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    18.3.2023 von Dirk Farke - Die Verherrlichung „deutscher Arbeit“ im Naziregime. Über die Karriere eines Ideologems und seine Kontinuitäten in der Nachkriegszeit.

    Die Vorstellung, dass Deutsche besonders gut, hart, effizient, präzise, tüchtig und fleißig arbeiten – ihre Beziehung zur Arbeit gilt in der Welt als einzigartig – hat eine lange Tradition und hält sich bis heute.

    Besonders wirkmächtig war dieser Topos während des Naziregimes. Aber, so stellt Nikolas Lelle in seinem sozialphilosophischen Buch „Arbeit, Dienst und Führung. Der Nationalsozialismus und sein Erbe“ fest, Analyse und Kritik der NS-Arbeitsauffassung kamen in der Forschung bislang zu kurz und es sei erstaunlich, wie wenig sich die Auseinandersetzungen mit dem Naziregime „um dessen Verhältnis zu Arbeit drehen“.

    Man muss an dieser Stelle einschränkend hinzufügen, und für diese Feststellung reicht bereits ein Blick in das 31 Seiten umfassende Literaturverzeichnis, an einer kritischen, elementaren Analyse deutscher Arbeit in der NS-Zeit fehlte es bisher. Denn an verharmlosender, beschönigender und verherrlichender Literatur zu dieser Thematik hat es weder vor noch nach 1945 gemangelt.

    Aber in Bezug auf eine fundamentale, alle Aspekte deutscher Arbeit – einschließlich der Vernichtung durch Arbeit – in dieser Zeit betreffenden Kritik, hat der Autor eine eindrucksvolle, lehrreiche und richtungweisende Fleißarbeit vorgelegt.
    Das besondere Verhältnis

    Dieses besondere Verhältnis der Deutschen zu ihrer Arbeit beginnt sich „im langen 19. Jahrhundert“ (Eric Hobsbawm) zu entfalten, auch wenn, wie Lelle richtig anmerkt, bereits in Martin Luthers Schriften Vorläufer dieser Idee aufzufinden sind.

    In Literatur und Wissenschaft, in Kunst und Politik treten zunehmend Positionen auf, und der Autor exemplifiziert aus allen Bereichen prägnante Beispiele, die die Verherrlichung von „deutscher Arbeit“ schildern und als Gegenbild „den Juden“ entwerfen.

    Deutsche Arbeit wird als Pflichtgefühl definiert, das den Arbeitenden an die (Betriebs-)Gemeinschaft binde. Die Arbeit wird erledigt, nicht um des Verdienstes willen, sondern zum Wohl des Ganzen geleistet.

    Das Gegenteil sei die „jüdische Arbeit“, die allein für den eigenen Nutzen getan werde. Entscheidend sei nicht die Art der Tätigkeit, sondern wie sie ausgeführt werde. Der (deutsche) Kaufmann arbeitet ehrlich und gemeinnützig, der (jüdische) Händler jedoch suche immer nur seinen eigenen Vorteil.

    Und das Ideologem deutsche Arbeit, auch hierzu finden sich bei Lelle Beispiele, ist nicht auf den Antisemitismus beschränkt. Auch der „gute deutsche Kolonisator“ des Imperialismus arbeitete stets an der Erziehung zur Arbeit und kolonialisierte grundsätzlich nur gemeinnützig und nachhaltig.

    An diese Tradition konnten die nationalsozialistischen Frühschriften von Gottfried Feder, Anton Draxler und Dietrich Eckart nach dem Ersten Weltkrieg nahtlos anschließen und von ihren Texten spannt sich ein Netz zu Hitlers frühen Reden und Schriften.
    Die „erste Pflicht jedes Staatsbürgers“

    Lelle untersucht die Texte systematisch mit dem Ziel, die NS-Arbeitsauffassung zu bestimmen: „Die Macht des Leihkapitals müsse gebrochen werden“ und es gelte, sich von der „Zinsknechtschaft des Geldes zu befreien“, hinter dem Kapitalismus, der Sozialdemokratie und dem Kommunismus stünden die Juden, ihren „Mammonismus, die geheimnisvolle Herrschaft der großen internationalen Geldmächte“ gelte es zu bekämpfen, nicht den Kapitalismus insgesamt.

    Diese Schimären bilden die Grundlage von Hitlers 25-Punkte-Programm von 1920. Um es zu erreichen, ist es die „erste Pflicht jedes Staatsbürgers (…) geistig oder körperlich zu schaffen“, und zwar zum Nutzen aller.

    Das sich hieraus ergebende Konstrukt der Volksgemeinschaft bildet die ideologische Verbindung zwischen Antisemitismus und Arbeitsauffassung. Eingegrenzt durch den Begriff der Rasse, definiert sich der NS-Arbeitsbegriff: Arbeit ist Dienst an der Volksgemeinschaft.

    Aus dieser Definition ergibt sich zum einen, dass nicht allein die Erwerbsarbeit als Arbeit gilt, sondern jede Tätigkeit, die der Volksgemeinschaft nützt, also auch die Haushalts- und Reproduktionstätigkeiten, die ausschließlich den Frauen zugeordnet war.

    Selbst Arbeitslose wurden symbolisch zu Arbeitenden umgewertet, wenn sie zum Beispiel eine ehrenamtliche Tätigkeit ausübten. Zum anderen ergibt sich aus der Überhöhung der Arbeit als Dienst die Abwertung der Nicht-Arbeit. Sie gilt, dieser Logik zufolge, als schädlich. Die Verfolgung „Asozialer“ und „Arbeitsscheuer“ hat hier ihr ideologisches Fundament (vgl. dazu: „Noch immer nicht in der deutschen Erinnerungskultur angekommen“).
    Politische Ökonomie des Naziregimes

    Diese NS-Arbeitsauffassung schildert der Autor als Versuch, eine Antwort auf die Probleme moderner, industrieller Arbeit, auf die Entfremdung der Arbeit zu finden. Allem voran der Antisemitismus ermöglichte eine Kapitalismuskritik, ohne den Kapitalismus abzuschaffen.

    Nicht die Verhältnisse, die entfremdete Arbeit produzieren, sollten abgeschafft oder auch nur verändert werden, sondern die Art und Weise, wie sich Menschen in diesen aufeinander beziehen.

    Man präsentierte sich als Gegenbild sowohl der liberalen Arbeitsauffassung, organisiert in kapitalistischen Marktbeziehungen, als auch gegen einen sozialistischen Begriff, der auf eine demokratische und kollektive Organisation zielte. Arbeit wurde, so zitiert Lelle an dieser Stelle, zu Recht Franz Neumann (1900 – 1954) nicht mehr als Ware verstanden, sondern als Ehre. In der Propaganda wähnte man sich auf einem dritten Weg.

    Es gehörte zur politischen Ökonomie des „dritten Reiches“ eine Verbindung zur Arbeiterklasse herzustellen, die Arbeiter sozial in das Regime zu integrieren, um sich deren Legitimität langfristig zu sichern.

    Die Einsicht, dass faschistischer Kapitalismus nicht auf die „Passivierung des Proletariats“ setzt, sondern auf dessen „Aktivierung“ findet sich bereits bei Walter Benjamin (1892-1940), bei Herbert Marcuse (1898-1978): „Die totale Aktivierung und Politisierung entreißt breite Schichten ihrer hemmenden Neutralität (...)“ und Max Horkheimer (1895-1973): „Die Aktivierung der Massen ist Aufgabe des faschistischen Apparats“.
    Neue Formen der Menschenführung

    Damit die Arbeiter auch wollen, was sie sollen, experimentierte man in ausgewählten Betrieben mit neuen Formen der Menschenführung:

    Bekanntestes Beispiel sind die Kölner Klöckner-Humbold-Deutz-Werke (KHD). Hier wurden Mitte der 1930er-Jahre Formen des Personalmanagements eingeführt, die auf die Eigenverantwortung der Arbeiter setzten. Ziel war es, den Arbeiter zum Mitarbeiter zu machen. Der Betriebsdirektor verlieh einigen besonders effektiven Arbeitern den Titel „Selbstkontrolleur“, erkennbar an dem Schriftzug „Ich prüfe selbst“.

    Das bedeutete, dass sie, ohne eine materielle Zusatzvergütung dafür zu erhalten, ihre Produkte selbst auf etwaige Mängel überprüfen und gegebenenfalls reklamieren konnten. Auch wurde einigen ausgezeichneten Facharbeitern der Titel „Selbstkalkulator“ verliehen. Sie durften ihre Akkorde selbst festsetzen und somit ihr Gehalt selbst bestimmen.

    Die NS-Presse feierte die neue Personalführung als Realisierung der eigenen Ideologie und in der SS-Zeitung Das Schwarze Korps war zu lesen: „Hier ist der Nationalsozialismus zur Tat geworden.“

    Die NS-Herrschaftsform strafte also nicht nur, sie aktivierte auch und brachte eine bestimmte Subjektform des deutschen Arbeiters hervor, das der Autor das „folgende Selbst“ nennt. Die „klassenlose NS-Klassengesellschaft“ (Theodor W. Adorno 1903 – 1969) machte den Arbeiter zum Mitarbeiter.

    Das folgende Selbst ist der Arbeitertypus des NS-Kriegsfordismus und an diese Gesellschaftsordnung gebunden. Im kapitalistischen Normalvollzug der Nachkriegszeit konnte an diese Tendenzen angeschlossen werden, aber der Wegfall des Führers musste kompensiert werden.

    Statt Führer und Gefolgschaft hieß es ab jetzt Vorgesetzter und Mitarbeiter. Erforderlich wurde eine modifizierte Subjektform des deutschen Arbeiters, die Lelle das „führende Selbst“ nennt.
    Kontinuitäten in der Nachkriegszeit

    Die Nachkriegsgeschichte ist in der Justiz, der Verwaltung, der Politik und den Ministerien, das ist bekannt und an Literatur hierzu mangelt es nicht, geprägt durch personelle Kontinuitäten.

    In den 1950er-Jahren lag beispielsweise der Anteil der führenden Mitarbeiter des Arbeitsministeriums mit NSDAP-Parteibuch im Schnitt bei 60 Prozent.

    Lelle geht es in seiner Arbeit auch nicht um personelle, sondern um ideologische Kontinuitäten: Um das Fortbestehen der deutschen Arbeitsauffassung, die jedoch, zumindest oberflächlich und nach außen hin, vom Antisemitismus, Antiziganismus, Rassismus und Sozialchauvinismus bereinigt werden musste.

    Ganz ohne personelle Kontinuität geht allerdings auch das nicht. Den bruchlosen Sprung vom faschistischen Chefideologen zum Chefausbilder im Dienst des Kapitals gelang unter anderem: Reinhard Höhn. Der 1904 geborene stramme Antisemit und Jurist baute Heidrichs Sicherheitsdienst (SD) mit auf, dessen Ziel es war, „Volksfeinde“ aufzuspüren, um die Verhältnisse zu stabilisieren.

    Von Himmler zum SS-Oberführer ernannt, lieferte er Argumente für eine europaweite Vertreibungs- und Vernichtungspolitik. 1953 wurde er Geschäftsführer der Deutschen Volkswirtschaftlichen Gesellschaft und baute die Bad Harzburger Gesellschaft für Führungskräfte auf. Deren Akademie war bald die erste Adresse in der BRD für Management-Training und unternehmerische Führungsmodelle.

    Nicht zuletzt wegen der umfangreichen Unterstützung alter SS Kameraden, die sich jetzt bei Höhn als Führungskräfte in Unternehmen ausbilden ließen.
    Schulungen mit prominenten Kunden

    Zu den Kunden zählten zum Beispiel AEG-Telefunken, Aldi Nord, Bayer, BMW, C&A Brenninkmeyer, Esso, Ford, Hoechst, Karstadt, Kaufhof, Krupp, Mannesmann, Opel, Thyssen, das Versandhaus von Beate Uhse, VW und viele mehr. Auch der Gründer der Drogeriemarktkette dm, erfahren wir von Lelle, wurde von seinem Vater zur Schulung nach Harzburg geschickt.

    Die alte Logik vom Führer und Gefolgschaft hat sich angepasst und modernisiert, lebt aber in „entnazifizierten“ Formen fort. Nach der Befreiung hieß es nicht mehr „Führer befiel – wir folgen“, sondern „Führer befiel – wir managen“, wie die Zeitschrift Konkret titelte.

    Anfang der 1970er endete der staatlich gelenkte Kapitalismus und oktroyiert wurde die bis heute andauernde neoliberale Variante. Nicht allein, weil diese von Beginn an wegen ihres politisch-ökonomischen Autoritarismus kritisiert wurde, sondern vor allem auch wegen der ideologischen Nähe zur politischen Ökonomie des NS – zum Beispiel erfolgte damals wie heute der Ausschluss aus der (Volks-)Gemeinschaft mit und durch Arbeit – hätte man sich hier eine etwas ausführlichere Darlegung gewünscht.

    Lelle belässt es bei der Feststellung: Das „führende Selbst“ hat ausgedient und wurde durch das (unternehmerische) folgende Selbst ersetzt, das für sich allein steht. Die Aktivierung der Selbststeuerungspotentiale liegt in der Selbstverantwortung, Ziel ist, sich selbst möglichst gut zu verkaufen und Gewinn zu machen.
    Das kapitalistische Leistungsprinzip

    Kritisiert wird noch in zwei Sätzen die neoliberal transformierte Regierungs-SPD und Vizekanzler Franz Münteferings verdrehtes und sozialdemokratisiertes Paulus-Postulat: „Wer arbeitet, soll auch essen“, eine wiedererstarkte neue antisemitische Rechte samt Unterstellungen von Thilo Sarrazin bis Björn Höcke, aber das war es dann leider auch.

    Bis heute ist die berufliche Karriere das Ideal der bürgerlichen Leistungsgesellschaft und des kapitalistischen Leistungsprinzips. Rassistisch aufgewertet und radikal zu Ende gedacht, impliziert es genau die Devise, die unter anderem über dem Eingangstor vom KZ Buchenwald zu lesen war: „Jedem das Seine.“

    Lelle resümiert ganz zu Recht, dass einem das Nachdenken über den Faschismus zwangsläufig immer wieder zurückwirft auf den Kapitalismus. Prägnant formuliert bereits am Vorabend des Zweiten Weltkrieges von Max Horkheimer:

    „Wer aber vom Kapitalismus nicht reden will, soll vom Faschismus schweigen.“

    Die Forderung nach einer radikalen Veränderung des Arbeitsbegriffes, auch darin ist dem Autor zuzustimmen, impliziert die Forderung nach einer radikalen Veränderung der Gesellschaft, ohne wird es nicht gehen.

    „Die Emanzipation des Menschen aus versklavenden Verhältnissen“, so noch einmal Horkheimer, „zielt auf den Marxschen kategorischen Imperativ“: Alle Verhältnisse umzuwerfen, in denen der Mensch ein erniedrigtes, ein geknechtetes, ein verlassenes, ein verächtliches Wesen ist.

    Arbeitsverhältnisse sind nur allzu oft ein solches Verhältnis. Ein kritischer Arbeitsbegriff dagegen muss versuchen, auch diejenigen zu integrieren, die sich weigern: Jeder kann, keiner muss, aber für alle wird gesorgt.

    Nikolas Lelle
    Arbeit, Dienst Und Führung. Der Nationalsozialismus und sein Erbe
    Verbrecher Verlag, Berlin 2022
    366 Seiten, 30 Euro

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