Die Comic-Helden aus Berlin sind erfolgreicher als Micky Maus

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    Jörg Reuter et Jens Schubert

    24.9.2021 von Jens Blankennagel - Der Anfang ist immer weiß und leer, und das seit nunmehr 550 Heften. Am Anfang liegt auf dem Schreibtisch von Jörg Reuter immer ein großes Blatt Papier. Am Ende jedes Monats hat er mit seinen Kollegen dieses Blatt und weitere 51 Seiten mit kleinen und großen bunten Zeichnungen gefüllt und ein Comic-Heft geschaffen. Spannend, lustig und immer auch lehrreich.

    Es ist nicht irgendein Comic, es gehört zur legendären Mosaik-Reihe. Das ist nicht nur die älteste noch immer existierende Comic-Serie aus deutscher Produktion, sondern auch die erfolgreichste. Für die Comic-Szene sind die Mosaiks das, was Rotkäppchen für die Sekt-Branche ist: ein zu DDR-Zeiten begehrtes Produkt, das nach dem Mauerfall nicht verschwand, sondern den wirtschaftlichen Niedergang im Osten überlebte – und sich dann als Marktführer in ganz Deutschland etablierte.
    Druckauflage von 100.000 Exemplaren

    Konkurrenz bekommt das Magazin vor allem von den Geschichten über Micky Maus. Alle zwei Wochen erscheint ein Micky-Maus-Heft, alle vier Wochen ein Mosaik. Beide haben eine Druckauflage von etwa 100.000 Exemplaren. Die Entenhausen-Geschichten stammen von Zeichnern aus aller Welt. Die Geschichten der Abrafaxe stammen aus den Pinseln jener acht Zeichner, die in dieser Stadtvilla im Berliner Westend arbeiten.

    Dort liegt auch an diesem Tag ein weißes Blatt Papier auf dem Tisch von Jörg Reuter, er ist der künstlerische Leiter, ein gelassener Mann mit langem, weißem Haar, immer eine Tasse grünen Tee griffbereit und natürlich einen spitzen Bleistift. Neben dem leeren Blatt liegt eine Art Regie-Anweisung von Jens Schubert, dem Mann, der die Abenteuer der Abrafaxe erfindet.

    Benjamin Pritzkuleit
    Die Helden: Die Vorlagen für die drei Abrafaxe (oben), darunter die Hauptfiguren der neuen Serie.

    Die drei Kobolde sind die Helden im Mosaik: Abrax, der Wagemutige, ist blond; Brabax, der Kluge, ist rothaarig und Califax, der Gutmütige, hat schwarzes Haar. Seit 45 Jahren reisen sie durch Jahrhunderte und Kontinente. Alle zwei Jahre endet eine ihrer Reisen.

    Gerade waren sie am Ende des 19. Jahrhunderts in der Südsee. Ein Junge namens Pitipak hatte sich verirrt, und sie versuchten, ihn zu seiner Familie zu bringen: Sie reisten von Insel zu Insel, ritten auf Delfinen, suchten einen Schatz, lernten deutsche Kolonialherren kennen und vor allem die Riten der Ureinwohner. Im bislang letzten Heft betraten sie in einer Ruine einen Raum mit grellem Licht. Und die Fans wussten: Der nächste Zeitsprung steht bevor – hier endet dieses Abenteuer und im nächsten Heft beginnt ein neues. Wohin es die Abrafaxe nun verschlägt, wissen nur die Menschen in der Villa hier. Die Fans werden es am Freitag am Kiosk erfahren.

    Jörg Reuter schaut auf die Regie-Anweisungen von Jens Schubert. Der Autor hat für jede Comicseite eine grobe Skizze gefertigt, die kein Laie entschlüsseln kann. Auf einem Bild stehen zum Bespiel fünf Kegel mit Buchstaben auf der Brust: L, I, S, B und A. „Das A steht für Abrax, das B für Brabax, die anderen sind die Haupthelden der neuen Geschichte“, sagt Reuter. „Die Ritter Sigismund und Lantfrid sowie der Händler Isaak.“ Vorn rechts liegt eine Art Mehlsack mit einem „G“.

    Jörg Reuter, 61 Jahre alt, greift zum Bleistift und zieht auf dem Blatt zuerst die Rahmen für die Bildertafeln. Dann überträgt er die Regieanweisungen. Bei ihm werden aus schwer definierbaren Kegeln gut erkennbare Figuren: Reuter achtet aber nicht auf die Gesichter – die kommen später –, sondern drauf, dass die Akteure gut im Raum verteilt sind, dass der eine Ritter immer größer sein muss als der andere und dass Abrax tatsächlich sehen kann, dass Brabax ihm zuwinkt. Nun zeichnet er den Mehlsack mit dem „G“ vorn im Bild. Nach 40 Bleistiftstrichen ist klar, dass es ein Hund ist. „Das ist Gertrud. Ein Geschenk für den Kalifen von Bagdad.“

    Benjamin Pritzkuleit
    Die Titelseiten: Am Freitag erscheint das 550. Heft der Abrafaxe. Sie haben damit mehr als doppelt so viele Abenteuer erlebt wie die Digedags.

    Damit ist das Geheimnis gelüftet: Die Abrafaxe reisen in den Orient. „Auch wenn es um längst vergangene Zeiten geht, versuchen wir immer, ein wenig den Zeitgeist zu treffen“, erzählt Jens Schubert. Der 58-Jährige hat Kulturwissenschaften studiert und kam 1986 als Praktikant eher zufällig zu Mosaik, nun erfindet er die Geschichten. Ein Jahr, bevor eine Zeitreise endet, fängt die Planung für die nächste Reise an.

    Als 2017 der Beginn der Reformation vor 500 Jahren gefeiert wurde, waren die Abrafaxe in Wittenberg und auf der Wartburg. „Ich wollte keine langweilige Lobhudelei auf Martin Luther“, sagt Schubert und erzählt, dass der Reformator in anderen Comics den Hammer schwingt und seine Thesen höchstselbst an die Tür der Schlosskirche nagelt. Dies hätte ein Professor damals nie getan, sondern ein Gehilfe. „Bei uns machte es der schlaue Brabax. Bei uns ist Luther kein unfehlbarer Überheld, sondern auch ein Getriebener mit hellen und dunklen Seiten.“
    Luther brachte zehn Prozent mehr Auflage

    Das erzählt er im Flur, um die Zeichner nicht zu stören. In diesem Flur wird auch der feine Humor deutlich, der in diesem Haus gepflegt wird. Dort hängt ein Gemälde – die Abrafaxe dicht gedrängt in einer Sardinendose. Die Geschichte dazu: Ein befreundeter Künstler wollte ein Gemälde fertigen. Sie konnten sich das Motiv aussuchen und sagten: „Male sie einfach in Öl.“ So kamen die Abrafaxe in die Dose.

    Schubert sagt, dass die Luther-Serie zehn Prozent mehr Auflage gebracht habe. Wohl auch, weil zwei Drittel der Leser eine Ostsozialisation haben und die Geschichte in ihrer Heimat spielte. Also schickten die Macher die Abrafaxe danach zu den Stätten der Hanse, nach Leipzig, Magdeburg, Stralsund und Lübeck. „Aber wir wollen auch auf den anstehenden Brexit reagieren“, sagt der Autor. Deshalb ging es zusätzlich nach Brügge, London und Nowgorod. „Wir wollten zeigen, wie wichtig Handel und Kooperation schon damals in Europa waren.“ Das wurde ganz spielerisch miterzählt.

    Berliner Zeitung/Jens Blankennagel
    Gemälde: die Abrafaxe in Öl.

    Doch die Erfolgsidee führte zu einem Problem: Die Helden waren zweimal hintereinander in einer ähnlichen Zeit. Vier Jahre lang war für die Zeichner alles ziemlich gleich: Kleidung, Städte, Fahrzeuge. Und bevor Langeweile aufkam, musste der größtmögliche Bruch her: das andere Ende der Welt, die Südsee. Und auch da gab es einen Bezug zu Jetzt-Zeit, zu Corona. „Es war wie früher in der DDR, als die Geschichten an unerreichbaren Schauplätzen spielten und auch das Fernweh der Leser bedienten“, sagt Schubert. „Als die Südsee-Hefte erschienen, war Lockdown, alle hockten zu Hause, und die Abrafaxe erlebten stellvertretend Abenteuer unter Palmen.“

    Drinnen bei den Zeichnern hat Jörg Reuter das leere Blatt mit Bleistiftskizzen gefüllt. Er legt es auf einen Stapel, nimmt das nächste Blatt und zeichnet. Der Stapel neben ihm wächst, immer wieder kommen nun andere Zeichner, nehmen sich ein Blatt und machen mit ihren Pinseln aus den Bleistiftskizzen gestochen scharfe Tuschezeichnungen.

    Es gibt eine klare Arbeitsteilung: Thomas Schiewer zeichnet fast immer die drei Haupthelden. Sie müssen perfekt getroffen sein. Auf seinem Schreibtisch stehen Becher mit Dutzenden Pinseln, vor ihm hängt eine Vorlage der drei Helden und neben ihm liegt ein Blatt mit Tausenden schwarzen Strichen, auf dem Blatt streicht er die Pinsel ab. Schiewer, 52, erzählt die gleiche Geschichte, die hier alle erzählen. Als sie jung waren, wollten sie Künstler werden, Gemälde erschaffen. Sie bewarben sich an Kunsthochschulen und wurden abgelehnt – stets mit derselben Begründung: Sie zeichnen zu comichaft. Thomas Schiewer lernte dann Keramiktechnik und bewarb sich einfach mal so beim Mosaik. „Ich dachte, die nehmen mich nie, und nun zeichne ich die Haupthelden“, sagt er. „Ein Traum.“

    Benjamin Pritzkuleit
    Eine Szene: Auf dem oberen Bild läuft der Händler Isaak vor dem Hund Gertrud weg.

    Er beugt sich wieder über den Tisch und zeichnet seine Lieblingsfigur: Califax, der gerade vom Hund abgeleckt wird. Als er die Figur vollendet hat, legt er das Blatt wieder auf den Stapel des künstlerischen Leiters. Dann nimmt sich der nächste Zeichner das Blatt und zeichnet jene Figuren, für die er zuständig ist. Es ist eine Art Fließbandarbeit, aber mit einer künstlerischen Herausforderung. Diese Zeichner können Welten erzaubern, in die ihnen Hunderttausende Leser folgen.
    Genauso ein Kult wie die berühmten Digedags

    Die Abrafaxe sind inzwischen genauso Kult wie ihre Vorgänger, die Digedags aus der Feder von Hannes Hegen. Diese Figuren füllten die Mosaik-Hefte von 1955 bis 1975. Für viele Kinder in der DDR waren sie das Nonplusultra, das Mosaik war der einzig wahre Ost-Comic. Unpolitisch, wild, verrückt und – kaum zu glauben – völlig unsozialistisch.

    Die Hefte waren kaum zu bekommen, echte „Bückware“ an den Kiosken. Sie wurden zu Sammlerstücken. Viele Fans hoben sie auf und hofften, dass sie mal Kinder haben würden, die sich auch gern in die weite Welt träumen. In den Heften gibt es ganzseitige Bilder, die vom dramaturgischen Aufbau her an die Gemälde alter Meister erinnern. Und sie sind hervorragend gezeichnet, quasi Weltniveau. Das bestätigen Fachleute noch heute.

    Deshalb ist es überraschend, dass auch jenes Druckerzeugnis der DDR, das am westlichsten war, nach dem Mauerfall fast in die Insolvenz geschickt wurde. Dass erst ein Werbefachmann aus dem Westen kommen musste, um den Traditions-Comic zu retten. Nun arbeiten die Zeichner in einer Villa tief im Westen von Berlin. Eine interessante Pointe der deutsch-deutschen Geschichte.

    Berliner Zeitung/Jens Blankennagel
    Die Heimat: An der Tür des Verlages in Berlin-Westend ist ganz klar zu sehen, wer hier zu Hause ist.

    Dort nimmt Andreas Pasda jetzt ein Blatt vom Tisch des künstlerischen Leiters und zeichnet den Kaufmann Isaak. Das ist eine der Figuren, die er in den nächsten zwei Jahren zeichnen wird. Pasda, 59, schaltet die Lampe an und kontrolliert seinen Kaufmann. Er findet, dass der schwarze Schuh eine Winzigkeit zu groß geraten ist. Er nimmt einen Pinsel, taucht die hauchdünne Spitze in Deckweiß und macht den Schuh etwas kleiner. „Alle Zeichnungen werden von Hand gemacht. Das ist wichtig für die Wirkung der Bilder.“ Er zeigt zum Vergleich Comics, die am Computer entstanden. Alle Striche sind gleich dick. „Mit dem Pinsel variiert die Stärke der Striche, das gibt den Figuren viel mehr Dynamik“, sagt er.
    Die erste jüdische Hauptfigur im Mosaik

    „Isaak ist unsere erste jüdische Hauptfigur“, sagt Jens Schubert, der Autor. „Es geht um das Jahr 800.“ Das Römische Reich ist längst geteilt. Im Westen herrscht Kaiser Karl der Große im Frankenreich. Daneben gibt es Byzanz im Osten. „Die Herrscher beider Reiche kämpften darum, wer der wahre Kaiser ist“, sagt er. Karl der Große will sich mit dem Kalifen von Bagdad verbünden, dem Herrscher aus 1001 Nacht. „Dazu schickt er zwei Ritter los. Und die Abrafaxe sind dabei.“

    Auch diese Geschichte hat einen Bezug zu heute. „Ich sage nur: Syrien, Afghanistan. Es geht um das Verhältnis zwischen Orient und Okzident. Wir zeigen, wie weltoffen die islamische Welt damals war.“ Deshalb fahren zwei christliche Ritter zu einem islamischen Herrscher – ihr Begleiter ist ein jüdischer Kaufmann, weil er Arabisch kann. Die Abrafaxe reisen zwar wieder weit zurück in die Jahrhunderte, sind aber nahe am Puls der Zeit.

    Und noch ein Geheimnis kann verraten werden: Bei den Zeichnern hängt ein schmales Blatt Papier, auf das alle Hauptfiguren des neuen Abenteuers als Vorlage gezeichnet sind – auch ein weißer Elefant, den es tatsächlich gegeben haben soll.

    Eine Sache war den Machern immer heilig: Die historischen Fakten müssen stimmen. Wenn in der Luther-Serie der Maler Lucas Cranach als Bürgermeister von Wittenberg auftritt, dann war er es auch. Schon zu DDR-Zeiten erzählten Studenten, dass sie mit den Fakten aus den Mosaik-Heften die ersten beiden Semester ihres Geschichtsstudiums überstehen konnten.

    Berliner Zeitung/Jens Blankennagel
    Recherche: Bilder aus dem Orient und das Foto eines arabischen Schachspiels aus dem 12. Jahrhundert.

    Wie ernst diese Korrektheit genommen wird, zeigt sich auch an diesem Tag. Das vorherige Heft ist eigentlich fertig. Alle Seiten sind im Computer eingescannt und für den Druck bereit. Doch eine Sache muss Reuter noch ändern. Im Heft trifft Isaak erstmals den schlauen Brabax. Sie spielen Schach. Da das Spiel ursprünglich aus Indien stammt, wurden die Spielfiguren indisch-detailliert gezeichnet. Dann stellte sich heraus, dass sie im arabischen Raum sehr viel schlichter aussahen. Reuter zeigt ein Foto aus einem New Yorker Museum mit iranischen Schachfiguren aus dem 12. Jahrhundert.

    Nun macht er ein paar Handgriffe am Computer und schon sehen die Schachfiguren aus wie in jener sagenumwobenen Zeit, durch die die Abrafaxe nun reisen. „Fertig“, sagt er. Das Heft kann in den Druck. Wohin es die Abrafaxe nach dem Orient-Abenteuer verschlagen wird, weiß auch in diesem Raum noch niemand.

    https://www.abrafaxe.com


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