem »Haaretz«-Bericht offen. Dass die »Hannibal-Direktive« großflächig angewendet wurde, hatten zuvor bereits andere israelische Zeitungen beschrieben. Demnach seien Kibbuzim und Fahrzeuge auf dem Weg in den Gazastreifen von israelischen Panzern beschossen und Berichten zufolge auch Geiseln getötet worden.

  •  »Oyoun« : Fördermittelaffäre in Joe Chialos Kultursenat
    https://www.nd-aktuell.de/artikel/1183505.exklusiv-oyoun-foerdermittelaffaere-in-joe-chialos-kultursenat.ht


    Interne Dokumente aus dem Berliner Kultursenat zeigen : Senator Joe Chialo (CDU) hat persönlich ein Verfahren in Gang gesetzt, um einen Stopp der Fördermittel für das Kulturzentrum »Oyoun« zu ermöglichen .

    Tu es un projet culturel financé par la ville de Berlin ? Ne collabore jamais avec des gens qui critiquent le gouvernement d’Isaraël. C’est puni avec la peine capitale pour des projets comme toi.

    5.7.2024 von Pauline Jäckels, Mitarbeit: Marten Brehmer - Eine interne Prüfung von Aussagen zum Gaza-Krieg war eindeutig: Für einen Förderstopp gibt es keine Sachgrundlage. Dann mussten Formgründe herhalten

    Interne Dokumente aus dem Berliner Kultursenat zeigen: Senator Joe Chialo (CDU) hat persönlich ein Verfahren in Gang gesetzt, um einen Stopp der Fördermittel für das Kulturzentrum »Oyoun« zu ermöglichen.
    https://xn--taz-9ea0f.de/Kulturfoerderung-gecancelt/!5972860

    Interne Dokumente aus dem Berliner Kultursenat zeigen: Senator Joe Chialo (CDU) hat persönlich ein Verfahren in Gang gesetzt, um einen Stopp der Fördermittel für das Kulturzentrum »Oyoun« zu ermöglichen.

    Schon bald wird das »Oyoun« wohl das gelbe Backsteinhaus in der Lucy-Lameck-Straße 32 in Berlin verlassen müssen. Der Grund: Dem Neuköllner Kulturzentrum, das als Schutzraum für die queer-migrantische Community gilt, wurden Ende 2023 nach einem Antisemitismus-Skandal kurzfristig Fördermittel und der damit verbundene Mietvertrag entzogen – obwohl die Berliner Kultursenatsverwaltung diese bis Ende 2025 in Aussicht gestellt hatte. Die offizielle Begründung aus dem Senat: Reine Formsache, die Förderung sei regulär ausgelaufen.

    Unterlagen aus dem Kultursenat, die »nd« exklusiv vorliegen, belegen: Nachdem sich aus einer internen Prüfung verschiedener Aussagen rund um den Krieg in Israel und Palästina aus dem Umfeld von »Oyoun« keine sachliche Grundlage für einen Förderstopp ergeben hatte, wurde im Senat ein mehrstufiges bürokratisches Verfahren in Gang gesetzt, um den Förderstopp dennoch zu ermöglichen.

    Intern geäußerte Bedenken an dem Vorhaben wurden übergangen. Kultursenator Joe Chialo (CDU), der inzwischen schon als nächster Kulturstaatsminister in einer möglichen CDU-geführten Bundesregierung gehandelt wird, spielt in dem Prozess eine entscheidende Rolle

    Eine Veranstaltung, die nicht stattfinden soll

    Es ist Juli 2023: Erstmals stellt sich Louna Sbou, die Leiterin von »Oyoun – Kultur NeuDenken« bei der neuen Senatsverwaltung vor – Chialo hatte gerade erst vor zwei Monaten die Senatskulturverwaltung übernommen, die das Neuköllner Kulturzentrum seit 2020 fördert. Bei dem Treffen stellt Sbou die geplanten Projekte vor – darunter ein Termin, der dem Trägerverein Monate später zum Verhängnis werden sollte: eine Veranstaltung Anfang November mit der kontroversen Gruppe »Jüdische Stimme für gerechten Frieden in Nahost«.

    Einige Wochen später, am 24. August, fordert der Senat »Oyoun« in einem Videocall dazu auf, die Veranstaltung mit der »Jüdischen Stimme« wegen Nähe zur antiisraelischen »Boycott, Divestment and Sanctions«-Bewegung (BDS) abzusagen. Doch »Oyoun« sagt nicht ab – für das Kulturzentrum sei es selbstverständlich, Diskussionsräume zu öffnen, begründete Sbou damals gegenüber »nd« ihre Entscheidung. Die Absageaufforderung empfinde sie als Einschränkung der Kunst- und Meinungsfreiheit.

    Ein zweiter Videocall am 5. September eskaliert und wird nach drei Minuten abgebrochen, nachdem die Staatssekretärin Sarah Wedl-Wilson (parteilos, für CDU) sagte: »Die Kunstfreiheit hört dann auf, wenn es für uns politisch zu brisant wird« – so zumindest schildert Sbou den Vorgang gegenüber »nd«. Mitte Oktober 2023, kurz nach dem Hamas-Massaker vom 7. Oktober, folgen mehrere Briefe aus dem Senat mit Fragen zur Veranstaltung und einer schriftlichen Aufforderung zur Absage.

    Am 4. November findet die Veranstaltung der »Jüdischen Stimme« trotz der Absageforderungen im »Oyoun« statt. Was die Leiter des Kulturzentrums zu diesem Zeitpunkt noch nicht wissen: Im Berliner Kultursenat wurde längst ein Prozess in Gang gesetzt, der dem Zentrum bis zum Ende des Jahres seine Existenzgrundlage entziehen wird.

    Die erste Prüfung: Keine Sachgrundlage für einen Förderstopp

    Am 25. Oktober, also eine Woche vor der Veranstaltung mit der »Jüdischen Stimme«, wurde in der »Abteilung I – Kultur und Serviceeinheiten des Kultursenats« eine erste Prüfung veranlasst: ob aufgrund von Aussagen seitens »Oyoun« im Zusammenhang mit dem Hamas-Terror in Israel »zuwendungsrechtliche Sanktionen« möglich seien. Konkret geprüft werden sollte offenbar, ob schon gezahlte Gelder für das Jahr 2023 zurückgefordert und die in Aussicht gestellte Förderung bis Ende 2025 in Höhe von etwa einer Million Euro pro Jahr widerrufen werden kann.
    Anlage 1: Die erste interne Prüfung möglicher zuwendungsrechtlicher Sanktionen wurde am 25. Oktober in Auftag gegeben.


    Anlage 1: Die erste interne Prüfung möglicher zuwendungsrechtlicher Sanktionen wurde am 25. Oktober in Auftag gegeben .

    Einen Tag später, am 6. November, spricht Chialo vor dem Kulturausschuss im Berliner Abgeordnetenhaus. Auf eine Frage der AfD-Fraktion, welche Konsequenzen der Senat aus »der mangelnden Abgrenzung zum Antisemitismus am Kulturzentrum ›Oyoun‹« ziehe, antwortet der Senator laut Sitzungsprotokoll: Nach den Regeln des Landeskonzepts dürfe in keinem mit Landesmitteln geförderten Haus Platz für Antisemitismus sein. Es werde aktuell geprüft, mit welchen rechtlichen Maßnahmen das Landeskonzept zur Antisemitismusprävention durchgesetzt werden könne und ob die Förderung des »Oyoun« fortgesetzt oder beendet werde. Zu diesem Zeitpunkt lautet die offizielle Erzählung des Senats also noch: Mutmaßlich antisemitische Aussagen könnten einen potenziellen Förderstopp legitimieren.

    Am 7. November liegt das Ergebnis der Prüfung vor. Daraus wird ersichtlich, dass drei verschiedene Aussagen im Zusammenhang mit dem Gaza-Krieg geprüft wurden: Ein Aufruf zu einem antiisraelischen Generalstreik, eine Veranstaltungsankündigung der »Jüdischen Stimme«, in der Israel als »Apartheidstaat« und »Kolonialregime« bezeichnet wird, sowie ein Instagram-Beitrag des »Oyoun«, in dem zu Solidarität im Kampf gegen »Siedlerkolonialismus« aufgerufen wird. Unzweifelhaft kontroverse Aussagen – aber reicht das, um die Förderung für ein ganzes Kulturzentrum zu streichen?

    Die zuständige Abteilung prüft die Äußerungen unter verschiedenen Blickwinkeln: a) ob sie gegen das Landeskonzept des Senats zur Weiterentwicklung der Antisemitismus-Prävention verstoßen, b) ob ein Verstoß gegen den Zuwendungszweck der Fördermittel erkennbar ist und c) ob ein Verstoß seitens der »Oyoun«-Geschäftsführung gegen das Strafrecht vorliegt.

    Die Prüfungsergebnisse sind eindeutig: »Die vorliegenden Sachverhaltsinformationen bieten nach rechtlicher Einschätzung aktuell keine Grundlage zum Widerruf oder zur Rücknahme der bereits beschiedenen Zuwendung.« Das Landeskonzept zur Antisemitismusprävention sei für »Oyoun« nicht bindend, und selbst wenn, »verstößt der vorliegende Sachverhalt nicht gegen das Konzept«, heißt es weiter. Zudem seien »keine Verstöße gegen Strafrecht oder anderes geltendes Recht ersichtlich, […] die derart erheblich sind, dass die ordnungsgemäße Geschäftsführung als Zuwendungsvoraussetzung entfallen sein könnte.« Auch dass Mittel zweckwidrig verwendet werden, sei nicht ersichtlich, heißt es im Prüfungsergebnis. Für die Veranstaltung am 4. November seien zudem gar keine Fördermittel des Senats eingesetzt worden.

    Neben den Aussagen im Zusammenhang mit dem Gaza-Krieg wird aber noch ein vierter Aspekt geprüft, nämlich inwiefern »Oyoun« überhaupt einen rechtlichen Anspruch auf die Förderung für die Jahre 2024 und 2025 hat. Laut dem Prüfbericht könnte sich aus der Inaussichtstellung aus dem Jahr 2021 ein Anspruch auf eine Förderverlängerung bis einschließlich 2025 ergeben.


    Anlage 2: Ergebniszusammenfassung der ersten senatsinternen Prüfung etwaiger förderrechtlicher Konsequenzen für »Oyoun«

    Einen Weg für einen Fördermittelstopp gibt es dennoch: »Ein Widerruf der Inaussichtstellung wäre die einzige Möglichkeit für den Senat, die Förderung nicht auszuzahlen«, heißt es weiter in der Prüfung. Tatsächlich ist in dem Dokument explizit festgehalten, dass die Förderzusage unter Widerrufsvorbehalt stehe. Ein solcher Widerruf wäre aber nur möglich, wenn das Geld für die Förderung im Haushaltsplan für das Jahr 2024 nicht zur Verfügung stünde.

    Dann wird angemerkt: »Aktuell ist der Haushaltsplan 2024 noch nicht verabschiedet worden; wird aber voraussichtlich weiterhin einen Mittelansatz für den Kulturstandort Lucy-Lameck-Str. vorsehen. Insofern wäre zu prüfen, ob das Betreiberkonzept […] sowie das räumliche Nutzungsrecht […] einen Betreiberwechsel ermöglicht oder ggf. eine Konzeptänderung zu einer Neubewertung führen würde.«

    Genau diese zweite Prüfung wird einen Tag später, am 8. November, im Senat veranlasst – auf Wunsch der »Hausleitung«, also Chialos oder seines politischen Leitungsstabs. Dabei soll es also nicht mehr darum gehen, was das »Oyoun« gesagt oder getan hat – jetzt wird geprüft, ob es eine formelle Grundlage und damit einen Weg gibt, dem Kulturzentrum ab 2024 keine Gelder mehr zu geben.
    Die zweite Prüfung: Warnungen vor Grundrechtsverletzungen

    Die Suche nach einer formellen Grundlage für einen Fördermittelentzug startet direkt am Folgetag: Am 9. November sendet eine Senatsmitarbeiterin eine E-Mail an zwei Kollegen mit der Frage, ob die Förderzusage 2019 postalisch oder per Mail versandt wurde. Dies sei für die rechtliche Prüfung relevant. In der Tat: Vor Gericht wird der Kultursenat später argumentieren, »Oyoun« hätte keinen Anspruch auf die Fördermittel 2024 und 2025, unter anderem weil die Inaussichtstellung der Förderung nicht per Post sondern elektronisch übermittelt wurde – eigentlich gängige Praxis in der Senatsverwaltung, wie Mitarbeitende des Kultursenats »nd« bestätigen.

    Am 14. November ist dann die zweite Prüfung abgeschlossen. Das Ergebnis: Es ist möglich, die Projektförderung für »Oyoun« für 2024 und 2025 einzustellen, ein Anspruch auf die Förderung sei aus der Inaussichtstellung von 2021 nicht ersichtlich. Dazu werden zwei Hinweise formuliert: »Oyoun« habe allerdings einen Anspruch auf »ermessensfehlerfreie Entscheidung« durch den Kultursenat. Dafür brauche es eine Neuausschreibung des Kulturstandorts Lucy-Lameck-Straße aufgrund geänderter Förderkriterien. Außerdem: Eine solche Entscheidung solle »unter Berücksichtigung sämtlicher Auswirkungen getroffen werden«.


    Anlage 3a: Auftrag einer zweiten Prüfung, ob ein Widerruf der Inaussichtstellung erfolgen kann

    Die Konsequenzen eines möglichen Widerrufs der Fördermittel werden in dieser zweiten Prüfung umfassend behandelt. Zwei Punkte fallen dabei besonders ins Auge: Erstens wird darauf hingewiesen, dass ein Ende der Förderung eine existenzielle Gefahr für das »Oyoun« und seine Mitarbeitenden bedeuten würde: »Der Zahlungsempfänger beschäftigt über 15 Mitarbeitende aus vulnerablen, marginalisierten Communities, deren Arbeitsplätze wegfielen.«


    Anlage 3b: Im Prüfauftrag wird darauf hingewiesen, dass für einen Widerruf der Inaussichtstellung ein neues Betreiberkonzept erstellt werden muss .

    Zweitens warnt die Prüfung vor einer Einschränkung von Grundrechten: »[Oyoun] steht als geförderte kulturschaffende Institution bei seiner künstlerischen Arbeit unter dem Schutz der individuellen Grundrechte, namentlich der Kunst- und Meinungsfreiheit.« Würde die Förderung von »Oyoun« eingestellt werden, heißt es weiter, »wäre [der Kultursenat] aller Voraussicht nach mit der Frage konfrontiert, inwieweit die Entscheidung im Zusammenhang mit den jüngst getroffenen Äußerungen zu den aktuellen Geschehnissen in Nahost […] steht und wie diese mit den grundrechtlichen Schutzgedanken vereinbar ist«.

    Dann noch einmal der Hinweis: »Es könnte [der Senatskulturverwaltung] angelastet werden, dass sie die Grenze des öffentlich Sagbaren bzw. Darstellbaren in unzulässiger Weise zulasten der Meinungsfreiheit einenge«, heißt es im Prüfbericht weiter.

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    Anlage 4: E-Mail aus dem Kultursenat

    Zum Schluss formuliert der Zweitbericht »denkbare Alternativmaßnahmen« für die offenbar geplante Beendigung der Förderung: Solle die Förderung tatsächlich eingestellt werden, könne der Kultursenat etwa in Betracht ziehen, dies nicht kurzfristig für das Jahr 2024, sondern erst für das Folgejahr zu tun. »So kann eine weitere Projektförderung von einem Jahr gewährt werden, sodass dann in rechtssicherer Weise die Fördervoraussetzungen angepasst und mit entsprechender Vorlaufzeit eine neue Betreiberin bzw. ein neuer Betreiber gefunden werden kann«, erläutert der Bericht weiter.

    Kultursenator Joe Chialo entscheidet sich trotz der warnenden Hinweise aus seiner Verwaltung, den Weg dafür zu bereiten, die Förderung einzustellen: Am 17. November erteilt der Kultursenator persönlich den Auftrag, ein neues Betreiberkonzept für den Kulturstandort Lucy-Lameck-Straße zu erstellen, das dann als Grundlage dafür dienen soll, die »Oyoun«-Förderung zu streichen.


    Anlage 5: Ergebniszusammenfassung der zweiten senatsinternen Prüfung

    Nur wenige Tage später, am 21. November, tritt Chialo im Kulturausschuss des Abgeordnetenhauses auf. In einem Sprechzettel, der »nd« ebenfalls vorliegt, hatte ihm seine Pressestelle nahegelegt, sich möglichst vage zum Ende der Förderung zu äußern. Tatsächlich spricht Chialo im Ausschuss davon, dass in seinem Haus aktuell über ein neues Profil für das Gebäude an der Lucy-Lameck-Straße »beraten« werde, obwohl zu diesem Zeitpunkt bereits feststeht, dass das Betreiberkonzept umgeworfen werden soll. Die bisherige Förderung laufe »regulär« Ende 2023 aus. Angesichts der schon vergebenen Inaussichtstellung von Mitteln über das Jahresende hinaus eine zumindest zweifelhafte Aussage.

    Parallel wird der Vorgang in Gesetzesform gegossen: Im Hauptausschuss wird ohne Debatte beschlossen, die Auszahlung der für den Kulturstandort Lucy-Lameck-Straße vorgesehenen Mittel im Haushalt unter den Vorbehalt zu stellen, dass ein neuer Betreiber gesucht wird. CDU, SPD und Linke stimmen für den Antrag, Grüne und AfD enthalten sich. Eine Woche später wird der Haushalt im Abgeordnetenhaus beschlossen.

    Am 22. Dezember, knapp vor Jahresende also, erhält das »Oyoun« einen Brief vom Kultursenat: Ab dem 1. Januar wird das Kulturzentrum keine Gelder mehr erhalten. Dann folgt eine ausführliche Begründung. Die künftige Förderung werde aufgrund neuer Förderkriterien ausgeschrieben. Zudem sehe der Haushaltsplan für die Jahre 2024/25 nicht die Förderung von »Oyoun« vor. Ein Rechtsanspruch auf die Förderung über 2023 hinaus bestehe nicht: »Mit der Entwicklung eines neuen Konzepts und daraus resultierender zusätzlicher beziehungsweise abweichender Förderkriterien für den Standort liegt für die hiesige Förderentscheidung nun aber ein rechtfertigender sachlicher Grund vor.«

    Schwere Konsequenzen, die man in Kauf nimmt

    Zum Jahresbeginn 2024 verlieren alle Mitarbeitenden des Kulturzentrums ihren Job. Einige in der Belegschaft werden dadurch in eine besonders gefährdete Lage gebracht, denn ihr Aufenthaltstitel hängt von ihrer Beschäftigung ab – was Joe Chialo bekannt war, denn er äußerte sich dazu im Dezember in einer Sitzung des Kulturausschusses im Abgeordnetenhaus.


    Anlage 6: Im zweiten internen Prüfbericht wird vor einer potenziellen Grundrechteeinschränkung gewarnt .

    Foto: nd

    »Oyoun«-Geschäftsführerin Louna Sbou hält weiterhin daran fest: Dem Kulturzentrum stehe die Förderung für 2024 und 2025 rechtlich zu. Schon im Dezember klagte das »Oyoun« beim Verwaltungsgericht Berlin gegen die Entscheidung des Kultursenats und beantragte eine vorläufige Verpflichtung der Zuwendungen. Bisher ohne Erfolg: Sowohl das Verwaltungsgericht als auch die höhere Instanz, das Oberverwaltungsgericht (OVG), lehnten den Antrag ab.

    Myrsini Laaser, die Anwältin des »Oyoun«, argumentiert, die Entscheidung des OVG sei fehlerhaft, das Gericht habe sich nicht mit der Frage und Argumenten um die Formwirksamkeit auseinandergesetzt. Inzwischen liegt der Fall beim Berliner Verfassungsgerichtshof; wann eine Entscheidung zu erwarten ist, ist bislang nicht absehbar.

    Wann das »Oyoun« tatsächlich die Lucy-Lameck-Straße räumen muss, steht noch offen. Einer Räumungsaufforderung zum Trotz sind die Betreiber bis heute in dem Gebäude geblieben. Ob die Räumung rechtmäßig ist, wird ebenfalls gerade vor Gericht verhandelt. Solange das »Oyoun« in dem Haus ist und das Gericht nicht über die Räumungsklage entschieden hat, wird es für den Kultursenat vermutlich schwierig sein, die Förderung neu auszuschreiben. Auf Anfrage des »nd« heißt es seitens des Kultursenats, die Neuausschreibung werde intern abgestimmt und solle noch im Laufe des Sommers verabschiedet werden.


    Anlage 7: Der Berliner Kultursenator Joe Chialo beauftragt, ein neues Betreiberkonzept für die Lucy-Lameck-Straße 32 zu erstellen .

    All diese Erkenntnisse legen nahe: Weil sich aus der Prüfung mutmaßlich antisemitischer Aussagen seitens »Oyoun« keine Grundlage für einen Fördermittelentzug ergaben, griff der Senat auf Formgründe zurück, um den Schritt trotzdem durchzuführen und zu legitimieren. Formgründe, die der Senat beziehungsweise Joe Chialo zuerst noch schaffen mussten: nämlich die Beauftragung eines neuen Betreiberkonzepts, was eine Haushaltssperre für die Förderung ermöglichte und damit den Widerruf der Förderung. Letztendlich wurde der Förderstopp über diese bürokratische Akrobatik möglich gemacht – die Motivation dahinter war ganz offenbar politischer Natur.

    Die von »nd« beim Berliner Kultursenat angefragte Stellungnahme zu dem Sachverhalt ist bis zum Zeitpunkt der Veröffentlichung nicht bei uns eingegangen.

  • Filmfest München: »Wir möchten keine A-Festivals kopieren«
    https://www.nd-aktuell.de/artikel/1183264.film-filmfest-muenchen-wir-moechten-keine-a-festivals-kopieren.ht

    26.6.2024 von Interview: Susanne Gietl - Das 41. Filmfest München beginnt am Freitag. Ein Gespräch mit den Leiter*innen des Festivals Christoph Gröner und Julia Weigl

    Frau Weigl, Sie sind seit zehn Jahren beim Filmfest München, Herr Gröner, Sie sind bereits seit 20 Jahren fest im Team des Filmfests. Welche Prinzipien prägen Ihre gemeinsame künstlerische Leitung?

    Weigl: Wir glauben daran, dass wir als Team Dialog bestens verkörpern können. Und darum geht es ja auf dem Festival – ausgehend von den einzelnen Filmen ein Gespräch zu beginnen, Kino als soziale Erfahrung wirklich zu leben, als Miteinander. Wir bieten jede Menge Panels, Diskussionen und Filmgespräche an – das Gespräch und der Austausch sind ganz im Zentrum von uns als Premierenfestival, um vielen unterschiedlichen Stimmen einen Raum zu geben.

    Gröner: Zu zweit sind wir einfach auch schneller. Durch den Austausch auf Augenhöhe sind wir so etwas wie unserer eigener Thinktank. So haben wir für diese Ausgabe mit einem fantastischen Team jede Menge Neuerungen eingeführt: große neue Spielorte oder eine andere Struktur der Wettbewerbe und unserer Programmreihen zum Beispiel.

    Eine Ihrer ersten Amtshandlungen war eine Reise nach New York. Wie wird das Filmfest München im Ausland wahrgenommen?

    Gröner: Auf der anderen Seite des Atlantiks herrscht eine bestimmte Form von Nostalgie, die mit wahnsinnig tollen Erfahrungen beim Filmfest München aus den 80er und 90er Jahren verbunden ist. Als wir nach New York kamen, haben sich deshalb sehr viele Türen von Leuten geöffnet, die damals begannen und nun in Leitungspositionen sitzen, im Verleih oder bei Talentagenturen. Und wir haben neue Freunde gefunden: Rajendra Roy ist der Chefkurator vom Museum of Modern Art für die Sektion Film und dieses Jahr Teil unserer Wettbewerbsjury.

    Weigl: Uns ist US-amerikanisches Independent-Kino sehr wichtig. Vor drei Jahren haben wir die experimentelle Cine-Rebels-Reihe ins Leben gerufen, um Filme zu zeigen, die es traurigerweise im regulären Kinobetrieb zu selten gibt. Die unaufgeregte, aber doch provokative Doku »Realm of Satan« über den banalen Alltag von Leuten der Church of Satan, »Los Hiperbóreos« über esoterischen Hitlerismus oder den Gaga-Film »Doppelgängers³« zum Beispiel. Das ist eine absolute Indie-Perle und die Premiere mit der Regisseurin Nelly Ben Hayoun-Stépanian wird abgefahren. Sie will mit einer ihrer Doppelgängerinnen zur Premiere kommen und dann die besten Doppelgänger im Publikum küren.

    Wie stehen Sie dazu, dass das Filmfest München auch als das bayerische Cannes gehandhabt wird?

    Gröner: Ich möchte die Frage inhaltlich beantworten. Wir haben 14 Filme aus Cannes im Gepäck. Das erwarten die Leute von uns, aber mittlerweile haben wir auch tolle Titel aus Tribeca und wir teilen Weltpremieren. »Xoftex« teilen wir uns mit Karlovy Vary und »Another German Tank Story« mit dem Shanghai International Film Festival. Das Konzept der geteilten Premieren finden wir seit Jahren spannend, weil diese Filme es schwer haben, überhaupt gesehen zu werden, obwohl sie fantastisch sind. Wir schenken so einem Film die größtmögliche Aufmerksamkeit. Außerdem ist es auch nachhaltiger, wenn man einen Gast aus Nordamerika oder Asien nicht zwei Mal anreisen lässt, sondern gemeinsam mit einem anderen Festival eine Premiere plant. Als Festival sind wir dann am erfolgreichsten, wenn wir es mit vielen Welt-, internationalen und Europapremieren bestücken, diese aber lässig präsentieren. Das ist ein eigenes Konzept, und zieht auch Weltstars von heute absolut an.

    Warum haben Sie den Koproduktionspreis CineCoPro von 2019 zurückgeholt?

    Weigl: Beim Filmfest München rücken wir kreative Stimmen aus Deutschland seit vielen Jahren mit den Reihen Neues Deutsches Kino und Neues Deutsches Fernsehen ins Zentrum. Und nun auch wieder deutsche Koproduktionen – mit dem höchstdotierten Preis für deutsche Koproduktionen. Man kann sagen: Unser Programm ist jetzt wieder komplett – und das passt zu unserem Selbstverständnis als Plattform Nummer eins für das deutsche Filmschaffen. Ich persönlich freue mich besonders auf die deutsch-kanadische Koproduktion »Rumours« von Guy Maddin mit Cate Blanchett und Alicia Vikander, die als G7-Weltpolitikerinnen durch den Wald stolpern, während die Zuschauer bei uns im Open Air im Wald und am See sitzen.

    Das klingt sehr idyllisch.

    Weigl: Das ist der Film zwar nicht (lacht). Aber als Filmfest München sind wir ein Sommerfestival, bei dem man im Biergarten und an der Isar networken kann. Das spiegelt sich auch im neuen Design wider. Unser Teppich ist nicht mehr rot, sondern wie die Isar türkis. Wir wollen unsere Gäste mit ihren Herzensprojekten nach München locken und neue Talente entdecken. Ein prominentes Beispiel ist Lily Gladstone, die vor zwei Jahren mit »Quantum Cowboys« fast eine ganze Woche in München komplett inkognito zu Gast war und in diesem Jahr für ihre Rolle in »Killers of the Flower Moon« einen Golden Globe gewonnen hat.

    Gröner: Wir möchten keine A-Festivals kopieren, sondern sehen uns als Entdeckerfestival, auch wenn es darum geht, Stars wie zum Beispiel Kate Winslet von einer anderen Seite zu entdecken. Dieses Jahr stellt sie uns als Produzentin ihren Film »Die Fotografin« vor. Außerdem zeigen wir zum ersten Mal in Deutschland eine Auswahl an Fotografien der Schauspielerin Jessica Lange, die in Deutschland als Fotokünstlerin noch ganz unbekannt ist, und feiern mit ihr die Leinwandpremiere ihres neuen Films »The Great Lillian Hall«. Darauf freue ich mich wirklich sehr.

    Weigl: Aber jenseits aller Begeisterung und allen Optimismus haben wir natürlich auch sehr politische Filme wie »Führer und Verführer«, »Münter & Kandinsky«, »Die Ermittlung« und »Tatami« im Programm, die unsere Lebenswelten abbilden, verarbeiten und kommentieren. Auch der Ukraine widmen wir in diesem Jahr einen thematischen Schwerpunkt.

    Eröffnet wird das Filmfest mit »Zwei zu Eins« aus der Reihe Neues Deutsches Kino. Warum stellen Sie das deutsche und nicht das internationale Kino in den Fokus?

    Weigl: Für uns war es dieses Jahr ein Geschenk, dass Jessica Lange so früh zugesagt hat. Als dann noch Kate Winslet dazu kam und mit Shin’ya Tsukamoto eine sehr eigenwillige Hommage, war für uns das internationale Kino gut abgedeckt. Wir wollten unbedingt dem deutschen Film eine große Plattform geben. »Zwei zu Eins« mit Sandra Hüller und Ronald Zehrfeld ist die perfekte Mischung aus nationalem Kino und internationalem Anspruch.

    Gröner: Der Film ist eine wunderbare Komödie, nimmt aber die Charaktere ernst. Es ist ein Film darüber, dass man den neoliberalen Mechanismen nicht völlig ausgeliefert ist, sondern in einem solidarischen Miteinander handeln kann. Insofern empfinden wir ihn als perfekten Eröffnungsfilm.

    Christoph Gröner studierte in München, Venedig und Salamanca. Seit 2012 war er verantwortlich für die Sektion Neues Deutsches Kino beim Filmfest München, von 2019 bis 2023 war er künstlerischer Leiter und seit 2023 ist er Festivaldirektor und Geschäftsführer des Festivals. Julia Weigl arbeitet seit 2014 sie als freie Journalistin, Autorin, Übersetzerin und Moderatorin. Von 2015 bis 2019 war sie in der Presseabteilung und Redaktion des Filmfest München tätig. Von 2019 bis 2023 kuratierte sie das internationale Filmprogramm und seit 2023 ist sie künstlerische Co-Leiterin des Festivals .

    #Allemagne #Munich #cinéma

  • Soziale Konflikte versus Patriotismus
    https://www.nd-aktuell.de/artikel/1182966.ukraine-krieg-soziale-konflikte-versus-patriotismus.html

    14.6.2024 von Raul Zelik -Wie ukrainische Gewerkschafter die Situation in ihrem Land einschätzen

    Zwei Jahre nach dem russischen Überfall ist die Lage in der Ukraine festgefahren. Obwohl ein Großteil der Bevölkerung die Folgen einer militärischen Niederlage fürchtet, versuchen viele Jüngere sich der Zwangsrekrutierung zu entziehen. Auf einer Gewerkschaftskonferenz in Berlin sprachen wir mit ukrainischen Kolleginnen und Kollegen über ihre Einschätzung der Lage.

    Die Hochschullehrerin

    Natalia Suslo, die im zentralukrainischen Krywyj Rih als Hochschullehrerin an der Technischen Universität arbeitet und Fachkräfte für das Stahlwerk von AcelorMittal ausbildet, vermeidet einen patriotischen Tonfall, wenn sie über den Krieg spricht. »Wir wollen ihn nicht, sondern eine wirtschaftliche Perspektive.« Allerdings schwingt in dem Satz auch mit, worum es bei dem Konflikt geht: Die Ukrainer*innen wollen selbst entscheiden können, ob sie ökonomisch sich Richtung Ost oder West orientieren.

    Sowohl die Universität als auch das Stahlwerk, in dem nach wie vor 20.000 Menschen beschäftigt sind, seien regelmäßig von Raketenangriffen betroffen, berichtet Suslo. Ihre Heimatstadt Krywyj Rih liegt etwa 150 Kilometer westlich von Saporischschja, wo Russland vor bald zwei Jahren das Atomkraftwerk besetzte. Die Beschäftigten bei ArcelorMittal unterstützten zwar die ukrainische Armee, seien aber nicht an der Kriegsproduktion beteiligt. »Wir haben aus eigener Initiative Schutzwesten und Nachtsichtgeräte für Soldaten gekauft. Aber wir stellen keine Rüstungsgüter her.« Die Belegschaft versuche vor allem wirtschaftlich etwas zum wirtschaftlichen Aufbau des Landes beizutragen.

    Auch wenn es aus Suslos Sicht nach wie vor einen starken Widerstandswillen der Bevölkerung gibt, verheimlicht die Hochschullehrerin nicht, dass an ihrer Universität viele Studierende den Abschluss hinauszögerten, um nicht eingezogen zu werden. »Das ist verständlich«, sagt Suslo. »Im Krieg sollten diejenigen kämpfen, die das gelernt haben. Bei uns möchten viele Beschäftigte durch ihre Arbeit einen wirtschaftlichen Beitrag zum Sieg leisten – und nicht durch einen Fronteinsatz.«

    Auf die Frage, ob der nach dem russischen Überfall überbordende ukrainische Patriotismus nicht auch zu einem Problem geworden sei, reagiert Suslo zögerlich. Kulturelle und Sprachunterschiede seien in der Ukraine eigentlich keine Konfliktlinien. Aus den besetzten Gebieten seien viele Russischsprachige in die Zentralukraine geflohen. Gleichzeitig erkennt die Hochschullehrerin aber auch an: »In der Öffentlichkeit versuchen wir unsere Identität zu zeigen, in dem wir Ukrainisch sprechen.«

    Die Krankenpflegerin

    Bei der im westukrainischen Lwiw lebenden Oksana Slobodiana fällt die Darstellung der Lage patriotischer aus. Für die Krankenpflegerin, die 2019 die Gewerkschaft »Be Like Nina« gründete, geht es um die Verteidigung der schon lange missachteten ukrainischen Identität. »Unser Kampf dauert seit einem Jahrhundert«, sagt sie. »Der Konflikt wird erst enden, wenn Russland die Grenzen unseres Landes anerkennt.«

    Dennoch verschließt Slobodiana keineswegs die Augen vor den sozialen Widersprüchen im eigenen Land. Die Lage für Beschäftigte sei schon vor dem Krieg alles andere als einfach gewesen. »Aber jetzt ist alles noch schwieriger. Mit der Verhängung des Kriegsrechts hat die Regierung neoliberale Gesetze verabschiedet, und die Arbeitgeber schränken unsere Rechte ein.« Sorgen bereitet der Gewerkschafterin vor allem die Privatisierung des Gesundheitswesens. Sie sei zwar nicht grundsätzlich gegen Privatkliniken, aber befürchte, dass Menschen mit geringem Einkommen immer schlechter versorgt würden. Enttäuschung äußert sie auch über das Verhalten vieler Reicher, die im Krieg nur den eigenen Vorteil vor Augen oder sich gleich ganz im Ausland in Sicherheit gebracht hätten.

    Auf die Nachfrage, ob sie es als Gewerkschafterin nicht auch als Verlust empfinde, wenn die eher plurinationale Identität, wie es sie in Zeiten der Sowjetunion gab, durch nationalistische Zuordnungen verdrängt werde, reagiert Slobodiana mit Kopfschütteln. »Klassenbewusstsein ist wichtig, aber ich möchte nicht in die sowjetische Vergangenheit zurückversetzt werden. Die ukrainische Identität hatte in der Sowjetunion keinen Platz. Meine Familie wurde damals verfolgt und hat sehr gelitten. Wir wollen – wie Polen oder Deutsche – als Nation anerkannt sein.«

    Der Organizer

    Der junge Organizer Artjom Tidwa von der kleinen linken Organisation Sozialnyj Ruch (Soziale Bewegung) führt sowohl nationale als auch pragmatische Argumente ins Feld, warum ein Sieg Russlands seiner Meinung nach unbedingt verhindert werden muss. »Ob die Ukrainer als ethnische Gruppe weiter existieren, hängt vom Ausgang des Kriegs ab. Wenn man von Russen spricht, denkt man nicht an Kalmücken oder Tartaren. Die russische imperiale Konstruktion erkennt ihre Existenz nicht an. Dasselbe würde nach einer Niederlage auch für uns gelten.« Darüber hinaus geht es Tidwa aber auch um soziale und politische Grundrechte. »Die Russen haben viele Aktive aus Zivilgesellschaft, Gewerkschaften und NGOs entführt. Außerdem ist die Neoliberalisierung in Russland weiter fortgeschritten«, betont der in Kiew lebende Organizer. »In der Ukraine gibt es zwar auch gewerkschaftsfeindliche Gesetze, aber die sind ans Kriegsrecht gebunden. In Russland dagegen ist es normal, wegen einer Demonstration verhaftet zu werden.« So sitze beispielsweise der Gründer einer russischen Rider-Gewerkschaft im Gefängnis. In der Ukraine dagegen seien die Polizeieinheiten zur Bekämpfung von Demonstrationen nach der Maidan-Revolution 2014 aufgelöst worden.

    Ihm sei durchaus bewusst, dass auch die Europäische Union ihre ökonomischen Interessen verfolge und aus der Situation Profit zu schlagen versuche. »Aber bei einer Integration Richtung EU hat unsere Gesellschaft eine Chance auf eine Zukunft. Bei einer Unterwerfung unter Russland sehe ich das nicht.« Es sei Aufgabe der europäischen und ukrainischen Linken zu verhindern, dass die Ukraine einer neoliberalen Beutepolitik zum Opfer falle.

    Tidwas Organisation hat seit Kriegsbeginn in mehreren Städten soziale Zentren gegründet, die als Treffpunkte für Feministinnen, Gewerkschafter und emanzipatorische Linke dienen. Außerdem kooperiert die Gruppe mit internationalen Organisationen bei lokalen Projekten zur Wasser- und Stromversorgung. »Wir setzen auf Solidaritätsnetzwerke und versuchen die Bedeutung von Selbstorganisation zu vermitteln.«

    Dass die sowjetische Geschichte in der Ukraine nur noch negativ bewertet wird, hält Tidwa für einen Fehler. »Die meisten Schlachten im Krieg gegen Nazi-Deutschland fanden auf ukrainischem Territorium statt. Es ist falsch, diese Geschichte Russland zu überlassen. Putin steht in der zaristischen Tradition. Die Selbstverteidigung der Ukraine hingegen hat etwas Kommunistisches. Ohne das kostenlose Nahverkehrssystem und die öffentlichen Eisenbahnen wäre unsere Gesellschaft in den ersten Kriegsmonaten zusammengebrochen.«

    Dass die ukrainische Identität heute so stark betont wird, bezeichnet Tidwa, der mit der eigenen Mutter Russisch spricht, als »postkolonialen Reflex«. Gleichzeitig hofft er darauf, dass es in den kommenden Jahren eine alternative Perspektive auf die Geschichte geben wird. »Wenn man sich früher als Linker bezeichnete, meinten die Leute, man würde die stalnistische Hungerpolitik der 1930er Jahre befürworten«, sagt Tidwa. »Wir wollen eine andere Vision von Sozialismus. Dafür brauchen wir keine Hammer-und-Sichel-Tattoos und T-Shirts mit sowjetischen Symbolen.«

    Die Studentin

    Katia Grizewa, von der Studentenorganisation Prjama Dija (Direkte Aktion) sieht das ähnlich. Die wichtigste Forderung ihrer Gruppe, die etwa 100 Studierende organisiert, sei die Verteidigung des öffentlichen Bildungssystems. Die Politik der westlichen Regierungen hält Grizewa in diesem Zusammenhang für wenig hilfreich. »Neoliberale Reformen sind auf dem Vormarsch, für viele Menschen verschlechtern sich die Lebensbedingungen.« Ein großes Problem für die Studierenden sei, dass der Unterricht wegen der Zerstörung von Universitätsgebäuden fast nur noch online stattfinde. Ihre männlichen Kommilitonen beschwerten sich zudem darüber, dass sie das Land wegen der Wehrpflicht nicht mehr verlassen dürfen.

    Der Ansatz von Prjama Dija sei es, Studierende zusammenzubringen und solidarische Werte zu fördern. Dabei gehe es natürlich auch um die politische Zukunft der Linken. »Die Menschen werden uns danach beurteilen, was wir jetzt machen«, sagte Grizewa. »Wenn wir heute nicht kämpfen, wird die Politik nach dem Krieg nur noch von Rechten und Neoliberalen bestimmt sein.«

    Hört man den Aktivist*innen zu, ist man eher skeptisch, ob der Widerstand gegen die russische Invasion eine emanzipatorische Perspektive besitzt. Die Hoffnung ukrainischer Linker besteht eher darin, eine Verschlechterung der Lebens- und Organisationsbedingungen zu verhindern.

    #Ukraime #guerre #syndicalisme

  • Umkämpfte Koalitionsfreiheit : FU Berlin mahnt Gewerkschafter ab
    https://www.nd-aktuell.de/artikel/1182964.union-busting-umkaempfte-koalitionsfreiheit-fu-berlin-mahnt-gewer


    Die Rechtsanwälte Benedikt Hopmann und Reinhold Niemerg vor ihrer Kanzlei in der Schönhauser Allee Foto : nd/Christian Lelek

    La Freie Universität Berlin (FUB) prépare le licenciement de plusieurs syndicalistes sous prétexte de se défendre défendre contre des affirmations injurieuses. Le groupe syndical de la fac dit dans un pamphlet que le comportement anti-syndical constitue une agression contre les droits démocratiques des employés et contribue ainsi à la montée de l’extrême droite.

    Les argument des syndicalistes et avocats sont nombreux et solides. Le chancelier de l’université et les gérants de ses entreprises font tout pour réduire les salaires et vont jusqu’à refuser de payer des millions en primes prévues dans les conventions collectives.

    Lee patrins de la FUB ont forcé les employés de service du jardin botanique et des cliniques universitaires à travailler pour des sociétés privées sans convention collective fondées seulement pour réduire les salaires. Ils citent des recherches scientifiques qui montrent une correlation entre l’absence de droits démocratiques au sein des entreprises et la propagation de tendances d’extrême droite.
    On verra si les juges du tribunal du travail suivront les arguments des avocats.

    14.6.2024 Interview: Christian Lelek - Sie sind als Anwälte eines Beschäftigten der FU Berlin mandatiert. Ihr Mandant ist Vorstandsmitglied der Betriebsgruppe der Gewerkschaft Verdi und wehrt sich gegen eine Abmahnung. Ende Mai fand ein erster Termin vor dem Arbeitsgericht statt. Worum geht es genau?

    Reinhold Niemerg: Anlass der Abmahnung war ein Artikel, der auf der Internetseite der Betriebsgruppe stand. Abgemahnt wurden alle Vorstandsmitglieder – wir vertreten einen von ihnen. Es gehen aber noch weitere Betroffene gerichtlich dagegen vor.

    Benedikt Hopmann: Entscheidend ist, was in dem Text stand. Im Grunde war es ein Aufruf, sich an den großen Demonstrationen gegen rechts, insbesondere die AfD, zu beteiligen. »Beteiligt euch als Gewerkschafter« war die Stoßrichtung. Der Aufruf beginnt mit der Einschätzung, dass die Regierung die Bevölkerung durch ihre Abschiebepolitik sowie Erhöhung der Rüstungs- und Kürzung der Sozialausgaben nach rechts treibt. »Rechtes Gedankengut wächst am besten in einem Klima der Prekarität.« Natürlich fragten sich die Mitglieder als Beschäftigte: »Wie sieht es bei uns im Betrieb aus?« Und ihre Antwort lautete: »Das gilt auch für unseren Arbeitgeber. Wer Tarifverträge nicht einhält, Mitbestimmung und demokratische Prozesse im Betrieb aktiv bekämpft, sorgt für politischen Verdruss.« Dadurch fördere die FU den Rechtsruck und den Aufstieg der AfD.

    Wie begründet denn die FU die Abmahnung?

    BH: Das vom Präsidenten unterzeichnete Schreiben greift den Vorwurf auf, die FU würde aktiv Mitbestimmung sowie demokratische Prozesse bekämpfen und als gewerkschaftsfeindlicher Arbeitgeber der AfD und der politischen Rechten den Weg bereiten. »All dies ist offensichtlich unzutreffend«, heißt es in der Abmahnung. Der Artikel stelle eine loyalitäts-, eine ehrverletzende Kritik des Arbeitgebers dar, womit der Betriebsgruppenvorstand seine arbeitsvertraglichen Pflichten verletzt habe. Die genannten Vorwürfe seien außerdem nicht von der Meinungsfreiheit gedeckt.

    Auf Abmahnungen trifft man im Arbeitsalltag immer wieder. Warum hat sie in diesem Fall besonderes Gewicht?

    RN: Eine Abmahnung hat prinzipiell besonderes Gewicht. Sie steht nicht einfach nur in der Personalakte, vielmehr ist sie das Instrument zur Vorbereitung einer Kündigung. Die Arbeitgeberin weiß genau, was sie mit so einer Abmahnung macht. Ziel ist es in dem konkreten Fall, in Zukunft zu verhindern, dass gleichgerichtete politische Aussagen von dieser gewerkschaftlichen Gruppe geäußert werden. Insofern ist die Abmahnung als Einschüchterung zu werten.

    BH: Das ist ein Angriff auf die Betätigungsfreiheit der Gewerkschaften in den Betrieben, die als Koalitionsfreiheit in Artikel 9 des Grundgesetzes geschützt ist. Schließlich entsteht Meinung in hitzigen Auseinandersetzungen. Wenn ich mich durch einen Artikel zu Unrecht beschuldigt oder angegriffen fühle, dann gibt es ausgefeilte Wege, auf denen ich dem begegnen kann: das Pressegesetz, das Zivilrecht und schließlich das Strafrecht. Warum nutzt der Arbeitgeber im vorliegenden Fall diese Instrumente nicht und setzt stattdessen gleich am Arbeitsverhältnis an? Es wird gewissermaßen mit der Existenzgrundlage der Beschäftigten gespielt, sobald diese eine Meinung äußern, die dem Unternehmen nicht passt. Aber genau da beginnt die gewerkschaftliche Betätigungsfreiheit.

    Warum denken Sie, geht das Präsidium sogleich und ausschließlich den arbeitsrechtlichen Weg?

    RN: Es ist letztlich das wirksamste Mittel, um einzuschüchtern. Damit zielt die FU direkt auf die Existenz, und zwar der Gewerkschaft, auf den Gewerkschafter, der sich vor Ort betätigt. Der Einschüchterungsversuch soll die Gewerkschaftsarbeit vor Ort beeinflussen.

    Wieso denken Sie, dass die Abmahnung nicht rechtmäßig ist?

    BH: Zunächst stützt sich die Betriebsgruppe in ihrer Argumentation auf Tatsachen. Der Verstoß gegen den Tarifvertrag ist dadurch belegt, dass erst aufgrund einer lang anhaltenden gewerkschaftlichen Kampagne 312 Beschäftigten Zuschläge von insgesamt über zwei Millionen Euro nachgezahlt wurden. Ein zweites wichtiges Tatsachen-Element ist die Ausgliederung von Arbeiten. Outsourcing ist in den letzten Jahrzehnten wie ein Sturm durch die Betriebe gefegt, was für eine massive Tarifflucht gesorgt hat. Das gilt an der FU eben für die Reinigung. Und schließlich sind es auch die Verstöße gegen die Mitbestimmungsrechte der Personalräte, die nachweislich verletzt wurden und deren Einhaltung eingeklagt werden musste. Das sind aus unserer Sicht Tatsachen, die kaum bestritten werden können. Die FU geht aber noch weiter und sagt, die Kritik der Betriebsgruppe, dass die Uni mit ihrer Politik, dem rechten Rand in die Karten spiele, sei ehrverletzend, selbst wenn die Tatsachen stimmen.

    Und das halten Sie auch für unhaltbar?

    BH: Ja, denn der Zusammenhang zwischen diesen Angriffen auf Mitbestimmung und Tarifverträge und der Entwicklung nach rechts ist in Studien, die wir als Belege anführen, bereits nachgewiesen worden: Armutsgefährdung und die Zustimmung zu rechtsextremen Parteien korrelieren. Andererseits sind es vor allem Tarifverträge, die dieser Armutsgefährdung entgegenwirken. Wenn man diese Zusammenhänge ernst nimmt, bedeutet das eben, dass sich die Politik ändern muss – großflächig und in den einzelnen Betrieben.

    In der Begründung der Abmahnung beanstandet die FU, dass sie als gewerkschaftsfeindlicher Arbeitgeber tituliert wird.

    BH: Wir haben es hier mit einer Betriebsgruppe von Verdi zu tun. Und für eine Gewerkschaft im Betrieb hängt die Wertung, ob ein Arbeitgeber gewerkschaftsfeindlich ist, maßgeblich davon ab, ob er sich an Tarifverträge hält.

    Die Betriebsgruppe schlägt den argumentativen Bogen, dass gewerkschaftsfeindliches Verhalten Vertrauen in die Demokratie untergrabe.

    BH: Auseinandersetzungen um Tarifverträge sind demokratische Prozesse: Wenn eine Belegschaft zum Beispiel mittels Streik versucht, ihre Interessen durchzusetzen, ist das ein demokratischer Prozess, weil die Beschäftigten sich unmittelbar an der Ausgestaltung ihrer Arbeitsbedingungen, Löhne, Urlaub etc. beteiligen. Diese Beteiligung ist konkreter Ausdruck von Demokratie. Wenn ein Tarifvertrag abgeschlossen wird, bestimmt nicht mehr der Unternehmer allein die Arbeitsbedingungen.

    Es geht Ihnen nicht nur um die Abmahnung, sondern auch darum, festzustellen, dass hier die Koalitionsfreiheit verletzt und Verfassungsbruch begangen wurde.

    BH: Ja, die Abmahnung würde als unrechtmäßig aus der Personalakte verschwinden, wenn festgestellt würde, dass das von Ihnen genannte Grundrecht verletzt wurde.

    Von Ferne betrachtet streiten sich FU und Gewerkschaft schon immer gerne. Nun eine Gerichtskampagne gegen eine Abmahnung. Warum ist dieses Klein-Klein relevant?

    BH: Der Konflikt an der FU ist beispielhaft und hat deswegen weit über die FU hinaus Bedeutung. Es geht um die Frage: Warum wird denn die AfD immer stärker? Das beantwortet die Betriebsgruppe, indem sie sagt: »Das, was die AfD will, macht zum Teil die Regierungspolitik. Der massive Abbau von sozialen Leistungen, der Kampf gegen die Tarifbindung, die Verschlechterung der Arbeits- und Lebensbedingungen von großen Teilen der Bevölkerung einerseits und die Aufblähung des Rüstungshaushalts andererseits bereiten der AfD den Weg.« Der Kampf um den erreichten Lebensstandard ist ein Kampf, der in zahllosen Betrieben stattfindet – häufig lautlos, aber wirksam von Unternehmerseite gegen die Beschäftigten geführt. Die Gegenwehr der Beschäftigten zur Verteidigung ihres Lebensstandards ist nicht nur ein Kampf gegen die Unternehmer, sondern auch gegen rechts. Doch die Beschäftigten finden wenig politische Unterstützung. Der krasse Schwund der Tarifbindung zeigt, was uns verloren gegangen ist.

    RN: Ein Blick in die Vergangenheit zeigt zudem, dass das Klein-Klein eine Geschichte hat und in der Fläche stattfindet. In den Nullerjahren gründete die FU für den Botanischen Garten eine eigenständige Firma, die weit unter Tariflohnniveau bezahlte. Das setzt sich im Umgang mit dem Personalrat fort, der seine Beteiligung regelmäßig per Gericht durchsetzen muss. Unterm Strich summiert sich das Klein-Klein zu einer Auseinandersetzung um die Einhaltung von Regelungen zugunsten der Beschäftigten, wie sie in den Gesetzen und Tarifverträgen verankert sind – eine Auseinandersetzung, hinter der handfeste Interessen auf beiden Seiten stehen.

    Ein Richterspruch ist erst für Dezember vorgesehen. Was würde es bedeuten, sollte ein Urteil in Ihrem Sinne fallen?

    RN: Der Versuch, die Betriebsgruppe einzuschüchtern, wäre gescheitert. Damit wäre der Weg offen, dass in Zukunft weiter Politikfelder thematisiert und problematisiert werden können. Ein negatives Urteil hingegen wäre ein Angriff auf die Gewerkschaften, die sich in solchen Betriebsgruppen konstituieren. Deshalb geht es unserer Ansicht nach hier letztlich um die Verteidigung der grundrechtlich verankerten Koalitionsfreiheit.

    Benedikt Hopmann wehrte im Fall »Emmely« die Kündigung einer Kassiererin für das Unterschlagen von Pfandbonds im Wert von 1,30 Euro ab. Aktuell vertritt er Kuriere des Lieferdienstes Gorillas. Deren Kündigung wegen der Teilnahme an wilden Streiks verstoße Hopmann zufolge gegen europäisches Recht.
    Reinhold Niemerg vertritt als Fachanwalt für Arbeitsrecht Beschäftigte sowie Betriebs­räte in der betrieblichen Praxis.

    #Allemagne #Berlin #université #syndicalisme #droit_du_travail #

  • Uber und Co im Visier der Behörden
    https://www.nd-aktuell.de/artikel/1182653.verkehrspolitik-uber-und-co-im-visier-der-behoerden.html

    3.6.2024 von David Rojas Kienzle - Gefälschte Zulassungen und Kennzeichen, Sozialversicherungsbetrug: Die Diskussion um Uber, Freenow, Bolt und Co, große Plattformen, die angetreten sind, das Taxigewerbe aufzumischen, dreht sich am Montag im Innenausschuss des Abgeordnetenhaus um die kriminellen Teile des Gewerbes. »Das ist ein Sumpf, den wir da entdeckt haben«, sagt etwa Britta Behrendt (CDU), Staatssekretärin für Klimaschutz und Umwelt. Ein Befund, in dem sich sowohl Regierung als auch Opposition einig sind. Laut Antje Kapek, Sprecherin für Verkehrspolitik der Grünen, handelt es sich »nicht nur um ein bisschen Urkundenbetrug«, sondern um organisiertes Verbrechen.

    Kirsten Dreher, Direktorin des Landesamts für Bürger und Ordnungsangelegenheiten (Labo), das für die Zulassung von Mietwagenunternehmen zuständig ist, berichtete davon, dass 1661 Fahrzeuge aus dem Verkehr genommen worden seien. »Die Bestandsüberprüfungen haben ihre Wirkung gezeigt«, sagt sie dazu. Insgesamt seien 29,99 Prozent der Fahrzeuge ohne Konzession tätig gewesen, so Staatssekretärin Behrendt. 94 Strafverfahren und 83 Ordnungswidrigskeitsverfahren wurden eingeleitet.

    Angesichts der Größe des Problems wurde unter Federführung der Senatsverwaltung für Mobilität eine »AG Schattenwirtschaft und Schwarzarbeit im Mietwagenbereich« gegründet, in der vom Hauptzollamt über die Justiz bis hin zu mehreren Senatsverwaltungen zahlreiche Institutionen gemeinsam an dem Thema arbeiten. Auch das Labo verschärft sein Vorgehen: Ein neuer Außendienst soll den gesamten Bestand der Mietwagenkonzessionen überprüfen, so Dreher. »Jeder Betriebssitz wird vor Ort überprüft.« Die Konzessionen gingen zurück. Und das Labo hat viel vor: »Wir werden dieses Jahr den Mietwagenverkehr komplett aufräumen.«

    Die vermehrte Kontrolldichte in Berlin und die Tatsache, dass die Genehmigungsbehörden anders als vorher genauer auf die Anträge schauen, führt allerdings zu einem Verdrängungseffekt. »Wir sehen einen Trend, dass durch unsere Maßnahmen ein Wettbewerb in die Umlandgemeinden stattfindet«, sagt Dreher. Um dem entgegenzuwirken, stellt das Labo den Brandenburger Genehmigungsbehörden die Widerrufe zur Verfügung. Anweisungen an Brandenburger Behörden, Genehmigungen zu versagen, können aus Berlin aber nicht gegeben werden.

    Tino Schopf (SPD), verkehrspolitischer Sprecher seiner Fraktion, befürchtet, dass dort die Berliner Fehler wiederholt werden. »Ich kann mir vorstellen, dass die Behörden in Brandenburg Unterstützung brauchen«, so Schopf im Gespräch mit »nd«. Er ist skeptisch, wie überhaupt so viele Unternehmen zugelassen werden können. Denn sowohl der Geschäftsführer von Freenow als auch ein Mitarbeiter des Hauptzollamtes hätten in einer Ausschusssitzung im Februar gesagt, dass dieses Geschäftsmodell legal wirtschaftlich langfristig nicht zu betreiben sei.

    In anderen Städten verfolgen Behörden teilweise eine restriktivere Genehmigungspraxis. In Hamburg etwa seien nur 15 Mietwagen für dieses Geschäftsmodell zugelassen, berichtet Schopf »nd«. In Berlin seien es ganze 4500. »Hamburg schaut genauer hin und setzt geltendes Recht um. Und das erwarte ich auch in Berlin.«

    #Berlin #Uber #LABO