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  • Ukraine-Krieg: Zeitgleiche Drohnenangriffe auf Kiew und Moskau
    https://www.telepolis.de/features/Ukraine-Krieg-Zeitgleiche-Drohnenangriffe-auf-Kiew-und-Moskau-9069366.html

    30.5.2023 von Bernhard Gulka - ..

    Militärischer Wert gering, da meist nicht im Ziel

    Somit sind die Beschädigungen und Verluste durch die Drohnenangriffe nicht groß. Nach Moskau scheint jetzt jedoch auch Kiew zunehmend auf die Attacken unbemannter Fluggeräte auf das feindliche Hinterland zu setzen. Zwar werden tatsächlich die meisten der Drohnen unterwegs abgeschossen oder durch Jammen von ihren eigentlichen Zielen abgelenkt.

    Moskauer Taxifahrer meldeten auch den Ausfall von Satellitennavigationssystem im Umfeld des Angriffs, was auf die Versuche, die Zielsysteme der anfliegenden Drohnen zu stören zurückzuführen sein dürfte.

    https://t.me/breakingmash/44479

    #Taxi #Rußland #Ukraine #Krieg #Moskau

  • Zehn Tipps für eine linke Wahlniederlage
    https://www.telepolis.de/features/Zehn-Tipps-fuer-eine-linke-Wahlniederlage-9062895.html?seite=all

    24.5.2023 von Wassilis Aswestopoulos - Erdrutschsieg der konservativen Nea Dimokratia in Griechenland. Die selbst erklärte linke Partei Syriza erleidet schwere Niederlage. Was Linke auch in Deutschland davon lernen können – und sollten.

    Der einstige linke Hoffnungsträger Alexis Tsipras fuhr am Wochenende mit Syriza eine vernichtende Wahlniederlage ein. Sein Gegner war mit Premierminister Kyriakos Mitsotakis ein autokratisch regierender Politiker, in dessen Amtszeit zahlreiche Affären und Skandale für Aufruhr sorgten.

    Eine neue Regierung wird es trotzdem noch nicht geben, weil wegen des geltenden Wahlrechts die Nea Dimokratia keine absolute Parlamentsmehrheit erhalten hat. Das neue Parlament tritt am nächsten Wochenende zu einer konstituierenden Sitzung zusammen, um ein Präsidium zu wählen und sich aufzulösen.

    Die nächsten Wahlen sind für den 25. Juni vorhergesagt. Bis dahin wird eine Interimsregierung das Land führen. Verfassungsgemäß wird der kommende Premier aus den Reihen der obersten Richter berufen. Dieses Mal ist der oberste Richter des Hellenischen Rechnungshof Ioannis Sarmas der Auserwählte.

    Tsipras Wahlkampftaktik war und ist ein Rezept für eine sichere Niederlage, die auch deutsche Politiker studieren sollten. Für ihn haben alle anderen schuld, auch die Wähler – nur er nicht.

    Ein historisches Ergebnis

    In blanken Zahlen präsentiert sich das Ergebnis wie folgt: Die Wahlbeteiligung lag mit 60,92 Prozent leicht höher als 2019, als 57,78 Prozent verzeichnet wurden. Die Nea Dimokratia (ND) kommt auf 40,79 Prozent der Stimmen und holt das beste Ergebnis seit 16 Jahren.

    Verglichen mit den Wahlen von 2019 bedeutet es einen Zuwachs von 0,95 Prozent. Durch das dieses Mal geltende Verhältniswahlrecht sind es am Ende 146 Parlamentssitze für die Partei, die vorher 158 der insgesamt 300 Sitze innehatte. Bei den nächsten Wahlen gibt es wieder Bonussitze.

    Weit abgeschlagen hinter der ND landet Syriza mit 20,7 Prozent, mit dem schlechtesten Ergebnis seit elf Jahren, also seit der Gründung von Syriza als Partei und der Auflösung des vorher bestehenden Parteienbündnisses. Fast 11,5 Prozent gingen verglichen mit den gut 31 Prozent von 2019 verloren.

    Zum allerersten Mal seit dem Sturz der Militärregierung 1974 wurde „ganz Kreta blau“. Sprich, die konservative Nea Dimokratia konnte alle Wahlkreise auf der größten griechischen Insel holen.

    Punkten konnte auch die sozialdemokratische Pasok, die unter ihrem neuen Parteichef Nikos Androulakis von acht Prozent bei der letzten Wahl auf gut elf Prozent zulegte, und die kommunistische Partei KKE. Die Pasok, einst stolze Regierungspartei, holte sich ihr seit 2012 bestes Ergebnis. Die Kommunisten holten mit rund sieben Prozent fast zwei Prozent mehr als vor vier Jahren.

    Marginal auf gut vier Prozent verbessern konnte sich auch die rechtspopulistische „Griechische Lösung“ von Kyriakos Velopoulos. Alle anderen Parteien, auch MeRA25 von Yanis Varoufakis, schafften es nicht ins Parlament und scheiterten an der Drei-Prozent-Hürde. Stolze 16 Prozent der Wähler sind nicht parlamentarisch vertreten.

    Noch vor Varoufakis, dessen Partei auf 2,6 Prozent kam, liegt die einstige Parteigenossin und Parlamentspräsidentin der ersten Regierungszeit von Tsipras Zoe Konstantopoulou mit ihrer „Plevsi Eleftherias“ und 2,8 Prozent. Auf den sechsten Platz mit 2,9 Prozent kam die neue, pro-russische, religiös geprägte nationalistische Partei Niki

    Mitsotakis träumt von einer Verfassungsänderung

    Mit dem Bonuswahlrecht könnte Mitsotakis bei gleicher Prozentzahl mit rund 170 Sitzen rechnen. Er strebt nun danach, das Ergebnis zu verbessern, um so mit der entscheidenden Zweidrittelmehrheit eine Verfassungsreform in Angriff zu nehmen. Verfassungsänderungen müssen in zwei aufeinanderfolgenden Legislaturen mindestens einmal mit einer Zweidrittelmehrheit bestätigt werden.

    Entscheidend wird auch sein, ob es die kleineren, nun gescheiterten Parteien ins Parlament schaffen. Je mehr Parteien vertreten sind, umso weniger Sitze erhält Mitsotakis.

    Für Mitsotakis günstig ist, dass bei den jetzt feststehenden Neuwahlen, die innerhalb von achtzehn Monaten stattfinden müssen, die Wähler keinen Einfluss auf die Kandidatenauswahl haben. Die Reihenfolge der zu wählenden Parlamentarier wird nicht mit der Vorzugsstimme der Wähler, sondern mit von den Parteichefs bestimmten Listen geregelt. Mitsotakis kann sich eine Regierungskoalition nach seinem Gusto zimmern.

    In ersten Stellungnahmen nach Sondersitzungen der Partei hat Tsipras bereits die Niederlage bei den kommenden Wahlen akzeptiert. Es geht nun darum, mit einem möglichst guten Ergebnis die sich abzeichnende Allmacht Mitsotakis‘ einzuschränken.

    Auch von der Pasok kommt ein ähnliches Signal. Deren Parteichef Nikos Androulakis spürt das Momentum des Aufschwungs und gab als erstes Ziel aus, seine Partei wieder zum Gegenpol und zur Regierungsalternative werden zu lassen. Demensprechend versprach Tsipras „Hard-Rock gegen linke und kommunistische Parteien“, und will im Wahlkampf scharf gegen Parteien aus dem linken Lager vorgehen.

    Selbstkritik? – Fehlanzeige

    Anders als sein Vetter, Giorgos Tsipras, sieht Alexis Tsipras den Grund für die Niederlage bei allen anderen, nur nicht bei seiner Partei. Er übernimmt verbal die Verantwortung, will aber für sich keine personellen Konsequenzen ziehen.

    Er hatte zu keinem Zeitpunkt ein klares Programm, beklagt sich aber, dass keine der anderen Parteien eine Koalition mit ihm als realistisch einstufte. Dabei strotzte der Wahlkampf und das Oppositionsverhalten von Syriza nur so von Fehlern. Zehn davon sind:

    1. Leugnen der linken Identität

    2012 trat Syriza unter dem Namen „Syriza – Koalition der radikalen Linken“ an. Der Ausdruck „radikal“ ist im Griechischen nicht negativ konnotiert. Tsipras wollte sich zum Zentrum öffnen, erlangte Beobachterstatus bei den europäischen Sozialdemokraten.

    Die Partei trat nun als „Syriza – Fortschrittskoalition“ an. Im Streben nach Distanzierung von der linken Vergangenheit ging Tsipras so weit, sich öffentlich mit der Pasok zu streiten, wer der wahre Erbe des Pasok-Gründers und begnadeten sozialdemokratischen Populisten Andreas Papandreou sei.

    Dass die Wähler dann lieber das Original, die Pasok, wählten, dürfte eigentlich niemanden ernsthaft überraschen.

    2. Flüchtlingsfeindlichkeit

    Zu den fundamentalen Themen linker Parteien zählen die Menschenrechte. Bereits frühzeitig bemühte sich Tsipras, die Wähler davon zu überzeugen, dass seine Flüchtlingspolitik dem konservativen Credo der „Festung Europa“ entsprechen würde.

    Syriza befürwortet den Ausbau des Grenzzauns und nimmt die Push-Backs auf dem Meer billigend in Kauf. Das kam bei linken Wählern nicht gut an. Den rechten Wählern, nach denen Tsipras schielte, missfiel, dass Syriza die Befürwortung des Grenzzauns zwischenzeitlich immer wieder kurz in Zweifel zog, um die linken Wähler nicht vollständig zu verprellen.

    3. Rekrutierung rechter Politiker

    Die Nea Dimokratia hatte unter ihrem Premier Kostas Karamanlis von 2004 bis 2009 das Land in die Pleite geführt. Tsipras rekrutierte einen von Karamanlis engsten Vertrauten, den früheren Regierungssprecher Evangelos Antonaros als Parlamentskandidaten.

    Dies blieb kein Einzelfall. So trat in Kilkis im April die Abgeordnete und Zentralratsmitglied Irini Agathopoulou ihre Parlamentskandidatur aus Protest zurück, weil Tsipras in ihrem Wahlkreis einen einst zum rechten Flügel der Pasok gehörenden Kandidaten auf die Wahlliste von Kilkis setzte. Mit Pavlos Tonikidis als Mitkandidaten wollte Agathopoulou aus Gewissensgründen und wegen ihrer linken Ideologie nicht in einem Atemzug genannt werden.

    4. Querfrontaufbau während der Pandemie

    Während der Pandemie biederte sich Syriza rechten Corona-Kritikern an, machte aber auch das nicht mit letzter Konsequenz. Gleichzeitig wurde die Regierung für ihre Coronapolitik und die Einschränkungen der bürgerlichen Freiheiten kritisiert, aber zugleich angeprangert, dass es zu viele Corona-Tote gäbe.

    Es fehlte bei der Kritik der Ansatz, das – auch von Syriza – kaputtgesparte Gesundheitssystem als entscheidenden Faktor für die im europäischen Vergleich hohe Übersterblichkeit zu erfassen. Das hätte Selbstkritik erfordert.

    Es ist bezeichnend, dass sich Tsipras mit Professorin Athina Linou eine Virologin ins Kandidatenteam holte, die ernsthaft behauptete, der Coronavirus könne wegen des göttlichen Segens nicht während der Heiligen Messe übertragen werden.

    5. Als Atheist den Segen bei homo- und transfeindlichen Bischöfen suchen

    Der Bischof von Piräus Seraphim ist für seine rassistischen Ansichten, seine neofaschistischen Reden und seine Verurteilung homosexueller und Transmenschen bekannt. Tsipras, der sich selbst als Atheisten bezeichnet, hatte nichts Besseres zu tun, als vor den Wahlen einen Fototermin mit Seraphim zu buchen.
    Populismus inklusive Kuscheln mit Nato und Neonazis

    6. Shoot the Messenger

    Frühzeitig zeigten Meinungsforschungsinstitute auf, dass Tsipras gegen „den schlechtesten Premier aller Zeiten“ (O-Ton Syriza) nicht punkten konnte. Letztendlich lagen alle Umfrageinstitute falsch, weil sie zwar die Niederlage von Syriza, nicht aber deren verheerendes Ausmaß vorhersagten.

    Nun entschuldigen sich die Meinungsforscher, sie hätten aus Angst vor den von Syriza angedrohten Klagen die wahren Zahlen nicht ohne „Gewichtung der Ergebnisse“ veröffentlichen wollen. Auch ohne die Erhebungen von Meinungsforschungsinstituten war bei Protesten und Demonstrationen sowie Wahlen von Gewerkschaften und Studentenparlamenten erkennbar, dass Syriza nicht punkten konnte. Auch parteiinterne Kritiker wurden klein gehalten. Das Bild des mächtigen und weisen Parteichefs sollte nicht befleckt werden.

    7. Antikommunismus statt Kapitalismuskritik

    In Studentenparlamenten setzte sich die kommunistische Jugend als stärkste Fraktion durch. Auf der Straße bestimmten die KKE, der parteinahe Gewerkschaftsbund Pame und außerparlamentarische Linke neben Anarchisten das Geschehen.

    Im vom Bürgerkrieg erschütterten Nachkriegsgriechenland gab es die vereinigte Linke, EDA. In ihr waren die verbotene KKE und die Linke vereint. Statt sich auf diese Tradition zu berufen, übte Tsipras antikommunistische Kritik am Wahlspruch der EDA „Plastiras und Papagos sind gleich“.

    General Nikolaos Plastiras hatte in drei Amtszeiten von 1945 bis 1952 als Premier Kommunisten, Linke und Demokraten gejagt, hinrichten lassen, in Straflager gesteckt, gefoltert und verbannt. Trotz internationaler Gnadengesuche, auch von Pablo Picasso, ließ er den Kommunisten Nikos Belogiannis, Zentralratsmitglied der KKE, wegen seiner Gesinnung hinrichten.

    Feldmarschall Alexandros Papagos war Generalstabschef der Rechtsnationalen im griechischen Bürgerkrieg. Er folgte 1952 auf Plastiras als Premier und setzte die streng antikommunistische Politik fort. Heute, im Wahlkampf fand Tsipras die Kritik der EDA an beiden falsch. Es war seine Antwort auf die Kritik aus der KKE, an antikommunistischen Sprüchen aus Reihen von Syriza.

    8. Mitsotakis treuester Helfer

    Syriza ging mehrfach die KKE an. Sie sei Mitsotakis treuester Helfer, wurde behauptet. Tatsächlich hat Syriza im Parlament der Hälfte der Gesetzesvorhaben von Mitsotakis zugestimmt. Übertroffen wird dies nur von den siebzig Prozent der Pasok.

    9. Die Nato in Griechenland

    Anders als in den übrigen europäischen Staaten ist es in Griechenland für Parteien des linken Spektrums nicht angebracht, der Nato unkritisch gegenüberzustehen. Zu sehr war das Verteidigungsbündnis in die Verfolgung Linker, die Militärdiktatur von 1967 bis 1974 sowie in die bis heute bestehende Besetzung eines Drittels von Zypern verwickelt.

    Tsipras hatte nach seinem Schwenk zum Sparkurs nicht nur die vorher verurteilten unsozialen Sparmaßnahmen durchgedrückt. Er sorgte mit seiner Nato freundlichen Politik dafür, dass Griechenland heute über die Stützpunkte wie den Hafen von Alexandroupolis verfügt, über die von der Nato Waffensysteme in die Ukraine gebracht werden.

    Tsipras hatte als Transatlantiker sogar dem umstrittenen US-Präsidenten Donald Trump attestiert, „diabolisch gut“ zu sein. Mitsotakis setzt nur fort, was Tsipras begann.

    10. Werben um Neonazis

    Besonders fatal war in der letzten Wahlkampfwoche der Aufruf Tsipras an potenzielle Wähler der verbotenen neonazistischen Parteien, Syriza zu wählen. Explizit wandte sich Tsipras an das Wählerpotenzial der Goldenen Morgenröte und an die von den Wahlen ausgeschlossene Partei des inhaftierten Neonazis Ilias Kasidiaris. Tsipras stufte die Wähler als antisystemische Menschen ein und meinte, sie würden zu seiner Partei passen.

    Dazu kommt als – von Tsipras nicht zu verantwortender – Grund für die Niederlage, dass die Presse in Griechenland zwar frei berichten kann, von Mitsotakis jedoch die regierungsfreundliche Presse finanziell während der Pandemie gefördert wurde. Das Gesamtbild der Medien in Griechenland hat sich nach rechts bewegt.

    #Grèce #politique #élections #gauche

  • Der verschwiegene Rassismus der Philosophen
    https://www.telepolis.de/features/Der-verschwiegene-Rassismus-der-Philosophen-3363965.html

    23. Februar 2014 von Patrick Spät

    Apropos Hannah Arendt (1906-1975): Letztes Jahr erschienen mehrere Bücher über die Denkerin, zudem kam der gleichnamige Film in die Kinos. Kein Wort jedoch verlor man darüber, dass Arendt massiv dagegen protestierte, dass in den USA schwarze und weiße Kinder zusammen unterrichtet werden sollen.

    In ihrem Werk Elemente und Ursprünge totaler Herrschaft (1951) behauptet Arendt, dass die „Neger“ selbst mitschuldig seien am Rassismus, denn die „Rassen“ Afrikas und Australiens zeugten von einer „katastrophenhaften Einförmigkeit ihrer Existenz“ und seien „bis heute die einzigen ganz geschichts- und tatenlosen Menschen, von denen wir wissen, [... ] die sich weder eine Welt erbaut noch die Natur in irgendeinem Sinne in ihren Dienst gezwungen haben“.

    Sie fährt fort:

    Der biblische Mythos von der Entstehung des Menschengeschlechts wurde auf eine sehr ernste Probe gestellt, als Europäer in Afrika und Australien zum erstenmale mit Menschen konfrontiert waren, die von sich aus ganz offenbar weder das, was wir menschliche Vernunft, noch was wir menschliche Empfindungen nennen, besaßen, die keinerlei Kultur, auch nicht eine primitive Kultur, hervorgebracht hatte, ja, kaum im Rahmen feststehender Volksgebräuche lebten und deren politische Organisation Formen, die wir auch aus dem tierischen Gemeinschaftsleben kennen, kaum überschritten. […] Hier, unter dem Zwang des Zusammenlebens mit schwarzen Stämmen, verlor die Idee der Menschheit und des gemeinsamen Ursprungs des Menschengeschlechts, wie die christlich-jüdische Tradition des Abendlandes sie lehrt, zum ersten Mal ihre zwingende Überzeugungskraft, und der Wunsch nach systematischer Ausrottung ganzer Rassen setzte sich um so stärker fest.
    Hannah Arendt

    Arendt behauptet hier, dass die Menschen selbst schuld seien, wenn sie rassistisch unterdrückt und angegriffen werden.

    #philosophie #racisme

  • Covid: Schwere Vorwürfe wegen massenhafter künstlicher Beatmung
    https://www.telepolis.de/features/Covid-Schwere-Vorwuerfe-wegen-massenhafter-kuenstlicher-Beatmung-9048800.h

    15.5.2023 von Timo Rieg - Chefarzt spricht von 20.000 vermeidbaren Todesfällen während der Corona-Pandemie. Andere Ärzte widersprechen. Worum es bei dem Streit geht.

    Der Vorwurf, viele Covid-19-Patienten seien vor allem in Deutschland fälschlicherweise künstlich beatmet worden und gerade deshalb gestorben (oder schwer geschädigt worden) ist seit dem zweiten Pandemiejahr schon gelegentlich in den Medien erhoben worden.

    Die hohen Sterberaten von Beatmeten hatten schon zu Beginn der Pandemie aufgeschreckt, etwa mit der Meldung, in New York würden 80 Prozent dieser Intensiv-Patienten versterben.

    In einem Interview mit der Welt hat kürzlich einer der prominenten Kritiker sogar eine Zahl benannt: Thomas Voshaar, Chefarzt der Klinik für Lungen- und Bronchialheilkunde der Stiftung Krankenhaus Bethanien für die Grafschaft Moers, geht von mindestens 20.000 unnötigen Todesfällen in Deutschland aus, die eine zu frühe invasive Beatmung verursacht haben soll.

    Im Interview mit der Welt sieht Voshaar als Ursache auch finanzielle Fehlanreize.

    Es gibt für invasive Beatmung richtig viel Geld. Die stationären Behandlungskosten liegen durchschnittlich bei 5.000 Euro, maschinelle Intensivbeatmung kann dagegen mit 38.500 Euro abgerechnet werden, im Einzelfall sogar mit 70.000 Euro. Das ist etwa sieben- bis zehnmal mehr, als die schonende Behandlung mit Sauerstoff über die Maske.
    Thomas Voshaar, Welt, 5. Mai 2023

    Allerdings sei auch Routine eine mutmaßliche Ursache für falsche Behandlungen.

    Auf Intensivstationen ist um 17 Uhr Visite. Da weiß niemand, ob der Patient die Nacht übersteht. „Tu den Tubus rein, dann kann nichts passieren“, heißt es dann. Ein Trugschluss, wie wir jetzt wissen. Viele Studien zeigen sehr klar, dass die Intubation die Todesrate um das 5- bis 6-fache erhöht, bei gleichem Schweregrad. Die Pandemie hat das noch einmal bestätigt.
    Thomas Voshaar

    Vorwurf: Blickverengung Sauerstoffsättigung

    In einem Beitrag in der Deutschen Medizinischen Wochenschrift (DMW, 8/2023) kritisiert Voshaar zusammen mit Dieter Köhler und weiteren Kollegen unter anderem einen zu starren Blickwinkel auf die Sauerstoffsättigung des Bluts.

    Denn die reelle Sauerstoffversorgung des Gewebes hänge von verschiedenen Größen ab, unter anderem der Pumpleistung des Herzens (Herzzeitvolumen) und der Menge an Hämoglobin (in den roten Blutkörperchen), das den Sauerstoff bindet.

    Da intubierte Beatmung mit erheblichen Eingriffen in den Organismus verbunden ist, gehen mit diesen intensivmedizinischen Behandlungen auch große Risiken einher. Unter anderem müssen Patienten für eine künstliche Beatmung in Narkose gelegt werden, was zahlreiche Folgebehandlungen notwendig macht, u.a. eine medikamentöse Korrektur des Blutdrucks.

    Außerdem gibt es ein hohes Risiko für neue Infektionen. Und der Körper kann störende Stoffe nicht mehr durch Husten aus der Lunge befördern.

    Im Interview mit Elke Bodderas in der Welt beschreibt Thomas Voshaar mögliche Komplikationen anekdotisch so:

    Ich werde nie die Videos von Kollegen aus den USA vergessen, die wir hier in Deutschland nachts auf YouTube sahen. Zum Beispiel den Arzt in New York, der eine 72-Jährige filmt, die er intubieren soll. Die Frau ruft ihren Mann an und sagt, die Ärzte wollen mich intubieren, ich kann gleich nicht mehr mit dir reden, weil ich in Narkose gelegt werde. Soll ich das machen? Und der Mann sagt, ja, mach das, was die Ärzte raten. Dann wirst du wieder gesund. Und am nächsten Morgen war die Frau tot.
    Thomas Voshaar, Welt

    In einer Art Triage seien in deutschen Krankenhäusern bei knappen Beatmungsplätzen zum Teil jüngere Menschen für diese Behandlung ausgewählt worden, weil sie die vermeintlich besseren Überlebenschancen hätten. Die Realität habe dann aber oft ein anderes Bild gezeigt: Die jungen, invasiv beatmeten Patienten seien verstorben, während Alte auf Normalstation überlebt hätten.

    Tatsächlich wurde zumindest zu Beginn der Pandemie in verschiedenen Fachartikeln eine pulsoxymetrisch gemessene Sauerstoffsättigung von weniger als 90 Prozent als mögliche Indikation zum Intubieren angesehen (vgl. WHO).

    Voshaar und Kollegen hingegen meinen, bei Gesunden mit normalem Hämoglobin-Wert stelle sich eine Unterversorgung des Gewebes mit Sauerstoff erst bei einem Sättigungswert von 50 Prozent und weniger ein. Sie schreiben:

    Da insbesondere jüngere Patienten mit Covid-19-Pneumonien sonst gesund waren, passt auch die klinische Erfahrung dazu, dass sie bei teilweise stark erniedrigter sO2 [Sauerstoffsättigung] im Bett keine Luftnot hatten.
    Dieter Köhler/ Thomas Voshaar u.a.

    In einem Hintergrundgespräch berichtet ein Professor für Pneumologie, bei Flugbegleitern habe man auf Langstreckenflügen aufgrund des geringen Kabinendrucks regelmäßig Sauerstoffsättigungen unter 90 Prozent gemessen - aber niemand wäre auf die Idee gekommen, sie deshalb zu intubieren und maschinell zu beatmen.
    Schwierige Vergleiche

    Empirisch valide Vergleiche invasiver und nicht-invasiver Maßnahmen bei Covid-19-Patienten werden immer schwierig sein, da die Patienten nicht „randomisiert“ sind, also per Zufall der einen oder anderen Behandlung unterzogen werden, sondern nach medizinischer Einschätzung der jeweiligen Klinik und natürlich dem Patientenwillen, soweit dieser artikuliert werden kann.

    Voshaar und Kollegen haben bei ihren Patienten eine 50-Prozent Sterberate nach Intubation beobachtet (vier von acht Patienten), während in der Gruppe nicht-invasiv Beatmeter keiner der 17 Patienten verstarb.

    In der Gruppe mit der geringsten Unterstützung (Sauerstoffzugabe in die Nase) verstarben von 53 Patienten zwei (Alter 86 und 96 Jahre). Diese hatten allerdings verfügt, keine darüber hinausgehende Atemunterstützung zu erhalten.
    Mehr Probleme geschaffen als gelöst?

    In einem Artikel des Vereins „Sokrates - kritische Rationalisten“ formulieren Thomas Voshaar, Matthias Schrappe, Gerd Antes und weitere Autoren ihre Kritik deutlich. Im Beitrag „Warum hat in der Pandemie die Intensivmedizin häufig mehr Probleme geschaffen als gelöst? Oder: Die Laborwertemedizin und ihre Folgen“ schreiben sie am 25. April 2023.

    Mehr als 20 Jahre werden Patienten allein aufgrund eines isolierten Sauerstoffmangels im Blut (Hypoxämie) intubiert und beatmet, oft gesteuert durch die einfache Messung der Sauerstoffsättigung (sO2) im Blut. Dieses Vorgehen ist als schwerer Behandlungsfehler zu werten, entbehrt dieses Vorgehen doch jeder wissenschaftlichen bzw. pathophysiologischen Grundlage. [...]

    Seit deutlich mehr als 20 Jahren gibt es in der physiologischen und klinischen Forschung zahlreiche Belege, dass die invasive Beatmung, dort wo nicht indiziert, mehr schadet als nutzt. Selten steht eine etablierte klinische Praxis auf so schwachem Fundament. In der Pandemie ist das besonders deutlich geworden: Kliniken, die diesen Fehler nicht begangen haben, hatten eine etwa sechsfach geringere Todesrate bei der schweren Verlaufsform der Lungenentzündung (Covid-19).

    Während der Corona-Pandemie wurde sehr früh deutlich, dass unter einer Strategie der frühen Intubation bei auch nur leichter Hypoxämie ca. 60 – 90 Prozent der Patienten unter diesem Vorgehen bereits nach wenigen Tagen, ein kleiner Teil sogar nach wenigen Stunden, starben.

    Daher gab es schon im April 2020 aus vielen Ländern kritische Fragen zu einem solchen Vorgehen und eine zunehmende Nutzung nicht-invasiver Verfahren. In Deutschland wurde allerdings besonders lange an der primären invasiven Beatmung über einen Tubus festgehalten.
    Thomas Voshaar et al.

    Die Deutsche interdisziplinäre Vereinigung für Intensiv- und Notfallmedizin (DIVI) und die Deutsche Gesellschaft für Pneumologie und Beatmungsmedizin (DGP) beantworteten konkrete Fragen vom 9. Mai zu ihrer Einschätzung der Kritik an zu früher invasiver Beatmung nicht, sondern kündigten eine gemeinsame Stellungnahme an. Diese liegt noch nicht vor.

    Allerdings sind offenbar doch zahlreiche Ärzte im Verlauf der Pandemie zurückhaltender geworden beim Einsatz von Intubations-Beatmung. Wolfram Windisch, seit April 2023 Präsident der DGP, schreibt in einer Literaturschau mit Stand März 2021 (Bedeutung nicht-invasiver Verfahren [NIV] in der Therapie des akuten hypoxämischen Versagens bei COVID-19):

    So wurden während der ersten Welle noch 74 Prozent der Patienten ohne NIV-Versuch direkt intubiert, während es in der zweiten Welle nur noch 40 Prozent gewesen sind und entsprechend der Anteil mit NIV stark angestiegen ist.
    Wolfram Windisch et al.

    Ein Grund für das frühe und zum Teil auch besonders heikle Intubieren dürfte eine massive Angst des Personals vor einer eigenen Corona-Ansteckung gewesen sein. So heißt es in „Empfehlungen zur intensivmedizinischen Therapie von Patienten mit Covid-19“ vom 12. März 2020, formuliert von Vertretern aus vier medizinischen Fachgesellschaften:

    Prozeduren an den Atemwegen (Intubation, Bronchoskopie, offenes Absaugen, manuelle Beatmung, Tracheotomie) sollten aufgrund der Aerosolbildung nur bei absoluter Notwendigkeit mit entsprechenden Schutzmaßnahmen (inkl. FFP2/ FFP3-Maske und Schutzbrille) durchgeführt werden. [...] Wenn vertretbar sollte eine Rapid Sequence Induction (RSI) ohne Zwischenbeatmung durchgeführt werden, um die Aerosolbildung zu minimieren.
    Stefan Kluge, Uwe Janssens, Tobias Welte et al.

    Eine „Rapid Sequence Induction“ ist ein Verfahren zur besonders schnellen Intubation. „Angewandt wird es hauptsächlich bei dringlicher Intubationsindikation eines nicht-nüchternen oder anderweitig aspirationsgefährdeten Patienten“, heißt es dazu im Medizinlexikon von Amboss, wo das Verfahren auch dezidiert beschrieben ist, einschließlich der möglichen Komplikationen wie einer Intubationsverletzung.

    Zum Eigenschutz heißt es in dem Fachartikel von Kluge, Janssens, Welte et al. mit den Empfehlungen weiter:

    Der Gebrauch des Stethoskops zur Lagekontrolle des Tubus sollte zurückhaltend erfolgen. Bei einer notwendigen Reanimation ist besonders auf die entsprechenden Schutzmaßnahmen des Personals zu achten, die Atemwegsicherung sollte dabei schnell erfolgen und die betreuende Personalgruppe klein gehalten werden.
    Kluge, Janssens, Welte et al.

    Und schließlich besonders deutlich:

    Insgesamt sollte daher die Indikation für HFNC/NIV [nicht-invasive Methoden] bei akuter hypoxämischer respiratorischer Insuffizienz im Rahmen von COVID-19 eher zurückhaltend gestellt werden. Bei Patienten mit einer schwereren Hypoxämie (PaO2/FIO2 ≤ 200mm Hg) ist vorzugsweise die Intubation und invasive Beatmung anzustreben.

    In jedem Fall müssen ein kontinuierliches Monitoring und eine ständige Intubationsbereitschaft sichergestellt sein. Eine Verzögerung der Intubation bei Nichtansprechen einer NIV verschlechtert die Prognose, eine notfallmäßige Intubation sollte aufgrund des Übertragungsrisikos unbedingt vermieden werden.

    Einen guten Monat nach diesen „Empfehlungen“ publizierte die Deutsche Gesellschaft für Pneumologie und Beatmungsmedizin (DGP) am 22. April 2020 ein „Positionspapier zur praktischen Umsetzung der apparativen Differenzialtherapie der akuten respiratorischen Insuffizienz bei COVID-19“. Daran war neben Windisch und anderen auch Voshaar beteiligt. Darin heißt es:

    Der Schutz des Personals durch persönliche Schutzausrüstung soll sehr hohe Priorität haben, weil die Angst vor Ansteckung kein primärer Intubationsgrund sein darf.
    Positionspapier

    Was man auch so lesen kann, dass eben sehr wohl aus Angst vor Ansteckung intubiert wurde. Ein eigener, umfangreicher Abschnitt befasst sich mit „Aerosol bei Therapieverfahren zur Atmungsunterstützung“, u.a. mit Erfahrungen aus der H1N1-Epidemie (Schweinegrippe) und von Patienten mit Erkältungssymptomatik.

    Und auch in diesem Positionspapier wird vor zu zögerlichem Intubieren gewarnt.#

    Kritik an Medien

    In einem Kommentar in der Fachzeitschrift Pneumologie kritisierte Wolfram Windisch gemeinsam mit Co-Autoren im Mai 2021 die mediale Debatte um ein möglicherweise zu frühes Intubieren von Covid-19-Patienten.

    Für Verärgerung hatte vor allem ein Monitor-Beitrag gesorgt ("Gefährliche Intubation - Könnten mehr Covid-19-Erkrankte überleben?") - in dem die kleine Studie von Thomas Voshaar und Kollegen sowie ihr Erfolg mit nicht-invasiven Behandlungen eine tragende Rolle spielt.

    Windisch und Kollegen kritisierten: „Auf welcher Basis die Sendung schließlich zu der Meinung gelangt, es werde zu früh intubiert, bleibt letztlich völlig unklar.“ Und schreiben dann im Beitrag: Fachdiskussion zur „zu frühen Intubation“: Rolle der öffentlichen Medien:

    Sehr bedauerlich ist am Ende der Sendung das Zitat des Moderators [Georg Restle]: „Man fragt sich, warum die Lernkurve in der Pandemie bei so vielen Verantwortlichen im Land so unglaublich langsam steigt.“ Vor dem Hintergrund der sachlich an mehreren Stellen schlichtweg falschen Darstellung der klinischen und wissenschaftlichen Zusammenhänge schmerzt vor allen Dingen die Diffamierung der vielen Pflegekräfte und Ärzte sowie Wissenschaftler vor einem Millionenpublikum, die seit einem Jahr mit hervorragender Arbeit ihr Bestes in der Pandemiebekämpfung geben: ein echter Skandal!
    Wolfram Windisch, Bernd Schönhofer et al.

    Die Vertreter der Deutschen Gesellschaft für Pneumologie und Beatmungsmedizin wünschten sich interne statt medial-öffentliche Diskussionen bei den Fachfragen - und ein geschlossenes Auftreten:

    Eine intern diskutierende und auch intern streitende, aber in der Erarbeitung von nach außen getragenen Empfehlungen im Konsens agierende Pneumologie und Intensivmedizin ist nämlich das Wichtigste, was wir in der Pandemiebekämpfung brauchen.

    Dass eine medizinische Fachgesellschaft ihre Fachfragen intern klären möchte, ist nicht zu beanstanden. Da unabhängig davon allerdings die Öffentlichkeit Anspruch auf Informiertheit erhebt, ist der Journalismus gefordert, die relevanten Informationen zu recherchieren.
    Einfache Übernahmen, mangelnde Tiefe

    Im Zusammenhang mit der Behandlung von Corona-Patienten hat er dies viel zu lange unterlassen und unter anderem in den täglichen Zahlenmeldungen zur Lage der Pandemie verkündet, wie viele Patienten auf Intensivstationen gerade „beatmet werden müssen“ (Beispiele: Ruhr-Nachrichten, HAZ, BR) - obwohl es für dieses behauptete „müssen“ keinen Beleg gab.

    So aber dürfte auch vielen Patienten oder deren Angehörigen die künstliche Beatmung in Vollnarkose alternativlos erschienen sein.

    Wie viele Menschen aufgrund falscher Covid-19-Behandlung verstorben sind, wird sich verlässlich nie klären lassen. Aber der Vorwurf, es handele sich allein in Deutschland um viele tausend, wiegt schwer.

    Zumal auch außerhalb der Corona-Pandemie möglicherweise Patienten intubiert werden, bei denen dies medizinisch keinesfalls zwingend notwendig wäre. Der befragte Pneumologie-Professor berichtet, manchen Ärzten und Pflegern seien sedierte Patienten die angenehmeren - und vieles werde einfach gemacht, weil man es schon immer so gemacht habe.

    #covid-19 #triage #iatrocratie

  • Der Gegensatz zwischen nationalsozialistischen und kapitalistischen Erfolgskriterien | Telepolis
    https://www.telepolis.de/features/Der-Gegensatz-zwischen-nationalsozialistischen-und-kapitalistischen-Erfolg

    Kriegswirtschaft ist „’Bankerotteurswirtschaft’ ihrem innersten Wesen nach: der überragende Zweck lässt fast jede Rücksicht auf die kommende Friedenswirtschaft schwinden. Die Rechnungen haben daher vorwiegend … gar nicht den Sinn, dauernde Rationalität der gewählten Aufteilung von Arbeit und Beschaffungsmitteln zu garantieren“ (Weber 1976, 57).

    Im Kapitalismus geht es zu Friedenszeiten hauptsächlich um die Produktion von Konsumgütern und Produktionsmitteln. Produktionsmittel werden in der Produktion gebraucht. Konsumgüter stellen die Arbeitskraft wieder her für neue Leistung. Beide Produktsorten ermöglichen die Fortsetzung der kapitalistischen Ökonomie auf erweiterter Stufenleiter. Dies tut die Kriegswirtschaft nicht. Ihre Produkte - Waffen - werden im Krieg verbraucht und vernichtet. Sie gehen nicht wieder ein in die kapitalistische Produktion, sondern fallen aus ihr heraus.

    Die Kriegswirtschaft unterstellt als Bedingung eine Wirtschaft, die sich die Staatsausgaben für die Rüstung und die damit u. U. einhergehende Schulden auf Dauer leisten kann.

    #guerre #économie #banqueroute

  • The Naked Prey
    https://www.youtube.com/watch?v=xRoCJfAm8r8

    https://www.telepolis.de/features/Reise-in-das-Herz-der-Finsternis-3503659.html?seite=all

    Nachdem er mit Sword of Lancelot sein Themenfeld abgesteckt hatte, drehte Wilde die drei Filme, die ihn zu einem der interessantesten (und verkanntesten) amerikanischen Regisseure der 1960er machten. Der erste, The Naked Prey, sollte ursprünglich ein Western werden und John Colters Rennen gegen die Blackfoot-Indianer auf die Leinwand bringen. Colter nahm an der Expedition von Lewis und Clark teil, erreichte mit diesen den Pazifik und trennte sich auf dem Rückweg von der Expedition, um sein Glück als Fallensteller zu versuchen. 1809 waren er und ein weiterer Trapper, John Potts, in einem Kanu auf dem Jefferson River im heutigen Montana unterwegs (es kann auch ein anderer Fluss gewesen sein, von „Colter’s Run“ gibt es die unterschiedlichsten Versionen), als sie von Blackfeet überrascht wurden. Potts wurde getötet. Colter wurde, jedenfalls in der populärsten Variante der Geschichte, nackt ausgezogen und aufgefordert, um sein Leben zu rennen. Colter war ein guter Läufer, tötete den einzigen der Indianer, der mithalten konnte und erreichte den fünf Meilen entfernten Madison River, wo er sich in einem Biberbau versteckte. Von dort schlug er sich, je nach Version und immer mit weiteren Leichen, zu einem Fort durch, oder zu einer Handelsniederlassung oder sonst zu einem Vorposten der weißen Zivilisation.

    Der Photograph Sven Persson, Wildes Co-Produzent, hatte gute Verbindungen zur südafrikanischen Regierung, die steuerliche Vergünstigungen und materielle Hilfen bot. Also wurde die Handlung von Montana nach Afrika verlegt. Das gab dem Film, der auf dem Höhepunkt der amerikanischen Black-Power-Bewegung entstand, eine noch deutlichere politische Komponente. Wilde produzierte mit dem Geld einer rassistischen Regierung einen nicht in allen Details, sehr wohl aber in seinen zentralen Aussagen antirassistischen Film. Gedreht wurde außer in Südafrika in zwei Ländern, die zu der Zeit dabei waren, sich von der britischen Kolonialherrschaft zu befreien: in Botswana (1961 Teilautonomie, 1966 Unabhängigkeit) und in Rhodesien, dem heutigen Zimbabwe (1965 einseitige Unabhängigkeitserklärung der eine Apartheid-Politik betreibenden Regierung von Ian Smith). Auch dieser zeithistorische Hintergrund floss in den Film mit ein, der mindestens so viel mit den 1960ern wie mit dem 19. Jahrhundert zu tun hat.

    Im Vorspann werden Schlüsselszenen aus der Filmhandlung vorweggenommen (hier kündigt sich schon Wildes Interesse am Auflösen einer streng linear erzählten Geschichte an). Die Bilder schuf Tshidiso Andrew Motjuoadi (1935-1968), hervorgegangen aus dem Polly Street Art Centre in Johannesburg und ein Exponent des Township-Stils in der Kunst Südafrikas. Wildes Entscheidung, einen schwarzen Künstler mit der Gestaltung des Vorspanns zu beauftragen, war bereits ein politisches Statement, das Motjuoadi mit Inhalten füllte. Eines der Bilder zeigt versklavte Dorfbewohner. Geschaffen von einem Künstler, der sonst das Leben in den Townships am Rande von Johannesburg und Pretoria darstellte, ist das eine Illustration zum dritten Akt des Films und zugleich ein Kommentar zum Apartheid-Regime. Die Mehrzahl der Mitwirkenden waren Menschen, die unter der Rassentrennung zu leiden hatten. Wilde war kein Regisseur, den so etwas kalt ließ. Die politische Situation in Südafrika beeinflusste die Grundstimmung und die Ikonographie seines Films.

    Das Massaker von Sharpeville am 21. März 1960 hatte auch die bis dahin auf Verhandlungen und passiven Widerstand setzenden Schwarzen radikalisiert. Ein wichtiges Mittel im Kampf gegen das Apartheid-Regime waren die Bilder, gemalt oder als eine von den Photographien, die noch bis Ende Mai in einer Ausstellung im Münchner Haus der Kunst zu sehen sind. Die dort dokumentierte Eskalation, die in der Bildsprache der Künstler ihren Niederschlag fand, lässt sich auf interessante Weise zu The Naked Prey in Beziehung setzen. Man muss sich allerdings von der Idee verabschieden, dass die Darstellung schwarzer Afrikaner als Mitgliedern einer vorindustriellen Stammesgesellschaft automatisch rassistisch ist. Wilde drehte eine (eminent politische) Parabel, keinen Dokumentarfilm. Hätte er die Handlung in die Gegenwart verlegt, hätte er den Film nicht machen können.

    Auch die Musik ist bemerkenswert. Mit den üblichen Afrika-Klängen Hollywoods hatte Wilde nichts im Sinn. Zu hören sind - ganz gegen die Konvention - Afrikaner, die auf afrikanischen Instrumenten afrikanische Musik spielen. Wilde nahm vor Ort authentische Stammesgesänge auf und engagierte später, während der Postproduktion, den Musikwissenschaftler Andrew Tracey, einen weißen Südafrikaner. Tracey ist der Sohn von Hugh Tracey, einem Pionier auf dem Gebiet der Erforschung und Bewahrung traditioneller afrikanischer Musik (Andrew folgte seinem Vater 1977 als Direktor der International Library of African Music nach). Als Co-Autor und musikalischer Leiter des Bühnenprogramms Wait a Minim! gastierte er gerade in London, als Wilde sich bei ihm vorstellte (Wait a Minim! tourte sieben Jahre lang durch die Welt und leistete einen bleibenden Beitrag zur Verbreitung ethnischer Musik aus Afrika und afrikanischer Instrumente). Beim Einspielen der Musik wurde Tracey und seiner Band viel abverlangt. Wilde nahm die Musiker mit in ein Studio, wo live aufgenommen wurde, was sie synchron zum ihnen vorgeführten Film spielten.

    Das war typisch Cornel Wilde. Im Zweifel wählte er die Form des kreativen Prozesses, die seinen Filmen eine Lebendigkeit und Unmittelbarkeit gab, wie man sie in anderen Produktionen selten findet. Die Musik orientiert sich überwiegend an jener der Zulu, was aber nicht automatisch heißt, dass der gezeigte Stamm zur Zulu-Kultur gehört. Wilde vermied solche Zuordnungen - nicht, weil für ihn ein Schwarzafrikaner wie der andere war, wie in den meisten Western Indianer eben Indianer sind, sondern weil der Film eine auf Allgemeingültigkeit abzielende Parabel ist.
    Blumen im Visier

    The Naked Prey beginnt mit einer Löwin, die ihre Beute wegschleppt. Das ist die erste von vielen Einstellungen, in denen Wilde das Töten und Getötetwerden in der Wildnis zeigt, als Kontrapunkt zur Schönheit einer Landschaft, die H. A. R. Thomson in eindrucksvollen Bildern eingefangen hat. Thomsons beste Arbeiten als Kameramann sind die beiden Filme, die er mit Wilde gemacht hat (der zweite ist No Blade of Grass), ein Beleg für dessen auteur-Qualitäten. Auf die Löwin folgt eine weiße Trutzburg, die Festung der Kolonialisten. Da weiß man gleich, dass es hier um Unterdrückung geht. Aus der Festung kommt eine Jagdgesellschaft. Die von Wilde gespielte Figur ist wie alle anderen ohne Namen und wird im Vorspann als „Man“ (Mann oder Mensch) eingeführt. Deshalb wurde ihm vorgeworfen, er habe eine Geschichte von der Überlegenheit der weißen Rasse erzählen wollen. Wildes „Mann“ (eine weitere Betonung des Parabelcharakters) ist aber mitnichten der aus vielen anderen Afrika-Filmen bekannte Kulturträger mit einer daraus abgeleiteten moralischen Überlegenheit, und die Weißen insgesamt sind das erst recht nicht.

    The Naked Prey ist einer der großen Breitwandfilme der 1960er. Im Unterschied zu vielen seiner Kollegen, die sich dem Diktat des Fernsehens beugten und Filme mit Blick auf spätere TV-Ausstrahlungen im Vollbild-Format so in Szene setzten, dass sich das Wesentliche in der Mitte abspielte, nützte Wilde die gesamte Breite der Leinwand aus. Manche seiner Einstellungen sind komponiert wie jene Gemälde aus dem 18. und 19. Jahrhundert, von denen sich Besitzverhältnisse und soziale Hierarchien ablesen lassen. In der ersten Dialogszene macht die Jagdgesellschaft Rast. Die weißen Jäger und die schwarzen Träger sind in einem Breitwandbild versammelt, die Einstellung enthält eine Fülle von Informationen. Wilde hat am linken Bildrand Platz genommen und überprüft sein Gewehr mit der Sorgfalt eines Profis, der das Töten zum Beruf gemacht hat wie vor ihm Lancelot (der eine bringt Tiere um, der andere feindliche Ritter). Neben ihm sitzt der Bure (Gert Van den Bergh), der die Safari finanziert und eine Flasche in der Hand hält, weil er ein Trinker ist. Hinter diesen beiden sieht man noch einen Weißen, die Nummer 3 in der Hierarchie. Die Nummer 4, auch weiß, ist rechts im Hintergrund auszumachen, aber bereits nicht mehr als Individuum präsent. Dazu kommen die anonymen schwarzen Träger, die in der Hierarchie ganz unten angesiedelt sind und deshalb gesichtslos bleiben. Alles, was wir im Bild sehen, hält der Bure für sein Eigentum, weil er das Geld hat und durch die Gewehre auch die Macht. In der Bildmitte sieht man einen pyramidenartigen Erdhügel, der signalisiert, dass hier das hierarchische Prinzip greift.

    Wilde und Van den Bergh unterhalten sich. Die meisten anderen Regisseure würden nun näher herangehen, sich durch die Wahl der Einstellungsgröße auf die Gesprächspartner konzentrieren. Sie würden nur diese beiden zeigen, halbnah oder nah, dann eine Schuss-Gegenschuss-Konstruktion anschließen. Wilde behält seine Totale bei, verzichtet auf Schnitte und gibt uns durch den langen take die Zeit, die wir brauchen, um das Bild zu studieren und auf uns wirken zu lassen. Nach der Safari, sagt der Bure, will er in den Sklavenhandel einsteigen, außer auf Elefanten auch Jagd auf Menschen machen. Für ihn sind Schwarze Handelsobjekte wie Elfenbein. Das ist der Grund, warum Wilde nicht schneidet und auf die zu erwartenden Großaufnahmen verzichtet. Eine Konzentration auf die Gesichter der beiden Weißen würde bedeuten, dass man die schwarzen Träger nicht mehr sieht. Wilde lässt den Buren reden und zeigt uns den Kontext, in dem seine Worte zu verstehen sind. Wir sehen die schwarzen Menschen, die der Bure zu Objekten degradiert und die in seinen Augen kaum mehr sind als die farbige Kiste, auf der er sitzt. So wird aus dieser zunächst friedlich wirkenden Szene (eine Jagdgesellschaft bei der Rast) eine Aussage über den Kolonialismus und die von ihm ausgehende Gewalt.

    Im Western gibt es die Figur des Armee-Scouts oder des Trappers, der vom Leben auf der eigenen Ranch träumt. Der von Wilde verkörperte Jäger will sich nach dieser, seiner letzten Safari auf die eigene Farm zurückziehen. Das ist auch schon alles, was wir über den Mann erfahren. Mehr Informationen über die Hauptfigur hält Wilde nicht für erforderlich, darum lässt er sie weg. The Naked Prey zeichnet sich durch einen auf das Nötigste beschränkten Minimalismus aus. Andere Filme würden Dialogszenen folgen lassen, in denen der Mann von seiner Vorgeschichte berichtet, vielleicht von seiner Frau, einer unglücklichen Liebe oder von einem Schicksalsschlag, der ihn zwingt, ein letztes Mal auf die Jagd zu gehen. So gestaltet man das, was man in Lehrbüchern einen „rounded character“ nennt. Wilde ist an dieser althergebrachten, von Hollywood zur Norm erklärten Form des psychologischen Erzählens nicht interessiert. Für diese Normabweichung wurde er regelmäßig mit schlechten Kritiken bestraft.

    Das Angebot des Buren, beim Sklavenhandel sein Partner zu werden, lehnt der Mann ab. Er ist bereit, Jagd auf Elefanten zu machen, um an ihr Elfenbein zu kommen, aber da zieht er die Grenze. Das wird nie so deutlich ausgesprochen, weil es nicht nötig ist. Der erfahrene Jäger, der sich von einem eitlen Schnösel oder einem Rassisten anheuern lässt und andere Positionen vertritt als dieser ist ein vertrautes Versatzstück des Safarifilms. Der Minimalist Wilde macht sich die dem Publikum bekannten Genreregeln zunutze und deutet nur an, was man ohnehin schon weiß. Das reicht voll aus. Der von ihm gespielte Mann sitzt am Rand, als sei er kurz vor dem Absprung und gehöre schon nicht mehr richtig zu den Kolonialisten. Allerdings ist da noch sein Gewehr. Am rechten unteren Bildrand sind rote Blüten zu erkennen. Der Mann hält sein Gewehr so, dass es aussieht, als wolle er auf das Symbol des Schönen feuern. So kennzeichnet Wilde den Jäger (und sich selbst als dessen Darsteller) als Komplizen des Buren, den er in die Wildnis führt und der nun von seiner Ahnung spricht, dass in Kürze getötet werden wird. Bald wird rotes Blut fließen in diesem Film, und der Mann wird mit dabei sein. Unbeteiligte Zuschauer kann es in einem kolonialen Herrschaftssystem nicht geben, jeder Weiße trägt seinen Teil der Schuld und der Verantwortung.

    Die in einer Einstellung erzählte Rast-Szene dauert 45 Sekunden. Sie steckt voller Informationen, die überwiegend visuell vermittelt werden und für die man sonst lange Dialoge bräuchte. Wilde war von Anfang an entschlossen, großes Kino zu bieten, keine bebilderten Gespräche. Das Drehbuch, das er zusammen mit Clint Johnston und Don Peters schrieb (wie hinterher das zu Beach Red), hat neun Seiten. Der üblichen Faustregel nach (eine Seite = eine Leinwandminute) müssten es 96 sein. The Naked Prey war der fünfte Spielfilm, den er inszenierte. In ihm erweist er sich als ein Regisseur, der sich der gestalterischen Mittel, über die er verfügt, sehr sicher ist. Wenn man außerdem berücksichtigt, dass er mit ein bis zwei professionellen Schauspielern und ansonsten mit vielen Laien drehte, und nicht unter kontrollierbaren Studiobedingungen mit der dort zur Verfügung stehenden Infrastruktur, sondern an Originalschauplätzen im afrikanischen Busch, wo noch nie zuvor eine Filmcrew gewesen war, ist das, was ihm mit The Naked Prey gelang, wahrlich keine schlechte Leistung.
    Nguni statt Afrikaans

    Bleibt das Problem mit den anonymen schwarzen Trägern. Sie gehören zum standardisierten Personal des Safarifilms und vertragen sich schlecht mit der anti-kolonialen Grundhaltung, die ich Cornel Wilde hier attestiere. Dieses Problem geht er sofort an. Nach der Rast treffen die Weißen auf eine Gruppe schwarzer Krieger. Damit erhalten die Schwarzafrikaner ein Gesicht. Angeführt wird die Gruppe von Ken Gampu, dem ersten schwarzen Filmstar Südafrikas, den man hierzulande vielleicht aus The Gods Must Be Crazy und der Version von King Solomon’s Mines mit Sharon Stone und Richard Chamberlain kennt. In Südafrika war Gampu Vorbild und Inspiration für eine nachfolgende Generation von Schauspielern, obwohl er selten mehr angeboten bekam als das Stereotyp vom edlen Wilden oder vom wilden Zulukrieger, der eher ins Tierreich passt als in die menschliche Gesellschaft (in Zulu Dawn kämpft er gegen Burt Lancaster). 1975 schrieb Gampu Theatergeschichte, als er gemeinsam mit weißen Kollegen auf der Bühne stand, als Lennie in John Steinbecks Of Mice and Men. Im Apartheid-Staat Südafrika war das nur mit einer behördlichen Sondergenehmigung möglich. „Zum ersten Mal“, sagte er danach in einem Interview, „war der schwarze Mann gleichberechtigt mit dem weißen Mann. Und wissen Sie was? Der Himmel stürzte deshalb nicht ein.“

    Wilde wurde durch seine Hauptrolle in Dingaka (1964) auf ihn aufmerksam, den leider völlig vergessenen Regie-Erstling von Jamie Uys über einen Zusammenprall der schwarzen mit der weißen Kultur Südafrikas, sowie der Gegenwart mit der Vergangenheit. Gampu spielt einen Stammesangehörigen, dessen Tochter im Rahmen eines uralten Rituals getötet wird. Die Verfolgung des Täters führt ihn in die Welt der Weißen, wo er sich als Minenarbeiter verdingen muss. Als er den Mörder seiner Tochter aufspürt und versucht, ihn nach den Gesetzen seines Stammes zur Rechenschaft zu ziehen, gerät er in die Fänge eines Justizsystems, in dem er keine Chance hat, weil seine Kultur in einer rassistischen Gesellschaft nicht als solche akzeptiert wird. Den Verteidiger spielt Stanley Baker, was der deutsche Verleih als Aufforderung verstand, dem Film einen Titel zu geben, der den weißen Helden in den Mittelpunkt rückt: Ein Fall für Tom Baker.

    In The Naked Prey ist Gampu nur vordergründig einer der stereotypen Krieger, mit deren Darstellung er meistens seinen Lebensunterhalt verdienen musste. Wenn man sich einen Moment lang vom üblichen Vorurteil befreit, dass Leute blutrünstige Wilde sind, weil sie eine schwarze Hautfarbe haben, sich mit Fellen kleiden und einen Speer mit sich tragen stellt man fest, dass Gampu als ein freundlicher Mensch eingeführt wird, der Geschenke für seinen Häuptling erwartet, weil es so Sitte ist. Wilde akzeptiert das sofort und erläutert dem Buren, dass die Schwarzen seit Generationen in diesem Land leben und damit lang genug, um es für das ihre zu halten. Für den Rassisten sind Schwarze, die einen Besitzanspruch auf etwas anmelden und einen Wegezoll für das Betreten ihres Gebiets verlangen (als symbolische Respektsbezeugung vor ihrem Häuptling und ihrem Stamm) undenkbar. Er erklärt die stolzen Krieger zu gierigen Bettlern und weigert sich, ihnen etwas von dem zu geben, wofür er Geld bezahlen musste. Das ist der klassische Fall vom Sparen an der falschen Stelle. Gierig ist nur der Bure. Er schiebt Gampu beiseite und stößt ihn dabei um, wodurch er ihn demütigt und verletzt (wir werden noch weiteren Schwarzen begegnen, die Gefühle haben und verletzlich sind und damit über menschliche Eigenschaften verfügen, die ihnen in anderen Afrika-Filmen nicht zugeschrieben werden). Das respektlose Verhalten des Buren ist der Auslöser für die bald folgende Gewalt. Gezeigt wird nicht zuletzt das Scheitern der Kommunikation zwischen zwei Kulturen, und das, obwohl The Naked Prey der amerikanische Tonfilm mit den wenigsten Dialogsätzen seit Chaplins Modern Times ist, wie Michael Atkinson in einem Aufsatz schreibt. Das ist nur scheinbar paradox, weil Wilde, wie schon bemerkt, keine Worte braucht, um seine Botschaft zu vermitteln.

    Übrigens werden die Schwarzen weder zu den genreüblichen Sätzen auf Tarzan-Niveau gezwungen ("Ich Gampu. Du großer Bwana.") noch zu stark akzentgefärbtem Gebrabbel. Sie sprechen ihre Sprache so wie die Weißen die ihre (Andrew Tracey zufolge ist es Nguni, der Oberbegriff für vier miteinander verwandte Sprachen und Dialekte in Südafrika und Zimbabwe). Wildes „Mann“, der ihren Dialekt kennt, macht ein einziges Mal den Dolmetscher, was ungehört verpufft, weil der Finanzier der Safari wegen seines Rassismus nichts begreift, nicht wegen der Linguistik. Fortan müssen wir ohne Übersetzung auskommen. Man versteht trotzdem, was verstanden werden soll, weil Wilde ein guter Regisseur ist. Indem er die kulturelle Identität der Dorfbewohner respektiert, macht er durch den Kontrast zudem deutlich, dass die Lastenträger nicht deshalb sprach- und gesichtslos sind, weil für ihn ein Schwarzer wie der andere ist, sondern weil sie, als Arbeitssklaven missbraucht, von einer rassistischen Gesellschaft zu Objekten reduziert werden, die aus Sicht der Weißen nur unwesentlich über Nutztieren und Jagdtrophäen stehen. Wie immer kommt es bei der Bewertung rassistischer Stereotype auf den Kontext an. Seit Mitte der 1960er gab es in Südafrika Bestrebungen, Afrikaans zur allgemeinen Unterrichtssprache zu machen. Vor diesem Hintergrund war auch Wildes Bekenntnis zur Nguni-Sprachfamilie und damit zu einer vom Apartheid-Regime unterdrückten und marginalisierten Kultur ein explizit politischer Akt.
    Großes Kino

    Die Jagd wird ein voller Erfolg für den Investor. Aus Lust am Töten knallt er alles ab, was ihm vor die Flinte kommt, während Wilde nur Elefanten mit starken Stoßzähnen (das Elfenbein) schießt. Pate stand da wohl Richard Brooks’ Western The Last Hunt, wo sich mit den Büffeljägern Robert Taylor und Stewart Granger eine ähnliche Konstellation ergibt. Wilde zeigt klaffende Wunden im Körper eines erlegten Tieres, weil so eine zünftige Jagd eine brutale Sache ist. Um böse Kommentare der Tierschützer abzuwenden: Keiner von den Elefanten wurde für den Film erschossen. So etwas hätte Wilde nie gemacht. No Blade of Grass, sein Film über die Apokalypse, endet mit der (ehrlichen) Versicherung, dass bei den Dreharbeiten kein Tier zu Schaden kam. Wilde war seiner Zeit auch da voraus. In The Naked Prey gibt es einen Kampf zwischen einem Leguan und einer Python. Als Wilde bemerkte, dass der Leguan dabei war, zu unterliegen und getötet zu werden, warf er sich dazwischen (für die Schlange hätte er das auch getan). Der Leguan biss ihm ins Bein und fügte ihm eine schmerzhafte Verletzung zu.

    Berüchtigt ist die (von Zensoren oft verstümmelte) Szene, in der einer von den Schwarzen aus dem Bauch eines toten Elefanten tritt und eine Ladung Innereien zum Feuer trägt, um sie zu braten. Sind das also doch Barbaren? Ich will keineswegs behaupten, dass The Naked Prey völlig frei von Vorurteilen ist und ganz ohne Phantasien des weißen Mannes und seiner Unterhaltungsindustrie vom schwarzen Eingeborenen auskommt, glaube auch nicht, dass das überhaupt möglich wäre. Was ethnologisch richtig ist und was nicht kann ich nicht beurteilen, und ich weiß nicht, ob Wilde Anspruch auf diese Art von Authentizität erheben wollte (angesichts seiner allegorischen Erzählweise ist das eher unwahrscheinlich). Wichtig finde ich, dass er uns regelmäßig dazu auffordert, die Handlungen der Schwarzen mit denen der Weißen zu vergleichen und unsere Schlüsse daraus zu ziehen. Jenseits des Ekelfaktors teilt uns die Eingeweide-Szene mit, dass die Schwarzen gelernt haben, ein totes Tier komplett zu verwerten (wie die Indianer die Büffel). Die Weißen schießen Elefanten tot, weil sie das Elfenbein wollen, oder einfach nur aus Freude an der Jagd, um es möglichst positiv zu formulieren; die toten Körper würden sie liegen lassen. Wie wir das beurteilen (die Schwarzen sind schlimmer als die Weißen, die Weißen sind schlimmer als die Schwarzen, alle sind gleich schlimm, man kann sie nicht vergleichen), bleibt uns überlassen, weil Wilde nicht didaktisch ist. Er will ein Publikum, das eine eigene Meinung hat, statt sich per Dialog vom Helden sagen zu lassen, was es zu denken hat und was die Moral von der Geschichte ist.

    Als das US-Fernsehen vermehrt zum Abnehmer von Spielfilmen wurde verlangte es Großaufnahmen, damit der an die Werbeindustrie verkaufte Zuschauer in seiner Flimmerkiste etwas erkennen konnte. Der Kunst der Kinematographie hat das insgesamt nicht gut getan, weil sich eine Art von Film entwickelte, die, obwohl eigentlich für das Kino produziert, auf dem Bildschirm besser funktioniert als auf der Leinwand. Wilde dagegen demonstriert, wie man echtes Kino mit Großaufnahmen macht, die für das Vollbild-Fernsehen im Briefmarkenformat total ungeeignet sind. Nach dem Massaker an den Elefanten sitzen die Weißen in ihrem Lager. Van den Bergh, beglückt ob seiner Schießsport-Erfolge (er hat mehr Tiere getötet als Wilde), ist schon etwas angetrunken. Im Hintergrund reinigen die Träger die erbeuteten Stoßzähne vom Blut. Wilde hat die geschärften Sinne des erfahrenen Jägers und merkt, dass etwas nicht stimmt. Affen laufen unruhig hin und her, Vögel fliegen auf.

    In einer Weitwinkeleinstellung sehen wir Wildes Gesicht. Die Kamera fährt auf ihn zu, als er den Kopf zur Seite bewegt. Ein Teil des Kopfes - ein Ohr, ein Auge, ein Stück von der Nase - füllt die Leinwand aus (wie einflussreich das war kann man in David Lynchs Blue Velvet besichtigen). Von da schneidet Wilde, wieder in extremer Großaufnahme, auf die Augenpartie des im Gebüsch versteckten Gampu, der aus seinem Dorf Verstärkung geholt hat, um sich für die erlittene Demütigung zu rächen. Wilde ist da auf dem neuesten Stand der Technik. Das CinemaScope-Verfahren der 20th Century Fox erbrachte unscharfe und verwaschene Großaufnahmen. In der Qualität wie in The Naked Prey wurden sie erst durch eine Ende der 1950er entwickelte Panavision-Linse möglich. Die Kamera fährt jetzt zurück, bis wir das ganze Gesicht von Gampu sehen, mit der Nase im Zentrum des Bildes. Das wirkt, als würde er die Witterung der Weißen aufnehmen wie ein Raubtier.

    Der auf seine Sinnesorgane reduzierte Wilde, mehr Tier als Mensch, taucht in Filmen und in Büchern häufig auf. Hier ist das anders als gewohnt. Wilde betont durch die Wahl der Einstellungsgrößen, die Kamerabewegungen und die Montage die spiegelbildliche Beziehung zwischen dem weißen Jäger und dem schwarzen Krieger, mit den Augen als gedachter Symmetrieachse (in einem primär visuellen Medium wie dem Film sollte das so sein). Wir sehen nicht die übliche Opposition zwischen dem tierischen Schwarzen und dem menschlichen Weißen, sondern zwei sich ergänzende Hälften der Gattung Mensch. Die relative Freiheit von den Zwängen Hollywoods bezahlte Wilde mit sehr knapp kalkulierten Budgets. Das bedeutet nicht, dass er ein Billigfilmer war, der gedankenlos Gewaltverherrlichungsdramen herunterkurbelte, um durch das Appellieren an die niederen Instinkte eines imaginären Publikums Kasse zu machen. Durch die extreme Stilisierung der Großaufnahmen-Sequenz setzt er ein ästhetisches und durch die sorgfältige Einbettung in einen Gesamtzusammenhang auch ein inhaltliches Ausrufezeichen. In einem Film wie The Naked Prey, der dem Minimalismus verpflichtet ist und seinen Stilwillen lieber hintergründig hält, statt ihn stolz hervorzukehren, ist das besonders eindrucksvoll.

    Bevor Gampu das Zeichen zum Angriff gibt, sehen wir einen in der Sonne leuchtenden Speer, der sich wie ein erigiertes Glied nach oben reckt. Man kann die freudianische Interpretation auch übertreiben. Hier ist sie angebracht, weil Van den Bergh soeben von seiner Lust am Töten gesprochen hat. Das wendet sich nun gegen ihn. Auch die schwarzen Krieger sind fähig, sich in einen Blutrausch zu steigern, mit Weißen als den Opfern statt der Elefanten. Wer ein pastorales Afrika mit edlen Wilden haben will, sei an Onkel Toms Nachfahren in den Schmonzetten deutscher Fernsehanstalten verwiesen. Wildes Filme fragen danach, warum der Mensch anderen Menschen gegenüber so brutal ist, wie es zur Gewalt kommt und was aus ihr wird. Darum ist die Wildnis bei ihm wild und nicht mit Streicheltieren bevölkert, weder auf vier Beinen noch auf zweien.

    Bei dieser Gelegenheit sei noch angemerkt, dass die Frauen in The Naked Prey keine wesentliche Rolle spielen. Das mag politisch nicht korrekt sein, macht Wilde aber so wenig zum Chauvi wie Herman Melville (Moby-Dick) oder Robert Louis Stevenson (Treasure Island), deren Schiffe ganz ohne Dame in See stechen, weil eine solche für die Handlung nicht erforderlich ist oder unglaubwürdig wäre und die Erzähler ihrer Geschichte verpflichtet sind, nicht einem antrainierten Publikumsgeschmack. Hätte Wilde eine überzeugende Möglichkeit gefunden, dem weißen Mann eine blonde Gefährtin zu geben, oder Gampu eine schwarze Venus, hätte er es garantiert getan. Es siegte aber, wie meistens bei ihm, der Künstler über den Jean-Wallace-Verehrer.

    Am Ende des Überfalls reckt Gampu triumphierend ein erbeutetes Gewehr in die Höhe. Das machen die Indianer im Western auch oft so. Hier ist das Gewehr eines von zwei phallischen Tötungsinstrumenten (der Speer ist das andere), die eine Verbindung zwischen den Weißen und den Schwarzen herstellen und das Gemetzel einrahmen. Die Gewalt in diesem Film ist vorwiegend männlich konnotiert. Das könnte den Frauen gut gefallen, wenn es nicht eine Szene gäbe, in der sich auch das weibliche Geschlecht als wenig zimperlich erweist. Dazu gleich mehr. Die Mitglieder der Jagdgesellschaft, die das Gemetzel überlebt haben, werden von den Kriegern in ihr Dorf gebracht, um den Martertod zu sterben. Sie sind Trophäen wie die von den Siegern erbeuteten Kisten und Stoßzähne. Die Weißen werden von den Schwarzen genauso als Objekte behandelt wie sie es umgekehrt mit ihnen tun.
    Der Mensch ist des Menschen Wolf

    Im Dorf residiert ein Häuptling. Oder sollte er gar ein König sein wie Artus, der Chef der Tafelrunde? Jedenfalls präsidiert er über die zehn Minuten, die den Film berüchtigt machten. Ob die Folterszenen reine Phantasieprodukte sind oder auf authentischen Ritualen fußen weiß ich wieder nicht, weil ich kein Ethnologe bin. Da das für die überwiegende Mehrheit der Zuschauer gilt ist es legitim, The Naked Prey unter anderen Gesichtspunkten zu betrachten. Zuerst sterben die schwarzen Träger, die nicht zu den Weißen gehören und nicht mehr zu den Dorfbewohnern. Zwischen zwei Kulturen stehend, werden sie zerrieben wie im echten Leben häufig auch. Innerhalb eines Wertesystems, das Gewalt grundsätzlich akzeptiert, werden sie trotzdem privilegiert behandelt, denn ihnen wird ein schneller Tod zuteil (mit einer Ausnahme). Ein Mann wird mit einem Keulenhieb erschlagen, ein anderer wird geköpft. Den eigentlichen Vorgang sieht man nicht, wohl aber eine von den Folgen: durch den Bildausschnitt schießt ein Blutstrahl.

    Das kann man ablehnen und als schlimme Geschmacksverirrung geißeln wie manch ein schockierter Kritiker nach dem Kinostart, als es weder Bonnie and Clyde noch The Wild Bunch gab. Man gerät dann aber in argumentative Not, wenn man The Naked Prey andererseits einen mangelnden Realismus vorwirft wie auch passiert. Beim Durchtrennen der Aorta ist meines Wissens mit einem Blutstrahl zu rechnen. 1966 hatte man so etwas (glaube ich) nur noch nie in einem Film gesehen. Dieser Strahl, eine Ejakulation in Rot, schließt sich, der inneren Logik des Films folgend, an die phallischen Mordinstrumente an, die beim Gemetzel zum Einsatz kamen. Die sexualisierte Form von Gewalt - in diesem Fall als atavistisch anmutender Blutrausch - ist einer von den beiden Polen, zwischen denen sich bei Wilde abspielt, was der Mensch dem Menschen antut. Der andere Pol ist die ritualisierte, vorher festgelegten Regeln folgende Gewalt, mit der wir uns arrangiert haben. Es gibt nur keine Gewähr dafür, dass die eine, die zivilisierte Variante der Gewalt, nicht jederzeit in die andere umschlagen kann, die überwunden werden soll. Vom guten Geschmack lässt Wilde sich dabei nicht immer leiten. Sein Thema ist die Gewalt, nicht deren geschmackvolle Darstellung.

    Die wichtigste Information über das Töten der Safarimitglieder erhalten wir in Einstellungen, durch die kein Blut fließt. Gampu steht beim Häuptling und berichtet, was ihm widerfahren ist, als der Tribut verweigert wurde. Jeder Gefangene wird einzeln vorgeführt und abgeurteilt. Der Häuptling legt das Strafmaß fest. Van den Bergh wird so fixiert, dass er eine Giftschlange anstarren muss. Für die Schlange ist das ein Zeichen der Aggression (auch eine Form von gescheiterter Kommunikation), weshalb sie umso sicherer zubeißt. Einer von den Trägern wird mit einer Lehmkruste überzogen, an einen Spieß gehängt und bei lebendigem Leib gegart. Sind diese Dorfbewohner also sadistische Kannibalen? Oder könnte es sein, dass das Braten der Elefanteninnereien ein Tabubruch war, der auf diese Weise geahndet wird? Ich weiß es nicht.

    Entscheidend sind zwei Dinge: 1. Ohne erklärende (und übersetzte) Dialoge ist man permanent gezwungen, über eine fremde Welt nachzusinnen, die einem in anderen Afrika-Filmen in leicht konsumierbaren Klischee-Portionen serviert wird. Wilde unterläuft die Stereotypen, indem er sie ins Groteske übersteigert und fördert das Nachdenken, indem er das Fremde (Mensch am Spieß) mit weniger fremden Analogien (Tier am Spieß) versieht und so zum Vergleich ermuntert. 2. Die Bestrafungsaktionen im Dorf der Eingeborenen sind ritualisiert und finden, so abstoßend sie auch erscheinen mögen, in einem Kontext von Recht und Ordnung statt. Das rückt den „dunklen Kontinent“ ganz nah an Camelot heran. Oder unterscheidet sich König Artus, einer unserer Kulturhelden, doch fundamental von diesem Häuptling, wenn er Guinevere auf den Scheiterhaufen schickt, weil es so in einem Gesetz steht, das er mal erlassen hat - zum Beispiel, weil bei ihm kein Medizinmann zur Feier des Tages eine Ziege schlachtet, sondern die Kirchenglocken läuten, wenn der Henker das Feuer entzündet? -

    Wilde durchzieht den Film mit Bildern vom täglichen Überlebenskampf der Tiere in der Wildnis. Damit redet er nicht dem Sozialdarwinismus das Wort. Es geht nicht, wie oft unterstellt, um das Recht des Stärkeren und das Übertragen biologischer Erklärungsmodelle auf die menschliche Gesellschaft. Wilde gelangt vielmehr zu dem Befund, dass sich der Mensch nicht durch Gewaltlosigkeit vom wilden Tier unterscheidet, sondern dadurch, dass er sich bewusst für eine Gewalt entscheidet, die er zu kanalisieren sucht, indem er sie in ein von moralischen Abwägungen bestimmtes System von Regeln steckt, die selbst dann, wenn er sie einhält, nur wieder zu weiterer, dann nicht mehr ritualisierter und regelkonformer Gewalt führen. Gleichzeitig halten Wildes Protagonisten verzweifelt an der Überzeugung fest, dass es einen fundamentalen Unterschied zwischen Recht und Rechtlosigkeit gibt, zwischen Zivilisation und Barbarei. Das ist das traurige Paradoxon, das alle seine Filme charakterisiert.

    Wilde selbst scheint dieser Glaube bei seinen filmischen Erkundungsgängen in das menschliche Herz der Finsternis immer mehr abhanden gekommen zu sein. Das lässt sich nachvollziehen, wenn man berücksichtigt, dass er - als rechtzeitig emigrierter Jude und aus der Distanz, aber sozusagen „live“ und nicht als jemand, der in eine Welt hineingeboren wurde, in der Auschwitz schon Geschichte war - die Shoah miterlebte, den Zweiten Weltkrieg, die Atombombenabwürfe über Hiroshima und Nagasaki, den Koreakrieg, den Kalten Krieg und den Vietnamkrieg, um nur einige der markantesten Ereignisse zu nennen. In einem Interview formulierte er es 1970 so:

    Mich treibt dauernd um, was die Menschheit der Menschheit angetan hat. Die ganze Geschichte hindurch. Und ich denke mir, wie schrecklich es ist, dass sich in so vielen Jahren seiner Existenz die ursprünglichen Verhaltensweisen des Menschen nicht groß verändert haben. Vielleicht sind sie ausgeklügelter geworden, aber grundsätzlich sind die Dinge, die der Mensch dem Menschen antut, heute genauso schrecklich wie vor 6000 Jahren. Was in der Geschäftswelt vor sich geht ist genauso grausam wie das, was auf dem Schlachtfeld passiert. Die Prinzipien einer humanen Welt, die von Generationen von Philosophen und Heiligen hervorgebracht wurden, all die Jahrhunderte und Epochen hindurch, sind noch vorhanden, und doch werden sie nicht beachtet. Viele Staaten sind nach diesen Maximen gegründet worden, und die höchsten Regierungsstellen ignorieren sie. Ich glaube, dass die Vereinigten Staaten im Großen und Ganzen ein sehr gutes Land sind. Aber im Großen und Ganzen nur im Vergleich zu anderen Ländern. Das ist keine grundsätzliche Einschätzung. Es gibt sehr sehr viele Dinge in den USA, die nicht in Ordnung sind und förmlich danach schreien, korrigiert zu werden - Dinge, die obszön sind verglichen mit den Prinzipien, auf denen dieses Land gegründet wurde. Es gibt keine echte Gleichheit. Nirgendwo auf der Welt gibt es sie. Sogar Großzügigkeit gegenüber unseren Mitmenschen ist etwas, an dem es uns sehr mangelt, bei einzelnen Personen genauso wie bei Ländern und Nationen.

    Cornel Wilde, würde ich sagen, war ein empfindsamer und völlig unzynischer Mensch. Das merkt man auch seinen Filmen an, die so robust wirken, immer sofort zur Sache kommen und dann nicht mehr nachlassen bis zum Schluss. Man muss nur genau hinschauen.
    Im Foltergarten

    „Vor hundert Jahren war Afrika ein riesiges dunkles Unbekanntes“, sagt Cornel Wildes Stimme am Anfang von The Naked Prey aus dem Off, bevor die Jagdgesellschaft das weiße Fort verlässt. „Nur einige wenige Entdecker und Missionare, die Elfenbeinjäger und die berüchtigten Sklavenräuber riskierten auf seinen Pfaden ihr Leben. Glänzende Stoßzähne waren der Preis, und schwitzende Sklaven, die von ihren eigenen Königen und Häuptlingen in den nicht enden wollenden Stammeskriegen verkauft oder von den Sklavenhändlern verschleppt wurden. Der Löwe und der Leopard machten gnadenlos Beute in den gewaltigen Tierherden. Und der Mensch, dem der Wille fehlte, andere Menschen zu verstehen, wurde wie die wilden Tiere, und ihre Lebensweise war die seine.“

    Das klingt schlimm, nach dem Kampf aller gegen alle und nach den Phantasien von Afrika als einem „dunklen Kontinent“, mit denen der Kolonialismus seine Verbrechen an den Bewohnern und die Ausbeutung der Ressourcen rechtfertigte. Wir haben bereits festgestellt, dass es so einfach doch nicht ist. Wilde beschreibt nicht den Film, den wir gleich sehen werden, sondern die Erwartungshaltung, mit der wir an seinen Film herangehen. Das heißt nun aber nicht, dass mit einem philoafrikanischen Idyll zu rechnen ist, mit edlen Wilden, die in philosophisch anmutender Einfalt und stiller Größe vor ihrer Hütte sitzen und geduldig des Moments harren, in dem sie dem weißen Mann (oder der weißen Frau, wenn ARD oder ZDF Onkel Tom seinen Kral gebaut haben) ihre Gastfreundschaft erweisen dürfen. Wilde lehnt solche Domestizierungen schon deshalb ab, weil auch sie für die Betroffenen schlecht ausgehen, wenn sie nicht das ihnen zugeschriebene Wohlverhalten an den Tag legen. Der letzte Satz des Kommentars ist der entscheidende. Die Welt ist nicht, wie sie ist, weil der Mensch von Natur aus böse ist, oder weil der Sozialdarwinismus gesiegt hat und nur das Recht des Stärkeren gilt, sondern weil es kein echtes Bemühen gibt, andere Leute - besonders dann, wenn sie sehr fremd und verschieden sind - zu verstehen. Letztlich läuft das auf fehlenden Respekt hinaus.

    Der Überfall auf die Weißen kommt nicht so unmotiviert und wie ein Naturereignis daher wie in vielen anderen Afrika-Filmen, wo die Eingeborenen mehr Teil der Landschaft als Menschen sind, sondern nach einem sehr konkreten Anlass. Der Finanzier der Safari stößt den Anführer der Krieger zu Boden (ein Bild, das auch gut in einen Film über den Kampf der Afroamerikaner um ihre Bürgerrechte passen würde), weil er diesen weder als Mitmenschen akzeptiert (oder gar als Eigentümer des Landes, das die Weißen ausbeuten wollen) noch sich für dessen kulturelle Gepflogenheiten interessiert. Das setzt die Spirale der Gewalt in Gang. Die aus dieser ersten Begegnung der weißen Jäger mit den Dorfbewohnern resultierende Rache- und Bestrafungsaktion mag dem schockierten Betrachter barbarisch erscheinen. Wilde unternimmt auch nichts, um diesen Eindruck abzuschwächen, ganz im Gegenteil. Zwischen der Demütigung des von Ken Gampu gespielten Kriegers und den Folterungen besteht ein ursächlicher Zusammenhang. Die Schwarzen sind wilder und brutaler als in den anderen Afrika-Filmen, die Hollywood bis dahin produziert hatte. Doch sie sind keine Wilden, weil sie Wilde sind - oder gute Menschen, weil der Schwarze als edler Wilder gut zu sein hat (und wehe, wenn nicht!).

    Weil der Krieger gedemütigt wurde, wird einer von den weißen Jägern ebenfalls gedemütigt. Der Häuptling gibt Anweisung, ihn wie einen Vogel auszustaffieren. Gejagt von den Frauen des Stammes, muss er durch das Dorf hüpfen. Das ist wie eine Szene aus einem Comic oder aus einer der in den 1950ern vom US-Fernsehen eingeführten Shows (Beat the Clock), wo Leute blöde Aufgaben lösen und sich zum Deppen machen, um einen Preis zu kriegen (1960 nach Deutschland importiert, wo Joachim Fuchsberger Nur nicht nervös werden moderierte, die Sendung mit „verzwickten Spielen für geschickte Leute“). Auch dort tat sich ein dunkler Kontinent auf. Im wilden Afrika von The Naked Prey gibt es keinen Fernseher zu gewinnen, sondern gleich den Tod. Der Kandidat hat auch seine Aufgabe nicht erfüllt, denn er wird eingeholt. Die Frauen haben ihren Spaß und stechen auf ihn ein wie ein außer Rand und Band geratenes Schunkelpublikum vom ZDF-Fernsehgarten oder vom ARD-Musikantenstadl. Das ist eine nette Abwechslung im täglichen Einerlei des Hausfrauendaseins.

    Der Musikantenstadl war auch schon mal in Südafrika, worauf in Österreich eine Debatte darüber entbrannte, ob man sich den nun Anzüge oder Nelson-Mandela-Hemden tragenden Schwarzen unbedingt als jodelndes Bergvolk mit Lederhosen und konfektioniertem Volksgedudel präsentieren musste (die Deutschen hatten das damals bereits so verinnerlicht, dass ihnen nichts mehr peinlich war). Falls einigen der geneigten Leser der Kommentatorenfinger zuckt, weil ich mich zu weit vom Thema entfernt habe: Stimmt nicht. Wir sprechen hier über die stereotype Darstellung bestimmter Gruppen. Man kann die Klischees perpetuieren wie im Musikantenstadl und in zahllosen Heimatfilmen, oder man zerbröselt sie durch parodistische Zuspitzung wie etwa Walter Bockmeyer in seiner Version der Geierwally, was nicht immer einfach ist, weil viele von den Klischees ohnehin schon hart an der Parodie vorbeischrammen.

    Das gilt auch für die Afrikaner im Safarifilm. Wilde bürdet dem Klischee vom schwarzen Barbaren einiges an grotesker Übertreibung auf, dies aber nur in dem Maße, dass es nicht unter der Last zusammenbricht, weil er keine Parodie gedreht hat, sondern ein ernstes Thema mit der gebotenen Ernsthaftigkeit behandelt. Das schließt die ironische Distanzierung nicht aus. Man denke sich das Quäl-Segment von The Naked Prey als große Samstagabendshow im Fernsehen. Wilde wäre dann der Zuschauer, der von zwei Aufpassern gezwungen wird, sich die exotischen, vom Showmaster (der Häuptling) angeordneten Folterrituale anzusehen. So gewinnt man eine ganz gute Vorstellung davon, was gemeint ist. Wenn meine Interpretation richtig ist, wird bei den Quälereien ein ethnologisch-dokumentarischer Anspruch nur insofern erhoben, als es um die Beziehung zwischen der genormten Unterhaltungsindustrie (nebst den von ihr zur Schau gestellten Opfern und Exhibitionisten) und ihrem Publikum geht. Angesichts des aktuellen TV-Programms und Blockbuster-Kinos kann ich nur sagen: Wilde war ein Visionär.
    Blut und Blumen

    Der Tod des „Vogels“ wird indirekt gezeigt. Die Frauen verdecken den am Boden liegenden Mann, während sie auf ihn einstechen. Wir sehen das von oben, durch die Zweige eines blühenden Baumes hindurch. Rote Blüten anstelle des roten Bluts: In einem Film, der kein Problem damit hat, durchbohrte Körper und klaffende Wunden zu zeigen, ist das eine überraschend poetische Darstellung von Gewalt. Furchtbar traurig ist es auch, weil die Blumen bei Wilde bisher für das Schöne in der Welt standen. Jetzt sind sie in Blut getaucht. Für Anhänger der „auteur-Theorie“, die nach der persönlichen Handschrift eines Regisseurs suchen, also nach wiederkehrenden Elementen in seinem Werk, wäre Cornel Wilde ein lohnendes Studienobjekt. An seinen Filmen lässt sich gut demonstrieren, wie die Bedeutung einer Szene von der Perspektive abhängig ist, aus der man sie betrachtet, und vom Kontext.

    Ein Beispiel: In einer der von den Kriegern erbeuteten Kisten entdecken die Frauen des Dorfes bunte Tücher. Der Fund löst große Freude aus, die Frauen tollen herum und werfen die Tücher in die Luft. Das kennt man. Die Wilden sind, wenn sie nicht gerade wild und blutrünstig sind, wie die Kinder, sei es im dunklen Afrika oder im Wilden Westen. In The Naked Prey ist es komplizierter, weil die Schwarzen ein Motiv für ihr Handeln haben. Das zwischen Massaker und freudiger Ausgelassenheit angesiedelte Tohuwabohu erinnert den Finanzier der Safari (und uns) daran, dass nichts passiert wäre, wenn er den Kriegern beim Betreten ihres Landes ein paar von den Tüchern abgegeben hätte, als Tribut und Respektsbezeugung. Im zuvor gedrehten Sword of Lancelot schmücken die bunten Tücher - als Textil gewordene Blüten - das Schlafgemach von Guinevere, der Geliebten Lancelots (in Beach Red wird Jean Wallace ein mit diesen Tüchern korrespondierendes Kostüm tragen). Blühende Blumen findet man bei Wilde an der Schnittstelle zwischen Tod und Leben, Liebe und Gewalt, Kommunikation und Nicht-Kommunikation. Sie signalisieren, dass von hier aus der Weg in die eine oder die andere Richtung gehen kann, abhängig vom Verhalten der Protagonisten. Meistens endet es mit Blutvergießen und man fragt sich als Zuschauer, warum das sein musste. Daher auch die traurige Grundstimmung in Wildes Filmen, deren Botschaft mit einem jüdischen Sprichwort recht gut beschrieben ist: „Man könnte leben, aber man lässt nicht.“

    Menschenjagd

    In The Naked Prey nimmt sich Wilde die Freiheit, aus einer streng chronologisch erzählten Geschichte auszubrechen und bestimmte Informationen vorwegzunehmen. Im Vorspann, in einem der Bilder von T. A. Motjuoadi, wird die rituelle Schlachtung einer Ziege gezeigt. Im Folterteil der Filmhandlung trinkt die Dorfgemeinschaft das Blut des Opfertieres. Gampu bietet auch dem von Wilde gespielten Safariführer einen Schluck an. Das ist sein Zeichen des Respekts dem Mann gegenüber, der ihn bei der ersten Begegnung ebenfalls respektvoll behandelt hat und der nun erneut beweist, dass er die andere Kultur achtet, indem er von dem Blut trinkt. Darum töten ihn die Krieger nicht wie die anderen Safarimitglieder, sondern geben ihm eine Chance, sein Leben zu retten, indem er um dieses rennt wie ein gejagtes Tier. Inspirationsquellen waren neben John Colters Begegnung mit den Blackfeet zwei sehr sehenswerte Filme: der Menschenjagds-Klassiker The Most Dangerous Game (1932) und ein die üblichen Stereotypen untergrabender Western von Sam Fuller, Run of the Arrow (1957).

    Wilde wird nackt ausgezogen (bis auf eine fleischfarbene Unterhose, weil ein völlig nackt durch die Wildnis rennender Mann nicht durch die Zensur gekommen wäre - später trägt er etwas, das er einem der Schwarzen abgenommen hat und das man sich als Lendenschurz vorstellen sollte) und erhält einen kleinen Vorsprung, ehe die Verfolgung beginnt. Die Grundidee - ein Weißer wird von bewaffneten Kriegern durch den Busch gejagt und überlebt, weil er schneller und abgehärteter ist als sie - wurde ihm von den Kritikern als koloniale Phantasie von der immerwährenden Überlegenheit des weißen Mannes ausgelegt. Ich wäre da gnädiger und würde von dem sprechen, was der Dichter Samuel Taylor Coleridge als „willing suspension of disbelief“ bezeichnet hat, also die Bereitschaft des Lesers oder Zuschauers, im Interesse der Fiktion das Unglaubwürdige zu akzeptieren, weil es sonst keine Geschichte gäbe. Würde gleich der erste von den Kriegern das menschliche Wild mit dem Speer durchbohren, wäre das vielleicht realistisch, aber der Film wäre abrupt vorbei. Deshalb wirft der Jäger den Speer daneben, und Wilde tötet ihn, wodurch er seine Überlebenschancen erhöht, weil er jetzt auch bewaffnet ist. (Das Remake von The Naked Prey drehte später Mel Gibson, mit Apocalypto.)

    Als Wilde einen zuvor abgeschossenen Pfeil erreicht, rennen die Jäger hinterher. Sie tun das zeitlich versetzt (auch diese Menschenjagd ist einem Regelwerk unterworfen wie der Zweikampf der Ritter in Camelot), und darum dauert es eine Weile, bis der zweite Krieger den ersten erreicht hat, der tot im Gras liegt. Dann geschieht das Unerhörte. Der Mann beugt sich über seinen toten Freund, umarmt ihn und stößt einen Schrei des Schmerzes und der Trauer aus. Wenn man das gesehen hat, vergisst man es nicht mehr, weil es so ungewöhnlich ist. Als der dritte Krieger hinzukommt, tauscht er einen Blick des Einverständnisses mit dem zweiten aus, um die Verfolgung dann fortzusetzen. Der Trauernde trägt den Toten zurück ins Dorf. Das mag einem ganz normal erscheinen, war es 1966 aber nicht im Film. Schwarze Afrikaner (oder Indianer im Western) wurden entmenschlicht und als unberechenbare, entindividualisierte Gruppe dargestellt. Nicht in The Naked Prey.

    In Cy Endfields Zulu (1964), einem Meilenstein des Afrika-Films, werden die Zulus als tapfere, taktisch geschulte Kämpfer präsentiert, nicht als ein Haufen blutrünstiger Wilder. Cornel Wilde geht einen Schritt weiter und stattet die Schwarzen seines Films mit der vollen Palette menschlicher Emotionen aus. Sie lachen und weinen, freuen sich und trauern, sind Individuen, und es ist sogar so, dass wir mehr über einige der Dorfbewohner und ihr Seelenleben erfahren als über den weißen Helden. Am Abend des ersten Tages sehen wir die Krieger, die nachdenklich bei der Leiche eines anderen ihrer Kameraden sitzen und diesem in einem Trauerritual die letzte Ehre erweisen. In seinem Audiokommentar zur Criterion-DVD weist Stephen Prince darauf hin, dass Wilde in doppelter Weise subversiv ist. Die sonst - in Filmen wie auch im Apartheid-Staat Südafrika - anonymisierten und entmenschlichten Schwarzen sind bei ihm menschliche Individuen und Mitglieder einer Gemeinschaft, und er dreht die herkömmlichen Machtstrukturen um, indem er die Schwarzen als Teil einer bewaffneten, durch soziale Bindungen verknüpften Gruppe zeigt, die Jagd auf einen einzelnen, nicht zu einer Gemeinschaft gehörenden Weißen macht.

    Entscheidend ist dabei, dass der (weiße) Held kein wirklicher Held ist und die (schwarzen) Bösewichte keine wirklichen Bösewichte sind. Beim Messerkampf mit einem der schwarzen Krieger wirft Wilde dem Gegner Sand in die Augen, um ihn dann zu töten. Das machen sonst nur die Schurken, die zu unfairen Mitteln greifen müssen, weil sie dem Helden sonst unterlegen wären. In Genrefilmen, die mit der durch dauernde Wiederholung eingeübten Erwartungshaltung des Publikums operieren, sind solche Regelverstöße sehr wirkungsvoll. Den Zuschauer zwingt das Abweichen von den tradierten Mustern, sich neu zu orientieren. An Einteilungen in Gut und Böse ist Wilde nicht interessiert, was ihn davor bewahrt hat, aus den Schwarzen edle Wilde zu machen oder bessere Menschen als die Weißen, weil sie schwarz sind. Einmal betrauern die Krieger den Verlust zweier Stammesangehöriger. Dann setzen sie die Jagd fort, um ihr Wild zu töten, den Weißen. Auch für sie ist das Leben eines Menschen nur etwas wert, wenn er zur eigenen Gemeinschaft gehört. Beim Weiterlaufen zertrampeln sie einige von den roten Blüten, mit denen Wilde geschickt Akzente setzt.

    Das fehlende Verständnis zwischen den Kulturen, sagt Wilde im einführenden Kommentar, erzeugt Gewalt, und weil diese sich in der Unterdrückung einer Gruppe durch eine andere äußert, sind die gefolterten und von Speeren durchbohrten Körper in seinem Film ein Kommentar zur strukturellen und institutionalisierten Gewalt in den Südstaaten der USA, wo die Weißen in den 1960ern noch das Prinzip „separate but equal“ ("getrennt aber gleich", offiziell 1954 abgeschafft, in der Praxis aber nicht) propagierten, oder in Südafrika, das den Film durch seine finanzielle Unterstützung erst möglich machte (so wie der weiße Rassist die Safari finanziert, die ihm den Untergang beschert und uns einige unerwartete Erkenntnisse). Subversiver konnte Wilde kaum sein. Und weil es ihm um ein Unrechtssystem geht, nicht um einzelne Täter, ist dadurch nichts gewonnen, dass der Rassist, der nach der Elefantenjagd in den Sklavenhandel einsteigen will, auf Anordnung des Häuptlings getötet wird.

    Im dritten Akt des Films erreicht Wilde ein friedliches Dorf, das von Sklavenhändlern überfallen und niedergebrannt wird. Er versteckt sich in einem Gebüsch, in dem auch ein kleines schwarzes Mädchen Zuflucht gefunden hat. Als die Sklavenräuber näher kommen, rennt Wilde los, um sie von dem Mädchen abzulenken. Er läuft durch das Dorf, tötet einige der Angreifer und am Schluss auch den arabischen Anführer. Trotzdem endet die Szene mit den nun versklavten Dorfbewohnern, die als Ware abgeführt und auf einer der Sklavenhandelsrouten verschifft werden. Die heroische Tat eines Einzelnen, heißt das, ist gut und richtig. Das System ändert sich dadurch nicht. In konventionellen Hollywood-Filmen ist das anders. Da wird auf der individuellen Ebene ein Problem gelöst und so getan, als gelte das auch für das große Ganze.

    Das ist ein guter Moment für eine Pause. Demnächst dann, im zweiten Teil, ein blutiger Albtraum auf einer Insel im Pazifik und der düsterste aller postapokalyptischen Öko-Thriller.

    ...

    Kurz vor dem Ende von The Naked Prey gönnt Wilde sich (und uns) einen Augenblick der Utopie. Der von ihm gespielte Mann setzt seinen Weg an der Seite des kleinen Mädchens fort, das er vor den Sklavenhändlern gerettet hat. Zwischen den beiden gibt es echte Momente der Empathie und der Gemeinsamkeit, als sie ihr Essen teilen und sich Lieder aus ihrer jeweiligen Kultur vorsingen. Das wird nie kitschig, weil Wilde keine vorab kalkulierten Gefühle anstrebt. Statt die Laiendarsteller Dialoge auswendig lernen zu lassen, beschrieb er ihnen, worum es in einer Szene gehen sollte und gab ihnen einige Anhaltspunkte. Der Rest wurde improvisiert. Die dadurch erreichte Unmittelbarkeit und Authentizität war die beste Versicherung gegen industriell hergestellten Gefühlskitsch. Für die Botschaft des Films sind die utopischen Momente wichtig, weil wir bisher eine grausame Welt gesehen haben, in der der Stärkere den Schwächeren frisst und Menschen Jagd auf andere Menschen machen. Wilde will das nicht so verstanden wissen, dass er einer sozialdarwinistischen Weltanschauung das Wort redet. Darum baut er kurz vor Schluss einige Szenen ein, in denen das harmonische Miteinander der Kulturen als ein positiver Wert beschrieben wird. Weil der Weiße nun aber in eine rassistische Sklavenhaltergesellschaft zurückkehren wird, trennt sich seine schwarze Begleiterin von ihm, als die Grenze ihres Stammesgebiets erreicht ist. Alles andere wäre eine Lüge. Die Einstellung, in der Wilde dem Mädchen hinterher schaut, wie es zurück zum zerstörten Dorf geht, ist die vielleicht emotionalste des Films.

    Nach der Wildnis in Spielfilmlänge (genau 90 Minuten) gibt es auch noch die Pastorale. Sie dauert eine Einstellung lang. Zwei nackte schwarze Kinder stehen in einer grünen Landschaft, im Hintergrund weiden friedlich Tiere. Wilde geht an den Kindern vorbei, tätschelt ihnen den Kopf, verschwindet aus dem Bild. Das ist das große Rätsel, mit dem er uns aus dem Kino schickt. Was, soll sich das Publikum fragen, hat das zu bedeuten? Hat Wilde sich aus einem Film voller Blut und Gewalt in einen anderen verirrt, in dem die Welt so ist, wie sie sein sollte, in dem der Mensch, sei er auch nackt und schutzlos, keine Beute ist wie im Titel The Naked Prey? Sehen wir Afrika als Wiege der Menschheit, mit einer Generation, die weiß ist und einer anderen, die schwarz ist, ohne dass sich daraus eine Rangordnung ergibt? Am wichtigsten ist wahrscheinlich, was es nicht bedeuten kann. Der weiße Mann steht auf der evolutionären Leiter nicht über den schwarzen Kindern. Diese Interpretation lassen die vorangegangenen 90 Minuten nicht zu.

    Dann geht die Jagd auch schon weiter. Das Fort ist bereits in Sicht, als es scheint, als würden die vier verbliebenen Krieger ihr Wild doch noch einholen und erlegen können. Der Jäger, der seine Trauer über den Verlust der Kameraden am lautesten hinausgeschrien hat, hebt den Speer zum tödlichen Stoß, als er von den Soldaten des Forts erschossen wird. Wilde wird nun gleich in die weiße Festung zurückkehren, die er am Anfang verlassen hat. Vorher trifft sich sein Blick mit dem von Ken Gampu, dem Anführer der Krieger. Die beiden schauen sich an und heben dann den Arm, um sich gegenseitig ihren Respekt zu zollen, ehe Gampu im Busch verschwindet. Das ist einer der absurdesten Filmmomente, die ich kenne, und zugleich einer der tröstlichsten, weil ganz am Schluss so etwas wie ein gegenseitiges Einverständnis zweier Kulturen erzielt wird. Allerdings mussten zuvor viele Menschen dafür sterben. Darum ist dieser Film - einer der originellsten und interessantesten der 1960er - so traurig.

    http://www.sahistory.org.za/archive/polly-street-era

    http://books.google.de/books?id=dGaIQULgPloC&pg=PP1&lpg=PR20&ots=g78dVdCM23&dq=Sharpeville+Nam

    http://www.hausderkunst.de/index.php?id=83&no_cache=1&tx_ttnews[tt_news]=3590&cHash=1df0a2c4417a3b

    #film #colonialisme

  • Unsere Interessen, unsere Werte und der Ukraine-Krieg
    22. April 2023 Wolfgang Sachsenröder
    https://www.telepolis.de/features/Unsere-Interessen-unsere-Werte-und-der-Ukraine-Krieg-8976332.html?seite=al

    Je n’ai jamais compris pourquoi quelques camarades d’école ont pu considérer une carrière comme assassin professionnel au sein de la Bundeswehr. Ce livre contribuera-t-il à répondre à ma question ?

    Sterben lassen?

    Der US-amerikanische Militärpsychologe Dave Grossman hat in seinem zuerst 1996 erschienen Buch „On Killing“ die Mechanismen beschrieben, wie man Soldaten dazu bringt, die natürliche Tötungshemmung zu überwinden und welche psychischen Belastungen daraus entstehen.

    Er beschreibt aber auch die Gewöhnung der gesamten Gesellschaft an alltägliche Gewalt, nicht zuletzt durch Filme und Computerspiele, denen bereits Kinder ausgesetzt werden. Das Resultat nennt er „acquired violence immune deficiency“, also eine erworbene Abstumpfung gegenüber dem Töten von Mitmenschen.

    Wie weit auch Deutschland davon betroffen ist, wäre eine Debatte wert.

    extraits

    If you are a virgin preparing for your wedding night, if you or your partner are having sexual difficulties, or if you are just curious…then there are hundreds of scholarly books available to you on the topic of sexuality. But if you are a young “virgin” soldier or law-enforcement officer anticipating your baptism of fire, if you are a veteran (or the spouse of a veteran) who is troubled by killing experiences, or if you are just curious…then, on this topic, there has been absolutely nothing available in the way of scholarly study or writing.
    Until now.

    Je comprends que ce livre est comme un mode d’emploi, une introduction dans l’acte pour les jeunes assassins impériaux.

    previous authors have examined the general mechanics and nature of war, but even with all this scholarship, no one has looked into the specific nature of the act of killing: the intimacy and psychological impact of the act, the stages of the act, the social and psychological implications and repercussions of the act, and the resultant disorders (including impotence and obsession). On Killing is a humble attempt to rectify this. And in doing so, it draws a novel and reassuring conclusion about the nature of man: despite an unbroken tradition of violence and war, man is not by nature a killer.

    Là je suis rassuré. Je crains pourtant que ce texte soit surtout un manuel comment transformer ces êtres humains « not by nature a killer » en #natural_born_killers. C’est une fabrication, il n’y a rien de naturel, mais le résultat est le même.

    L’auteur se situe entièrement du côté des assassins professionnels, mais il essaye aussi dans un énorme effort d’hypocrisie à exprimer sa compassion pour les victimes de ses troupes.

    And, finally, if in my focus on the pain of the killers I do not sufficiently address the suffering of their victims, let me apologize now. “The guy pulling the trigger,” wrote Allen Cole and Chris Bunch, “never suffers as much as the person on the receiving end.” It is the existence of the victim’s pain and loss, echoing forever in the soul of the killer, that is at the heart of his pain.

    La revoilà la raison pour la construction des chambres à gaz d’Auschwitz : Pour mener à terme le projet génocidaire collossal sans causer des ravages psychiques du côté des exécutants il fallait protéger les tueurs de l’echo de leurs actes, the victim’s pain and loss, echoing forever in the soul of the killer . Ce fut une opération prèsque parfaitement réussie, car il n’y a eu qu’un seul SS survivant à accepter entièrement sa responsabilité en explquant aux écoliers allemands que les camps ont vraiment existé et que lui même faisait partie de la machine à tuer. Les autres jouissaient de la bonne conscience que leur offrait l’industrialisation du génocide.

    Ce livre sur l’acte de tuer et comment le rendre possible et supportable remplit pour les commandants militaires une fonction protectrice au profit de leurs soldats et augmente ainsi leur rentabilité.

    commentaires anglais

    From Publishers Weekly : On Killing: The Psychological Cost of Learning to Kill in War and Society

    Description:
    A controversial psychological examination of how soldiers’ willingness to kill has been encouraged and exploited to the detriment of contemporary civilian society.

    Psychologist and US Army Ranger Dave Grossman writes that the vast majority of soldiers are loath to pull the trigger in battle. Unfortunately, modern armies, using Pavlovian and operant conditioning, have developed sophisticated ways of overcoming this instinctive aversion.

    The mental cost for members of the military, as witnessed by the increase in post-traumatic stress, is devastating. The sociological cost for the rest of us is even worse: Contemporary civilian society, particularly the media, replicates the army’s conditioning techniques and, Grossman argues, is responsible for the rising rate of murder and violence, especially among the young.

    Drawing from interviews, personal accounts, and academic studies, On Killing is an important look at the techniques the military uses to overcome the powerful reluctance to kill, of how killing affects the soldier, and of the societal implications of escalating violence.

    ...

    From Library Journal

    Drawing on interviews, published personal accounts and academic studies, Grossman investigates the psychology of killing in combat. Stressing that human beings have a powerful, innate resistance to the taking of life, he examines the techniques developed by the military to overcome that aversion. His provocative study focuses in particular on the Vietnam war, revealing how the American soldier was “enabled to kill to a far greater degree than any other soldier in history.” Grossman argues that the breakdown of American society, combined with the pervasive violence in the media and interactive video games, is conditioning our children to kill in a manner siimilar to the army’s conditioning of soldiers: “We are reaching that stage of desensitization at which the infliction of pain and suffering has become a source of entertainment: vicarious pleasure rather than revulsion. We are learning to kill, and we are learning to like it.” Grossman, a professor of military science at Arkansas State University, has written a study of relevance to a society of escalating violence.

    Je ne suis pas d’accord avec l’idée qui rend les jeux vidéos responsables de la violence dans les sociétés capitalistes occidentales. D’abord Grossman dit lui même qu’il faut une situation sociale problématique afin que l’effet négatif des jeux vidéos puisse de développer. Il constate un cercle vicieux d’exclusion sociale, de violence et d’initiation à la violence sans bornes par le médias touchant les communautés noires aus #USA. A mon avis nous sommes constamment cibles et victimes de la violence dans les relations de production sous le capitalisme. Guerres et violence de rue et familiale ne s sont que l’expression visible de l’aliénation omniprésente.

    Mary Ann Hughes, Neill P.L., Pullman, Wash, Copyright 1995 Reed Business Information, Inc.

    Grossman (psychology, West Point) presents three important hypotheses: 1) That humans possess the reluctance to kill their own kind; 2) that this reluctance can be systematically broken down by use of standard conditioning techniques; and 3) that the reaction of “normal” (e.g., non-psychopathic) soliders to having killed in close combat can be best understood as a series of “stages” similar to the ubiquitous Kubler-Ross stages of reaction to life-threatening disease.

    While some of the evidence to support his theories have been previously presented by military historians (most notably, John Keegan), this systematic examination of the individual soldier’s behavior, like all good scientific theory making, leads to a series of useful explanations for a variety of phenomena, such as the high rate of post traumatic stress disorders among Vietnam veterans, why the rate of aggravated assault continues to climb, and why civilian populations that have endured heavy bombing in warfare do not have high incidents of mental illness.

    This important book deserves a wide readership. Essential for all libraries serving military personnel or veterans, including most public libraries.

    Là on découvre l’avertissement de l’impact des victimes des post traumatic stress disorders chez les soldats étatsuniens. La vision US-centriste de l’auteur laisse perplexe car il n’explique pas pourquoi les #USA depuis les années 1980 sont victimes de tueries de masse quotidiennes alors que les millions d’hommes allemands traumatisés par la deuxième guerre mondiale n’ont pas commis des actes comparables. Ceci ne s’explique pas par un caractère national différent, comme les jeux vidéo ne sont forcément pas non plus la raison pour les tueries américaines.

    Ce livre ne contribue donc pas grand chose à l’explication des phénomènes de sociéte. Ses explications sur la formation des tueurs professionnels par contre promettent d’apporter des éléments pour expliquer la situation aux ètat Unis. Est-ce que le type de formation au sein les forces étatsuniennes contribue aux crimes violents dans les villes américaines ?

    Une devise à ne suivre qu’en partie

    Robert Heinlein once wrote that fulfillment in life involved “loving a good woman and killing a bad man.”

    Pauvre Robert Heinlein qui est tombé entre les mains de tueurs.

    Après avoir lu les première pages de cette étude verbeuse je commence à m’approcher d’une réponse à ma question initiale.

    D’abord il y a les enfants issus de familles de où le père, le grand père, les oncles et les hommes des générations précédentes ont participé comme militaires à la construction de l’empire prusse. Ils savaient ce qu’est la guerre parce qu’il s’agit du métier familial. Ils en apprennent l’essentiel comme les enfants de la grande bourgeoisie apprennent à se faire servir. Pourtant ceux que je connaissait envisagaient une carrière d’ingenieur ou d’enseignant au destin de soldat.

    Pour les autres vouloir rejoindre la Bundeswehr alors qu’il n’y avait pas de service obligatoire signifiait remplir plusieurs conditions. Il fallait n’avoir aucune idée précise sur l’acte de tuer et posséder un maximum de patriotisme romantique. Les pères et grand pères ne leurs avaient pas expliqué comment c’était quand tu marchais au milieu de dizaines de milliers de cadavres après la bataille de Berlin et comment tu te sentais quand tu descendait dans les tunnels de train submergés en dessous du centre ville où flottaient par milliers les corps des gens qui y avaient essayé à s’abriter des bombes et grenades. Il fallait surtout être capable de croire en quelque chose de plus grand que toi qui justifie tout acte de batbarie : la patrie, ton peuple ton Führer, dieu et ton père.
    Très jeune déjà je savait que c’était une erreur. Après avoir vécu sous les nazis mes parents m’avaient montré qu’il ne fallait rien croire qu’on avait pas étudié et décidé soi même, il ne fallait jamais obéir les fausses autorités et il ne fallait surtout jamais se faire des illusions sur le collectif. On ne te fait jamais cadeau des bonnes choses, ils t’arrivaient uniquement parce que c’est toi qui les a compris, décidé et réalisé. Il faut détester les armes et comprendre que la meilleure manière de survivre ce n’est pas combattre où sifflent les balles mais courir aussi loin que possible des champs de bataille.

    Bref, pour devenir un bon apprenti tuer il faut accepter à être comme tout le monde.

    The resistance to the close-range killing of one’s own species is so great that it is often sufficient to overcome the cumulative influences of the instinct for self-protection, the coercive forces of leadership, the expectancy of peers, and the obligation to preserve the lives of comrades.

    The soldier in combat is trapped within this tragic Catch-22. If he overcomes his resistance to killing and kills an enemy soldier in close combat, he will be forever burdened with blood guilt, and if he elects not to kill, then the blood guilt of his fallen comrades and the shame of his profession, nation, and cause lie upon him. He is damned if he does, and damned if he doesn’t.

     Il n’y a que les psychopathes, les tueurs nés, qui échappent à cet problème incontournable. Pour les autres les armées modernes ont développée des méthodes de vaccination au dela de l’entrainement répétitif traditionnel. Ces inventions ne protègent les soldats que provisoirement. En fin de carrière chaque soldat qui aura vidé son réservoir de bravoure au combat finira avec des sequelles et blessures incurables.

    La notion significative introduite par Grossman s’appelle « wind of hate ». Ce vent de haine émanant des unités de vrais tueurs, qu’il s’agisse de tueuer nés ou conditionnés n’a pas d’importance, fait une impression débilitante sur l’ennemi qui prend la forme de maladie psychique s’il y est exposé trop long.

    La situation de combat militaire n’est finalement qu’une forme radicalement plus intense de nos rencontres agressives au travail ou dans notre vie privée pour certains.

    On Killing: The Psychological Cost of Learning to Kill in War and Society
    Author(s): Dave Grossman
    Publisher: Open Road Media, Year: 2014
    ISBN: 0316040932

    #soldats #psychologie #guerre

  • Giá mas, Moskau! Wie griechische Reeder vom Ukraine-Krieg profitieren
    https://www.telepolis.de/features/Gia-mas-Moskau-Wie-griechische-Reeder-vom-Ukraine-Krieg-profitieren-896445

    15.4.2023 von Wassilis Aswestopoulos - Fünf großen Schiffseigner transportieren Öl und Gas aus Russland. Nun erhöhen Kiew und der Westen den Druck. Was hinter der Untätigkeit Athens steht.

    Der Krieg in der Ukraine war für einige Unternehmen bisher lukrativ. Mineralölkonzerne etwa verzeichnen Rekordgewinne. Zu den Kriegsgewinnlern zählen aber auch Unternehmer, die weiterhin Geschäfte mit der vom Westen wegen des Angriffskrieges geächteten Russischen Föderation machen. Und dazu gehören griechische Reeder und zypriotische Finanzdienstleister. Die Ukraine verlangt, dass diese Geschäfte eingestellt werden.

    Im Fall der Finanzdienstleister, die auf Zypern russischen Oligarchen helfen, ihr Kapital vor dem Zugriff der USA und Großbritanniens in Sicherheit zu bringen, zieht sich die Schlinge zu. Die USA haben Sanktionen gegen internationale Unternehmen verhängt, darunter 39 natürliche und juristische Personen, die die Geschäfte russischer Oligarchen „ermöglicht“ haben.

    Die insgesamt gut 2.000 Seiten umfassende jüngste Sanktionsliste des US-Finanzministeriums vom 12. April ist öffentlich zugänglich.

    Die britische Regierung geht gegen Geschäftspartner der russischen Oligarchen Roman Abramowitsch und Alischer Usmanow vor. Sie sanktioniert auch zwei der einflussreichsten zypriotischen Finanzberater: Demetris Ioannides und Christodoulos Vassiliades.

    Dem Juristen Vassiliades wird vorgeworfen, ein Netzwerk von Stiftungen und Briefkastenfirmen aufgebaut zu haben, um Usmanovs Vermögen zu verschleiern.

    Ioannides soll mehr als 760 Millionen Pfund Abramowitschs vor dem Zugriff der Sanktionen versteckt haben. Allein wegen ihrer Arbeit für Abramowitsch stehen zehn Zyprer auf der Sanktionsliste.

    Die neue zypriotische Regierung will bei Sanktionen gegen Putin-Unterstützer eng mit den USA zusammenarbeiten.

    Druck auf fünf griechische Reeder

    Ähnliche Sanktionen fordert Kiew gegen griechische Reeder, die Putins fossile Energieträger verschiffen. Wie Anfang April bekannt wurde, wandte sich die Behörde für maritime Angelegenheiten der ukrainischen Regierung am 8. März an das Büro von Premierminister Kyriakos Mitsotakis sowie an fünf Reedereien.

    Dabei drohte die Behörde mit Sanktionen wegen der Finanzierung und Unterstützung des russischen Angriffskrieges. Die fünf Reedereien – TMS-Tanker von Giorgos Oikonomou; Dynacom-Tanker von Giorgos Prokopiou; Minerva Marine von Andreas Martinos; Thenamaris von Nikolas Martinos sowie Delta-Tanker von Diamantis Diamantis – stehen auf einer Liste der ukrainischen Regierung als mögliche Sanktionskandidaten.

    Prokopiou und seine Dynacom sind in Deutschland keine Unbekannten. Der griechische Tycoon war einer der Schlüsselpersonen, die Bundeswirtschaftsminister Roland Habeck die schnelle Fertigstellung des deutschen Flüssigerdgas-Terminals ermöglichten. Von ihm hat die Bundesrepublik zwei der insgesamt vier LNG-Terminals gechartert.

    Doch Griechenland befindet sich im Wahlkampf. Es ist daher unwahrscheinlich, dass sich die griechische Regierung offen mit den mächtigen Reedern anlegen wird. Zu groß ist ihr Einfluss und zu sehr sind sie – wie etwa die in der Verfassung verankerte weitgehende Steuerfreiheit belegt – selbst Staat im Staat.

    Der damalige Vorsitzende des Reederverbandes, Panos Laskaridis, hat dies in dem 2011 erschienenen Dokumentarfilm Black Trail von Micael Pereira drastisch zum Ausdruck gebracht. Black Trail thematisiert das weltweit rücksichtslose Verhalten von Reedereien und Kreuzfahrtveranstaltern im Kontext der Klimakatastrophe und stellt dem die Untätigkeit staatlicher Behörden und Ministerien gegenüber.

    Laskaridis kommentierte dies mit den Worten: „Die Reeder können auf die Ministerpräsidenten scheißen“. Daraufhin musste er auf Druck seiner Kollegen sein Amt als Vorsitzender niederlegen. Von der griechischen Regierung gab es dazu keine Stellungnahme.

    Bereits Ende 2021 war Laskaridis wieder willkommener Partner der Regierung bei gemeinsamen Projekten, etwa bei der Neugestaltung der verwüsteten Regionen nach dem verheerenden Waldbrand im Sommer 2021 auf der Insel Euböa. (Wassilis Aswestopoulos)

  • KI und GPT: Tschüss, ihr Nutzlosen!
    https://www.telepolis.de/features/KI-und-GPT-Tschuess-ihr-Nutzlosen-8949538.html?seite=all

    14.4.2023 von Philipp Fes - Bedroht Künstliche Intelligenz millionenfach Jobs und gar die „menschliche Zivilisation“? Oder geht es wieder nur um mehr Kontrolle? Hier eine kritische Zwischenbilanz.

    Vor wenigen Tagen ist Gordon Moore gestorben. Wer die extrem schnellen Entwicklungen in der sogenannten digitalen Revolution versinnbildlichen will, bedient sich gerne des Gesetzes, das der Intel-Mitgründer 1965 aufstellte.

    „Moores law“ besagt (grob), dass sich die Leistung eines Computerchips rund alle zwei Jahre verdoppelt. Exponentielles Wachstum. Dessen Zeuge werden wir derzeit auch bei der Künstlichen Intelligenz (KI, engl.: AI) und dem sogenannten Deep Learning.
    Der heilige Gral und das neue Millionen-Prekariat

    Zumindest legt die beeindruckend rasante Entwicklung der Programme Chat-GPT (Generative Pre-trained Transformer) und dessen Nachfolger GPT-4 dies nahe. Steckte das im November 2022 veröffentlichte Chat-GPT bei der US-Zulassungsprüfung für Juristen (Uniform Bar Exam) bereits zehn Prozent der Teilnehmer in die Tasche, schaffte GPT-4 einige Monate später schon ganze 90 Prozent. Bei der Biologie-Olympiade übertraf es sogar 99 Prozent seiner menschlichen Mitbewerber. Und GPT-5 ist bereits unterwegs.

    Open AI, das Unternehmen mit Hauptsitz in San Francisco, welches GPT-4 Mitte März veröffentlicht hat, verspricht eine gegenüber dem Vorgänger bessere Anpassung an die menschlichen Bedürfnisse ("alignment") und mehr faktenbasierte Antworten. Vorgänger Chat-GPT hatte schließlich noch recht viele „Halluzinationen“, sprich: Es baute syntaktisch sinnvolle Sätze mit falschen Informationen und Zitaten zusammen. Man könnte auch sagen: Lügen.

    Mit solchen Kinderkrankheiten soll es aber bald zu Ende sein. Wenn die sogenannte „generative“ (oder auch: statistische) KI von GPT mit einer „symbolischen“ KI gepaart wird, die nicht nur Satzbau, sondern auch Logik modelliert, erscheint für manche Beobachter schon der heilige Gral der Informatik am Horizont: Die technologische Singularität – der Zeitpunkt, an dem die Künstliche Intelligenz die menschliche vollständig übertrifft. Doch zunächst folgt eine Zwischenetappe, in der AI zu AGI wird.

    AGI steht für „artificial general intelligence“, also eine (summarische) Superintelligenz, die selbstreflektiert, beziehungsweise, wie es im englischsprachigen Raum heißt, „sentient“, also: empfindungsfähig, ist. Einer solchen Entität schreibt Open-AI-CEO Samuel Altman die Kraft zu, das System des Kapitalismus zu zerstören. Und sieht man nicht schon erste Anzeichen dafür?

    Meta-CEO Marc Zuckerberg kündigte am Datum des Erscheinens von GPT-4 im Zuge einer „Effizienz“-Initiative an, 10.000 Stellen zu streichen und 5.000 weitere nicht neu zu besetzen. Im gleichen Atemzug ließ er seine Facebook-Gefolgschaft wissen, dass der Großteil der Investitionen in KI-Automatisierung fließt. Zwei Tage danach berichtet das Magazin Business Insider von einer Entlassungswelle im IT-Sektor, die seit Anfang 2022 insgesamt 200.000 Stellen umfasst.
    Voraussage Weltwirtschaftsforum: 85 Millionen Entlassungen

    Hatte das Weltwirtschaftsforum 2020 bereits prognostiziert, dass aufgrund des Fortschritts der sogenannten Vierten Industriellen Revolution bis 2025 insgesamt 85 Millionen Entlassungen bevorstünden, legte die umstrittene Investmentbank Goldman Sachs am 26. März mit noch weitaus erschütternden Zahlen nach.

    Demnach könnte KI alleine in den USA und Europa rund ein Viertel aller Stellen vollständig und zwei Drittel teilweise ersetzen. Betroffen seien insgesamt 300 Millionen Arbeitsplätze. Gleichzeitig verspricht die KI, das weltweite Bruttosozialprodukt um sieben Prozent zu erhöhen.

    Zu den am meisten betroffenen Jobs zählen laut der Goldman-Analyse „repetitive“ Büro- und Verwaltungstätigkeiten (46 Prozent), Juristische Dienstleistungen (44 Prozent) sowie die Tätigkeiten von Architekten und Ingenieuren. Am wenigsten gefährdet sind demnach Reinigungs- und Wartungsarbeiten (ein Prozent), Installations- und Reparaturberufe (vier Prozent) sowie die Arbeit auf dem Bau (6 Prozent).

    Besteht aber vielleicht gar kein Grund, sich Sorgen zu machen?
    Eigentum – Sache der Elite oder der Algorithmen?

    Das suggeriert jedenfalls die WEF-Prognose von 97 Millionen neuen Jobs, die im Zuge der KI-Automatisierung entstehen – also 12 Millionen mehr, als entfallen. Eine kürzlich erschienene Studie, die Business Insider zitiert, rechnet allerdings damit, dass sogenannte Large Language Modules (LLMs) wie GPT-4 deutlich mehr Tätigkeiten aufmischen, als weithin angenommen.

    Dazu zählen besonders Jobs im „Telemarketing“, aber auch weniger naheliegende Jobs wie Lehrberufe – etwa für (Fremd-)Sprachen und Geschichte. Wenn man liest, dass die Kleidungsmarke Levi’s mit KI-generierten Models experimentiert, „um für mehr Diversität zu sorgen“ regt das die Fantasie für Jobverluste zusätzlich an.

    Der israelische Historiker Yuval Noah Harari hat 2017 in gewohnt provokanter Weise von einer „neuen Klasse der Nutzlosen“ gesprochen, die die „KI-Revolution“ hervorbringen wird – die Konnotation mit „nutzlosen Essern“ ist unüberhörbar und auch das sogenannte „lebensunwerte Leben“ im Nationalsozialismus schwingt im Echo mit. Harari stellt zwei neue Gesellschaftsmodelle zur Debatte:

    Wenn Algorithmen Menschen aus dem Arbeitsmarkt verdrängen, könnten sich Reichtum und Macht in den Händen einer winzigen Elite konzentrieren, die im Besitz der allmächtigen Algorithmen ist, was zu einer noch nie dagewesenen sozialen und politischen Ungleichheit führt. Alternativ könnten die Algorithmen selbst zu den Eigentümern werden.

    Um die „überflüssigen“ humanen Ressourcen aufzufangen, führen zahlreiche Debatten-Teilnehmer ein bedingungsloses Grundeinkommen ins Feld. Der Think-Tank Demos Helsinki, bekannt für das Szenario der Algorithmen-gesteuerten „post-voting-society“, hat in Finnland bereits mit dem „tragfähige[n] Konzept zur Existenzsicherung im digitalen Zeitalter“ (Vgl. Smart City Charta) experimentiert.

    Während der Corona-Krise 2020 sprachen sich in einem Beitrag für das WEF die stellvertretende UN-Generalsekretärin Kanni Wignaraja und sogar der Papst für ein „universal basic income“ (UBI) aus.

    Zahlreiche Kritiker warnen dagegen vor einem Einfallstor für ein Sozialkreditsystem nach chinesischem Vorbild. Und zuletzt wurden auch noch andere Gründe gegen GPT angeführt.
    Kritik aus den eigenen Reihen

    Einer davon betrifft schlicht die (personenbezogenen) Daten, die sich das Programm zum „training“ massenhaft einverleiben muss. Italien sagt kürzlich nein zu GPT-4, und auch der deutsche Datenschutzbeauftragte Ulrich Kelber behält sich offenbar vor, dem US-Unternehmen die rote Karte zu zeigen.

    Den großen Warnschuss gegen die Technologie als solche gaben aber vergangene Woche das Future of Life Institute und die Unterzeichner von dessen offenem Brief ab (Telepolis berichtete).

    Die Unterzeichner um Tesla-Chef Elon Musk, namhafte Szenegrößen wie KI-Theoretiker Stuart Russell, Apple-Mitgründer Steve Wozniak, Deep-Learning-Pionier Yoshua Bengio (der auch im Beirat von Open AI sitzt) wie auch Programmierer aus Googles konkurrierender KI-Schmiede DeepMind warnten vor einem gefährlichen Übereifer bei der weiteren Entwicklung Künstlicher Intelligenz und forderten einen sechsmonatigen Stopp, um das Risiko eines totalen „Kontrollverlusts“ gebührend auszuloten.

    Auch Yuval Noah Harari hat unterzeichnet. Seine Unterschrift verwundert vielleicht aber weniger als die von Elon Musk, dessen Stiftung mit 3,5 Millionen Dollar 2021 der größte Geldgeber des Future of Life Institute ist.

    Musk, dessen Großvater Joshua Haldeman Mitglied bei Technocracy Incorporated war, einer Bewegung, die für eine radikale Umstrukturierung der kanadischen und US-amerikanischen Gesellschaftssysteme „auf wissenschaftlicher Basis“ eintrat – und sich im Übrigen auch für ein bedingungsloses Grundeinkommen starkmachte.

    Musk, der selbst mit seinem Unternehmen Neuralink am ethischen Grenzbereich der KI- beziehungsweise Computer-Gehirn-Schnittstellen forscht.

    Und vor allem: Musk, der Open AI mit ins Leben gerufen hat – unter anderen zusammen mit dem Palantir-Gründer und ehemaligen Paypal-Partner Peter Thiel, LinkedIn-Mitgründer Reid Hoffman und Gründerzentrum Y Combinator-Mitgründerin Jessica Livingston.

    In diesem Punkt agiert Musk allerdings überaus konsequent: Denn die Open-AI-Truppe ist damals genau dazu angetreten, was er als Unterzeichner des offenen Briefs nun einfordert: Den Worst Case in puncto KI zu verhindern. Kehren wir dafür kurz zurück ins Jahr 2015.
    Die verworrene Geschichte von Open AI: Von „Offenheit“ zum Profit

    Open AI wird in San Francisco als Non-Profit-Unternehmen gegründet, das im Auftrag der Allgemeinheit die Künstliche Intelligenz erforschen soll – deren Möglichkeiten, vor allem aber auch deren Grenzen. So heißt es im Gründungsmanifest:

    Es ist schwer vorstellbar, wie sehr eine KI auf menschlichem Niveau der Gesellschaft nützen könnte, und es ist ebenso schwer vorstellbar, wie sehr sie der Gesellschaft schaden könnte, wenn sie falsch gebaut oder eingesetzt wird.

    Der Forschungsetat in Höhe von damals einer Milliarde Dollar setzt sich aus Spenden der Unterzeichner zusammen, zu denen neben den Gründern Musk und Thiel auch die indische Softwarefirma Infosys und Amazons Cloud-Sparte Amazon Web Services zählen. Die nichtkommerzielle Ausrichtung benennen die Gründer im Manifest als wesentliche Voraussetzung dafür, sich auf „den positiven Einfluss [der KI] auf die Menschheit“ zu konzentrieren.

    Das „open“ im Namen bezog sich zum einen darauf, dass die aus der Forschung heraus entstandenen Anwendungen der Allgemeinheit zur Verfügung gestellt werden sollten, zum anderen auf den offenen Quellcode (open source), der es Software-Entwicklern erlauben sollte, die Programmierung nachzuvollziehen – und so auch mögliche Manipulationen und Trojaner aufzuspüren. Ab 2018 wurden diese hehren Ziele jedoch allmählich über Bord geworfen.

    Moderne Entwicklungen auf dem Gebiet der Künstlichen Intelligenz bedürfen einer exorbitanten Rechenleistung. Im April 2018 erklärt Mitgründer Greg Brockman, dass Open AI „substanzielle Ressourcen“ anzapfen müsse, um seinem Auftrag gerecht zu werden. Dabei würden potenzielle Interessenkonflikte gegenüber der Gemeinnützigkeit stets „sorgfältig“ geprüft. Zwei Monate zuvor ist Elon Musk aus Open AI ausgestiegen. Warum?

    Eindeutige Stellung bezogen hat Musk dazu nie. 2019 führte er in einem Tweet unter anderem Interessenkonflikte mit Teslas KI-Forschung an. Außerdem sei er „mit manchem, was [das] Open AI Team machen wollte, nicht einverstanden gewesen“. Später bemängelte er zudem die „Sicherheit“ von GPT und Co.

    Trotzdem sicherte der Tesla-Chef dem Unternehmen weiter finanzielle Unterstützung zu (die dann aber nicht mehr erfolgte, insgesamt spendet der gebürtige Südafrikaner „nur“ 100 Millionen). Seine Firma Neuralink teilte sich noch 2019 mit Open AI sogar denselben Standort. Und dann ist da noch die Open AI-Direktorin, mit der Musk zwei Kinder hat.

    Einige bezweifeln, dass Tesla der wahre Grund für Musks Ausstieg war. Manche beziehen sich dabei auf einen brisanten Bericht des Internetportals Semafor, demzufolge Musk 2018 vorschlug, Open AI selbst zu übernehmen. Nur, weil er an der Ablehnung der Mitgründer scheiterte, soll er den Vorstand schließlich verlassen haben.

    Mitte Februar 2023 erklärte der Twitter-Chef auf der mittlerweile eigenen Plattform, dass Open AI von dem Grundgedanken abgerückt sei, den er unterstützt habe:

    OpenAI wurde als quelloffenes (deshalb habe ich es „Open“ AI genannt), gemeinnütziges Unternehmen gegründet, um als Gegengewicht zu Google zu dienen, aber jetzt ist es ein Closed-Source-Unternehmen mit maximaler Gewinnspanne geworden, das effektiv von Microsoft kontrolliert wird.

    Tatsächlich kehrt sich Open AI 2019 von seinem Ursprungsmodell ab. Die Investigativjournalistin Karen Hao hat den Werdegang des Unternehmens von der Gemeinnützigkeit zum Profit-Betrieb in einem Artikel für das MIT Technology Review minutiös nachgezeichnet.

    Der Grund für die Hinwendung zum Profit-Modell liegt Semafor zufolge in der Erfindung von Google Brains „Transformer“-System – einem neuronalen Netzwerk, das 2017 einen enormen Durchbruch für LLMs bedeutete (Aus diesen ging schließlich Googles LaMDA, Language Model for Dialogue Applications, hervor – das System, von dem Entwickler Blake Lemoine behauptete, es sei empfindungsfähig).

    Wenn Open AI wettbewerbsfähig bleiben, will, muss es die KI mit massenweise Daten füttern. Und dafür braucht es Rechenleistung. Womit wir wieder beim Geld wären. Und das kommt.

    Ohne Microsofts Milliarden kein GPT

    Im Juli kündigt Open AI an, dass Microsoft eine Milliarde Dollar investiert, um den Traum von der AGI zu erfüllen.

    Microsoft stellt Open AI einen Supercomputer zur Verfügung, der auf seinem Cloud-Dienst Azure basiert. Er verfügt über genug Rechenkapazität, um die immer komplexeren KI-Modelle zu stützen und zu trainieren.

    Die Maschine frisst Geld, und nach einer weiteren Investition von zwei Milliarden kündigt Microsoft Anfang Januar 2023 an, Open AI mit nicht weniger als zehn Milliarden Dollar zu unterstützen. Unbestätigten Gerüchten zufolge im Austausch für 49 Prozent Beteiligung und 75 Prozent Gewinne des Unternehmens aus San Francisco, das inzwischen ganze 29 Milliarden Dollar schwer ist.

    Das alles nicht umsonst: Microsofts CEO Satya Nadalla rechnet laut einem im Januar erschienenen Artikel der New York Times damit, dass innerhalb der kommenden drei Jahre zehn Prozent aller Daten KI-generiert sind ("smart data"), was Azure einen Profit von geschätzt sieben Milliarden Dollar einbringen wird. Außerdem schielt Microsoft mit der Verknüpfung von GPT und der Suchmaschine Bing darauf, Platzhirsch Google vom Markt zu verdrängen.

    Trotzdem verpflichtet sich Open AI im Februar 2023 weiterhin einem „dezentralisiert[en]“ und „demokratisiert[en]“ Ansatz. Schließlich reichen die Anwendungsgebiete der künftigen Super-KI weit in den öffentlichen Bereich hinein:

    Wir wollen, dass AGI mit den Menschen zusammenarbeitet, um derzeit unlösbare multidisziplinäre Probleme zu lösen, einschließlich globaler Herausforderungen wie Klimawandel, erschwingliche und hochwertige Gesundheitsversorgung und personalisierte Bildung.

    Doch die sogenannten Smart Cities und Co. sind ein anderes Thema.

    Problematische Programmierungen

    Ende 2022 nannte Musk einen weiteren Grund, warum er der Entwicklung von Open AI skeptisch gegenüberstehe: Das „alignment“. Der überzeugte Konservative kritisierte gemeinsam mit rechten Reizfiguren wie Ben Shapiro, dass GPT trainiert werde, „woke“ zu sein. In diesem Kontext nannte er die Nutzungsbedingungen von ChatGPT, die unter anderem das Verbreiten von Desinformation und anstößigen oder verletzenden Inhalten verbieten. Ein Beispiel?

    Die Software „weigerte“ sich etwa mit dem Verweis auf verbotenen „politischen, voreingenommenen oder parteiischen“ Inhalt, ein „positives“ Gedicht über Donald Trump zu verfassen. Eines über Joe Biden ging ihr dagegen leicht von den virtuellen Lippen.

    Ende Februar berichtete das Online-Magazin The Information, dass Musk nun sein eigenes, „anti-wokes“ Open AI aufbauen will. Laut Mitgründer Brockman, der Musks Kritik überraschenderweise teilt, sei das ohnehin immer Musks Wunsch gewesen.

    Wie Roland Benedikter in seinem jüngsten und hochinformativen KI-Dreiteiler für Telepolis schreibt, werden Open AI und GPT die Vorwürfe der Voreingenommenheit auch von internationaler Seite gemacht: China blockiert das LLM aus San Francisco als „Propagandainstrument“ – und arbeitet derweil an einer eigenen Konkurrenz-KI.

    Noch mehr Kontrolle durch eine neue Form des Positivismus?

    Die philosophischen und gesellschaftlichen Probleme und Fragestellungen, die sich durch eine AGI ergeben, sind weitreichend. Zu weitreichend, als dass sie hier im Einzelnen besprochen werden können. Und zu früh ist es auch. Denn vieles spricht dafür, dass der uns blendende Hype selbst aus einem „Verblendungszusammenhang“ heraus erwachsen ist.

    Und das nicht nur, weil manche Experten wie der britische Computerwissenschaftler Mike Pound bestreiten, dass – wie bei LaMDA behauptet – die Zusammensetzung sinnvoll erscheinender Versatzstücke mit tatsächlichem Sinnieren gleichgesetzt werden kann und den KI-Hype zunehmend als Marketing-Kampagne wahrnehmen.

    Wie Benedikter auf Telepolis schreibt, ist die übermenschliche KI zuallererst ein Versprechen. Das „systemintegrierende Potenzial“ erlaube es ihr, jeden noch so kleinen Teil des Alltags einem „technologischem Pragmatismus“ nachzuordnen, aus dem sie letztlich entstanden ist. KI ist das Versprechen der Beherrschung, der „Entzauberung“ der Welt, wie Max Weber es genannt hat. Das ist des Pudels Kern.

    Denn mit dem Glauben (denn mehr ist es derzeit noch nicht) an die Allmacht der KI bildet sich eine neue Form des Positivismus heraus, also der Welterschließung, deren Wahrheiten sich alleine auf wissenschaftlich – also: technisch – überprüfbare Analysen stützen: Nur, was gemessen werden kann, ist. Und was nicht gemessen werden kann, ist nicht. Oder zumindest nicht wissenschaftlich. Nicht rational. Fauler „Zauber“.

    Der Kritischen Theorie und ihren Vertretern (Horkheimer, Habermas und Co.) ist der Positivismus zur Antithese geworden, weil er der Emanzipation des Menschen von der reinen Zweckmäßigkeit zuwiderläuft. Der technische Fortschritt speist sich dagegen vielmehr daraus, dass immer mehr „Lebenswelt“ in zweckmäßige „Systeme“ integriert wird. Oder, wie es bei Herbert Marcuse etwas radikaler heißt1:

    Demgemäß ist der Positivismus ein Kampf gegen alle Metaphysiken, Transzendentalismen und Idealismen als obskurantistischen und regressiven Denkweisen.

    Die „Ideologie“, die Marcuse beschreibt, heißt bei Adorno und Horkheimer „instrumentelle Vernunft“, Habermas nennt sie später beim Namen: „Technik und Wissenschaft“. Wolfgang Streeck schreibt noch später von „technokratischen Steuerungsmodellen“. Es ist kein Zufall, dass die Kybernetik (gr. kybernan = „steuern“) am Ursprung des Informationszeitalters und dem Cyber-Space steht.

    „Technologie birgt eine Affinität zum Positivismus“, muss auch der Technikphilosoph Andrew Feenberg rund 60 Jahre nach Adorno und Horkheimer bekennen. Dass wir uns mit der Technik eine „zweite Natur“ errichten (Vgl. Georg Lukacs), eine „virtual reality“, führt dazu, dass wir nur technisch Erschlossenes als wahr annehmen.

    Um also endlich zum Thema zurückzukommen: Was die KI nicht kennt, ist irrelevant, gibt es nicht. Das führt spätestens zu Problemen, wenn – wie in der Ukraine gewünscht – die KI die Rolle des Richters übernimmt.

    „[Wissenschaftliche] Aufklärung ist totalitär“, „[Wissenschaftliche] Aufklärung schlägt in Mythologie zurück“, heißt es bei Adorno und Horkheimer 1944. Man könnte auch sagen: Wissenschaftliche Aufklärung verdrängt ihren blinden Fleck, das, worüber sie hinwegsieht. Doch was sie ausschließen will, holt sie ein: Religion. Und so kommt es, dass die neuen KI-Propheten esoterische Ganzheitlichkeit mit totaler Kontrolle verwechseln.

    Die Kritische Theorie wirft zwei Fragen auf, die sich bei jeder einzelnen technologischen Erfindung zu stellen lohnen: Wie viel „Lebenswelt“ wollen wir dieser Kontrolle opfern, und – vielleicht noch wichtiger – wer darf darüber entscheiden?

  • Die USA auf dem Weg in den orwellschen Staat
    https://www.telepolis.de/features/Die-USA-auf-dem-Weg-in-den-orwellschen-Staat-8926246.html?seite=all

    Tikto menace Facebook et Twitter. Est-ce que la défense des intérêts des géants de la Silicon Valley constitue la véritable raison pour le projet de loi « Reset » ?

    11.4.2023 von Rüdiger Suchsland - Mediensplitter (23): „Das jedem sollte jedem US-Amerikaner einen Schauer über den Rücken jagen.“ CNN zum geplanten TikTok-Verbot, bei dem antichinesische Propaganda dominiert und sich ein autoritärer Staat abzeichnet.

    „Reset“ lautet der Titel eines neuen Gesetzes, das die US-Regierung plant und das sie sehr direkt auf ein mögliches Verbot von TikTok zugeschnitten hat, jener chinesischen App, die als Plattform für Kurzvideos zu den beliebtesten Sozialen Medien der Welt gehört.

    Fareed Zakaria macht sich deshalb Sorgen:

    Wenn ich mir die vorgeschlagene Gesetzgebung anschaue, die es der US-Regierung ermöglichen würde, TikTok zu verbieten, sehe ich ein beängstigendes, orwellsches Gesetz, das jedem Amerikaner einen Schauer über den Rücken jagen sollte.

    Zakaria ist nicht irgendjemand: Der Politikwissenschaftler mit indischen Wurzeln ist außenpolitischer CNN-Experte mit wöchentlicher eigener Sendung – „Fareed Zakaria GPS“ – und damit einer der führenden politischen Kommentatoren der USA.
    „Leider ist es viel schwieriger, gegen Big Tech vorzugehen, als China zu beschimpfen“

    Vor allem hat er Argumente, die nicht leicht von der Hand zu weisen sind: Das geplante Verbot wird damit begründet, TikTok sei in chinesischem Besitz und könnte gezwungen werden, seine Daten der chinesischen Regierung zu übermitteln – dafür, dass dies jemals geschehen ist, gibt es allerdings keinen Beweis.

    Allerdings könnte Peking solche Daten längst mit anderen Mitteln sammeln, wenn es das wirklich will. Zudem: Alle Apps sammeln in irgendeiner Form persönliche Nutzerdaten. Unter ihnen sind viele, Forschern zufolge, weit größere Datenkraken und solche, die auch sonst gefährlicher als TikTok sind.

    Wer in den USA den App-Informationstransfer verbieten will, könnte das übrigens sehr einfach tun, indem man dort den strengeren Datenschutzbestimmungen Europas folgen würde. „Leider“, so Zakaria, „ist es viel schwieriger, gegen Big Tech vorzugehen, als China zu beschimpfen“.

    Auch der Vorwurf, TikTok könne zur Verbreitung chinesischer Propaganda gebraucht werden, ist leicht zu relativieren, wenn man sich klarmacht, dass in den USA der staatliche chinesische Fernsehsender CCTV (ebenso wie viele andere Fernsehsender im Besitz ausländischer Staaten) uneingeschränkt senden darf.

    „Wenn wir TikTok verbieten, werden wir dann auch chinesischen Medienunternehmen verbieten, Flugblätter oder Bücher in den Vereinigten Staaten zu verbreiten?“, fragt Zakaria rhetorisch.

    Das neue Gesetz würde der US-Regierung „praktisch unbegrenzte Befugnisse geben, um jedes Unternehmen zu verhindern oder zu bestrafen, das Technologie- oder Informationsprodukte oder -dienste anbietet, die nach Ansicht der Regierung ein ’unangemessenes oder inakzeptables Risiko für die nationale Sicherheit der USA oder die Sicherheit von US-Bürgern’ darstellen“.

    Die Prämisse einer offenen Gesellschaft ist, dass die Menschen frei sein sollten, die Informationen zu konsumieren, die sie wollen, wird mit so einem Gesetz mit Füßen getreten.
    Die USA werden autoritären, postdemokratischen Staaten immer ähnlicher

    Das politische Argument gegen das Gesetz ist aber noch ein anderes und geht tiefer ins Grundsätzliche: Zensur und Regulierung sind freiheitsfeindlich und müssen in demokratischen Gesellschaften in jedem Einzelfall gut begründet werden.

    Zakaria verweist auf die Zensur Hunderter von Büchern in US-amerikanischen Bundesstaaten. Dort wird Literatur wie Margaret Atwoods autoritätskritischer dystopischer Roman Handmaids Tale wegen „problematischer Themen“ ebenso aus öffentlichen Bibliotheken verbannt wie Aldous Huxleys Brave New World.

    Zur Liste gehört weiter: Kurt Vonneguts Slaughterhouse-Five, Herr der Fliegen von William Golding, Wer die Nachtigall stört von Harper Lee, Peter Pan von James Matthew Barrie, die Hunger Games, Bücher von George Orwell und Roald Dahl, sowie historische Literatur über Rassismus in den USA oder Sachbücher, die über lesbische und homosexuelle Themen aufklären oder von Whistleblowern geschrieben sind.

    Die New York Public Library hat eine Liste dieser in den USA blockierten Bücher erstellt und präsentiert diese in elektronischer Form allen Interessenten kostenlos.

    „Wir leben in Zeiten, in denen die Regierungen der Bundesstaaten Hunderte von Büchern verbieten, in denen Sprache als Waffe betrachtet wird und in denen Politiker offen darüber sprechen, gefährliche Ideen zu unterbinden“, beschreibt Zakaria die kulturelle Situation in den USA.

    Derartige Zensurbestrebungen sind wie das geplante TikTok-Verbot nur ein Beispiel dafür, wie die USA autoritären, postdemokratischen Staaten immer ähnlicher werden:

    Sehen Sie sich an, wo wir heute stehen. Wir haben eine zentrale Wirtschaftsplanung mit massiven Subventionen für die Industrie eingeführt, und jetzt schlagen wir drakonische Beschränkungen für den freien Informationsfluss vor.

    Man muss der US-Regierung nicht besonders skeptisch gegenüberstehen, um bei dem Gedanken, ihr noch mehr Macht und derartige Willkürgesetze in die Hand zu geben, zu erschrecken.

    "Stellen Sie sich Donald Trump als Präsident vor, dem diese Instrumente zur Verfügung stehen."

    Nur der Anfang einer größeren Verbotswelle?

    Das TikTok-Gesetz könnte nur der Anfang einer größeren Zensur- und Verbotswelle sein, warnt jetzt das Wall Street Journal. Widerstand gegen das Gesetz regt sich von links wie rechts.

    Manche Sicherheitsexperten fürchten, die Maßnahmen gegen TikTok könnten die nationale Sicherheit der USA erst recht untergraben.

    Ist damit Tiktoks Zeit abgelaufen? Ende März war der Geschäftsführer der Social-Media-App, Shou Zi Chew, in Washington zu einem scharfen Verhör im US-Kongress. Immerhin sind mehr als 100 Millionen Amerikaner auch TikTok-Nutzer, sie alle müssen derzeit fürchten, dass die Plattform aufgrund von „Sicherheitsbedenken“ verboten wird. Die Konkurrenz im kalifornischen Silicon Valley hofft derzeit voraus den Rivalen loszuwerden. Mit jeder neuen Wortmeldung aus dem Capitol Hill wuchsen zuletzt die Aktienkurse von Pinterest, Snap und Meta.

    Seit seinem Markteintritt in den USA, vor weniger als sechs Jahren seiner Existenz, hat TikTok die Welt der älteren Sozialen Netzwerke abgelöst und Kommunikation mit Worten und Bildern durch die mit algorithmisch ausgesuchten Kurzvideos ersetzt.

    Vor allem Jugendliche sind begeistert: US-Amerikaner im Alter von 18 bis 24 Jahren verbringen eine Stunde pro Tag auf TikTok, doppelt so lang wie auf Instagram und Snapchat und mehr als fünfmal so lang wie auf Facebook. Im vergangenen Jahr verzeichnete TikTok mehr Website-Besuche als Google und mehr Sehminuten in den Vereinigten Staaten als YouTube. Facebook brauchte fast neun Jahre, um eine Milliarde Nutzer zu erreichen, TikTok schaffte es in fünf Jahren.

    In der Folge dieser Erfolgsgeschichte haben Kurzvideos die sozialen Medien erobert. 40 von 64 Minuten Social-Media-Nutzung entfallen heute auf Videos, 2019 waren es noch 28 Minuten. Zugleich sinken die Profite. TikTok ist auf Verbilligungsgenerator: Während Instagram über 200 Dollar pro Nutzer einnimmt, sind es bei TikTok unter 70 Dollar

    Facebook-Gründer Mark Zuckerberg äußerte hierzu zuletzt ganz offen:

    Currently, the monetisation efficiency of Reels is much less than Feed, so the more that Reels grows…it takes some time away from Feed and we actually lose money.

    Übersetzung:

    Derzeit ist die Monetarisierungseffizienz von Reels viel geringer als die von Feed, d.h. je mehr Reels wächst, desto mehr Zeit wird von Feed abgezogen und wir verlieren Geld. (Anmerkung: Mit Reels sind die Videos gemeint, mit Feed die Texte.)
    Mark Zuckerberg

    Wer hat Angst vor TikTok?

    Der Hype um TikTok ist also gerechtfertigt, aber sind es auch die Ängste der staatlichen Überwachungsinstanzen? Wer hat Angst vor TikTok?

    Schon vor einem knappen Jahr schrieb der Economist über „eine dunkle Seite“ der App, weil die Regierung von deren Hauptsitz in China „sich der Überwachung und Propaganda verschrieben hat“.

    Beides ist der US-Regierung keineswegs fremd. So nutzte man die „Propaganda-App“ sehr gern, als es während der Pandemie darum ging, Jugendliche dazu zu bewegen, sich gegen Covid impfen zu lassen.

    Jetzt aber könnte TikTok ein trojanisches Pferd der Demokratieunterhöhlung sein. Denn neben lustigem Teeniekram bietet TikTok mehr und mehr auch Nachrichten. Die Möglichkeit für China, das zu manipulieren, was das riesige ausländische Publikum der App sieht, ist einstweilen noch ein unterschätztes Problem.

    Aber bereits ein Viertel der US-amerikanischen Nutzer hält TikTok für eine seriöse Nachrichtenquelle. „In Ländern mit schwächeren Mainstream-Medien liegt der Anteil sogar bei 50 Prozent.“ (Economist)

    Die Suche nach einem Weg, „wie TikTok im Westen sicher operieren kann“, sei „ein Test dafür, ob die globale Wirtschaft und das globale Internet intakt bleiben können“.
    Angemessene Antwort – zwischen „Umarmung und Angst“

    Die widersprüchliche Herangehensweise der Regierung zwischen Umarmung und Angst ist vielleicht die angemessene Antwort auf das völlig einzigartige neue Problem, das TikTok darstellt.

    China dürfte dem Bemühen Washingtons entgegenkommen. Denn auch wenn man die Kontrolle über das Unternehmen nicht an Ausländer abtreten will, muss China anerkennen, dass Anpassungen notwendig sind. Chinas Interesse liegt darin, dass TikTok - und weitere Unternehmen - vom Westen nicht gänzlich ausgeschlossen werden. Nur im eigenen Land China muss man eine Autokratie bleiben, in der der Staat die Wirtschaft kontrolliert.

    Der Informationsfluss in der modernen Welt hält sich allerdings nicht an nationale Gesetze und Machtverhältnisse. Heute können wir Informationen nicht durch Kontrolle daran hindern, staatliche Grenzen zu überschreiten. Das WorldWideWeb ist anarchistisch.

    Die eigentliche Bedrohung durch TikTok liegt nicht in seiner begrenzen Tauglichkeit für Propaganda und Deep-Fakes. TikTok ist ein digitaler Virus, der das Gehirn angreift und dessen Lese- und Schreibzentren zerstört. TikTok und ähnliche Medien werfen uns in eine infantile, tendenziell Analphabeten-Gesellschaft zurück.

    #USA #Tiktok #plateformes #dystopie #relation_publiques #propagande #démocratie #liberté_d_expression

  • Tabu mit Geschichte : Warum gibt es keine politischen Streiks in Deutschland ?
    https://www.telepolis.de/features/Tabu-mit-Geschichte-Warum-gibt-es-keine-politischen-Streiks-in-Deutschland

    On n’espérait même pas que quelques milliers de personnes se rassemblent devant le Bundestag avec le slogan « Bas les pattes sur notre droit de vote ». Le fait que des manifestations comme celles qui ont lieu en Israël ou chez notre voisin français ne soient actuellement pas envisageables en Allemagne n’est pas seulement dû aux rapports de force politiques.

    Ces protestations, y compris les grèves générales politiques, seraient tout simplement illégales en Allemagne et seraient combattues par la police et sanctionnées par les tribunaux.

    cf. https://seenthis.net/messages/995857#message995882

    28.3.2023 von Peter Nowak - Andere Länder, andere Sitten? Streikdemonstration in Paris gegen die Rentenreform. Foto: Roland Godefroy / CC-BY-SA-4.0

    Gründe dafür gäbe es genug. Doch der Einsatz dieses Druckmittels wird durch zwei Dinge verhindert: Durch ein repressives Streikrecht und die verbreitende Ideologie der Standortlogik.

    Wer in den letzten Tagen die Israel-Berichterstattung in den deutschen Medien gelesen hat, hätte denken können, das Land sei durch einen Volksaufstand gerade noch einmal davor bewahrt worden, in eine Diktatur abzugleiten. Da freut man sich über die nüchterne Einschätzung des konservativen Juristen Alan M. Dershowitz im Magazin konkret. Dershowitz, ein Gegner der umstrittenen Justizreform, stellte dort klar, dass auch bei einer Umsetzung der Maßnahmen die israelische Demokratie keineswegs in Gefahr gewesen wäre.

    Da aber durch sie in die Bürgerrechte eingegriffen würde, ist er trotzdem dagegen. Dershowitz zeigte sich in dem konkret-Interview auch verwundert über das obsessive Interesse deutscher Medien an der israelischen Innenpolitik. „Lasst Israel in Ruhe“ ist seine klare Ansage. Die Ereignisse der letzten Tage geben ihm Recht. Eine Massenbewegung setzte der Rechtsregierung Grenzen.

    Dass in der gesamten Auseinandersetzung auch der lange Kampf zwischen den Juden, deren Vorfahren aus Westeuropa kamen und denen aus dem Rest der Welt, eine nicht unwesentliche Rolle spielte, wird dabei oft übersehen. Schließlich hatten die Menschen mit westeuropäischem Hintergrund lange die Politik des Landes bestimmt. Im Parlament sind sie mittlerweile in der Minderheit, daher kämpfen sie so vehement dafür, dass sie zumindest über die Justiz mitreden können.

    Dershowitz hat Recht, wenn er erklärt, dass ein Gericht nicht entscheiden sollte, welcher Minister in einer israelischen Regierung sitzt, wie es bisher geschehen ist. Wenn es hingegen um die Bürgerrechte von Minderheiten geht – und das sind in Israel auch arabische Bürger – sollten die Gerichte sogar noch aktiver und keineswegs eingeschränkt werden.
    Warum keine Proteste gegen Wahlrechtsreform in Deutschland?

    Auffällig ist, dass all die Medien, die sich so um die Demokratie in Israel sorgen, sich nicht ebenso besorgt fragen, warum es in Deutschland keine Proteste gegen die kürzlich mit der Parlamentsmehrheit beschlossene Wahlrechtsreform gibt. Sie würde schließlich dazu führen, dass mindestens Die Linke schon nach ihren Wahlergebnissen von 2021 nicht mehr im Bundestag vertreten wäre.

    Dass aber eine Regierungsmehrheit mit dem Verweis, die Zahl der Abgeordneten zu verkleinern, damit auch über deren Zusammensetzung entscheidet, wird scheinbar nur von wenigen als demokratiegefährdend angesehen und ist kein Grund für Straßenproteste. Dass es in der SPD jetzt Modifizierungsvorschläge für die Wahlrechtsreform gibt, die eine Senkung der bisherigen Fünf-Prozent-Hürde vorsieht, ist eine Geste an die CSU, die besonders heftig gegen die Neuregelung auf ihre Kosten protestiert hat.

    Die Linke wird da, wenn überhaupt, nur am Rande erwähnt. Nicht wenige würden sich freuen, wenn sie aus dem Parlament verschwindet. Man braucht nicht zu erwarten, dass die Proteste gegen die Wahlrechtsreform Ausmaße wie gegen die Justizreform in Israel oder die Anhebung es Renteneintrittsalters im Nachbarland Frankreich annehmen würden.

    Aber einige Tausend Menschen hätte man sich schon mit der Parole „Hände weg von unserem Wahlrecht“ vor dem Bundestag gewünscht. Dass Proteste wie in Israel oder unserem Nachbarland Frankreich in Deutschland aktuell nicht denkbar sind, liegt nicht nur an den politischen Kräfteverhältnissen. Diese Proteste inklusive politischer Generalstreiks wären in Deutschland schlicht illegal und würden von der Polizei bekämpft und den Gerichten geahndet.
    Repressives Streikrecht in Deutschland

    „Im internationalen Vergleich ist das Streikrecht in Deutschland eines der strengsten in Europa“, heißt es in einer Erklärung der GEW Berlin, die an einer Initiative für ein umfassendes Streikrecht beteiligt ist, das es aktuell in Deutschland nicht gibt. Beamtinnen und Beamte haben in Deutschland kein Streikrecht und jeder politische Streik ist in Deutschland verboten.

    Das ist ein Erbe von Hans Carl Nipperdey, der bereits in der NS-Zeit für die Arbeitsgesetzgebung der „deutschen Volksgemeinschaft“ zuständig war. In den 1950er-Jahren sorgte er mittels Richterrecht dafür, dass in Deutschland bis heute der politische Streik verboten ist. Nipperdey wie andere konservative Juristen sahen darin einen Angriff von gewerkschaftlichen Minderheits- beziehungsweise Sonderinteressen gegen den vorgeblich das Gemeinwohl vertretenden Staat.

    Hier kommt ein Staatsverständnis zum Tragen, das mit dem NS-System nicht begonnen hat und nie überwunden wurde. Das hat Folgen bis heute: Streiks wie in Israel, wo die dortigen Gewerkschaften gegen die Justizreform auf die Straße gehen oder wie in Frankreich, wo sie gegen die Rentenreform mobil machen, wären hierzulande schlicht illegal.

    Gewerkschaften wären zumindest mit hohen Schadenersatzforderungen konfrontiert. Dass es dabei nicht um Theorie geht, zeigte sich am 3. März, als Klimastreik und Klassenkampf für einen Tag zusammenkamen. Sofort liefen Kapitalvertreter und ihnen nahestehende Medien Sturm gegen dieses Bündnis. Der Hauptgeschäftsführer des Deutschen Arbeitgeberverbandes, Steffen Kampeter, sprach von einer „gefährlichen Grenzverletzung“ und stellte fest: „Streiks sind zulässig, um Tarifverträge zu erreichen, die Arbeitsbedingungen regeln“.

    Danach winkte er schon mal mit den repressiven Instrumenten: „Wer aber Arbeitskämpfe und allgemeinpolitische Ziele miteinander vermischt, gerät schnell auf ein Spielfeld jenseits unserer Tarifautonomie.“ Als am Montag dieser Woche für einen Tag ver.di und Eisenbahngewerkschaft EVG einen eintägigen Warnstreik ausriefen, kam erneut die Warnung für einen angeblichen Missbrauch des Streikrechts – und das in einem der Länder mit den wenigsten Streiktagen in Europa.
    Standortlogik in den Köpfen auch von Gewerkschaften

    Dabei achteten die DGB-Gewerkschaften schon selbst akribisch darauf, dass im Warnstreik bloß nicht politische Fragen angesprochen werden. Dafür ist die Angst vor dem repressiven Streikrecht nur einer der Gründe. Auch die meisten Gewerkschaften haben die Standortlogik verinnerlicht. Sie wollen größere Arbeitskämpfe möglichst vermeiden und sehen daher den Warnstreik vor allem als Instrument, damit die andere Seite endlich ein Tarifangebot macht, das sie annehmen können.

    Das zeigte sich erst Mitte März, als die Dienstleistungsgewerkschaft ver.di mit einem überwältigenden Votum der gewerkschaftlich organisierten Postbeschäftigten für einen Erzwingungsstreik im Rücken sofort wieder in Verhandlungen mit der anderen Seite eintrat und einen Abschluss akzeptierte, der für viele Beschäftigte einen Reallohnverlust in Zeiten von hoher Inflation bedeutet. Wenn schon die Gewerkschaft nicht in der Lage oder Willens ist, ihre eigene Tarifforderung von mindestens 15 Prozent Lohnerhöhung durchzusetzen, ist klar, dass mit solchen Gewerkschaften auch nicht der Kampf um den politischen Streik geführt werden kann.

    Die deutsche Regierung ist also – anders als die Regierungen in Frankreich und Israel – sicher vor gewerkschaftlichen Druck. Dabei könnten die Gewerkschaften den Kampf um ihre sozialpolitischen Forderungen aufnehmen und damit eine Regierung real unter Druck setzen, die aktuell nur zwei Dinge zusammenhalten: Der eigene Machterhalt und die Aufrüstung der Ukraine.

    Daher ist es nicht verwunderlich, dass in einer Zeit, in der sich eine Regierung zu Mammutsitzungen treffen muss, um weitere Formelkompromisse zu erzielen, während sie ohne große Diskussionen 20 Panzer an die Ukraine geliefert hat. Wenn die Regierung schon sonst nicht viel zustande bringt, hier ist sie sich einig Mit größeren antimilitaristischen Protesten und gar mit Streiks gegen Waffenlieferungen wie in Italien ist hierzulande nicht zu rechnen.

  • Arbeit macht unfrei
    https://www.telepolis.de/features/Arbeit-macht-unfrei-7546278.html?seite=all

    18.3.2023 von Dirk Farke - Die Verherrlichung „deutscher Arbeit“ im Naziregime. Über die Karriere eines Ideologems und seine Kontinuitäten in der Nachkriegszeit.

    Die Vorstellung, dass Deutsche besonders gut, hart, effizient, präzise, tüchtig und fleißig arbeiten – ihre Beziehung zur Arbeit gilt in der Welt als einzigartig – hat eine lange Tradition und hält sich bis heute.

    Besonders wirkmächtig war dieser Topos während des Naziregimes. Aber, so stellt Nikolas Lelle in seinem sozialphilosophischen Buch „Arbeit, Dienst und Führung. Der Nationalsozialismus und sein Erbe“ fest, Analyse und Kritik der NS-Arbeitsauffassung kamen in der Forschung bislang zu kurz und es sei erstaunlich, wie wenig sich die Auseinandersetzungen mit dem Naziregime „um dessen Verhältnis zu Arbeit drehen“.

    Man muss an dieser Stelle einschränkend hinzufügen, und für diese Feststellung reicht bereits ein Blick in das 31 Seiten umfassende Literaturverzeichnis, an einer kritischen, elementaren Analyse deutscher Arbeit in der NS-Zeit fehlte es bisher. Denn an verharmlosender, beschönigender und verherrlichender Literatur zu dieser Thematik hat es weder vor noch nach 1945 gemangelt.

    Aber in Bezug auf eine fundamentale, alle Aspekte deutscher Arbeit – einschließlich der Vernichtung durch Arbeit – in dieser Zeit betreffenden Kritik, hat der Autor eine eindrucksvolle, lehrreiche und richtungweisende Fleißarbeit vorgelegt.
    Das besondere Verhältnis

    Dieses besondere Verhältnis der Deutschen zu ihrer Arbeit beginnt sich „im langen 19. Jahrhundert“ (Eric Hobsbawm) zu entfalten, auch wenn, wie Lelle richtig anmerkt, bereits in Martin Luthers Schriften Vorläufer dieser Idee aufzufinden sind.

    In Literatur und Wissenschaft, in Kunst und Politik treten zunehmend Positionen auf, und der Autor exemplifiziert aus allen Bereichen prägnante Beispiele, die die Verherrlichung von „deutscher Arbeit“ schildern und als Gegenbild „den Juden“ entwerfen.

    Deutsche Arbeit wird als Pflichtgefühl definiert, das den Arbeitenden an die (Betriebs-)Gemeinschaft binde. Die Arbeit wird erledigt, nicht um des Verdienstes willen, sondern zum Wohl des Ganzen geleistet.

    Das Gegenteil sei die „jüdische Arbeit“, die allein für den eigenen Nutzen getan werde. Entscheidend sei nicht die Art der Tätigkeit, sondern wie sie ausgeführt werde. Der (deutsche) Kaufmann arbeitet ehrlich und gemeinnützig, der (jüdische) Händler jedoch suche immer nur seinen eigenen Vorteil.

    Und das Ideologem deutsche Arbeit, auch hierzu finden sich bei Lelle Beispiele, ist nicht auf den Antisemitismus beschränkt. Auch der „gute deutsche Kolonisator“ des Imperialismus arbeitete stets an der Erziehung zur Arbeit und kolonialisierte grundsätzlich nur gemeinnützig und nachhaltig.

    An diese Tradition konnten die nationalsozialistischen Frühschriften von Gottfried Feder, Anton Draxler und Dietrich Eckart nach dem Ersten Weltkrieg nahtlos anschließen und von ihren Texten spannt sich ein Netz zu Hitlers frühen Reden und Schriften.
    Die „erste Pflicht jedes Staatsbürgers“

    Lelle untersucht die Texte systematisch mit dem Ziel, die NS-Arbeitsauffassung zu bestimmen: „Die Macht des Leihkapitals müsse gebrochen werden“ und es gelte, sich von der „Zinsknechtschaft des Geldes zu befreien“, hinter dem Kapitalismus, der Sozialdemokratie und dem Kommunismus stünden die Juden, ihren „Mammonismus, die geheimnisvolle Herrschaft der großen internationalen Geldmächte“ gelte es zu bekämpfen, nicht den Kapitalismus insgesamt.

    Diese Schimären bilden die Grundlage von Hitlers 25-Punkte-Programm von 1920. Um es zu erreichen, ist es die „erste Pflicht jedes Staatsbürgers (…) geistig oder körperlich zu schaffen“, und zwar zum Nutzen aller.

    Das sich hieraus ergebende Konstrukt der Volksgemeinschaft bildet die ideologische Verbindung zwischen Antisemitismus und Arbeitsauffassung. Eingegrenzt durch den Begriff der Rasse, definiert sich der NS-Arbeitsbegriff: Arbeit ist Dienst an der Volksgemeinschaft.

    Aus dieser Definition ergibt sich zum einen, dass nicht allein die Erwerbsarbeit als Arbeit gilt, sondern jede Tätigkeit, die der Volksgemeinschaft nützt, also auch die Haushalts- und Reproduktionstätigkeiten, die ausschließlich den Frauen zugeordnet war.

    Selbst Arbeitslose wurden symbolisch zu Arbeitenden umgewertet, wenn sie zum Beispiel eine ehrenamtliche Tätigkeit ausübten. Zum anderen ergibt sich aus der Überhöhung der Arbeit als Dienst die Abwertung der Nicht-Arbeit. Sie gilt, dieser Logik zufolge, als schädlich. Die Verfolgung „Asozialer“ und „Arbeitsscheuer“ hat hier ihr ideologisches Fundament (vgl. dazu: „Noch immer nicht in der deutschen Erinnerungskultur angekommen“).
    Politische Ökonomie des Naziregimes

    Diese NS-Arbeitsauffassung schildert der Autor als Versuch, eine Antwort auf die Probleme moderner, industrieller Arbeit, auf die Entfremdung der Arbeit zu finden. Allem voran der Antisemitismus ermöglichte eine Kapitalismuskritik, ohne den Kapitalismus abzuschaffen.

    Nicht die Verhältnisse, die entfremdete Arbeit produzieren, sollten abgeschafft oder auch nur verändert werden, sondern die Art und Weise, wie sich Menschen in diesen aufeinander beziehen.

    Man präsentierte sich als Gegenbild sowohl der liberalen Arbeitsauffassung, organisiert in kapitalistischen Marktbeziehungen, als auch gegen einen sozialistischen Begriff, der auf eine demokratische und kollektive Organisation zielte. Arbeit wurde, so zitiert Lelle an dieser Stelle, zu Recht Franz Neumann (1900 – 1954) nicht mehr als Ware verstanden, sondern als Ehre. In der Propaganda wähnte man sich auf einem dritten Weg.

    Es gehörte zur politischen Ökonomie des „dritten Reiches“ eine Verbindung zur Arbeiterklasse herzustellen, die Arbeiter sozial in das Regime zu integrieren, um sich deren Legitimität langfristig zu sichern.

    Die Einsicht, dass faschistischer Kapitalismus nicht auf die „Passivierung des Proletariats“ setzt, sondern auf dessen „Aktivierung“ findet sich bereits bei Walter Benjamin (1892-1940), bei Herbert Marcuse (1898-1978): „Die totale Aktivierung und Politisierung entreißt breite Schichten ihrer hemmenden Neutralität (...)“ und Max Horkheimer (1895-1973): „Die Aktivierung der Massen ist Aufgabe des faschistischen Apparats“.
    Neue Formen der Menschenführung

    Damit die Arbeiter auch wollen, was sie sollen, experimentierte man in ausgewählten Betrieben mit neuen Formen der Menschenführung:

    Bekanntestes Beispiel sind die Kölner Klöckner-Humbold-Deutz-Werke (KHD). Hier wurden Mitte der 1930er-Jahre Formen des Personalmanagements eingeführt, die auf die Eigenverantwortung der Arbeiter setzten. Ziel war es, den Arbeiter zum Mitarbeiter zu machen. Der Betriebsdirektor verlieh einigen besonders effektiven Arbeitern den Titel „Selbstkontrolleur“, erkennbar an dem Schriftzug „Ich prüfe selbst“.

    Das bedeutete, dass sie, ohne eine materielle Zusatzvergütung dafür zu erhalten, ihre Produkte selbst auf etwaige Mängel überprüfen und gegebenenfalls reklamieren konnten. Auch wurde einigen ausgezeichneten Facharbeitern der Titel „Selbstkalkulator“ verliehen. Sie durften ihre Akkorde selbst festsetzen und somit ihr Gehalt selbst bestimmen.

    Die NS-Presse feierte die neue Personalführung als Realisierung der eigenen Ideologie und in der SS-Zeitung Das Schwarze Korps war zu lesen: „Hier ist der Nationalsozialismus zur Tat geworden.“

    Die NS-Herrschaftsform strafte also nicht nur, sie aktivierte auch und brachte eine bestimmte Subjektform des deutschen Arbeiters hervor, das der Autor das „folgende Selbst“ nennt. Die „klassenlose NS-Klassengesellschaft“ (Theodor W. Adorno 1903 – 1969) machte den Arbeiter zum Mitarbeiter.

    Das folgende Selbst ist der Arbeitertypus des NS-Kriegsfordismus und an diese Gesellschaftsordnung gebunden. Im kapitalistischen Normalvollzug der Nachkriegszeit konnte an diese Tendenzen angeschlossen werden, aber der Wegfall des Führers musste kompensiert werden.

    Statt Führer und Gefolgschaft hieß es ab jetzt Vorgesetzter und Mitarbeiter. Erforderlich wurde eine modifizierte Subjektform des deutschen Arbeiters, die Lelle das „führende Selbst“ nennt.
    Kontinuitäten in der Nachkriegszeit

    Die Nachkriegsgeschichte ist in der Justiz, der Verwaltung, der Politik und den Ministerien, das ist bekannt und an Literatur hierzu mangelt es nicht, geprägt durch personelle Kontinuitäten.

    In den 1950er-Jahren lag beispielsweise der Anteil der führenden Mitarbeiter des Arbeitsministeriums mit NSDAP-Parteibuch im Schnitt bei 60 Prozent.

    Lelle geht es in seiner Arbeit auch nicht um personelle, sondern um ideologische Kontinuitäten: Um das Fortbestehen der deutschen Arbeitsauffassung, die jedoch, zumindest oberflächlich und nach außen hin, vom Antisemitismus, Antiziganismus, Rassismus und Sozialchauvinismus bereinigt werden musste.

    Ganz ohne personelle Kontinuität geht allerdings auch das nicht. Den bruchlosen Sprung vom faschistischen Chefideologen zum Chefausbilder im Dienst des Kapitals gelang unter anderem: Reinhard Höhn. Der 1904 geborene stramme Antisemit und Jurist baute Heidrichs Sicherheitsdienst (SD) mit auf, dessen Ziel es war, „Volksfeinde“ aufzuspüren, um die Verhältnisse zu stabilisieren.

    Von Himmler zum SS-Oberführer ernannt, lieferte er Argumente für eine europaweite Vertreibungs- und Vernichtungspolitik. 1953 wurde er Geschäftsführer der Deutschen Volkswirtschaftlichen Gesellschaft und baute die Bad Harzburger Gesellschaft für Führungskräfte auf. Deren Akademie war bald die erste Adresse in der BRD für Management-Training und unternehmerische Führungsmodelle.

    Nicht zuletzt wegen der umfangreichen Unterstützung alter SS Kameraden, die sich jetzt bei Höhn als Führungskräfte in Unternehmen ausbilden ließen.
    Schulungen mit prominenten Kunden

    Zu den Kunden zählten zum Beispiel AEG-Telefunken, Aldi Nord, Bayer, BMW, C&A Brenninkmeyer, Esso, Ford, Hoechst, Karstadt, Kaufhof, Krupp, Mannesmann, Opel, Thyssen, das Versandhaus von Beate Uhse, VW und viele mehr. Auch der Gründer der Drogeriemarktkette dm, erfahren wir von Lelle, wurde von seinem Vater zur Schulung nach Harzburg geschickt.

    Die alte Logik vom Führer und Gefolgschaft hat sich angepasst und modernisiert, lebt aber in „entnazifizierten“ Formen fort. Nach der Befreiung hieß es nicht mehr „Führer befiel – wir folgen“, sondern „Führer befiel – wir managen“, wie die Zeitschrift Konkret titelte.

    Anfang der 1970er endete der staatlich gelenkte Kapitalismus und oktroyiert wurde die bis heute andauernde neoliberale Variante. Nicht allein, weil diese von Beginn an wegen ihres politisch-ökonomischen Autoritarismus kritisiert wurde, sondern vor allem auch wegen der ideologischen Nähe zur politischen Ökonomie des NS – zum Beispiel erfolgte damals wie heute der Ausschluss aus der (Volks-)Gemeinschaft mit und durch Arbeit – hätte man sich hier eine etwas ausführlichere Darlegung gewünscht.

    Lelle belässt es bei der Feststellung: Das „führende Selbst“ hat ausgedient und wurde durch das (unternehmerische) folgende Selbst ersetzt, das für sich allein steht. Die Aktivierung der Selbststeuerungspotentiale liegt in der Selbstverantwortung, Ziel ist, sich selbst möglichst gut zu verkaufen und Gewinn zu machen.
    Das kapitalistische Leistungsprinzip

    Kritisiert wird noch in zwei Sätzen die neoliberal transformierte Regierungs-SPD und Vizekanzler Franz Münteferings verdrehtes und sozialdemokratisiertes Paulus-Postulat: „Wer arbeitet, soll auch essen“, eine wiedererstarkte neue antisemitische Rechte samt Unterstellungen von Thilo Sarrazin bis Björn Höcke, aber das war es dann leider auch.

    Bis heute ist die berufliche Karriere das Ideal der bürgerlichen Leistungsgesellschaft und des kapitalistischen Leistungsprinzips. Rassistisch aufgewertet und radikal zu Ende gedacht, impliziert es genau die Devise, die unter anderem über dem Eingangstor vom KZ Buchenwald zu lesen war: „Jedem das Seine.“

    Lelle resümiert ganz zu Recht, dass einem das Nachdenken über den Faschismus zwangsläufig immer wieder zurückwirft auf den Kapitalismus. Prägnant formuliert bereits am Vorabend des Zweiten Weltkrieges von Max Horkheimer:

    „Wer aber vom Kapitalismus nicht reden will, soll vom Faschismus schweigen.“

    Die Forderung nach einer radikalen Veränderung des Arbeitsbegriffes, auch darin ist dem Autor zuzustimmen, impliziert die Forderung nach einer radikalen Veränderung der Gesellschaft, ohne wird es nicht gehen.

    „Die Emanzipation des Menschen aus versklavenden Verhältnissen“, so noch einmal Horkheimer, „zielt auf den Marxschen kategorischen Imperativ“: Alle Verhältnisse umzuwerfen, in denen der Mensch ein erniedrigtes, ein geknechtetes, ein verlassenes, ein verächtliches Wesen ist.

    Arbeitsverhältnisse sind nur allzu oft ein solches Verhältnis. Ein kritischer Arbeitsbegriff dagegen muss versuchen, auch diejenigen zu integrieren, die sich weigern: Jeder kann, keiner muss, aber für alle wird gesorgt.

    Nikolas Lelle
    Arbeit, Dienst Und Führung. Der Nationalsozialismus und sein Erbe
    Verbrecher Verlag, Berlin 2022
    366 Seiten, 30 Euro

    #Allemagne #nazis #travail #antisemitisme #néolibéralisme

  • Wahlrechtsreform beschlossen : Lex Linke lässt auch CSU zittern
    https://www.telepolis.de/features/Wahlrechtsreform-beschlossen-Lex-Linke-laesst-auch-CSU-zittern-7549235.htm

    D’après Claudia Wangerin il n’y a pas d’exception au nouveau règlement qui lie le nombre de sièges qu’un parti obtient au Bundestag à son résultat au vote proportionnel et impose donc le seuil de cinq pour cent au niveau national aussi aux élus du vote majoritaire dans les circonscriptions qui n’entreront alors pas au Bundestag si leur parti n’obtient pas les voix nécessaires à la proportionnelle.

    Dans https://dserver.bundestag.de/btd/20/060/2006015.pdf le comité pour les affaires intérieures et de la patrie explique

    Die insgesamt abgegebenen Zweitstimmen werden zunächst bundesweit ins Verhältnis gesetzt und die Zahl der den einzelnen Parteien zufallenden Mandate bestimmt (Oberverteilung), bevor diese dann auf die einzelnen Landeslisten verteilt werden (Unterverteilung). Die Zahl der Sitze, die auf eine Landesliste entfallen, definiert die Höchstzahl der erfolgreichen Wahlkreisbewerber dieser Partei, die in dem Land aus dem Wahlkreis heraus einen Sitz erringen können.

    Cette explication fait penser que l’Unterverteilung donc le résultat au niveau du Land autorise l’accès au parlement national des élus par vote majoritaire si leur parti dépasse le seuil de cinq pour cent des voix au niveau du Land. Le commentaire critique du parti CSU qualifie le texte de loi d’anticonstitutionnel et invalide cette interprétation.

    Die Koalitionsfraktionen haben das zunächst avisierte Ziel der klaren Begrenzung auf 598 Mandate mit der nunmehrigen Erhöhung auf 630 Mandate aus den Augen verloren. Diese Anzahl minimiere die Gefahr der Kappung von Mandaten von Wahlkreissiegern insgesamt nur minimal, maximiere allerdings die nicht gekappten Mandate für die SPD. Beim Wegfall der Grundmandatsklausel zeige sich, dass die Wählerinnen und Wähler nicht interessieren, sondern die Koalition nur prozesstaktisch darauf aus sei, in Karlsruhe vor dem Bundesverfassungsgericht zu bestehen. Die Streichung der Grundmandatsklausel bedeute, dass möglicherweise ein Großteil von Wahlkreisen nicht mehr durch die Wahlkreissieger vertreten wird. Bezogen auf Bayern und basierend auf der letzten Bundestagswahl könnte dieser Vorschlag dazu führen, dass 2,6 Millionen Wählerstimmen, somit 30 Prozent der Wählerstimmen und 45 gewonnene Direktmandate keine Berücksichtigung im Bundestag finden würden. Dies sei eine
    eklatante Missachtung des Bundestaatsprinzips. Auch verstoße der Wegfall der Grundmandatsklausel gegen die Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts zur Berücksichtigung regionaler Besonderheiten beim Wahlrecht. Die Streichung schaffe damit viele neue verfassungsrechtliche Probleme. Die Behauptung, dass bei der Anhörung die Streichung der Grundmandatsklausel in der jetzigen Form eine Rolle gespielt habe, stimme nicht. Die von der CDU/CSU-Fraktion benannten Sachverständigen hätten mit der Grundmandatsklausel argumentiert, um aufzuzeigen, wie stark der Systembruch durch die vorher beabsichtigte Reform sei. Der Gesetzentwurf habe den Grundsatz, wer einen Wahlkreis gewinnt, ziehe in den Bundestag ein, aufgehoben. Verfassungsrechtlich problematisch sei dann auch, ob eine Fünfprozentklausel überhaupt noch haltbar sei. Ferner lösen die Regelungen zu
    den unabhängigen Kandidaten eine Ungleichbehandlung aus.

    Il est alors vrai : Seuls les candidats indépendants et ceux des minorités nationales accéderont au Bundestag sans avoir besoin d’au moins cinq pour cent des voix au niveau national. Je n’ai pas l’habitude de suivre facilement les arguments de la droite, mais les remarques du CSU sur les injustices anticonstitutionnelles de la nouvelle loi ne sont pas fausses.

    17.3.2023 von Claudia Wangerin - Ampel-Mehrheit ändert Bundeswahlgesetz. Gewonnene Direktmandate führen nicht mehr automatisch in den Bundestag. Bundesweite Fünf-Prozent-Hürde gilt nun auch für bayerische Unionsschwester.

    Eine linke Oppositionspartei gäbe es im aktuellen Deutschen Bundestag nicht, wäre diese Wahlrechtsreform zwei Jahre früher beschlossen worden. Als „Lex Linke“ wollten die Parteien der Ampel-Koalition ihren Gesetzentwurf aber nicht verstanden wissen. Schließlich ging es auch um Mandate der CSU, die als bayerische Unionsschwesterpartei nun an die bundesweite Fünf-Prozent-Hürde gebunden ist.

    Die Linke war bei der letzten Bundestagswahl mit 4,9 Prozent nur dank dreier Direktmandate wieder in Fraktionsstärke ins Parlament eingezogen. Das ist mit der nun erfolgreich von SPD, Grünen und FDP auf den Weg gebrachten Änderung des Bundeswahlgesetzes nicht mehr möglich.

    Mit der Reform soll der auf 736 Abgeordnete angewachsene Bundestag ab der nächsten Wahl dauerhaft auf 630 Mandate verkleinert werden, indem auf Überhang- und Ausgleichsmandate ganz verzichtet wird. Überhangmandate entstehen, wenn eine Partei über Direktmandate mehr Sitze im Bundestag erringt, als ihr laut Zweitstimmenergebnis zustünden – sie darf diese Sitze behalten. Die anderen Parteien erhalten dafür Ausgleichsmandate.

    Nach der heute mit 399 Ja-Stimmen, 261 Nein-Stimmen und 23 Enthaltungen beschlossenen Neuregelung muss nicht mehr zwangsläufig in den Bundestag einziehen, wer seinen Wahlkreis direkt gewinnt. Das könnte auch die CSU Mandate kosten.

    Der innenpolitische Sprecher der SPD-Fraktion, Sebastian Hartmann, warb dafür mit den Worten: „Eine Verzerrung des Wahlergebnisses zugunsten der CSU und Privilegierung einzelner Gruppen schließen wir zukünftig sicher aus!“

    Dobrindt sieht „Existenzrecht der CSU“ gefährdet

    CSU-Landesgruppenchef Alexander Dobrindt reagierte erzürnt und sagte in der letzten Aussprache vor der Abstimmung, der Plan der Ampel-Parteien ziele darauf ab, die Linke aus dem Parlament zu drängen und stelle sogar „das Existenzrecht der CSU“ infrage. Die nun nötige „Zweitstimmendeckung“ bindet sie an eine bundesweite Fünf-Prozent-Hürde, die sie 2021 zwar genommen hatte, aber aus eigener Sicht nicht mit dem nötigen Sicherheitsabstand nach unten.

    Die Grünen-Politikerin Britta Haßelmann sagte in der Aussprache, ihr sei nicht klar gewesen, dass die CSU Angst vor der Fünf-Prozent-Hürde habe. So musste am Ende der Eindruck entstehen, dass es ihr persönlich – und womöglich auch den Grünen insgesamt – vor allem darum ging, Die Linke loszuwerden. Zumal diese Partei heute noch friedenspolitische Gründungsideale der Grünen vertritt, von denen sie sich selbst längst verabschiedet haben.

    Die Ampel-Parteien hatten dennoch allen Ernstes damit argumentiert, dass die Verkleinerung alle Parteien gleichermaßen treffe; die Reform sei somit fair und verfassungsgemäß.

    „Das Parlament wird nach der Reform noch weniger Menschen repräsentieren, bildet die Gesellschaft noch weniger ab“, kommentierte die Linken-Abgeordnete Heidi Reichinnek auf Twitter. Auch „spannend“ fand sie, dass alle von der Verkleinerung des Bundestages redeten, aber niemand „von einem sich immer weiter aufblähenden Regierungsapparat: neues Kanzleramt für mindestens 770 Millionen, 168 neue sehr gut bezahlte Beamt:innen, mehr Staatssekretär:innen“.

    Die CDU/CSU-Fraktion hatte in einem eigenen Antrag eine Wahlrechtsreform auf der Grundlage des personalisierten Verhältniswahlrechts vorgeschlagen, mit der die Zahl der Bundestagsmandate „in Richtung einer Regelgröße von 590 Abgeordneten reduziert“ werden sollte. Außerdem schlugen die Unionsparteien vor, die Zahl der Wahlkreise von auf 270 zu reduzieren und die Regelgröße für Listenmandate auf 320 anzuheben.

    Zugleich plädierten CDU und CSU für eine Erhöhung der Zahl unausgeglichener Überhangmandate von zuletzt drei „auf die vom Bundesverfassungsgericht zugelassene Anzahl“ von 15. Überhangmandate einer Partei in einem Bundesland sollten nach ihrem Willen „wie bisher mit Listenmandaten der gleichen Partei in anderen Bundesländern verrechnet“ werden.

    Die Linksfraktion hatte ganz eigene Vorschläge zur Reform des Wahlrechts gemacht – in drei Anträgen zielte sie darauf ab, das Mindestalter für das aktive Wahlrecht bei Bundestagswahlen von 18 auf 16 Jahre abzusenken, ein Ausländerwahlrecht auf Bundesebene ab einem fünfjährigen legalen Aufenthalt einzuführen – und zur Stärkung des Frauenanteils im Bundestag im Parteiengesetz festzuschreiben, dass Frauen und Männer bei der Aufstellung der Landeslisten gleichermaßen berücksichtigt werden müssen.

    Und wer denkt an das größte Lager?

    Nicht gedacht wurde im Bundestag wieder einmal an das in Wahrheit größte Lager – nämlich die Menschen, die zwar wählen dürfen, sich von keiner wählbaren Partei ausreichend vertreten fühlen, um es zu tun.

    Hierzu hatte der Ex-SPD-Politiker Marco Bülow (Die Partei) bereits einen Vorschlag gemacht: „Fällt die Wahlbeteiligung unter 80 Prozent, müssen Plätze in der Größenordnung der Nichtwähler:innen frei bleiben oder per Los besetzt werden.“ Dann würden die Parteien sich endlich um diese riesige Gruppe bemühen, argumentiert Bülow.

    #Allemagne #Bundestag #élections

  • Notstand der bürgerlichen Demokratie
    https://www.telepolis.de/features/Notstand-der-buergerlichen-Demokratie-7549942.html

    En Israël, en France et en Allemagne progresse le démontage des acquis sociaux et des lois protégeant les faibles. Le parlement allemand vient de voter en toute tranquillité et sans débat public une modification de la loi sur son élection qui élimine effectivement la gauche de ses rangs.

    17. 3.2023 von Peter Nowak
    ...
    Wo bleiben Proteste gegen die Wahlrechtsreform in Deutschland?

    Willi Hajek und seine Freunde warnten die gesellschaftliche Linke in Deutschland aber auch immer vor einer Mythologisierung der Proteste in Frankreich. Er rief dazu auf, doch hierzulande selbst damit anzufangen, gegen Maßnahmen der Regierung auf die Straße zu gehen.

    Da stellt man sich die Frage, wo denn die Proteste gegen den aktuellen Notstand der Demokratie in Deutschland bleiben? Damit ist die sogenannte Wahlrechtsreform gemeint, die jenseits allen parteipolitischen Streits dazu führen wird, dass ein weiteter Teil der Wähler im Bundestag nicht mehr repräsentiert ist.

    Damit wurde genau das von einer Mehrheit aus Grünen, SPD, FDP sowie drei AfD-Abgeordneten beschlossen, was in den letzten Jahren besonders gegeißelt wurde, wenn es von Rechtskonservativen in den USA praktiziert wurde.

    Man bastelt so lange am Wahlrecht herum und schneidet Wahlkreise neu zu, bis man dann die gewünschten Mehrheiten hat. Auch die US-Republikaner geben für ihre Maßnahmen natürlich immer an, es ginge doch nur darum, den Wählerwillen besser abzubilden oder die Parlamente zu verkleinern. Das ist auch das Argument aller Befürworter der Wahlrechtsreform in Deutschland und macht den undemokratischen Charakter besonders deutlich.

    Was ist denn eigentlich das Problem, wenn der Bundestag wie aktuell 736 Abgeordnete hat? Soll da wirklich das Argument von nicht ausreichend großer Säle dazu herhalten, um eine auch nach bürgerlich-demokratischen Grundsätzen undemokratische Reform durchzusetzen?

    Und das in einer Zeit, wo die technischen Voraussetzungen von Abstimmungen auch einer großen Anzahl von Abgeordneten viel leichter zu bewerkstelligen ist, als vor mehr als 100 Jahren, als auf Rätekongressen Tausende Arbeiter und Arbeiterinnen berieten und auch zu Abstimmungen kamen.

    Gerade Kritiker der repräsentativen Demokratie müssten die aktuelle Wahlrechtsreform entschieden verurteilen. Sie ist ein Teil des Notstands der bürgerlichen Demokratie.

    #Allemagne #politique #démocratie #gauche #Bundestag #élections

  • Gute Kriege, schlechte Kriege ?
    https://www.telepolis.de/features/Gute-Kriege-schlechte-Kriege-7527975.html?seite=all

    Cet article propose une perspective universelle et sincère sur les acteurs des guerres de notre époque. Sabine Schiffer contourne les tentatives de récupération de l’opinion piblique par les acteurs des conflits en proposant une application sans faille des principes humaines et du droit international à toutes les guerres et tous les participants. Elle conclut que dans les guerres les riches livrent les armes et les pauvres les cadavres. Elle fait bien de nous le rappeller.

    26.2.2023 von Sabine Schiffer - Völker- und menschenrechtliche Bilanz des Westens ist global betrachtet verheerend. Dennoch sieht man sich dort als Wahrer von Recht und Moral. Ein Plädoyer für das Völkerrecht und kritische Medien.

    Wie der sich verfestigende Krieg in der Ukraine, hat sich auch in der Berichterstattung und Kommentierung rund um diesen Krieg ein Narrativ verfestigt, das als Teil einer Regierungssprachregelung erkannt werden muss: Es weist die Begriffe „Zeitenwende“ (Jugoslawienkrieg 1999 unter deutscher Beteiligung) und „Zivilisationsbruch“ (Holocaust) nun dem russischen Angriff auf die Ukraine zu, so als hätte Wladimir Putin den völkerrechtswidrigen Angriffskrieg erfunden.

    Das ist Relativierung. Das Wording blendet nicht nur die Vorgeschichte des aktuellen Kriegsgeschehens in der Ukraine aus, sondern auch die gesamte Geschichte völkerrechtswidriger Kriege seit dem Ende des Zweiten Weltkriegs inklusive des illegalen Sturzes gewählter Regierungen, wovon sich der Putsch gegen Irans demokratisch gewählten Premier Mohammad Mossadegh in diesem Jahr zum 70. Mal jährt.

    Das Framing durch gezielte Auslassungen – ein Markenzeichen strategischer Kommunikation – stützt die Politik des Diplomatie-Abbruchs gegenüber der Russischen Föderation und das Kaschieren der Wirtschaftskrise durch die Militarisierung auf allen Ebenen.

    Das führt einerseits zu Protesten gegen erkennbare Doppelstandards. Aber es führt andererseits bei einigen Kritikern des politischen Kurses auch zu einem neuen Doppelmaß. Und das ist fatal.

    Um die große Falle, die die Betreiber von Diskursverengung und Diskursverschiebung aufgestellt haben und in die manch Wohlmeinende hinein stolpern könnten, geht es in diesem Beitrag.
    Wenn das Doppelmaß die Standards ersetzt

    Russlands Präsident Putin hat der Ukraine mit seiner „Spezialoperation“ am 24. Februar 2022 de facto den Krieg erklärt; er lässt das Land seither von mehreren Seiten bombardieren und seine Truppen einmarschieren. So berechtigt und notwendig die Empörung über den Angriff ist, der auch durch die Selbstermächtigung zur Vereinnahmung der schon lange unter (ukrainischem) Beschuss stehenden Oblaste Donezk und Luhansk nicht wettgemacht wird, so erschreckend ist der Doppelstandard in seiner Bewertung und die Relativierung vergleichbarer Kriegsverbrechen von „befreundeten“ Kriegstreibern.

    Ganz offiziell erklärt die deutsche Bundesregierung auf Anfrage, dass sie nur den aktuellen Krieg gegen die Ukraine als völkerrechtswidrig einstufe, die Bewertung früherer Kriege jedoch ablehne. Dies weist darauf hin, dass die Bundesregierung nicht an sachlicher Bewertung interessiert ist, sondern von Interessen geleitet zu sein scheint. Da es offensichtlich um Gemeinwohl und Erfüllung des Amtseids nicht mehr geht, braucht es strategische Sprache, um die Einhaltung der gerne hochgehalten „regelbasierten Ordnung“ eines „Wertewestens“ dennoch zu suggerieren.

    Der russische Angriff auf die Ukraine 2022 eskaliert also nicht nur bereits bestehende Konflikte und Kämpfe, er ermöglicht es auch der deutschen Bundesregierung offiziell eine „Zeitenwende“ zu erklären, die wir seit über 20 Jahren haben, und auf eine kreditfinanzierte Kriegswirtschaft – mittels „Sondervermögen“ – zu setzen.

    Tatsächlich befinden wir uns im Jahr 24 der neuen Weltkriegsordnung, die mit den gravierenden Rechtsbrüchen im Jugoslawien-Krieg und der daraus resultierenden Nato-Doktrin 1999 eingeleitet worden ist.

    Die darin formulierten Kriegsgründe – „humanitäre Intervention“, „Ressourcensicherung“ und „starke Migrationsbewegungen“ – sehen wir heute allerorten greifen. Das Völkerrecht wird kaum noch bemüht, UNO und OSZE wurden über Jahre ins Abseits gestellt – vor allem durch die USA, die notfalls auch mit einer „Koalition der Willigen“ zu Felde zieht, ob die UNO ihr nachträglich eine Resolution zubilligt oder nicht.

    Die sich im Kontext von Klimakrise und Ressourcenkämpfe sowie Flucht- und Migrationsbewegungen abzeichnende Weltkriegsordnung wurde also von den führenden Strategen frühzeitig ins Auge gefasst. Die Gelegenheit ist nun günstig, sie dem entgleisten Putin als Alleinverantwortlichem zuzuweisen.

    Gute Aussichten sind das wahrlich nicht, weil es ein Schlaglicht auf das Ziel der diskursiven Eskalation hierzulande wirft und im Falle eines begrenzten Atomkriegs auf europäischem Boden nur einer gewinnt: die weit entfernten USA, die bereits durch die Änderung des Energiemix in Europa, der nun auch bis dato unverkäufliches Fracking-Gas umschließt, zu den Kriegsgewinnlern zählt.

    Untermauert werden die einseitigen Schuldzuweisungen durch sprachliche Lenkung. Der Phrase vom „War on Terror“ eines George W. Bush, die das Völkerrecht nachhaltig ausgehebelt und Staatsgrenzen für obsolet erklärt hat, folgte eine weitere strategische Phrase, die des „preemptive strike“, die als Bush-Doktrin uns weiter unten noch beschäftigen wird.

    Weitere strategische Begriffe, sogenannte Spins, sind „asymmetrischer Krieg“ oder „hybride Kriegsführung“. Sie ermöglichen eine Täter-Opfer Umkehr im machtanalytischen Sinne. Sie dienen dem Erhalt bestehender Machtverhältnisse und suggerieren eine „Übermacht des (eigentlich unterlegenen) Bösen“.

    Eine verbale False-Flag-Operation also, die dazu dient, das militärische Vorgehen einer Übermacht als „Selbstverteidigung“ zu inszenieren. Desinformation und Manipulation durch strategische Sprache kann also nicht nur Putin.

    Er kopiert zudem erfolgreiche Strategien sowohl der Kriegspropaganda (vgl. Bush-Doktrin des preemptive strike) als auch der Kriegsführung (vgl. Warden-Doktrin der Five Rings, die u.a. in Jugoslawien Anwendung fand) zur Zerstörung ziviler Infrastruktur. Verurteilt und dämonisiert wird im Freund-Feind-Schema aber nur die Feindseite und das ist im deutschen Kriegsdiskurs einzig Russland.
    Das Recht auf Selbstverteidigung

    Diese Einseitigkeit zu kritisieren, darf jedoch nicht zur Idealisierung der anderen Seite führen. Gerade eine sachliche Kritik sollte bei der Verurteilung aller Kriege bleiben, auch wenn von anderer Seite ein Schema unterschiedlicher Bewertung und Relativierung etabliert wird.

    Auch wenn es einen wichtigen Unterschied zwischen den Kriegslügen von George Bush und Tony Blair gibt, die eine „Koalition der Willigen“ 2003 in den völkerrechtswidrigen Irakkrieg führten, im Vergleich zur Situation an der russischen Grenze heute. Hier gibt es ein Fünkchen Wahrheit in Bezug auf eine Bedrängnis Russlands, mag es auch noch so vehement jeder Nato-Sprecher leugnen. Nato-Stationierungen und Trainings bis an die litauisch-russische Grenze oder in der Ostsee reichen schon nah an die wichtigsten Städte der Russischen Föderation heran.

    Und auch der Einbezug der Ukraine in diverse Trainingsprogramme mag die russische Führung nicht beruhigt haben. Aber rechtfertigt das einen Angriff auf das Nachbarland? Zumal man sich fragen muss, ob der russische Präsident wirklich alle anderen Handlungsoptionen ausgeschöpft hat – UNO-Sicherheitsrat anrufen etc.

    Klar, die USA haben gezeigt, dass man dabei auch ritualisierten Missbrauch treiben kann. Aber rechtfertigt das, diese formalen Schritte auszulassen? Klug ist es jedenfalls nicht.

    Nun wird in manchen Kreisen diskutiert, ob die Ukraine oder Russland nach Paragraf 51 der UN-Charta das Recht auf Selbstverteidigung in Anspruch nehmen kann.

    Aus ukrainischer Sicht ist der Rechtsanspruch ganz klar, während ein „vorsorglicher Angriff“ immer ein Legitimationsproblem behält. Putin hat sich militärisch wie auch mit dem Trick, die Oblaste Donezk und Luhansk ins eigene Staatsgebiet einzuverleiben, verschätzt.

    Dies macht auch die langjährige Bekämpfung der russischen Minderheiten an der südöstlichen Grenze der Ukraine zu Russland nicht wett.

    Einen UNO-Schutzstatus für diese gab es nicht. Dies war anders in Südossetien, wo Russland das UNO-Mandat als Schutzmacht hatte, weshalb es nach dem Angriff Georgiens im Spätsommer 2008 dort eingreifen musste.

    Dies bestätigt eine EU-Factfinding-Commission ein Jahr später, worüber u.a. im Spiegel mehrmals berichtet wurde.

    Dennoch scheint das Fakt heute vergessen oder Politiker und Medien verbreiten dazu vehement die Unwahrheit. Vielleicht, weil ein russischer Angriff besser ins Feind-Framing passt und man meint, es gäbe gute Fake News im Sinne eines angegriffenen Opfers?

    Diese Einschätzung tut der Feststellung des aktuellen Rechtsbruchs durch Russland keinen Abbruch. Selbst wenn man den offiziell erklärten Angriff Putins auf die Ukraine am 24. Februar 2022 nicht als Anfangspunkt einer militärischen Konfliktaustragung begreift, weil man um die Entwicklung in Russland, der Ukraine, EU und der USA weiß – vor allem mit Blick auf die Ukraine-Krise 2013/2014, aber auch bereits zuvor – so kann dieses Wissen diesen Angriff nicht rechtfertigen.

    Betont man das nicht, treiben am Ende diejenigen den Abbau von Völkerrechtsstandards voran, die das Ignorieren vonseiten der USA stets kritisierten.

    Wie aber in Zukunft protestieren bzw. wofür, wenn man jetzt die Maßstäbe dafür über Bord wirft? Wen will man hinter nicht mehr vorhandenen Rechtsgrundlagen versammeln? Mit der Aufgabe würde man den Falschen zuarbeiten, denen nämlich, die schon lange an der Demontage des Völkerrechts wie auch den es vertretenden Institutionen arbeiten. Das wäre also nicht nur Unterwerfung, sondern würde auch das eigene Anliegen schwächen – nämlich die klare Verurteilung von Kriegen als Mittel von Geopolitik.
    Menschen- und Völkerrecht als unabdingbare Verständigungsbasis

    Den Streit um Entstehungsgeschichte und Eurozentrismus in Sachen Menschen- und Völkerrecht außen vor lassend, möchte ich diese Rechtsgrundlagen unumwunden verteidigen. Denn was regen wir uns sonst auf? Wenn alle das Völkerrecht brechen dürfen, warum Russland dann nicht?

    Nur umgekehrt wird ein Schuh draus: Wer den Völkerrechtsbruch und die Kriegsverbrechen Russlands kritisiert, muss dafür sorgen, dass Recht und die Verfolgung von Verbrechen konsequent für alle umgesetzt werden – also natürlich auch für von der Ukraine begangene Verbrechen, wie allen anderen Akteuren auch.

    Welche Bewertung und Bestrafung je nach Schweregrad und Kontext vornimmt, ist die Sache von Gerichten, deren Unabhängigkeit und Reichweite zu stärken und nicht zu schwächen ist. Genau hierin liegt das Ziel für die Zukunft, die nur mit Gerechtigkeit gestaltet werden kann – um glaubwürdig und anschlussfähig für wirklich alle zu sein.

    Und für Rechtsprechung und Gerechtigkeit braucht es allgemeingültige Standards. Auch hier lässt sich der Sog des schlechten Beispiels erkennen: Nach dem Aufkündigen von Rüstungskontrollverträgen vonseiten der USA zieht nun Russland mit dem Aussetzen an New Start nach.

    Insofern sind die Vorschläge von Innenminister Marco Buschmann (FDP) kritisch zu prüfen, der von einer „Fortentwicklung des Völkerstrafrechts“ spricht. Minister Buschmann geht es in seinem Eckpunktepapier vor allem um eine Stärkung der Verfolgungsmöglichkeiten von Kriegsverbrechern, wobei er nicht alle im Blick zu haben scheint.

    Eine mögliche Lex Putin darf aber nicht darüber hinwegtäuschen, dass neben Russland auch die USA und andere Akteure, die das Völkerrecht bereits mehrfach gebrochen haben, den Internationalen Strafgerichtshof nicht anerkennen. Die Verfolgungsmöglichkeiten jenseits dieser expliziten Anerkennung wären durchaus diskussionswürdig – aber natürlich nur, wenn auch hier gleiches Recht für alle gilt.
    Vermittlungsinstitutionen systematisch geschwächt

    Die Demontage der UNO vonseiten der USA und Großbritanniens sowie die Vereinnahmungsversuche der OSZE durch die Nato (Doktrin 1999) und viele Thinktank-Gründungen dürfen nicht dazu führen, dass man die Verhandlungs- und Vermittlungsinstitutionen verwirft, die lange vor dem Einsatz von Militär zu Interessenausgleich und Konfliktlösungen auffordern und beitragen können.

    Bei aller Ineffizienz, die heute in diesen Institutionen feststellbar ist, muss man diesen Zustand als gewollt und gemacht begreifen von genau denjenigen, die sich in der Übermacht fühlen. Der Widerspruch zum Grundgedanken einer Völkergemeinschaft – im besten, und nicht völkischen Wortsinne – wird hier bereits deutlich.

    Wenn es aber ums Überleben der Menschheit auf diesem Planeten gehen soll, dann werden wir schlicht nicht auf ehrliche Vermittlungsinstitutionen verzichten können. Es waren politische Entscheidungen, die in die aktuelle Misere führten, also können auch wieder andere politische Entscheidungen getroffen werden – mit dem Ziel, Erfahrungsaustausch und Interessenausgleich zu stärken und die Vermittlung zukunftsfit zu machen. Dazu gehört vermutlich die Einführung eines gleichwertigen Stimmrechts in der UNO und die Beiordnung des sogenannten Sicherheitsrats als allenfalls beratendes Gremium.

    Dass die Aufwertung des Stimmgewichts der Länder des Globalen Südens bis heute noch nicht stattgefunden hat, ist ein Skandal, der Züge von Neokolonialismus trägt, aber noch nicht seinen Weg in die Medien gefunden hat. Insofern wäre eine „Fortentwicklung“ der Exekutivinstitutionen zur Durchsetzung des Völkerrechts sicher überlegenswert, aber nicht die Änderung der Rechtsgrundlagen.
    Kommt der Fortschritt aus dem Globalen Süden?

    Koloniale Erfahrung, Einmischung in innere Angelegenheiten und aktuelle ökonomische Ausbeutungsstrukturen haben zu einer Glaubwürdigkeitskrise des Wertewestens geführt.

    Das hier auch medial dominante Framing von den von Russland und China in Abhängigkeit gebrachten südlichen Ländern verfängt in Globalen Süden weit weniger. Wahrgenommen wird dort hingegen auch der Neokolonialismus in Form von IWF-Krediten und Import-Export-Kontrolle sowie der Interventionismus als Teil einer „regelbasierten Ordnung“. In dieses Schema wird offenbar auch die Aufforderung eingeordnet, nur Russlands Angriff auf ein anderes Land zu verurteilen.

    Dort fragen sich viele: Warum nur Russland? Was ist hier anders als bei den anderen Überfällen? Warum gilt nicht gleiches Recht für alle? Die Morde an Lumumba im Kongo, Allende in Chile und weitere Interventionen sind im Bewusstsein der betroffenen Länder präsenter als im hiesigen Diskurs.

    Warum sollte man sich also jenseits von erpresserischen „Investitionen“ und „Entwicklungshilfen“ auf die Seite derer stellen, die bisher vor allem durch Machtausübung und Ausbeutestrukturen aufgefallen sind und deren Ansehen im Lichte der globalen Ressourcen- und Umweltkrise sinkt. Aber auch in Afrika gibt es Stimmen, die die gleiche Verurteilung aller Völkerrechtsbrüche forder.

    Zur globaleren Sicht gehört aber auch, dass der erkennbar gen Indopazifik schweifende Blick von USA und Nato erahnen lässt, wie der „Wertewesten“ bald seine Aufmerksamkeit von der Ukraine ebenso abziehen wird wie kürzlich erst von Afghanistan – in dem man 20 Jahre lang vermeintlich unsere Sicherheit verteidigte und die nun plötzlich nicht mehr bedroht sein soll.

    Die Gefahr völkerrechtswidriger Drohnentötungen auf Verdacht war zudem nicht auf Afghanistan beschränkt. Und nun will man den Menschen im insgesamt stärker bedrohten Globalen Süden erzählen, dass die sogenannten Kamikazedrohnen iranischer Bauart, die Russland in der Ukraine einsetzt, schlimmer sein sollen, als die über Ramstein gesteuerten tödlichen US-Drohnen?

    Natürlich darf mit der Kritik am Doppelmaß nicht die Ächtung dieser Waffen über Bord geworfen werden. Auch hier wird umgekehrt ein Schuh draus. Woran nämlich sollen wir uns sonst in Zukunft gemeinsam orientieren, wenn das Aushöhlen die Standards weiter zugelassen oder gar mitbetrieben wird?

    Die Dysfunktionalität der internationalen Ordnung mit ihren angegriffenen Institutionen kann also weder zur Rechtfertigung eines Machtvorsprungs noch einer Kriegslogik dienen oder gar die immer offener zu Tage tretende Ermächtigung der Nato als eigener politischer Akteur schönfärben.

    Im Gegenteil, darauf gibt es nur eine Antwort: Ohne Wenn und Aber – also ohne Doppelmaß – müssen die geltenden Standards endlich zu ihrem Recht kommen, für alle gleichsam. Nur das kann deren Beschädigung zuwiderlaufen und den Kriegstreibern hüben wie drüben einen Strich durch die Rechnung machen.

    Denn, wie ich kürzlich auf einem Demonstrationsschild las, stimmt sicher folgende Feststellung: „Die Waffen liefern die Reichen, die Armen die Leichen.“ Und im Süden weiß man das anscheinend besser als in großen Teilen der Nordhalbkugel.

    #guerre #droit #propagande #mensonge

  • Sahra Wagenknecht : Von links bis heute
    https://www.telepolis.de/features/Sahra-Wagenknecht-Von-links-bis-heute-7535727.html?seite=all

    Comprendre Sahra Wagenknecht. Dans un livre David Goeßmann publie une critique de gauche de la politicienne. Le présent article en contient une introduction et un chapître qui décrit quelques points communs avec Melenchon.

    5.3.2023 von David Goeßmann - Wagenknecht will nicht mehr für die Linke kandidieren. Sie ist immer ihren eigenen Weg gegangen, mit klarem, eher konservativem Kompass in der Hand. Ein Blick hinter die vielen Gesichter des linken Aushängeschilds.

    Sahra Wagenknecht hat angekündigt, bei der nächsten Bundestagswahl nicht mehr für die Partei Die Linke antreten zu wollen. Sie wolle sich aus der Politik zurückziehen und als Publizistin arbeiten, „oder es ergibt sich politisch etwas Neues“.

    Die Entfremdung Wagenknechts von ihrer Partei läuft schon seit Längerem, genährt vor allem durch ihre Haltung während der sogenannten „Flüchtlingskrise“ und der Coronapandemie.

    Auch bei der Bewertung des Ukraine-Kriegs kam es erneut zu Spannungen. Die Linken-Spitze kritisierte vor allem den Aufruf zu einer Kundgebung im Anschluss an dem mit Alice Schwarzer verfassten „Manifest für den Frieden“. Sie habe sich dabei nicht ausreichend von Russland und rechten Kräften distanziert, hieß es.

    Ob Wagenknecht sich an einer Parteineugründung beteiligen werde, wie zuletzt immer wieder vermutet wurde, ließ sie offen. Dass sie in Zukunft weiter politisch aktiv sein wird, in welcher Form auch immer, sollte außer Frage stehen, wenn man ihren Lebensweg und ihren „Willen zum Politischen“ beachtet.

    Wohin die Reise konkret geht, ist sicherlich ungewiss. Aber wer sich ihre intellektuellen und politischen Konzepte jenseits des parteipolitischen Alltagsgeschäfts vergegenwärtigt – entfaltet in ihren zahlreichen Büchern –, erkennt ein klares, gefestigtes Koordinatensystem.

    Denn Wagenknecht ist nicht nur eine Politikerin, eine öffentliche Reizfigur im Nachwende-Deutschland, sondern auch eine politische Denkerin, deren Glaube vor dreißig Jahren durch den Fall der Mauer „obdachlos“ wurde. Während sie den Schock zu absorbieren suchte, kämpfte sie in einem ständigen politischen Ringkampf um intellektuelle Balance. Die Frage ist: Welche Werte haben sie dabei bis heute angeleitet? Denn wie sie selbst sagt:

    Jeder Mensch hat ein weltanschauliches Grundraster, mit dem er sich in der Welt orientiert. Die Frage ist, in welchem Maße dieses Raster den wirklichen Zusammenhängen entspricht.

    Es folgt ein Auszug aus dem Buch „Sahra Wagenknecht. Von links bis heute“ von David Goeßmann.

    Sahra Wagenknecht hat viele Gesichter. Sie gilt als standfeste Kommunistin und Sozialistin, scharfe Kritikerin des Neoliberalismus und gefeierte Parteiikone der Linkspartei.

    Sie verteidigte die DDR nach ihrem Untergang, heute kämpft sie für die soziale Marktwirtschaft und einen „kreativen Sozialismus“. Idealistin und Realpolitikerin in einem mischt sie die linke Szene immer wieder auf und avancierte dabei zu einer der populärsten Politikerinnen der Republik.

    Auch wenn sie das politische Geschäft als Bürde wahrnimmt, geht sie voran, angetrieben von ihrem Willen, Ideen auch umzusetzen. Das Ergebnis: Aufstieg zur Fraktionsvorsitzenden der Linkspartei, meist eingeladene Politikerin zu Fernsehtalkshows, allseits anerkannte Ökonomin mit großer Fangemeinde – fast eine halbe Million Facebook-Fans –, rund ein Dutzend publizierte Bücher, darunter Bestseller, zahllose Vorträge und Reden.

    David Goeßmann: Sahra Wagenknecht. Von links bis heute. 192 Seiten. ISBN 978-3-360-01349-1

    Sie wird zu der ostdeutschen Spitzenpolitikerin neben der ehemaligen Bundeskanzlerin Angela Merkel (CDU). Seit einigen Jahren ist sie verheiratet mit dem ehemaligen Vordenker der deutschen Sozialdemokratie und Begründer der Linkspartei Oskar Lafontaine.

    Der Erfolgsmarsch durch die Nachwende-BRD war der Ostdeutschen Wagenknecht keineswegs in die Wiege gelegt worden. Im Gegenteil. Das ZDF nannte die „junge Frau“ 1994 einen „lebende(n) Anachronismus“. Die britische Times mutmaßte, dass die „Reformkommunisten der PDS“ wohl bald „Jagd“ auf die „introvertierte Studentin“ machen werden, die weiter DDR und Sowjetunion verteidige.

    Der damalige PDS-Vorsitzende Lothar Bisky spöttelte zur selben Zeit: „Wenn die so weitermacht, wird sie sich eines Tages in die wiedererstandene Rosa Luxemburg verwandelt haben. Sie beginnt in letzter Zeit sogar schon leicht zu hinken.“

    Als die DDR unterging, war es für sie die schlimmste Zeit ihres Lebens. Die welthistorische Tragödie schlägt in Sahra Wagenknechts Denken ein wie ein Komet. Seit dem Trauma des Untergangs des „ersten Sozialismus“ wühlt eine einzige große Frage in ihrem Kopf: Wie konnte das bessere System gegen das schlechtere verlieren und von der Geschichte zur Seite geschoben werden?
    Die linke Sackgasse

    Daraus entsteht ein spannender Kampf um politische Ordnung – im Kopf wie in ihrer politischen Arbeit. Sie beginnt, wie kaum eine andere in Deutschland, den Todeskampf des Kapitalismus in seinem vermeintlich letzten Stadium zu analysieren. Und entwirft einen Ausweg. Ein Konzept für eine radikal neue Wirtschaftsordnung, die Wiedergeburt eines „zweiten Sozialismus“ aus dem wiedervereinigten Deutschland. Eine Art soziale Marktwirtschaft Update 2.0.

    Ihr politischer Optimismus scheint trotz Voranschreitens des – wie sie es nennt – „Neofeudalismus“ ungebrochen. Sie will verändern, den neuen Sozialismus noch selbst erleben. Und ruft als Fraktionsvorsitzende der Linken eine außerparlamentarische Oppositionsbewegung ins Leben mit dem Namen Aufstehen. Burn-out und partieller Rückzug folgen.

    Sahra Wagenknechts Denken bildet dabei immer eine intellektuelle Brücke zwischen DDR und BRD, Ost und West. Sie ist Politikerin und politische Ökonomin zugleich, vereint Sachkompetenz mit radikaler Kritik.

    So hält sie seit drei Jahrzehnten das Bewusstsein wach, dass der Kapitalismus am Ende ist und über eine andere, bessere Welt nachgedacht werden sollte. Sie mahnt: Wir brauchen den Systemwechsel.

    Trotz aller Wandlungen von der DDR-Sozialistin zur Verfechterin von Markt, Wettbewerb und Leistung hat sich Sahra Wagenknechts inneres Koordinatensystem, ihr Kompass in den letzten dreißig Jahren nicht geändert. Sie bleibt auf Kurs. Und der ist keineswegs auf Umsturz ausgerichtet, sondern auf ein eher konservatives Programm.

    Von Goethe und Hegel, ihren geistigen Vätern inspiriert, kämpft sie um ökonomische Ordnung und Sicherheit, um nationalen Wohlstand und eine bessere Führung der Gesellschaft. Und um Reichtum mit weniger Gier, dem sich andere Werte wie Freiheit unterzuordnen haben. Illiberale Schwingungen waren in ihrem Denken immer präsent. Im Zuge der „Flüchtlingskrise“ kommen sie verstärkt wieder an die Oberfläche.

    Ihr großes Verdienst: Mit Sachverstand hebelte sie seit den 90er-Jahren die neoliberale Rhetorik aus, wo immer sie auftritt. Und sie legte den Finger in die Wunde einer immer weniger leistungsfähigen und unsozialen Volkswirtschaft. Sie blieb fokussiert und hat vielen Menschen mit ihrer Analyse und Kritik Mut gemacht.

    So wird sie trotz Widerständen gegen ihren „Kommunismus“ Stück für Stück zur Ikone der Linken, verbindet dabei fast spielerisch Kapitalismuskritik mit dem Alltagskampf für soziale Reformen. Das unterscheidet sie von den Helden der 68er-Proteste im Westen, die in ihrem Marsch durch die Institutionen den Kurs aus den Augen verloren haben.

    Sahra Wagenknechts Marsch durch die Nachwende-BRD verläuft anders. Sie bleibt auf Kurs, weil ihr Antrieb tiefer wurzelt. Und weil die Politikerin Wagenknecht mit der politischen Ökonomin Wagenknecht gemeinsam vorangehen.

    Sie vertritt dabei einerseits realpolitische Reformen mit ökonomischem Sachverstand, der weiß, wie der real-existierende Kapitalismus funktioniert. Ihr eigentliches Ziel ist aber der Systemwechsel. Denn, wie sie früh feststellt, stellen Lösungen innerhalb des kapitalistischen Systems keine Überwindung des Grundübels dar.

    Daher kreisen ihre Gedanken immer wieder um ein gesellschaftliches Alternativmodell zum Kapitalismus. Ihr Gegenentwurf besteht in einer sozialeren Leistungsgesellschaft, orientiert an maximalem Output und Wohlstand.

    Die Idee von Wagenknecht ist: Entmachtung des Großkapitals, langsame Ersetzung durch die „klugen Köpfe“ der Koordinierer-Klasse, die den Laden in Zukunft allein organisieren sollen, mehr Markt und Konkurrenz, während der geplünderte Teil der Welt grosso modo mit Versprechungen abgespeist wird.

    Doch damit werden der Kapitalismus und das darin enthaltene Ur-Übel nicht wie versprochen überwunden. Das moralische Dilemma von Freiheitsbeschneidungen, Ungerechtigkeiten und Machtballungen schwelt auch im „kreativen Sozialismus“ Wagenknechts weiter.

    Ihr umstürzender Sozialismus endet im Versuch, den Kapitalismus mit seinen eigenen Mitteln zu schlagen. Sie glaubt dabei nicht, wie Adam Smith in seinem Hauptwerk „The Theory of Moral Sentiments“, an Ergebnisgleichheit, sondern an gleiche Chancen, also Leistungsgerechtigkeit.

    Ihre Reform, die im Kern einen revolutionären „Enteignungsakt“ enthält, ermöglicht dabei keine Demokratisierung von unten, Freiheit und Gerechtigkeit. Ihre soziale Marktwirtschaft 2.0 befördert keineswegs, wie Wagenknecht meint, menschliche Kreativität und Vielfalt. Sie plädiert für Elitenkoordination, Märkte und Parteien, nicht für ihre Überwindung. An den Modellen für eine demokratische Planung oder regionalen Wirtschaftsdemokratie geht sie vorbei, wie viele Linke.

    Realpolitisch kann zudem davon ausgegangen werden, dass die revolutionäre Entmachtung des Großkapitals, wenn es denn dazu kommen sollte – mit seinen durchaus chaotischen und kämpferischen Abläufen – am Ende die Koordinierer-Klasse mit in den Abgrund ziehen wird. Und wenn nicht, dann wird diese neue tonangebende Klasse die „Masse“ genauso in Schach halten wie die vorherige, um Privilegien zu verteidigen.

    Wagenknechts Lob der „klugen Köpfe“ sowie die Entsorgung globaler Gerechtigkeit ist dabei keineswegs rein parteistrategisch begründet. Ihre Haltung wurzelt im Konzept einer Elitendemokratie und der Apologie nationalen Reichtums, mit diversen anti-libertären Schwingungen, die auch in linken und marxistischen Strömungen anzutreffen sind.

    Ihre geistigen Inspirationen stammen nicht zufällig von Goethe und Hegel, konservativ-bürgerlichen Denkern. Heute schließt sie an Intellektuelle wie Paul Collier oder Bernd Stegmann an, die Moral entsorgen und sich im Angesicht des kapitalistischen Weltsturms ins nationale Schneckenhaus der reichen Industriestaaten zurückziehen wollen.

    Eine wiederbelebte soziale Marktwirtschaft ist als Ziel aber eine Sackgasse, in die sich die Linke und die Sozialdemokratie seit rund hundert Jahren zunehmend verstrickt haben, wie Rosa Luxemburg schon vor hundert Jahren erkannte.
    Antiliberale Einstellungen und eine ermüdende Arbeiterschaft

    Dabei ist die Maxime: „Erst kommt das Fressen, dann die Moral“ eine toxische Ausgangsbasis, vor allem, wenn sie nationalegoistisch interpretiert wird. Die Geschichte des Scheiterns des gebändigten Markts und der marktsozialistischen Experimente sollte klarmachen, dass es eines anderen Fundaments und einer freiheitlichen Vision braucht, die wieder auf das zurückgreift, von dem aus der historische Kampf um die gesellschaftliche Emanzipation des Menschen aus der fremdverschuldeten Unmündigkeit startete und ihn vorantrieb.

    So sollte Wilhelm von Humboldt nicht nur gepriesen, sondern beim Wort genommen werden. Denn menschliche „Mannigfaltigkeit“ und Freiheit sind für klassische Liberale nicht nur Floskeln. Sie drängen auf gesellschaftliche Institutionen, die sie ermöglichen und fördern. Unter der Herrschaft freier Märkte und in einer Konkurrenzgesellschaft, wie immer gut sie reguliert sein mag, bleiben solche Grundwerte Abfallprodukte und Nebeneffekte. Wenn überhaupt.

    So haben Linke, Sozialdemokraten und Gewerkschaften ihre visionäre Zugkraft verloren und ziehen seit Jahrzehnten eine zunehmend ermüdende, atomisierte Arbeiterschaft hinter sich her, oft kleinbürgerlich auf Sicherheit bedacht, die vom neoliberalen Kapitalismus desillusioniert und mit Frustableitung auf Schwächere, Nicht-Einheimische, fremde „Kostgänger“ und „Störenfriede“ der nationalen Ordnung gefüttert wird.

    Eine explosive Mischung, die überall, in den USA, in europäischen Ländern, Brasilien, Russland, der Türkei oder in Israel zunehmend zu einem politischen Angriff auf erkämpfte liberale Werte, demokratische Institutionen und internationale Kooperation geführt hat.

    Der Kampf für eine andere Gesellschaft ist zudem nicht nur ein rein legislativer Vorgang, wie libertäre Sozialisten und Anarchisten herausstellen, bei dem ausschließlich eine neue Eigentumsordnung geschaffen werden müsse. Es ist zugleich ein Bewusstseinswandel, eine spirituelle Erneuerung, ein zu beförderndes Verlangen nach Freiheit und Gerechtigkeit in der Bevölkerung, aus dem die gesellschaftliche Neuorganisation erst resultiert.

    Ein solches politisches Bewusstsein liefert erst die nötige Kraft und Inspiration, um sich für den Aufbau von gesellschaftlichen Einrichtungen einzusetzen, die Freiheit, Kreativität, Gleichheit und Solidarität wiederum stimulieren.

    Aber Wagenknecht stutzt das gesellschaftliche Ideal, der sozialdemokratischen Tradition seit dem 2. Weltkrieg folgend, auf „Wohlstand für alle“ zurück, der von einer Koordinierer-Klasse in einer Marktgesellschaft organisiert werden soll. Es geht nicht mehr wie im klassischen Liberalismus, bei libertären Sozialisten und den Arbeiterbewegungen um „Kreativität für alle“, „erfüllende, gute Arbeit für alle“ und auch nicht um „volle Kontrolle der Arbeitenden über ihre Arbeit“.

    Daher können anti-libertäre und illiberale Einstellung an die Oberfläche gespült werden, wenn das primäre Ziel es zu erfordern scheint. Darin liegt der Grund für die „Volatilität“ in Wagenknechts Wertesystem, das Changieren in ihren politischen Positionen sowie ihr oszillierendes Moralverständnis.

    Es sind die Spannungen eines Programms, das moralisch motiviert ist, bei gleichzeitiger Abwehr von Moral. Denn ihr Denkgebäude, sosehr es von Ungerechtigkeit motiviert ist, wehrt Bestrebungen ab, die über eine Wohlstands- und Verteilmoral im nationalen Rahmen hinausgehen, und disloziert Freiheitsbestrebungen ins „Land Nirgendwo“, die gegen eine von oben gesteuerte Ordnung gerichtet sind – ob nun in der Ökonomie oder der Politik.

    Zugleich beginnt ihre sozialistische Politik in den letzten Jahren den moralischen Rückzug anzutreten. Sie hält Linken vor, sich mit ihrer Moral, ihren „versponnen“ und „anmaßenden“ Ideen gegen die Unterschichten zu stellen und die Arbeiter mit ihren Bedürfnissen zu verraten.

    Und das, während Politik und Medien Kleinbürgergeist und Sicherheitsbedürfnisse am Fließband produzieren, Einheimische gegen Minderheiten aufbringen und progressive Kräfte spalten, um von den eigentlichen Frustverursachern abzulenken. 1998 sagte Wagenknecht, dass die Lösung für die Krise „nicht in einer besseren Moral, sondern in einer veränderten Ökonomie“ liege. Doch was ist eine Ökonomie wert, die nicht auf Moral aufbaut?

    Was bleibt also unterm Strich von Wagenknechts alternativem ökonomischen und gesellschaftlichen Programm? Sie will wie Jean-Luc Melanchon in Frankreich, aber auch Jeremy Corbyn und Bernie Sanders in den USA und Großbritannien den Staat und die Gesellschaft gegen den Markt stärken und weitreichendere Eingriffe in die kapitalistische Ökonomie ermöglichen.

    Linke Parteien wie die Grünen und Sozialdemokraten dagegen haben diese Position, nicht nur in der Theorie, sondern in der Realpolitik längst aufgegeben (wie Wagenknecht zu Recht kritisiert) – trotz aller Rhetorik und politischer Kosmetik. Wagenknecht verteidigt demgegenüber seit dreißig Jahren das Eintreten für mehr soziale Gerechtigkeit und eine Antikriegshaltung.

    Sie befördert mit ihrer Kritik am neoliberal globalisierten Kapitalismus zugleich den Appetit auf eine andere, bessere Welt. Ihr Lob des freien Unternehmertums, eines Top-Down-Managements, der von Konkurrenz angetriebenen Leistungsgesellschaft, des Sicherheitsstaates, nationaler Autarkie, die Entsorgung von globaler Verantwortung sowie ihre Neigung zu populistischen Rhetoriken, um Arbeiter:innen und Kleinbürger:innen zu mobilisieren, sind aber kaum angetan, diesem Hunger jenseits von Reformzielen das geistige Mahl zu bereiten, dessen er bedarf, um nicht bei der erstbesten Abspeisung im politischen Alltagskampf wieder zu verschwinden.

    #Allemagne #nationalisme #populisme #politique #Linke #gauche

  • Geschwächter Westen : Die große geoökonomische Zeitenwende
    https://www.telepolis.de/features/Geschwaechter-Westen-Die-grosse-geooekonomische-Zeitenwende-7398501.html?s

    Camarade Oulianov avait raison quand il a décrit les mécanismes qui poussent les pays impérialistes à la guerre. Son adversaire camarade Luxemburg nous a légué une analyse du capitalisme qui explique sa folle course inexorable vers la croissance économique. Nous avons compris que c’est ainsi que la classe capitaliste nous entraîne dans les catastrophes à répitition. Rosa ne voulait pas des tactiques « léninistes » et pour cela elle demeure une source d’inspiration importante. C’était quand même la fondatrice du « Spartakusbund », le noyau social-démocrate à l"origine du parti communiste allemand.

    L’article ci-dessous contient une déscription de la situation mondiale actuelle et la compare à quelques tournants de l’histoire dont celui de 1917-1919 qui a mis à l’épreuve les idées des socialistes révolutionnaires de l’époque.

    En le lisant je dois penser à ces moments après des années de guerre quand les peuples en auront assez et se révolteront contre les personnes qu’ils tiennent pour responsables. Ce moment arrivera tôt ou tard, alors il se pose la question qui prendra les rènes des mouvements de révolte et les transformera en révolutions ?

    Est-ce que nous auront affaire à des fanatiques religieux du genre Chomeini ou à des bâtards léninistes et maoistes ? Est-ce que les élites placeront-elles à la tête des révoltes des néo-social-démocrates et néo-fascistes ou est-ce que l’humanité saura-t-elle enfin inventer cette nouvelle forme d’organisation qui mènera à une société libre et capable de dompter les mécanismes du capitalisme sans passer par un énième régime de la terreur ? Est-ce que la défaite sera totale et seulement quelques spécimens de la race humaine auront survécu pour périr après quelques siècles de barbarie ?
    On ne peut pas le savoir. Alors au boulot et que le meilleur gagne ;-)

    30.12.2022 von Alexander Rahr - Erst seit dem Ukraine-Krieg realisiert man in Europa die Abhängigkeit vom eurasischen Raum. Russland und China kontrollieren zunehmend Handelsrouten nach Europa. Drohen permanente Konflikte?

    Dieser Beitrag erschien zuerst in der Monatszeitschrift Welttrends.
    http://welttrends.de

    Der Krieg in der Ukraine wurde zum Katalysator für eine radikale Zeitenwende in der Geopolitik und der Geoökonomie. Selten hat die Weltpolitik, ausgelöst durch ein monumentales Ereignis, innerhalb solch kurzer Zeit so tiefgreifende Veränderungen erfahren.

    Nach einem Viertel des 21. Jahrhunderts ist klar, dass sich der Übergang von einer unipolaren, westlich dominierten Weltordnung zu einer multipolaren nicht friedlich gestalten kann. Die nicht-westlichen Mächte kämpfen für eine multipolare Weltordnung, für den Westen ist das eine ernsthafte Bedrohung.

    In dieser globalen Auseinandersetzung gibt es keinen Gewinner. Der Westen bleibt ein geeinter, aber geschwächter Machtblock. Daneben entsteht ein zweiter Machtblock mit „Eurasischen Allianzen“, getragen von autoritär regierten Mächten wie China, Russland, Indien, Türkei, Iran und Nordkorea.

    Die Weltpolitik steht vor einer längeren globalen Auseinandersetzung zwischen Werte-Ideologien und Systemen, vor dem Zerfall der Welt in unterschiedliche Wirtschafts-, Rechts- und Werte-Räume. Dies wird Jahrzehnte dauern.

    Der Westen hat erst spät begonnen, die geoökonomischen Folgen des neuen Weltkonflikts zu berechnen. Russlands Angriffskrieg hat Europa in eine dramatische Energiekrise gestürzt. Es explodieren nicht nur die Strom-, Gas- und Ölpreise, es steht die gesamte Versorgungssicherheit des Industriestandorts Europa auf dem Spiel. Die Inflation ist außer Kontrolle und die Rezession bedroht Millionen Arbeitsplätze.
    Regionalisierung statt Globalisierung

    Die Welt geht dem Ende der Globalisierung entgegen, begleitet von Machtverschiebungen im Regelwerk von WTO, OECD, Weltbank und IWF. Die Zukunft der UNO als Hüterin des Völkerrechts steht auf dem Spiel. Die Weltwirtschaft steht vor einer dramatischen Regionalisierung.

    Die BRICS-Staaten – ein Verbund, in dem Russland und China dominieren – kontrollieren inzwischen ein Viertel der Weltwirtschaft und haben zu den USA und der EU deutlich aufgeholt. Die westliche Bevölkerung macht nur ein Siebtel der Weltbevölkerung aus, verglichen mit 41 Prozent in den BRICS.

    Die demographische Entwicklung schwächt den Westen. Der Wunsch der USA, unterstützt von der EU, Hegemonialmacht zu bleiben, ist nicht mehr aufrechtzuhalten. Regionalisierung lautet das Schlagwort der Weltwirtschaft.

    Die Entflechtung Europas und Asiens wurde zwar schon in der Pandemiephase sichtbar, doch niemand dachte, dass sie sich so konfrontativ gestalten würde. Der bisherige friedliche Ordnungsrahmen, in dem Rohstoffproduzenten und Rohstoffkonsumenten zivilisiert miteinander umgegangen sind, gehört der Vergangenheit an.

    Der Besitz an Rohstoffen, die Rohstoffabhängigkeiten, die Kontrolle über die technologische Förderung von Rohstoffen und über die Rohstofftransportrouten – all dies wird zu wichtigen Waffen in der Auseinandersetzung.

    Wer kontrolliert die Rohstoffe?

    Die Kontrolle über die Rohstofftransitrouten dürfte zu der militärischen Herausforderung im 21. Jahrhundert werden. China und Russland haben sich strategisch gut positioniert. Russland hat in Europa und Asien eine Infrastruktur für den Gashandel geschaffen und wird in Zukunft die Haupttransportroute zwischen Europa und Asien – auch die zunehmend eisfreie Nordost-Passage – kontrollieren.

    Wenn der Westen nicht aufpasst, sind alle Handelswege zwischen Europa und Asien bald in chinesischer bzw. russischer Hand. Tatsache ist, dass Europa strukturell abhängig von Rohstofflieferungen aus anderen Erdteilen bleibt. Insbesondere bei der Veredelung der Metalle kommt Europa nicht an China vorbei. Doch die Frage, wer in der Welt mächtiger wird – Staaten, die über Energie- und Rohstoffhandel herrschen, oder Staaten mit höher entwickeltem Modernisierungspotential – ist nicht beantwortet.

    In den vergangenen 500 Jahren fiel die Antwort eindeutig aus: Niemand bezweifelte die wirtschaftliche Überlegenheit des Westens. Doch die globalen Spielregeln ändern sich. Möglicherweise hat Putin diesen Umstand früh erkannt und eiskalt ausgenutzt. In der Not werden, wie in der Pandemiebekämpfung, alte Prinzipien über Bord geworfen. Die Europäer kehren zum Fracking-Verfahren Europa bei der Erdgas- und Erdölversorgung zurück.

    Europa will alle notwendigen Seltenen Erden – koste es was es wolle – aus dem eigenen Boden fördern. Man fordert eine Renaissance der Bergbauindustrie in Europa. Die Veränderung der europäischen Landschaft durch den rasanten Ausbau von Windkrafträdern löst seit Jahren Proteste aus. Und wenn es in Folge des Frackings zu Erdbeben kommt, wie in den Niederlanden?

    Zur nüchternen Feststellung gehört: Russland wird zwar aufgrund der Sanktionen den ausbleibenden Technologieimport aus dem Westen mit dem Wohlstandsverlust teuer bezahlen. Doch den Westen wird der Wegfall von Rohstoffen sowie der Verlust von Exportmärkten und der Verzicht auf Billigproduktion ins Mark treffen.

    Die geoökonomischen Verwerfungen werden für alle Seiten schmerzhaft sein. Wegen Rohstoffen kommt es zu Kriegen. In Bezug auf das Erdöl war dies in der jüngsten Geschichte schon oft der Fall. Bezeichnend ist der Krieg in der Ukraine. Sollte es Russland gelingen, die Ostukraine ganz zu erobern, würde Kiew zwei Drittel seiner Bodenschätze verlieren.

    Russland hat die Ukraine vom Schwarzen Meer abgeschnitten und kontrolliert mittlerweile rund 63 Prozent der ukrainischen Kohle, elf Prozent des Öls, 20 Prozent des Erdgases, 42 Prozent der Metalle und 33 Prozent der Seltenen Erden. Die Ostukraine ist eines der mineralienreichsten Gebiete in Europa. Neben den riesigen Kohlevorkommen gibt es dort Titan- und Eisenerzvorkommen, die zu den größten Reserven der Welt zählen.
    Atomenergie und russisches Uran

    Fairerweise für den Westen sei gesagt, dass Staaten wie Deutschland sich der Rohstoffabhängigkeit seit Langem bewusst sind und deshalb die Energiewende einleiteten. Das Embargo gegen russische Energieträger kann jetzt ohne die Reanimierung von Kohle und Atomenergie jedoch nicht ausgeglichen werden.

    Der Atom- und Kohleausstieg wird in Europa vertagt – mit verheerenden Folgen für die weltweite Umwelt- und Klimaschutzpolitik. Ein noch radikalerer Umstieg auf grüne Technologien, wie Solarenergie und Windkrafträder, wird nicht funktionieren, weil für ihre Herstellung tonnenweise Rohstoffe benötigt werden.

    Ein Land wie Kanada, auf dem die europäischen Hoffnungen jetzt ruhen, ist nicht in der Lage, die Rohstofflieferungen aus Russland und China auszugleichen. Um aus der russischen Abhängigkeit herauszukommen, fordern Politiker eine Rückkehr zur Atomenergie.

    Die USA und die EU sind von größeren Uranlieferungen aus Russland abhängig. Russlands Staatsunternehmen Rosatom dominiert den Weltmarkt. Rosatom ist der zweitgrößte Uranproduzent der Welt. Es verfügt über 15 Prozent an der globalen Förderung. Gemeinsam mit Kasachstan beherrscht Russland fast 40 Prozent des Weltmarktes.

    Bei der Herstellung von angereichertem Uran, das für den Betrieb von Atomkraftwerken benötigt wird, ist die Abhängigkeit noch größer: Über ein Drittel des weltweiten Bedarfs kommt aus Russland. Auch die noch laufenden deutschen AKW werden zum großen Teil damit betrieben. Die EU bezieht 20 Prozent des Urans aus Russland, weitere 19 Prozent kamen von Russlands Verbündetem Kasachstan.

    Die Betreiber von Kernkraftwerken fordern daher die US-Regierung auf, keinen Importstopp für russisches Uran zu verhängen. In den USA werden rund 20 Prozent des Stroms mit Uran aus Russland und seiner Verbündeten Kasachstan und Usbekistan erzeugt. Nur durch die günstige Einfuhr von Uran als Brennstoff können die Strompreise in den USA auf niedrigem Niveau gehalten werden.

    Auch der Krieg in Mali ist eng mit der Rohstoffzufuhr für den Atomstaat Frankreich verbunden. In Mali lagern große Uranvorkommen. Dass Frankreich aus Mali nun ausgerechnet von Russland verdrängt wird, ist ein weiteres Moment der gegenwärtigen Rohstoffkriege.

    Der Konflikt um Gas

    Das ökologisch sauberere Erdgas wird nicht mehr als goldener Brückenenergieträger beim Übergang zu erneuerbaren Energien dienen. Das russische Erdgas gewann seine dominante Stellung in der grünen Energiewende. Da Wind- und Solarenergie flatterhaft sind, braucht man regelbare Kraftwerke. Die Kohle- und Atomkraftwerke wollte die Politik abschalten, also blieb nur das Gas.

    Die unheilvolle Abhängigkeit vom russischen Erdgas ist auch ein Kollateralschaden einer unbedacht organisierten Energiewende. Produzenten und Konsumenten setzen Erdgas als Waffe ein. Die USA, die Russland dafür kritisieren, tun es selbst, die EU auch. Die USA versuchen seit Jahren, den Europäern den Gashandel mit Russland zu untersagen.

    Dabei wollen sie selbst zum Hauptversorger Europas mit Flüssiggas (LNG) werden. Nach der russischen Invasion in der Ukraine hat der Westen ein Embargo gegen russisches Öl und Kohle beschlossen und durch die Sperrung von Nord Stream 2 den russischen Gashandel sanktioniert.

    Die Ukraine und Polen haben wichtige Gazprom-Routen für Lieferungen nach Europa geschlossen – als Waffe gegen Russland. Und Moskau antwortete mit der Drosselung des Gasexports durch Nord Stream 1.

    Die Gefahr eines Engpasses bei Gas wurde in Deutschland zu spät erkannt. Deutschland wollte sich zunächst vom russischen Gasimport vollständig lösen. Berlin dachte, so die russische Wirtschaft beschädigen zu können. Doch nun stellt Deutschland seine Abhängigkeit vom russischen Gas fest. Die deutsche Industrie würde ohne russische Gaslieferungen zusammenbrechen.

    Der Gaskonflikt nimmt immer größere Ausmaße an. Europa ringt um eine Alternative zu russischem Gas, ansonsten droht den Europäern die Kälte. Gleichzeitig kommt es in Bangladesch und Pakistan zu Stromausfällen. Der Grund für den Strommangel in den Entwicklungsländern liegt in Europa.

    Die europäische Nachfrage nach Flüssiggas steigt sprunghaft. Europa ist bereit, dafür jeden Weltmarktpreis zu überbieten. Europa saugt das gesamte LNG aus der Welt auf und in Asien gehen die Lichter aus.

    Wie weiter mit Sanktionen?

    Die Frage lautet, ob der Westen sich genötigt sieht, die Russlandsanktionen wieder aufzuheben. Die Politik wird zwar dagegen sein, aber Tatsache bleibt, dass die Sanktionen gegen Russland nicht zum Zusammenbruch der russischen Wirtschaft geführt haben, wohl aber zum Ende der Globalisierung.

    Keine Frage, die Sanktionen schaden Russland. Nach russischen Angaben ist das BIP des Landes nach Ausbruch des Krieges um 4 Prozent eingebrochen; erwartet wird ein Rückgang von 7 Prozent. Die russischen Steuereinnahmen aus Importen sind um 44 Prozent zurückgegangen, was zeigt, dass die Parallelimporte nicht funktionieren.

    Die russischen Lagerbestände sind nahezu aufgebraucht. Der Einfuhrstillstand würgt die Wirtschaft ab, auch weil Russland 30 Jahre lang die eigene Industrie vernachlässigt hatte, im Glauben, sich auf billigere Westimporte verlassen zu können. Experten sagen voraus, dass Russlands Wirtschaft in die Mangelwirtschaft der 1990er Jahre zurückgeworfen werden dürfte.

    Der Westen ist, entgegen vieler seiner Aussagen, nicht an einem Komplettbruch mit Russland interessiert. Den Gaseinkauf gestalten europäische Konzerne in Rubel, wie es die russische Regierung fordert. Der Westen wird auch den russischen Nahrungsmittelexport, so wie den Uranexport, von der Sanktionsliste nehmen. Vielleicht wird in Zeiten akuten Gasmangels Nord Stream 2 doch noch in Betrieb genommen?

    Jedenfalls reift im Westen die Erkenntnis, dass Sanktionen dem eigenen Wohlstand nicht mehr schaden dürfen als dem Gegner. Das westliche Energieembargo hat den Geldfluss an Petrodollars nach Russland nicht gemindert. Im Gegenteil! Der Preisanstieg durch die künstlich herbeigeführte Verknappung hat Russlands Staatskasse wieder gefüllt.

    Allerdings wird Russlands Rechnung, dass der Westen die Sanktionen schnell fallen lässt, nicht aufgehen. Russland geoökonomische Vorteile gegenüber dem Westen sind kurzfristiger Natur. Europa ist, trotz seiner Schwächen, sehr widerstandsfähig.

    Die EU kann es mit einer enormen Kraftanstrengung bis 2050 schaffen, sich von fossilen Energiestoffen zu lösen und die eigenen Volkswirtschaften auf grüne Technologien umzustellen. Das auf reinen Rohstoffexport fixierte russische Wirtschaftsmodell ist der westlichen Marktwirtschaft letztlich unterlegen.
    Ein vorläufiges Fazit

    Die Welt wird Zeuge von bahnbrechenden geopolitischen Machtverschiebungen, wie man sie 1815, 1919, 1945 und 1991 sah. Es drohen permanente Konflikte, die entweder mit einem Sieg des demokratischen Westens gegen den Block der autoritären Staaten enden werden, oder in einer neuen Machtverteilung in einer wirklich multipolaren Weltordnung münden.

    Die alte Ordnung, die seit dem Ende des Zweiten Weltkriegs den europäischen und den Weltfrieden mehr oder weniger garantiert hatte, ist definitiv zu Ende. Die geoökonomischen Folgen des Weltumbruchs sind für alle Seiten schmerzhaft. Das Leben wird teurer, der Wohlstand ist kaum aufrechtzuerhalten.

    Statt Handelsverflechtungen kommt es zu einer Militarisierung in Europa und Asien. Die 100 Jahre alt werdende Politikerlegende Henry Kissinger prognostiziert einen möglichen Krieg der USA und des Westens mit China und Russland. Solange jede konkurrierende Seite vom eigenen Sieg und der Niederlage des Gegners überzeugt ist – und diesen Sieg als moralisch zwingend für sich erachtet –, werden Abrüstung und Entspannung nicht funktionieren.

    Prof. hon. Alexander Rahr, geb. 1959, ist Historiker, Buchautor, u. a. „Der 8. Mai. Geschichte eines Tages“ (2020), Senior Research Fellow des WeltTrends-Instituts für Internationale Politik

    #impérialisme #concurrence #guerre

  • Antisemitismus in Deutschland
    https://www.telepolis.de/features/Antisemitismus-in-Deutschland-7517145.html?seite=all

    L’a politque allemande par rapport á l’antisemitisme est extrémiste et contradictoire. On y criminalise sous prétexte d’antisemitisme toute critique conséquente de l’état d’Israel. En même temps on fait cause commune avec des organisations islamistes qui ne dissimulent qu’à peine leur antisemitisme. Dans cette interview Hartmut Krauss nous fournit quelques indices pour mieux saisir comment fonctionne cette politique contradictoire.

    16.2.2023 von Reinhard Jellen - Der islamkritische Sozialwissenschaftler Hartmut Krauss zur Judenfeindlichkeit in der Berliner Republik.

    In dem von Eric Anger und Ronald Bilik mitverfassten Buch Judenfeindlichkeit - Ideologische Wurzeln und gegenwärtige Erscheinungsformen befasst sich der Sozialwissenschaftler Hartmut Krauss mit Ausprägungen und Ursachen des hiesigen Antisemitismus. Telepolis sprach mit dem Autor.

    Herr Krauss, in welcher Bevölkerungsgruppe ist nach Ihrer Einschätzung der Antisemitismus in Deutschland am weitesten verbreitet?

    Hartmut Krauss: Zwar gibt es immer noch einen zu hohen Anteil von judenfeindlichen und „modern“-antisemitischen Einstellungen unter einheimischen Deutschen – insbesondere in alt- und neurechten Milieus –, die entschieden zu verurteilen und offensiv einzudämmen sind.

    Aber dennoch ist entgegen den politisch-medial vorherrschenden einseitigen Darstellungen Folgendes klar hervorzuheben: Judenfeindlichkeit, vor allem in ihren aggressiv-aktivistischen Ausdrucksformen, ist vornehmlich ein muslimischer Migrationsimport und weit überproportional unter Zuwanderern aus islamisch geprägten Ländern verbreitet.
    Studien zu antijüdischen Einstellungen bei Muslimen in Deutschland

    Worauf stützen Sie Ihre Bewertung?

    Hartmut Krauss: Insbesondere auf eine ganze Reihe empirischer Befunde. Tatsächlich ist schon seit längerer Zeit bekannt, dass die Hauptträger des Antisemitismus in Deutschland zugewanderte Muslime sind, darunter seit 2015 verstärkt auch Flüchtlinge.

    „Bezogen auf antisemitische Vorurteilsbekundungen äußern junge Muslime mit 15,7 Prozent die höchste Zustimmung. Bei den Nichtmuslimen mit Migrationshintergrund liegt diese Quote bei 7,4 Prozent und bei den einheimischen Jugendlichen bei 5,4 Prozent.“

    Auch in der Studie „Lebenswelten junger Muslime in Deutschland“ (2011) zeigte sich, dass nichtdeutsche und deutsche Muslime (25 Prozent - 33 Prozent) deutlich häufiger „Vorurteile gegenüber Juden“ hegen als deutsche Nichtmuslime (fünf Prozent).

    In einer Umfrage der Anti-Defamation-League aus dem Jahr 2015 zeigten 14 Prozent der Christen in Deutschland antisemitische Neigungen, unter Atheisten waren es 20 Prozent. Bei Muslimen lag der Anteil bei 56 Prozent.

    Eine vom Berliner American Jewish Committee (AJC) in Auftrag gegebene und vom Allensbacher Institut für Demoskopie durchgeführte Repräsentativbefragung mit dem Titel „Antisemitismus in Deutschland“ (2022), bei der auch die Einstellungen von muslimischen Personen erfasst wurden, gelangte zu folgenden wesentlichen Ergebnissen:

    1. Antijüdische Einstellungen sind bei Muslimen deutlich stärker verbreitet als in der deutschen Gesamtbevölkerung.

    2. Je stärker der Grad der Religiosität bzw. die subjektive Bindung an den Islam ausgeprägt ist (hier gemessen an der Häufigkeit von Moscheebesuchen), desto häufiger werden auch antijüdische Einstellungen geteilt.

    3. Bezogen auf die im Bundestag vertretenen Parteien weisen AfD-Anhänger am häufigsten antijüdische Einstellungen auf.

    Die Aussage „Juden haben zu viel Macht in der Wirtschaft und im Finanzwesen“ bejahen 23 Prozent in der Gesamtbevölkerung, 39 Prozent der AfD-Anhänger, 49 Prozent der Muslime (die von Israel ein gutes Bild haben), 56 Prozent der Muslime (die von Israel ein schlechtes Bild haben), und 68 Prozent der Muslime, die häufig die Moschee besuchen.

    Die Aussage „Juden haben zu viel Macht in der Politik“ bejahen 18 Prozent in der Gesamtbevölkerung, 34 Prozent der AfD-Anhänger, 38 Prozent der Muslime (die von Israel ein gutes Bild haben), 53 Prozent der Muslime (die von Israel ein schlechtes Bild haben), und 60 Prozent der Muslime, die häufig die Moschee besuchen.

    Die Aussage „Juden haben zu viel Macht im Bereich der Medien“ bejahen 18 Prozent in der Gesamtbevölkerung, 31 Prozent der AfD-Anhänger, 41 Prozent der Muslime (die ein gutes Bild von Israel haben), 53 Prozent der Muslime (die ein schlechtes Bild von Israel haben), und 64 Prozent der Muslime, die häufig die Moschee besuchen.

    Die Aussage „Juden nutzen ihren Status als Opfer des Völkermords im Zweiten Weltkrieg zu ihrem eigenen Vorteil aus“ bejahen 34 Prozent in der Gesamtbevölkerung, 48 Prozent der AfD-Anhänger, 52 Prozent der Muslime (die ein gutes Bild von Israel haben), 61 Prozent der Muslime (die ein schlechtes Bild von Israel haben), und 65 Prozent der Muslime, die häufig eine Moschee besuchen.

    Der signifikant höhere Verbreitungsgrad antijüdischer Einstellungen unter Muslimen schlägt sich auch in der Wahrnehmung jüdischer Opfer von Diffamierungen und Gewalt nieder.

    Nach einer Studie der European Union Agency for Fundamental Rights (EU-Agentur für Grundrechte) aus dem Jahr 2013 schätzten bei Fällen von körperlicher Gewalt oder ihrer Androhung 40 Prozent der Betroffenen die Täter als Personen „mit extremistisch muslimischer Orientierung“ ein: „Deutlich seltener wurden sie als links- oder rechtsgerichtet wahrgenommen.“
    "Feinde der islamischen Weltherrschaft"

    Warum wird darüber vergleichsweise wenig berichtet?

    Hartmut Krauss: Der Sachverhalt, dass zugewanderte Muslime in Deutschland im Durchschnitt deutlich judenfeindlicher eingestellt sind als einheimische Deutsche ist ein bedrohlicher Tatbestand für die in Politik und Medien vorherrschenden proislamischen bzw. antiislamkritischen Erzählungen. Er erschüttert im Grunde den gesamten Bestand islamapologetischer Narrative.

    Zudem untergräbt er in migrationspolitischer Hinsicht die Legitimation für die Förderung, Zulassung und Duldung der nach wie vor stattfindenden ungesteuerten Massenimmigration aus islamischen Ländern.

    Es stellt sich somit nämlich die unangenehme Frage: Wie kann es sein, dass gerade das postnazistische Gesamtdeutschland, dass so viel Wert auf eine gute symbolpolitische Imagepflege legt, so viele orientalische Judenfeinde aufnimmt? Das ist natürlich kein gutes Thema für die herrschaftskonforme Berichterstattung.

    Was sind die Gründe für diesen Antisemitismus?

    Hartmut Krauss: Hervorzuheben ist hier zunächst die generelle Ungläubigenfeindlichkeit als Kernaspekt der islamischen Weltanschauung. Denn das zentrale Hindernis, das der im Koran festgelegten islamischen Weltherrschaft entgegensteht und die absolute Geltungsmacht der islamischen Lebensordnung einschränkt, ist die im Grunde gotteslästerliche Existenz von „Ungläubigen“, die sog. Kuffar.

    Als Feinde der islamischen Weltherrschaft und des umfassenden Islamisierungsstrebens sind die ungläubigen Nichtmuslime als Objekte der Bekämpfung, Tötung, Schmähung, Herabwürdigung etc. herausragendes und übergreifendes Thema der islamischen Quellen. „Als die schlimmsten Tiere gelten bei Gott diejenigen, die ungläubig sind und (auch) nicht glauben werden“ (Koran, Sure 8, 55).

    Als „Schriftbesitzer“ und monotheistische Konkurrenten um die „wahre Rechtgläubigkeit“ sind die Juden wie die Christen unter islamischen Herrschaftsverhältnissen zur Zahlung einer Kopfsteuer verpflichtet und müssen die Stellung eines „Bürgers zweiter Klasse“ (Dhimmi) mit minderen Rechten und zahlreichen Entwürdigungen einnehmen.

    Dabei ist die Kopfsteuer nach traditioneller islamischer Rechtsauffassung „eine Art Bestrafung, die Ungläubigen auferlegt wird wegen ihres Unglaubens, daher wird sie dschizyat genannt, abgeleitet von dschizya, und das heißt Wiedergutmachung. Die Kopfsteuer ist eine Art Bestrafung der Ungläubigen für ihre Verstocktheit im Unglauben.“

    Die spezifische Ungläubigenfeindlichkeit gegenüber den Juden resultierte nun bei Betrachtung der islamischen Quellen daraus, dass Mohammeds ursprüngliche Annahme, die jüdischen Stämme würden seinen Verkündungen schnell folgen, frustriert wurde und die überwiegende Mehrheit der Juden an ihrem Glauben festhielt.

    Darauf „antwortet“ der Koran: „Du wirst sicher finden, daß diejenigen Menschen, die sich den Gläubigen gegenüber am meisten feindlich zeigen, die Juden und die Heiden sind“ (Sure 5, 82). Als Strafe dafür, dass sie „ungläubig sind und unsere Zeichen für Lüge erklären, werden sie Insassen des Höllenfeuers sein“ (Sure 5, 86). Zudem wird ihnen die die Verwandlung in „Affen und Schweine und Götzendiener“ angedroht (Sure 5, 60).

    Mohammed beließ es aber nicht bei diesen verbalen Anfeindungen und Stigmatisierungen, sondern führte gegen alle drei jüdischen Stämme im Umland von Medina Angriffskriege, ließ alle Männer eines Stammes enthaupten sowie deren Frauen und Kinder in die Sklaverei verkaufen und stiftete auch damit ein paradigmatisches Verhaltensmodell.

    Als es dann im Laufe des Verlustes der islamischen Vorherrschaft und der Erfahrung westlich-abendländischer Überlegenheit sowie der nunmehr vorliegenden Gegebenheit, dass die Juden sich anschickten, den Status von demütig Tribut zahlenden Dhimmis zu verlassen und auf von Muslimen beanspruchtem Gebiet eigenmächtig zu siedeln und schließlich gar einen eigenen Staat zu gründen, lag es auf der Hand, dass der in Europa grassierende rassistische Antisemitismus von bedeutenden Teilen der islamischen Welt begrüßt und zum Teil enthusiastisch aufgegriffen und adaptiert wurde. Kurzum: Es kam zur Aufladung der tradierten islamischen Judenfeindschaft mit europäischem Antisemitismus.

    Hingegen zielt die verleumderische Gleichsetzung von „Islamfeindschaft“ und Antisemitismus von Seiten der Islamapologetik u.a. darauf ab, die tatsächliche Synthese von Islam und Judenhass zu verschleiern bzw. von dieser abzulenken. Die Basis bildet hierfür eben die umrissene koranische Verdammung der Juden sowie die paradigmatische antijüdische Gewalt- und Vernichtungspolitik Mohammeds.

    Nimmt die hiesige jüdische Community diese Bedrohung wahr? Vom Zentralrat der Juden vermeine ich diesbezüglich eher beschwichtigende Töne zu vernehmen …

    Hartmut Krauss: Nach meinem Eindruck ist die jüdische Community in dieser Frage der Bedrohung von muslimischer Seite auf deutschem Boden intern nicht homogen aufgestellt. Es gibt eindeutig islamkritische Kräfte, welche die zuvor knapp skizzierten Gegebenheiten und Zusammenhänge kennen und ernst nehmen.

    Auf der anderen Seite sind aber auch diejenigen medial besonders in Szene gesetzten Kräfte vorhanden, die das Problem eher verniedlichen, im Gleichklang mit den etablierten Parteien und Staatsvertretern einseitig und realitätsverzerrend auf die einheimische Rechte fokussieren und sich dabei absurderweise gern auch Seite an Seite mit den Islamfunktionären zeigen. Das gilt leider auch für Vertreter des Zentralrats der Juden.
    Salafisten, rechter und linker Antisemtismus

    Wie beurteilen Sie die Gefahr, die von den Rechten ausgeht?

    Hartmut Krauss: Ich halte diese Gefahr insgesamt gesehen für durchaus relevant und besorgniserregend. Allerdings ist es grundfalsch, wenn man sich dabei einseitig und zum Teil auch aus ideologisch fadenscheinigen Gründen nur auf die einheimische Rechte konzentriert und dabei den quantitativ und qualitativ bedeutsameren Teil der zugewanderten Rechten orientalisch-islamischer Prägung weitgehend außer Acht lässt.

    So ist z. B. die türkisch-rechtsextremistische Ülkücü-Bewegung, deren türkische Hauptorganisation die Partei der Nationalistischen Bewegung (MHP) ist – besser bekannt als Graue Wölfe - mit ihren 11.000 Mitgliedern in Deutschland alleine fast genauso stark wie die gesamte Mitgliedschaft der einheimischen rechtsextremistischen Parteien zusammen. (NPD, Die Rechte, Der III. Weg).

    Hinzu kommen 11.900 Personen, die allein der salafistischen Szene in Deutschland zugerechnet werden. Während die AfD ca. 28.000 Mitglieder aufweist, werden für die Islamische Gemeinschaft[KV1] Milli Görüs (IGMG) ca. 33.000 Mitglieder gezählt. Im Bereich „islamistischer Terrorismus“ wurden zuletzt laut offizieller Mitteilung 531 „Gefährder“ und 516 "Relevante Personen gezählt.

    Im Bereich der politisch rechts motivierten Kriminalität waren es 81 "Gefährder sowie 185 „Relevante Personen“ und im Bereich der politisch links motivierten Kriminalität zwölf „Gefährder“ sowie 72 „Relevante Personen“.

    Von den ca. 2,8 Millionen Türkeistämmigen in Deutschland waren bei der letzten Präsidentschafts- und Parlamentswahl in Deutschland 1.443.585 Millionen wahlberechtigt, von denen 49,7 Prozent ihre Stimme abgaben. Von diesen wiederum wählten zwei Drittel (64,8 Prozent) Erdogan, 55,7 Prozent die AKP und 8,4 Prozent die MHP. Vor diesem Hintergrund ist es wenig überraschend, dass judenfeindliche Rufe auf deutschen Straßen stärker und umfangreicher aus muslimischen als aus deutschen Kehlen erschallen.

    Gibt es linken Antisemitismus und falls ja, welche Rolle spielt dabei Israel?

    Hartmut Krauss: Die bei einigen Vertretern der „Linken“ zu kritisierenden „antisemitischen“ Positionen sind weder religiös-weltanschaulich (christlicher Antijudaismus; islamische Judenfeindlichkeit) noch rassistisch motiviert, sondern resultieren aus einer personalisierenden (verschwörungspopulistischen) Kapitalismuskritik und/oder einer „antiimperialistisch“ verblendeten Israelfeindlichkeit.

    Dabei wird Israel – bei vollständiger Ausblendung der reaktionär-islamischen und aggressiv-dschadistischen Konstitution der palästinensischen Vorhutakteure und ihrer muslimischen Unterstützer – als repressiver Kolonialstaat vorgestellt und naiv der muslimischen Opferinszenierung gehuldigt.

    Daraus ergibt sich dann ein ideologisch verzerrtes Bild, das die realen Gegebenheiten grundsätzlich auf den Kopf stellt: Die Israelis sind immer die Bösewichte, die Palästinenser immer die armen unschuldigen Opfer, die sich bloß wehren.
    „Die Existenz Israels wirkt wie ein Pfahl im Fleisch des religiös überhöhten Herrschaftsanspruchs“

    Wie schätzen Sie die Rolle Israels im Nahen Osten ein?

    Hartmut Krauss: Die Gründung des Staates Israel war die unmittelbare Folge der Zerschlagung des NS-Regimes und des damit besiegelten Endes des Zweiten Weltkriegs. Angesichts der ideologischen Kumpanei und politischen Kollaboration mit den Nazis, wie sie sich insbesondere im Wirken des Muftis von Jerusalem, Mohammed Amin al-Husseini, manifestierte sowie der Begeisterung für Hitler und die deutsche Judenvernichtungspolitik war bereits die Beseitigung der Naziherrschaft eine weitere frustrierende Erfahrung für die islamische Welt.

    Kurz darauf erfolgten dann mit der Gründung des Staates Israel und der arabisch-islamischen Niederlage im direkt anschließenden Unabhängigkeitskrieg (Nakba/Katastrophe) weitere schwerwiegende Traumata für die islamische Herrschaftskultur. Hinzu kam dann später noch die Niederlage im Sechstagekrieg (1967).

    Fortan wirkte und wirkt die Existenz Israels wie ein Pfahl im Fleisch des religiös überhöhten Herrschaftsanspruchs der islamischen Gemeinschaft der „Rechtgläubigen“. Die islamspezifische Judenfeindschaft wurde durch diese Niederlagenserie nicht nur religiös-ideologisch, sondern auch sozialpsychologisch „getriggert“ und lässt sich näher bestimmen als aggressiver Ausdruck eines blockierten Herrschafts- und Dominanzanspruchs bzw. die sozialpsychologisch-ideologische Präsenz eines sich dominiert fühlenden Subjekts, das selbst Herrscher sein will und lange Zeit Herrscher war.

    Zwecks psychischer und ideologischer Restabilisierung dieses traumatisierten Subjekts kam es zur selbstentlastenden Herausbildung eines ausgeprägten Verschwörungsnarrativs, wonach der Westen und insbesondere die Juden in der Rolle von Sündenböcken für die Krisen und Nöte der Muslime verantwortlich sind.

    In der ursprünglichen, im August 1988 erstmals veröffentlichten Charta der im Gaza-Streifen herrschenden Hamas, die den palästinensischen Zweig der Muslimbruderschaft verkörpert, sieht man sehr klar, dass der moderne rassistisch-verschwörungsideologische Antisemitismus der grundlegenden klassischen islamisch-dogmatischen Judenfeindschaft nur „aufgepfropft“ wurde.

    So heißt es einleitend bereits in aller Deutlichkeit: „‘Israel wird entstehen und solange bestehen bleiben, bis der Islam es abschafft, so wie er das, was vor ihm war, abgeschafft hat.‘“ "Der Imam und Märtyrer Hassan al-Banna, Gott hab ihn selig."

    Artikel 1 lautet: „Das Programm der Islamischen Widerstandsbewegung ist der Islam. Aus ihm leitet sie ihre Ideen, Konzepte und Vorstellungen vom Universum, dem Leben und den Menschen ab, von ihm lässt sie sich in all ihren Unternehmungen auf dem rechten Weg leiten.“

    Artikel 6: „Die Islamische Widerstandbewegung ist eine spezifisch palästinensische Bewegung, treu Gott ergeben. Der Islam dient ihr als Lebensentwurf. Sie strebt danach, das Banner Gottes über ganz Palästina, jeder Handbreit davon, aufzupflanzen.“ (…)

    Artikel 11: "Die Islamische Widerstandsbewegung glaubt, dass Palästina allen Generationen der Muslime bis zum Tag des Jüngsten Gerichts als islamisches Waqf-Land vermacht ist. Palästina darf weder als Ganzes noch in Teilen aufgegeben werden. Es gehört weder einem arabischen Staat noch allen arabischen Staaten, weder einem König oder Präsidenten noch allen Königen und Präsidenten, weder einer Organisation noch allen Organisationen, ganz gleich, ob es sich dabei um eine palästinensische oder arabische Organisation handelt, denn Palästina ist den Generationen der Muslime bis zum Tag des Jüngsten Gerichts gegeben. (…)

    Auf dieser orthodox-islamischen Grundlage wird dann „modern-antisemitisch-verschwörungsideologisches“ Gedankengut assimiliert. Wer eine Zwei-Staaten Lösung im Sinne friedlicher Koexistenz anstrebt, muss primär hier an die Wurzel gehend ansetzten oder er wird auch zukünftig scheitern."
    „Abstruse politisch-mediale Bezeichnungskumpanei“

    Können Sie Gründe anführen, warum sich Teile der Linken mit religiösen Fanatikern wie der Hamas oder der Theokratie im Iran solidarisch erklären?

    Hartmut Krauss: Zunächst einmal halte ich es für absolut verfehlt, Gruppen und Personen, die sich mit extrem rückständigen und religiös-irrational verblendeten islamischen Terroristen und theokratischen Totalitaristen solidarisieren und damit Hochverrat an den Ideen und Prinzipien der (Radikal-)Aufklärung sowie der herrschaftskritisch-emanzipatorischen Theorieentwicklung begehen, als „links“ zu etikettieren.

    Hierbei handelt es sich um eine sehr abstruse politisch-mediale Bezeichnungskumpanei zwischen globalkapitalistischen Mainstreammedien, alten und neuen Rechten sowie postmodern ideologisierten Straßengangs, die im Interesse der herrschenden Kräfte agieren.

    Tatsächlich handelt es sich bei diesen fälschlicherweise so genannten „Linken“ um eine Ansammlung von Kulturrelativisten, Multikulturalisten und Poststalinisten, deren weltanschaulich-politische Positionen im schroffen Gegensatz zur klassischen Marxschen Theorie stehen.

    Sie sind weder an einer kritisch-emanzipatorischen Analyse und Bewertung nichtwestlicher Herrschaftskulturen noch am Begreifen der aktuellen Verflechtungsdynamik von Kapitallogik und nichtwestlichen Herrschaftsverhältnisse wirklich interessiert. Was sie antreibt, sind vielmehr folgende Beweggründe:

    1.) Das Absuchen der Wirklichkeit nach vordergründigen Bestätigungen für ihr veraltetes ideologisches Weltbild vom allmächtigen und einzig bösartigen „Westen“.

    2.) Die Pflege eines positiv-rassistischen Vorurteils, das Angehörige nichtwestlicher Kulturen per se als Verkörperung des Guten, wenn auch etwas Zurückgebliebenen und Unselbständigen (auf jeden Fall: nicht Eigenverantwortlichen) ansieht und deshalb in sozialfürsorgliche Obhut nimmt, das heißt an ihnen ein vormundschaftssüchtiges Helfer- und Beschützersyndrom auslebt.

    3.) Der antimarxistische, im Grunde reaktionär-konservative Verzicht auf die kritische Bewertung zwischenmenschlicher Herrschaftsverhältnisse und repressiver Praxen, wenn es sich dabei um eine „andere“, nichtwestliche Lebenskultur handelt.

    4.) Die Ausprägung eines deutungspathologischen Reflexes, der jedwede Kritik von Deutschen an Nichtdeutschen mit fast schon krimineller Verleumdungsenergie a priori, also unabhängig von der Überprüfung der inhaltlichen Tragfähigkeit der geäußerten Kritik, als „rassistisch“ und „fremdenfeindlich“ denunziert.

    5.) Und nicht zuletzt dann eben die Tendenz zur Verbrüderung mit nichtdeutschen Reaktionären auch übelster Art, insbesondere radikalislamischen Akteuren nach der Logik „Der Feind meines Feindes ist mein Freund“.
    Antisemitismus in der Ukraine

    Letzte Frage: Wie ausgeprägt ist der Antisemitismus in der Ukraine?

    Hartmut Krauss: Bei aller berechtigten Kritik an der autoritär-repressiven Konstitution des postsowjetischen Russlands ist es andererseits doch unangemessen, sich von einem unkritisch-schönfärberischen Bild der Ukraine blenden zu lassen. Eine starke antisemitische Präsenz in der jüngeren Geschichte der Ukraine kann nicht geleugnet werden.

    So wurden nach vorliegenden Berichten und Analysen während des russischen Bürgerkriegs zwischen November 1918 und März 1921 an über 500 Orten in weit über 1000 Pogromen über 100.000 Juden umgebracht. Etwa zwei Drittel aller jüdischen Häuser und über 50 Prozent aller jüdischen Geschäfte sollen geplündert oder zerstört worden sein.

    Verantwortlich für dieses mörderische und zerstörerische Treiben waren insbesondere die weißgardistisch-konterrevolutionären Truppen von Anton Denikin, die ukrainischen Milizen von Symon Petljura sowie die Grüne Armee enteigneter Bauern. Angetrieben wurden diese Gewalttaten wie später auch die Gräueltaten der Nazis in der sowjetischen Ukraine durch die Feindschaft gegen den Bolschewismus und die vermeintliche Dominanz von Juden in dieser Bewegung (antibolschewistisch-antijüdische Synthese).

    Im Zweiten Weltkrieg verübte die „Organisation Ukrainischer Nationalisten“ (OUN) nach dem Einmarsch der deutschen Wehrmacht wiederholt Massaker an der jüdischen Bevölkerung. 84.000 Ukrainer hatten sich für den Dienst in der SS gemeldet.

    Über den OUN- Führer Stefan Bandera, der heute – wie auch Symon Petljura – in der Ukraine als Volksheld verehrt wird, heißt es: „Vor dem Krieg machte er kein Geheimnis daraus, dass ’nicht nur Hunderte, sondern Tausende Menschenleben geopfert werden müssen’, damit die OUN ihre Ziele realisieren und ein ukrainischer Staat entstehen könne. Die Massengewalt beziehungsweise die ’Säuberung’ der Ukraine von Juden, Polen, Russen und anderen ’Feinden’ der Organisation war ein zentraler Bestandteil seiner Ziele.“

    Die postsowjetische Ukraine weist eine einflussstarke Präsenz rechtsextremistischer (ultranationalistischer und neofaschistischer) Akteure auf, die auch bei dem sog. Maidan-Umsturz 2014 eine wesentliche – wenn nicht ausschlaggebende – Rolle spielten. Nach dem Umsturz und im Fortgang der weiteren Entwicklung waren die rechtsextremistischen Akteure zwar nicht auf der unmittelbaren oberen Regierungsebene vertreten, fungierten aber – auch gegenüber Polizei und Geheimdiensten und jenseits des staatlichen Gewaltmonopols – als durchsetzungsfähige Einschüchterungs- und Repressionsorgane im Rahmen des oligarchischen Machtsystems.

    In einem 2018 erschienenen Kommentar auf Reuters zum Neonazi-Problem der Ukraine hieß es angesichts der Verbindungen zwischen Strafverfolgungsbehörden und Rechtsextremisten sowie der staatlichen Duldung rechtsextremistischer Einschüchterungspatrouillen:

    „Westliche Diplomaten und Menschenrechtsorganisationen müssen die ukrainische Regierung auffordern, die Rechtsstaatlichkeit zu wahren und der extremen Rechten nicht länger zu erlauben, ungestraft zu agieren. (…) Es gibt keinen einfachen Weg, den virulenten Rechtsextremismus auszurotten, der die ukrainische Politik und das öffentliche Leben vergiftet hat, aber ohne energische und sofortige Gegenmaßnahmen könnte er bald den Staat selbst gefährden.“

    Dass diese Fakten aktuell nicht in das einseitig-antirussische Propagandabild der westlichen „Kriegsberichterstattung“ passen, dürfte auf der Hand liegen.

  • Krieg und Frieden : In einer kleinen Stadt
    https://www.telepolis.de/features/Krieg-und-Frieden-In-einer-kleinen-Stadt-7491994.html

    Un reportage sur une manifestation locale de nouveaux pacifistes à Fribourg-en-Brisgau, l’agonie du vieux mouvement pacifiste et l’isolement « woke » des milieux de gauche.

    Après avoir lu ce reportage j’arrive toute somme faite à la conclusion que beaucoup de mes contemporains allemands sont dans le même état d’esprit comme mes grand parents en 1939. Après avoir été exposés à la propagande nationale unanime pendant six ans et demi il s’identifient avec l’état et sa mythologie au point d’accepter l’idée d’une guerre juste. J’ai l’impression que leur individuel succès économique relatif les a fait oublier qu’ils feront tous parti des victimes de l’escalade violente imminente. Il se peut même que cette idée ne leur soit encore jamais venue à l’esprit.

    Vu l’absence d’une alternative politique évidente la dissonance cognitive bat son plein et pousse ces esprits peu analytiques vers les convictions faciles qui leurs permettent de ne pas mettre en question leur propre existence.

    11.2.2023 von Gerhard Hanloser - Freiburg im Breisgau, am Samstag, dem 4. Februar. Kleine Aufkleber mit Friedenstauben hatten im Innenstadtbereich auf die Demonstration aufmerksam gemacht. „Es reicht! Friedensverhandlungen jetzt!“ steht auf ihnen. Am Platz der Alten Synagoge will man sich versammeln.

    Auf den ersten Blick könnte man meinen, dass die alte traditionsreiche Friedensbewegung mobil macht. Sie hat in Freiburg und Umgebung eine lange Tradition. Hier gibt es das 1995 gegründete Freiburger Friedensforum, das vor allem nach dem 11. September 2001 und den daraus folgenden US-"Kriegen gegen den Terror" mobilisierte und gut besuchte Veranstaltungen ausrichtete.

    Das Rüstungsinformationsbüro müsste genannt werden, aktivistische GEW-Gruppen und auch einige wichtige prominente Einzelstimmen wie der im Dezember letzten Jahres verstorbene Manfred Messerschmidt vom Militärhistorischen Institut als Begründer der kritischen Militärgeschichte. Wie er gilt auch der Historiker und Friedensforscher Wolfram Wette als eine wichtige militärkritische Stimme der Region.

    Doch bei einem genaueren Blick fällt schon die militante Diktion des Aufklebers auf, die Friedenstauben sind eine etwas dynamischere Variation der alten klassischen Friedenstaube der 1980er-Jahre – und vor allem: als Aufrufer fungiert eine Organisation namens FreiSein Freiburg. Vor zwei Jahren schaffte es diese Gruppe bis zu 7.500 Teilnehmer auf Demos gegen die Corona-Maßnahmen zusammenzutrommeln. In der Badischen Zeitung wurde dieser Gruppe „wilde Demokonzepte“, „Eskalationen“ und „Konfrontationen mit den Behörden“ beschieden.

    Das kennt man eher aus der Zeit der Häuserkämpfe oder der Bewegungen für ein Autonomes Jugendzentrum in den 1980er- und 90er-Jahren. Und wie die damalige linke Szene skandierte und es mit Sprühdosen kundtat, ist man sich heute in der politisch diffusen maßnahmenkritischen Bewegung sicher: „BZ lügt!“

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    Friedensdemonstration in Freiburg am 4.2.2023
    In einer kleinen Stadt

    Bild: Gerhard Hanloser

    In diesem Geiste und mit dieser Massage fand vor zwei Jahren auch eine kleine Kundgebung vor dem traditionsreichen Lokalblatt statt, um die „einseitige“ und „diffamierende“ Coronaberichterstattung zu kritisieren. Diese damaligen Demonstrationen zu Corona seien allerdings schnell auf einen harten Kern von 600 Leuten zusammengeschrumpft, erklärte mir ein Vertreter der örtlichen antifaschistischen Szene. Allerdings wären unterschiedliche Aktionsformen gewählt worden, wie Autokorsos oder beständige Wochenendspaziergänge durch die Innenstadt.

    Linke Einzelpersonen aus politischen Wohnprojekten, Antifas, der antifaschistische Motorradclub „Kuhle Wampe“ und andere hatten gegen diese Demonstrationen mobilisiert.

    Nun also Frieden, nicht mehr Corona. Auf dem Platz der alten Synagoge sind Schilder ausgebreitet. Auf ihnen steht „Blind gehorchen? Nie wieder!“, „Wer schweigt, macht mit!“, „Aufklärung statt Kriegspropaganda“, „Protestieren statt frieren“, „Wir zusammen ohne Lügen, ohne Lobby, ohne Korruption!“ und auch der schlichte Hinweis „reitschuster.de“ auf ein unter Gegnern der Corona-Maßnahmen beliebtes online-Medium.

    In einem großen Zelt liegen hohe Stapel des „Demokratischen Widerstand“, der in Berlin beheimateten Zeitung der gegen die Corona-Maßnahmen gerichteten Bewegung rund um Anselm Lenz, die sich zur „Freiheitsbewegung“ stilisiert, einen inflationären Faschismusbegriff nutzt und sich gleichzeitig nicht scheut, Rechtsradikalen ein Forum zu bieten.

    Ich spreche ein paar Sätze in mein Smartphone, um mich besser erinnern zu können, und filme einige Szenen der Demonstration auf dem Platz der Alten Synagoge ab. Prompt werde ich als Vertreter des örtlichen alternativen Senders Radio Dreyeckland ausgemacht, der erst vor kurzem Besuch vom Staatsschutz bekam.

    Ein großer, recht forsch auftretender Demoverantwortlicher spricht mich an, sucht die konfrontative Diskussion. Woher ich käme, politisch. Aha, ein Linker. In schnellen Wendungen landet er bei einer Diskussion über den Faschismus- und Nazi-Begriff.

    Faschismus sei eine Methode der Propaganda, die Maßnahmen, er meint jene gegen Corona, seien faschistisch gewesen. Wer jedoch bei Demonstrationen beispielsweise im August 2020 Nazis auf der Straße gesehen hätte, irre sich. Reichsfahnen dürfe man nicht überbewerten, sie stünden nur für ein paar Leute, die ihren Wilhelm wieder haben wollten. Eine Diskussion mit dem Mann ist schwer, er unterbricht ständig, hat eine durchgehend arrogant-belehrende Haltung, ist im Grunde desinteressiert am Gegenüber und unterstellt Dinge, die gar nicht im Gespräch gesagt wurden.

    Er kommt mir vor wie der Prototyp des von Carolin Amlinger und Oliver Nachtwey diagnostizierten autoritären Libertären, hart am Rande des Typus des „Spinners“, wie die beiden unter Rückgriff auf Adornos Persönlichkeitsanalysen des autoritären Charakters eine Unterform der aktuellen autoritären Rebellen, die voller projektiver und ressentimentgeladener Wut sind, nennen. Beim wenig freundlichen Verabschieden erklärt er noch, er wäre ein Vertreter der Partei DieBasis.

    Eine Frau meines Alters hat unseren Schlagabtausch interessiert verfolgt, wendet sich an mich: „Ja, der wollte dich nur platt machen und an die Wand reden.“ Sie komme aus Hamburg, sei dort jahrelang in der Linken gewesen, die Rechten hier wären ihr auch ein Graus, sie fände aber keinen Anschluss, ob ich ihr nicht helfen könne, mit Gruppen, Namen oder Adressen. Leider nein, schließlich wohne und leben ich seit zehn Jahren in Berlin.

    Ich laufe weiter über den Platz, der sich so langsam füllt. Zwei junge Männer haben sich Fahnen über den Rücken gezogen: „Freiburg – Studenten stehen auf“ steht auf der einen, auf der anderen ist nur ein lila Fischsymbol, wie man es aus der protestantischen Szene kennt. Eine sympathische mittelalte Frau zeigt mir lachend das Schild „Diplomaten statt Granaten!“.

    Eine etwa 60-jährige Frau am Rande des Platzes trägt ein riesiges selbstgebasteltes Körperschild. Neben Kriegsbildern und einem Bild von Michail Gorbatschow steht „Wir 24 Mio russl. Deutsche: nein“. Wenn man genau hinschaut, steht neben Gorbatschow die Jahreszahl „1990“ und die Anklage „Zerstörer“. Ein Bild des Rotarmisten, der die rote Fahne auf dem Reichstag hisst, ist mit der Aufforderung „Nie vergessen“ versehen.

    Die Jahreszahlen 2014 bis 2023 stehen neben dem Kurzkommentar SOS. Bilder von Leichen. Man braucht keine große Phantasie zu haben, nur etwas Vorwissen, um anzunehmen, dass dies Bilder aus der Ostukraine sind, wo seit 2014 ein im Westen gerne übersehener lokaler Krieg tobte. Die Frau klagt, man zerstöre ihre Heimat, die Nato betreibe dies.

    Es ist ein Leichtes, sich über diese Person und ihre demonstrative Agitation lustig zu machen. Besonders geübt sind darin Spiegel-Reporter, für die diese Frau ein gefundenes Fressen wäre. In einer Gesellschaft, die viel auf „Empathie“ hält, wäre es interessanter und müsste doch ebenfalls leicht sein, sich über diese fremd und unanständig anmutende Perzeption des Ukraine-Krieges Gedanken zu machen.

    Dafür müsste man es allerdings wagen, von der eigenen, sehr westlichen Narration der Genese des Krieges wenigstens mal kurz abzurücken; eine Narration, die überall, beispielsweise auch im Freiburger Thalia-Büchertempelpräsent ist, wo eine ganze Wand dem autoritär-totalitären Putin-Russland in Form von Publikationen gewidmet ist.

    Das zentrale Fronttransparent fordert Friedensverhandlungen und schlägt hippieske Töne an: „Wir sind eine Menschheitsfamilie“. Eine Rollstuhlfahrerin mit großem Trommelgefährt rückt an, eine gigantische Friedenstaubenfahne schwenkend. Sie ist offensichtlich hier gut bekannt, wird freudig begrüßt. Wer Toleranz und Achtsamkeit schätzt: im Umgang mit dieser Frau ist sie von Seiten der Demonstranten mehr als vorhanden.

    Die akademische Linke beklagt gerne im Geiste der moralischen Identitätspolitik einen gesellschaftlichen „Ableismus“, diese Frau scheint hier als Mitstreiterin für die gerechte Sache gewürdigt und geschätzt und keinesfalls nur auf ihre Behinderung reduziert zu werden.

    Diese Demonstration, so schießt es mir durch den Kopf, scheint offener und integrativer zu sein als so manche linke Szenekundgebung. Recht weiblich ist die Demo auch zusammengesetzt, allerdings liegt das Durchschnittsalter deutlich über jenem der anderen Demonstrationen in Freiburg, seien es jene für die Verkehrswende oder die jüngste gegen die staatliche Repression gegen Radio Dreyeckland.

    Zwei Frauen in quietschbunten Mänteln haben eigene Plakate mitgebracht „Hinterfrage alles“ steht auf dem einen „Raus aus der Nato. Frieden mit Russland“ auf dem anderen. Ein Mitte 50-Jähriger ist mit einer Russlandfahne angerückt, ich spreche ihn an, warum er diese trage. Er wolle nur im Geiste der Ostpolitik Verhandlungen und Wandel durch Annäherung, sagt er. Seine Antwort ist sehr glatt. In seiner freien Hand hat er mehrere Prospekte und Flyer des rechtsradikalen Magazins Compact von Jürgen Elsässer.

    Ich konfrontiere ihn damit, dass er ja offensichtlich rechte Propaganda verteilt, die mit der Ostpolitik der SPD wenig gemein haben dürfte. Er wiegelt ab, Elsässer werde in die rechte Ecke gedrängt, es gehe doch nur um Verhandlungen. Eine Deutschlandfahne taucht auf, eine andere ist in Himmelblau gehalten und trägt die Parole „Unser Land zuerst“. Parteifahnen sind nicht zu sehen.

    Ich entdecke am Rand alte Bekannte und Freunde meiner Eltern, es sind Vertreter der 80er Jahre Friedensbewegung, die urgrün, linkssozialdemokratisch oder parteikommunistisch geprägt war. Wir freuen uns, uns zu begegnen. Schnell bin ich mir mit den alten Friedensfreunden einig: Diese Veranstaltung ist mindestens obskurantistisch, die eigenen friedenspolitischen und pazifistischen Parolen wie „Frieden schaffen ohne Waffen“ seien offensichtlich einem anderen Milieu zugefallen.

    Ein Hauch von Niedergeschlagenheit hängt über unserem kurzen Gespräch. Wie ich seien sie auch bloß teilnehmende Beobachter. Wenn das Friedensforum Freiburg oder eine andere klar links positionierte Gruppierung zu einer Friedensdemonstration aufrufen würde, kämen nur eine Handvoll Leute, wird mir erklärt. Es sei verheerend, dass bundesweit jede Friedenskundgebung schnell in den Ruf gerate, „rechtsoffen“ zu sein.

    Auch wenn böse Zungen der Friedensbewegung 1980er-Jahre bereits damals „Antiamerikanismus“ unterstellten und die haltlose Diagnose des Polemikers Wolfgang Pohrt, die Friedensbewegung sei eine „deutsch-nationale Erweckungsbewegung“ besonders bei Nato-Apologeten und Atlantikern gut ankam und bis heute kolportiert wird, müsste man doch daran erinnern, dass die alte Friedensbewegung hegemonial links war.

    Sie folgte einem konkreten Humanismus, kombinierte Friedenssehnsucht mit der Forderung nach einer gerechten Weltwirtschaftsordnung, reaktivierte die im NS-Faschismus als undeutsch markierten Tugenden des Pazifismus und Antimilitarismus.

    Und auch wenn sich einige rechte oder deutschtümelnde Kräfte unter die Hunderttausende umfassende Bewegung gemischt hatten, sie wurden von Linkssozialdemokraten, Kommunisten, engagierten, weltoffenen Christen – sprich einem breiten humanistischen Spektrum von linken Citoyens –schlicht an den Rand gedrückt. Das ist jetzt anders. War die alte Friedensbewegung klassenmäßig von Bildungsbürgertum dominiert, so ist die „neue Friedensbewegung“ kleinbürgerlich mit deutlichen Ausfransungen in ein prekäres, dank Hartz-IV armes und sozial randständiges Milieu.

    Ein Bekannter, dem ich den Charakter der Demo und diese Begegnung mit den gemeinsamen linken, etwas verzweifelten Friedensfreunden per Telegram-Nachricht schildere, schreibt mir prompt zurück: „Die Anti-Kriegsparolen bleiben unsere Parolen. Anders als nach 1918 fordern Rechte heute nicht zum Krieg auf. Das haben Liberale und ehemalige Linke und halbe Sozialdemokraten von SPD-FDP-Grünen einvernehmlich übernommen. Und nur deshalb wird es schwer. Nur deshalb!“

    Die (historische) Linke, zu der man Grüne und SPD wohl noch zählen muss, ebenso wie den DGB, hat sich mehrheitlich und zuweilen mit wehenden Fahnen ins bellizistische und ungebrochen pro-westliche Lager verabschiedet. So muss man sich kaum wundern, dass die „Spinner“ zurückbleiben und wie hässlicher Strandmüll nach der Bewegungsflut in der Ebbe sichtbar werden. Auch die linksradikale Szene, die beispielsweise noch in den 80er Jahren zu Reagan-Besuch und Rekrutenvereinigung antiimperialistisch und antimilitaristisch agierte – und immer am Rande der Friedensbewegung, nie ohne Spannungen, anzutreffen war, hat sich transformiert.

    Vornehmlich sucht man in diesem Milieu nach dem Bösen und dem Nazi, wie bereits zu Zeiten der Coronademonstrationen. Ich blicke mich um, Gegendemonstranten wie noch zu Coronazeiten sind nicht zu erblicken. Medienvertreter sind nur wenige anwesend.

    Der SWR wird einen kleinen Bericht bringen, der überschrieben ist mit „Solidarität mit Russland bei ’Friedensdemonstration’ in Freiburg“, am Montag sucht man vergeblich in der Badischen Zeitung einen Bericht über die Demonstration, die immerhin 500 Leute auf die Straße brachte. Von Radio Dreyeckland ist auch kein rasender Reporter, besser: keine rasende Reporter:in anwesend. Stattdessen werde ich von einigen Demonstranten für einen solchen gehalten.

    Ich laufe auf eine Kleingruppe von mittelalten Männern mit Bärten und Tarnjacken zu – und wiederhole die Frage, die ich etlichen hier stelle: „Die klassische Friedensbewegung – gerade hier in Freiburg – war mehrheitlich links. Wo würden Sie sich auf dem politischen Spektrum verorten?“ Als Antwort kriege ich nur zu hören: „Die Freiheit! Wir sind für die Freiheit!“ Rechts? AfD? Nein, damit habe man nichts zu tun.

    Merkwürdig nur, dass just während des Gesprächs ein anderer aus der Gruppe hektisch versucht, einen eindeutig rechts-souveränistischen Spruch, wonach wir nur Vasallen der USA seien, mit einem Pappschild abzudecken.

    Ein kleiner Mann mit Zylinder und Daunenjacke, der das Schild „Heute Waffen – morgen Panzer – übermorgen Deine Söhne“ trägt, eilt dazu, deutet mit dem Daumen auf mich und erklärt im breitesten Badisch: „Radio Dre’ckland. De’ isch vo’ Radio Dre’ckland“. Höflich und wahrheitsgemäß erkläre ich, dass ich vor zehn Jahren aufgehört habe, für Dreyeckland zu senden. Die Männer nehmen es auch achselzuckend hin, bedrängt werde ich nicht, die Stimmung aggressiv zu nennen, wäre lächerlich.

    Als ich vor knapp dreißig Jahren als Redakteur im sogenannten Tagesinfo von Radio Dreyeckland anfing, dezidiert von links unten Nachrichten zu produzieren und wir dem Konzept der „Gegenöffentlichkeit“ verpflichtet waren, wurde mir von dem schon länger verstorbenen älteren Radio-Redakteur Martin Höxtermann aufgetragen: „Wir haben Aufnahmegeräte – geh auf die Straße und fang Stimmen ein!“

    Das war damals eine leichte Übung, die Straße und der Protest waren links, antifaschistisch, subkulturell. Die Stimmung wie die bei Demonstrationen einzusammelnden Stimmen passten zu der Weltanschauung, die das Radio pflegte. Radio Dreyeckland hatte sich aus dem illegalen Anti-Atom-Radio „Verte Fessenheim“ entwickelt, das sich 1977 gegründet hatte.

    Bis 1988 war Radio Dreyeckland (RDL) ein linker bis linksradikaler Piratensender, stark verbunden mit den damaligen sozialen Bewegungen wie dem Häuserkampf. Dann konnte es sich als nichtkommerzielles Radio legalisieren. Noch in meiner aktiven Radiozeit Anfang der 1990er-Jahre war man von einem prinzipiellen Gegenöffentlichkeits-Optimismus geprägt, dass „die Straße“ die Wahrheit sage. Ein alter Radiojingle aus den 1980er-Jahren verkündete in breitem Badisch: „Määnschen spräächen machen...“

    Darin folgte RDL auch anderen Freien-Radios und alternativen Radiokonzepten, wie sie beispielsweise in Italien in operaistischen und mit der Autonomia-Bewegung verbundenen Sendern praktiziert wurden. Linke und marxistische Fabrikaktivisten versuchten mit Fragebögen im Gespräch mit ihren Arbeitskollegen hinter den Fabrikalltag zu blicken, um die Struktur der Ausbeutung zu verstehen und im kommunikativen Prozess von Angesicht zu Angesicht zu kämpferischen „Arbeitergenossen“ zu werden.

    Denn das Gespräch über den Arbeitsalltag sollte bewusstseinsfördernd und ideologiehemmend oder -abstreifend wirken. Analog zu dieser Vorstellung sollte auch das gemeinsame Erstellen von Sendungen, die freie Rede ins Mikrophon, das offene Gespräch ohne Hierarchie kritische Erkenntnisprozesse fördern.

    Mit dem ersten Antisemitismusstreit 1991 anlässlich des Golfkriegs, als intern und von außen antiimperialistische Redakteure unter starken Beschuss kamen, setzte sich im Radio immer mehr eine Skepsis gegenüber diesen populären linken Strategien durch. An der ein oder anderen Stelle tauchten elitär-ideologiekritische Sendungen und Formate auf. In den letzten Jahren unterscheidet sich das freie Radio weder handwerklich, also in der Form, noch inhaltlich von anderen Sendern. Es geht nur etwas dilettantischer zu.

    Radio Dreyeckland ist unter den Coronademonstranten und der maßnahmenkritischen Szene ein rotes Tuch. Mit gutem Grund. Als „Schwurbler“, Verschwörungstheoretiker und Nazis tauchen sie schließlich in Sendungen des ältesten freien Radios Deutschlands auf. Und in diesen Markierungen unterscheidet sich RDL auch nicht von den lange Jahre viel gescholtenen „Mainstreammedien“.

    Im Radioarchiv gibt es auch kein Feature, keine Reportage, die Stimmen von den Demonstrationen hätten präsentieren können. Kritik an den in Baden-Württemberg besonders harschen Lockdownmaßnahmen, die bis zu einer Ausgangssperre führten, konnte man beim linken Sender vergeblich suchen. Man habe erst vor kurzem, so erklärt mir ein Freund, der eine Musiksendung bei RDL macht, den Kanon der „Antis“, also das Sendungsstatut, das eine Art der inhaltlich-politischen Selbstverpflichtung darstellt, um das „Antiverschwörungsideologisch“ erweitert.

    Ein anderes Anti dahingegen drohe immer weiter aufgeweicht zu werden: der Antimilitarismus. So sorgte ein recht aufschlussreiches Interview mit dem pazifistischen Sprecher des Rüstungsinformationsbüros und Sprecher der Deutschen Friedensgesellschaft – Vereinigte Kriegsdienstgegner:innen (DFG-VK) Jürgen Grässlin für Kontroversen und einige Aufregung. Der das Gespräch moderierende Redakteur, der seit einigen Jahren eine bezahlte Stelle beim meist auf Ehrenamt beruhenden Radio inne hat, hat eine klare Agenda. Nichts neues für einen linken Sender.

    Zu Coronazeiten hatte er sich für harte Seuchenbekämpfung und eine ZeroCovid-Strategie ausgesprochen, gleichzeitig war er recht schnell dabei, Maßnahmengegner unisono zu „Rechten“ zu erklären. Er führte mit Grässlin eine Art Gespräch, wozu auch wir uns damals als aktive RedakteurInnen immer gegenseitig anhielten: bitte kein Gefälligkeitsinterview! Kritik auch an Gesinnungsgenoss:innen! Allerdings unterstellte der Interviewende dem konzise und geduldig antwortenden Grässlin, seine antimilitaristische Position toleriere eine russische Politik, die Menschen töte und in Lager sperre.

    Der Redakteur ließ keinen Zweifel aufkommen, dass Waffen zu liefern nicht nur politisch geboten, sondern die einzig richtige moralische Haltung sei.

    Mit einiger Verwunderung nehmen so auch ältere politische Akteure aus Freiburg die jüngsten Staatsschutzdurchsuchungen vom 17. Januar diesen Jahres bei dem alternativen Sender wahr, wie ich die nächsten Tage erfahren sollte. Einige Tage später erzählt mir ein im Musikbereich aktiver Radioaktiver, dass einflussreiche Redakteure im Sender für Waffenlieferungen optieren, der Grässlin interviewende Redakteur also kein Ausnahme darstelle.

    Die Staatsfeinde von einst seien doch bereits während der Coronapandemie mehr als angepasst gewesen. Tatsächlich stoße ich bei einem Spontanbesuch des Radios auf durchgehend masketragende Redakteurinnen. Dass es um mehr als um Gesundheitsschutz am Arbeitsplatz geht, ist schnell zu merken. Der Ton zur Begrüßung ist spitz, obwohl ich mir schnell und artig eine Maske überziehe: Die Maske ist hier ein Zeichen, auf der guten und solidarischen Seite zu stehen.

    Dies bezieht sich offensichtlich nicht nur auf Pandemie-Maßnahmen und Waffenlieferungen. Ein anderer alter Freund, der unlängst einen Moderations-Workshop bei RDL besuchte, sollte sich in der Vorstellungsrunde mit Pronomen vorstellen, erzählte er mir beim Bier. Als Naturwissenschaftler wusste er gar nicht, was das soll. Das Radio, so könnte man meinen, ist „woke“ geworden, wie viele der übriggebliebenen linken Strukturen in der Stadt.

    Kritische politische Analyse, Konfrontationsbereitschaft mit den Herrschenden und Lust an Debatte und politischem Streit wurde ersetzt durch die vermeintlich richtige Moral. Was ist an Radio Dreyeckland denn noch so gefährlich, fragen sich hinter vorgehaltener Hand einige ältere Semester aus der früher recht agilen linken Szene. Dennoch müsse man gegen diesen repressiven Akt der Staatsanwaltschaft aus Karlsruhe solidarisch sein.

    Das Ermittlungsverfahren, das zur Hausdurchsuchung geführt habe, sei von einer wahnhaften anti-linken Haltung geprägt, das Kopieren von Adressen von RDL-Mitgliedern und -Hörerinnen ein eklatanter Verstoß gegen den Datenschutz. Trotzdem: RDL müsse an seine linke und subversive Geschichte erinnert werden.

    Als ich die Kundgebung verlasse, höre ich im Hintergrund eine live dargebotene Version eines bekannten Bob Dylan-Stücks. Man könnte es sich einfach machen und die Demonstration als Querfrontveranstaltung der rechtsoffenen „Schwurbler“ etikettieren. RDL würde das senden, die Badische Zeitung ebenso wie SWR.

    Tatsächlich ist ja auch hier und an diesem Tag die Friedensforderung von Rechten, Verwirrten und Obskurantisten gehijackt worden. Verzweifelte und Suchende gesellten sich dazu. Doch dies ist nur ein Teil des viel größeren Dramas, das zu analysieren und abzuwenden der Mehrheit einer selbstzufriedenen und angepassten Milieu-Linken offensichtlich nicht gelingt.

    #Allemagne #Fribourg #politique #mouvement_pour_la_paix

  • « Wir bauen uns unser eigenes Gefängnis »
    https://www.telepolis.de/features/Wir-bauen-uns-unser-eigenes-Gefaengnis-7483529.html?seite=all

    8.2.2023 Interview von Philipp Fess - Politikwissenschaftler Hans-Martin Schönherr-Mann über die Entmündigung des Bürgers in Krisenzeiten und die quasi-religiösen Vorkämpfer eines totalitären Verwaltungsstaats.

    Hans-Martin Schönherr-Mann ist Professor für politische Philosophie am Geschwister-Scholl-Institut der Ludwig-Maximilians-Universität München. Schönherr-Mann gilt als Experte auf den Gebieten Ethik, Existenzialismus sowie Technikphilosophie und hat unter anderem zu den Theorien Friedrich Nietzsches, Jean-Paul Sartres, Hannah Arendts und Michel Foucaults publiziert.

    Demnächst erscheint Schönherr-Manns Buch „Die Lebenskünstlerin und ihr Herr: Über die Medizinisierung der Welt“, in dem er sich kritisch mit der Rolle der Medizin als „Grundlage der Politik im Ausnahmezustand“ auseinandersetzt.

    Mit Telepolis hat Schönherr-Mann vor kurzem über Giorgio Agamben gesprochen. Der italienische Philosoph sieht Corona- und Ukraine-Krise als Auswüchse desselben neuen Regierungsparadigmas, welches über wiederkehrende Ausnahmezustände in einen technokratischen „Verwaltungsstaat“ führt.

    In Italien ist man vielleicht besonders alert, schließlich plant Rom, die Hauptstadt, wie viele Kommunen in Europa, eine Transformation zur Smart City im Einklang mit der Agenda 2030 der Vereinten Nationen. Mit der Smart City sollen "überholte Regierungsmodelle in Frage [ge]stell[t] und „neue Gesellschaftskonzepte [ge]schaffen“ werden. Es existieren Szenarien bis hin zur post-voting society, in der eine künstliche Intelligenz für uns das Wählen übernimmt.
    „Wir haben es definitiv mit einer neuen Regierungstätigkeit zu tun“

    Herr Schönherr-Mann, Giorgio Agamben sieht in jenem „neuen Regierungsparadigma“ das letzte Aufbäumen eines sich selbst verschlingenden kapitalistischen Gesellschaftssystems. Teilen Sie diese Diagnose?

    Hans-Martin Schönherr-Mann: Nein, ich muss sagen, das sehe ich nicht so.

    Dabei stimmen Sie in Ihren Urteilen zum großen Corona-Umbruch ansonsten mit Agamben überein, oder?

    Hans-Martin Schönherr-Mann: In weiten Teilen, ja. Wir haben es definitiv mit einer neuen Regierungstätigkeit zu tun, die sich ja jetzt mit dem Ukraine-Krieg in gewisser Hinsicht verlängert. Aber deswegen muss der Kapitalismus noch nicht untergehen, er kann sich dadurch ja auch stabilisieren.

    Dieses Untergangsdenken, das ist ein Paradigma von Marx, da gehe ich nicht mit. Sicher, durch das Corona-Regime – so muss man es ja bezeichnen – hat sich der Verwaltungsstaat in seiner totalen Form gezeigt, dem, was Max Weber das „Gehäuse der Hörigkeit“ genannt hat.

    Die Maßnahmen gingen ja in eine bis dato unbekannte Tiefe, und es hat sich gezeigt, dass das mehr ist als nur Notstand: Die Demokratie ist durch diesen technokratischen Verwaltungsstaat doch in hohem Maße reduziert worden. Der Zugriff auf das Alltagsleben der Bürger wurde ungeheuer verstärkt, bis ins Private hinein, die Freizeit, die Wohnung.

    Hans-Martin Schönherr-Mann: Sehen Sie. Ich muss sagen, ich habe 2020 aufgehört das alles zu verfolgen und mich bis etwa Februar 2021 fast ganz ausgeklinkt. Letztens hat mir ein Kollege ein Video von diesem inzwischen demissionierten RKI-Chef gezeigt, wo er auch irgend so eine Ungeheuerlichkeit von sich gibt.
    Die Angst vor dem Staat und die Angst vor dem Bürger

    Hans-Martin Schönherr-Mann: Ja, genau. Also das ist doch die totale Entmündigung. Ein hegemonialer Diskurs, wie man ihn jetzt in der Ukraine-Krise wieder beobachten kann. Das hat mit der Rolle des Bürgers, wie sie in der Bill of Rights und der französischen Nationalversammlung 1789 vorgesehen war, doch nichts mehr zu tun. Die hatten noch Angst vor dem Staat, die haben auf ihren Schutzrechten bestanden.

    Aus genau solchen Gründen. Das Gleiche gilt keineswegs für die demokratischen Staaten der Nachkriegszeit. Die grenzen sich höchstens von einem totalen Zugriff durch den Staat ab, vom Kollektivismus der Nazis, der „Volksgemeinschaft“. Weiterhin haben die Eliten Angst vor den Bürgern. Erst seit den sechziger Jahren entsteht ein partizipatorisches Bewusstsein unter den Menschen. Und mit Corona geben sie es wieder auf.
    Der Druck auf die Regierung mit Corona stillgelegt

    Inwiefern?

    Hans-Martin Schönherr-Mann: Man muss sich klarmachen: Die Exekutive hat heute mehr Macht als jeder absolutistische Fürst. Bis weit in die 1960er-Jahre hinein waren die Demokratien paternalistisch, das Volk wurde mit Angst regiert, der Gang zur Wahlurne war schon das Maximum, was man dem Bürger an Souveränität zugestanden hat.

    Dann kommen die 1970er, der Wechsel vom Paternalistischen zum Partizipatorischen, ein Druck von unten, der die Parteien zu Zugeständnissen zwingt.

    Nehmen Sie zum Beispiel die Anti-AKW-Bewegung. Dann hat selbst die CSU einen Öko-Teil ins Parteiprogramm aufgenommen. Das wäre in den 1960ern undenkbar gewesen, und das haben die sicher nicht freiwillig gemacht. Und dieser Druck auf die Regierung, der ist mit Corona wieder völlig stillgelegt worden. Ironischerweise sind daran auch die Linken schuld.

    Wie meinen Sie das?

    Hans-Martin Schönherr-Mann: Verstehen Sie mich richtig: Ich komme ja auch aus der Linken, aber der Sozialstaat ist die Bedingung dafür, dass sich eine Regierungsform wie das Corona-Regime durchsetzen konnte. Es ist ein Kommunitarismus, der vom Primat der Gemeinschaft ausgeht und deshalb meint, die Menschenrechte missachten zu können.

    Wir bauen uns unser eigenes Gefängnis. Diese Linie haben auch die Konservativen nie überschritten. Auch die Liberalen nicht, die erst nationalliberal waren und sich dann mit dem Freiburger Programm bürgernäher präsentiert haben.
    „Freiburger Thesen: wahrscheinlich das Beste, was die FDP je hatte“

    Die FDP ist ja 1968 auch noch gegen die Notstandsgesetze auf die Barrikaden gegangen.

    Hans-Martin Schönherr-Mann: Genau, und heute muss ich sagen: Die hatten Recht. Die Freiburger Thesen waren wahrscheinlich das Beste, was die FDP je hatte. Und heute reiht sie sich ein in die Mehrheit der politischen Strömungen, die autoritär denkt und das Individuum letztlich lenken will.

    Menschenrechte stören. Wichtig werden sie erst, wenn andere [Länder] sie nicht befolgen. Der Widerstand des Individuums ist das, was das Menschliche ausmacht. Deswegen war Sartre damals verrufen, weil er den Menschen für frei und verantwortlich erklärt hatte. Ich hoffe, dass sich die Menschen wieder darauf besinnen.
    Ökologisierung und Technologie

    Sie sagen, der Kapitalismus geht so schnell nicht unter. Aber die Technisierung des Sozialen in „Smart Cities“ verspricht ja nicht nur ein enormes Effizienz- bzw. Optimierungspotenzial, sondern außerdem „interessante Wachstumschancen für Sicherheitssysteme und Videoüberwachung“. Auch das firmiert ja heute unter dem Label „Nachhaltigkeit“. Oder denken Sie an die Finanzialisierung der Natur durch die Emissionsmärkte.

    In Ihrem Buch Untergangsprophet und Lebenskünstlerin (2015) widmen Sie sich der „Ökologisierung“ der Welt. Lässt sich diese von einer Ökonomisierung überhaupt trennen?

    Hans-Martin Schönherr-Mann: Na ja, eine Zeit lang sah es ja so aus, als ob das zusammenläuft: Firmen haben zumindest so getan, als ob sie sich für die Umwelt einsetzen. Die wollen eben einen guten Ruf, die sehen „das ist populär, also machen wir das“.

    Ich habe irgendwo auch einmal gelesen, dass Greenpeace lieber mit Firmen als mit Staaten zusammenarbeitet, weil die zuverlässiger sind. In dem Buch, das Sie ansprechen, habe ich mich eher dem Zusammenhang zwischen Ökologisierung und Moralisierung zugewandt.

    Ökologie wird heute aber immer mehr zur Technologie und hat damit natürlich auch eine ökonomische Dimension. Heute sagt jeder mit einer Solaranlage auf dem Dach, dass er sich für die Umwelt einsetzt. Wenn es darum geht, Technologien zu entwickeln, mit denen sich CO2 aus der Luft abschöpfen lässt, protestiert keiner von den Fridays-For-Future-Leuten gegen den Kapitalismus.

    Und mit Technologie lassen sich auch ganz viele Reglementierungen durchsetzen, die ja Kennzeichen der modernen Öko-Bewegung sind.

    Sie haben die Smart Cities erwähnt, aber ich denke da auch an diese neuen Smart Meter, damit lässt sich der klimaschädliche Energieverbrauch ja wunderbar regulieren. Am Schluss brauchen Sie wahrscheinlich jemanden, der Ihnen die Erlaubnis dafür gibt, ihre Heizung aufzudrehen.

    In den Vorschlägen für CO2-Budgets und programmierbares Geld klingt eine Steuerung über Bonus-Malus-Systeme ja bereits an. Das erinnert nicht nur an die operante Konditionierung B.F. Skinners, der das autonome Individuum ja zur Fiktion erklärt hat, auch Foucaults Überwachen und Strafen kommt einem da in den Sinn, oder?

    Hans-Martin Schönherr-Mann: Absolut, und die Überwachungsmöglichkeiten durch die Digitalisierung sind nun mal unbegrenzt. Wenn wir die Logik von diesen Smart Metern auf unser Geld übertragen und wirklich einmal die Möglichkeit da ist, Vermögen von Verhalten abhängig zu machen, ist das natürlich eine ganz fatale Geschichte.

    Die Kontrollmöglichkeiten wären unendlich, und es bräuchte auch keinen Geheimdienst mehr, der wäre dann ja legal. Dass sich die Menschen so etwas im Ausnahmezustand gefallen lassen, haben wir in der Corona-Zeit ja auch gesehen. Diese Corona-App, das war auch so ein Versuch, die technische Ebene da mit reinzubringen.

    Die Vorstellung von einer (Taylorschen) „wissenschaftlichen Betriebsführung“ der Gesellschaft (oder auch: social engineering) hat Anfang des 20. Jahrhunderts schon den Biologen und Unesco-Mitbegründer Julian Huxley ins Träumen versetzt. Sein Bruder Aldous lieferte dann ja das bekannte Gegenstück in Romanform.

    Hans-Martin Schönherr-Mann: Auch das haben wir doch in der Corona-Krise gesehen. Hier lief die Kontrolle über die Medizin, die Regeln des Hospitals sind auf die Gesellschaft ausgedehnt worden. Das ist Biopolitik nach Foucault. Man hat immer von der Wissenschaft gesprochen, aber ich kann Ihnen sagen: Ich habe Wissenschaftstheorie studiert, und das Kennzeichen moderner Wissenschaft ist ihre Halbwertszeit.

    Die Wissenschaft hat Modelle von der Welt und mehr nicht. Lesen Sie [Physiker Thomas S.] Kuhns The Structure of Scientific Revolutions (1962). Wissenschaft konstruiert sich immer eine Welt. Auf der Grundlage von Modellen werden Szenarien gefolgert. Wenn Wissenschaft von Wahrheiten spricht, wird sie theologisch. Auch das ist Foucault: Der Arzt tritt an die Stelle des Priesters, die Körperkontrolle an die Stelle der Gewissenskontrolle.
    „Die Gefahr der Technik ist, das wir nur noch technisch denken“

    A propos Theologie: Historiker Yuval Noah Harari spricht in Homo Deus (2019) – wie Skinner – auf Grundlage der (neuesten) wissenschaftlichen Erkenntnisse dem Menschen ebenfalls seine Autonomie – man könnte auch pathetisch sagen: seine Seele – ab.

    Durch die technischen Möglichkeiten – bis hin zum Internet of Bodies und dem Internet of Bio-Nano-Things – wird der enträtselte Mensch zur optimierbaren Biomasse, zum „hackable animal“, sagt Harari. Damit steht der Historiker in der Tradition des von Julian Huxley geprägten Philosophie des Transhumanismus, letztlich: der Eugenik.

    Hans-Martin Schönherr-Mann: Ja, „Homo Deus“ habe ich auch gelesen. Der hätte sich besser mal mit Sartre beschäftigen sollen (lacht). Egal, ob der Mensch von einem Algorithmus komplett durchleuchtet werden kann, was ihn ausmacht, ist der Widerstand, das was sich der Kontrolle entzieht. „Technik lässt uns denken“, hat [Martin] Heidegger gesagt. Die Gefahr der Technik ist, das wir nur noch technisch denken.

    Wir denken die Welt in Kilometern, Flugstunden, in Uhrzeiten. Dazu bekommen wir immer mehr technische Bilder geliefert. In einer Weise, wie man es sich vor 200 Jahren noch nicht vorstellen konnte.

    [Philosoph Walter] Benjamin hat das in seinem Kunstwerk-Aufsatz [Das Kunstwerk im Zeitalter seiner technischen Reproduzierbarkeit (1935)] ja deutlich gemacht: Die Fotografie hat die Wahrnehmung unserer Welt verändert. Heute haben wir eine durchgestylte Bilderwelt, die uns in die entlegensten Winkel der Alpen verfolgt. Wir erleben die Welt schon gar nicht mehr, wir schicken nur noch Bilder.

    Wir funktionieren also nach Skinners Reiz-Reaktions-Muster?

    Hans-Martin Schönherr-Mann: Genau, und der technokratische Staat tut auch alles, dass wir diesem Bild immer mehr entsprechen. Am Ende gibt das Harari Recht: Die Menschen wollen das.
    „Wer sich nicht fürchtet, für den gibt es eine Pflicht zur Furcht“

    Ist der technokratische Staat alternativlos? Klima-Aktivistin und Grünen-Parteimitglied Luisa Neubauer hat im Oktober mit der Aussage für Irritationen gesorgt, man habe im Notstand eben nicht mehr die Wahl zwischen Zeit und Demokratie. Halten Sie Nachhaltigkeit in der oben beschriebenen Form noch für vereinbar mit demokratischen Prinzipien?

    Hans-Martin Schönherr-Mann: Die Frage ist schon falsch gestellt, weil das Problem ein anderes ist. Vor kurzem hat mich jemand darauf aufmerksam gemacht, dass einer von den Fridays-For-Future-Leuten in Lützerath Das Prinzip Verantwortung [Hans Jonas, 1979] dabei gehabt hätte.

    Das war eben auch jene Luisa Neubauer.

    Hans-Martin Schönherr-Mann: Ach was. Ja dann trifft sich das ja gut. Jedenfalls: Das Interessante daran ist: Der Diskurs der Verantwortung geht mit Max Weber los. Der sagt die Verantwortung liegt bei den obersten Politikern und den Managern.

    Der Bürokratische Rationalismus steuert, der Politik-Betrieb lenkt.

    Hans-Martin Schönherr-Mann: Genau. Dann kommen Sartre und Levinas und sagen: Jeder ist frei. Und dann kommt Jonas, und der sagt nein, es braucht den Staatsmann, es braucht die Verantwortung.

    Dabei unterstellt er, dass nur die Staatsmänner der Verantwortung gerecht werden, das tumbe Volk ist nicht dazu in der Lage. Bei seiner Friedenspreisrede [1987] ist Jonas dann zurückgerudert: Er habe ja nicht einer Diktatur das Wort reden wollen, sondern nur davor warnen, dass es bald einmal zu spät sein wird.

    ...so wie Frau Neubauer.

    Hans-Martin Schönherr-Mann: Anscheinend. Was Jonas wider Willen gezeigt hat, ist, wie das apokalyptisches Denken funktioniert. Wer sich nicht fürchtet, für den gibt es eine Pflicht zur Furcht. Das ist das Modell [des italienischen Fürsten Niccolò] Machiavelli: „Du kannst dein Volk nicht zur Liebe zwingen, aber es durch Furcht lenken.“ Jonas hat – ohne es zu ahnen – dieses Modell entlarvt, mit der drohenden Apokalypse Politik zu machen. Und die Leute verstehen es als Anleitung.

    Der Weltuntergang ist eine Ideologie, die ihren Ursprung im Alten Testament hat. [Historiker] Johannes Fried hat [in Dies Irae – Geschichte des Weltuntergangs (2016)] gezeigt, dass das Thema ab dem 16. Jahrhundert aus der christlichen Religion verschwindet. Und wohin wandert es aus? In die Wissenschaft, wo es bald hinter jedem scheinbar unbeherrschbaren Phänomen lauert. Und so kehrt auch die Medizin schließlich in die Theologie zurück.

    Hans-Martin Schönherr-Mann
    Die Lebenskünstlerin und ihr Herr: Über die Medizinisierung der Welt
    ‎ Matthes & Seitz Berlin, 15,– Euro
    ISBN: ‎ 978-3751805612

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