Rauer Wind in der Nische

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    Jungle World 2003/27 von Christoph Villinger - Das Kreuzberger Prinzenbad ist auch bei 30 Grad im Schatten leer. Einsam kann man seine Bahnen im großen Becken ziehen. Man muss nur das nötige Kleingeld haben. Denn inzwischen kostet der Eintritt vier Euro, wer Anspruch auf Ermäßigung hat, zahlt immer noch 2,50 Euro. Dauerkarten sind abgeschafft. Nach den Protesten im vergangenen Jahr führten die Berliner Bäderbetriebe immerhin eine Spätschwimmerkarte ein, ab halb sechs Uhr kostet der Eintritt nur noch zwei Euro.

    Doch die ökonomische Krise ist nicht nur im Prinzenbad präsent. Immer weniger BewohnerInnen von Kreuzberg, das nach der Bezirksreform zum Ost-West-Bezirk Friedrichshain-Kreuzberg gehört, haben genügend Geld. In der Oranienstraße wirbt inzwischen selbst die Edelpizzeria Ossena mit einer Happy Hour von 18 bis 20 Uhr, um Hungrige anzulocken: »Alle Pizzas zum halben Preis.« Die Café-BesitzerInnen klagen über deutliche Umsatzrückgänge, nur am Wochenende sind die Kneipen noch voll. Und wenn man sich mal einen Cappuchino genehmigt, kommen zwei etwa zehnjährige Schulkinder an den Tisch, um selbstgebastelte Kerzen zur Finanzierung ihrer Klassenfahrt zu verkaufen. Man glaubt ihnen, denn sie sehen nicht so aus, als ob sie das Geld an der nächsten Straßenecke in Drogen umsetzen würden.

    Nebenan unterhält man sich über die 100 Euro, die ab Herbst für die Schulbücher der Kinder zu bezahlen sind. Und dass »die beste Freundin nach jahrelangem Suchen endlich einen Job gefunden hat« – in Schwäbisch Hall. Die seit zehn Jahren von den Linken befürchtete »Vertreibung der Armen aus Kreuzberg« ist ausgeblieben, vielmehr »findet ein Prozess der Binnenverarmung« statt, sagt der Kreuzberger Baustadtrat Franz Schulz von den Grünen. So nehme seit wenigen Jahren die Bevölkerung in Kreuzberg sogar wieder zu, insbesondere die deutsche. Das Problem sei der früher gut verdienende Selbstständige, der immer weniger Aufträge erhalte und dessen Geld deshalb knapp werde.

    So hat die auf mittelständische Käuferschichten ausgerichtete Supermarktkette Reichelt ihr Ladenlokal nahe dem Kottbusser Tor schon vor Jahren an den Billigdiscounter Lidl übergeben. Und keine tausend Meter weiter hat Lidl am Oranienplatz vor wenigen Monaten eine weitere Filiale neben dem edel restaurierten AOK-Hochhaus eröffnet. Das steht dafür völlig leer.

    Ebenfalls leer fahren nachts unzählige Taxen auf der Suche nach nicht vorhandenen Fahrgästen durch die Oranienstraße. Ein Kreuzberger Taxikollektiv kann sich inzwischen nur noch gut zwei Drittel des seit 1980 üblichen Stundenlohns von 7,50 Euro auszahlen. Für den Taxifahrer Tilman G. ist sein Job inzwischen »nichts weiter als eine schlecht getarnte Arbeitslosigkeit«.

    Über 30 Prozent beträgt die Arbeitslosenquote in Kreuzberg, 26 000 der etwa 147 000 EinwohnerInnen beziehen Sozialhilfe. Ein Drittel der KreuzbergerInnen hat keinen deutschen Pass. Im SO 36 genannten Teil Kreuzbergs betrug im Jahr 2001 das durchschnittliche Haushaltseinkommen nur 850 Euro, der Berliner Durchschnitt liegt immerhin bei 1 100 Euro. Knapp 3 500 Jugendliche unter 25 Jahren sind im Gesamtbezirk Friedrichshain-Kreuzberg arbeitslos gemeldet, genauere Aufschlüsselungen nach einzelnen Wohngebieten gibt es angeblich nicht. Zumindest wehrt der Sprecher des Landesarbeitsamtes von Berlin-Brandenburg, Olaf Möller, eine entsprechende Anfrage der Jungle World wortreich ab.

    Doch Bezirksbürgermeisterin Cornelia Reinauer (PDS) berichtet von einzelnen Straßenzügen, »in denen bis zu 60 Prozent der Jugendlichen mit Migrationshintergrund ohne Arbeit oder gar Ausbildungsplatz sind«. Deshalb ist Talibe Suzen vom Immigrantinnenverein Akarsu e.V. so empört, dass das Arbeitsamt Mitte die Mittel für Berufsvorbereitungskurse zusammengestrichen hat. 45 Teilnehmerinnen nicht deutscher Herkunft sollten dort auf einen Beruf vorbereitet werden, um einen Ausbildungsabschluss zu erreichen. Durch spezielle Angebote und muttersprachliches Fachpersonal entwickelten die Migrantinnen in den seit 14 Jahren angebotenen Kursen schnell mehr Selbstbewusstsein und Selbstsicherheit.

    Noch im vergangenen Jahr wurde der Bildungsträger von Bundespräsident Johannes Rau und der Bertelsmann-Stiftung als eines der zehn besten Projekte unter 1 300 Mitbewerbern in Deutschland ausgezeichnet. Jetzt muss der Verein, um die Insolvenz zu vermeiden, bis Ende August allen Mitarbeiterinnen kündigen, berichtet Talibe Suzen. Falls dann bis Mitte September das Arbeitsamt den von zwölf auf neun Monate verkürzten Kurs doch noch genehmigt, können sie wieder angestellt werden. Aber am 31. Juli des nächsten Jahres müssen sie wieder entlassen werden. »Das ist doch absurd«, empört sich Suzen.

    Auch die Beschäftigungsagentur Stellwerk ist von den Kürzungen betroffen. Hier werden SozialhilfeempfängerInnen Wege zum Job gezeigt. »Wir verlieren damit 350 Förderplätze«, befürchtet Kerstin Bauer (PDS), die Sozialstadträtin des Bezirks. »Mit sehr großer Besorgnis«, formuliert sie diplomatisch, sehe sie »das rein haushaltspolitische Durchsetzen der Politik der Bundesanstalt für Arbeit in Nürnberg«. Sie fordert »mehr Sensibilität«.

    Vor Jahren wurden diese Beschäftigungsagenturen von der radikalen Linken noch als Zwangsarbeitsanstalten bekämpft. Inzwischen beugen sich einige dem Widerspruch: Lieber ausgebeutet drin als ganz draußen. Kreuzberg ist in der ganz normalen kapitalistischen Realität angekommen, mit der man in anderen Teilen Deutschlands schon immer konfrontiert war. Sind dort ABM und die anderen Programme des Arbeitsamtes schon seit längerem Fremdwörter, ermöglichten sie in Kreuzberg vielen eine Nischenexistenz, deren Finanzierung nun weggekürzt wird. Zwar sind die Mieten in Kreuzberg im Vergleich zu Stuttgart oder München immer noch niedrig, doch auch hier steigen die Preise. Ein immer höherer Anteil des geringen Einkommens wird für das Wohnen ausgegeben, manchmal machen Miete und Nebenkosten schon weit über 30 Prozent aus.

    Nun soll ausgerechnet die längst verstorbene New Economy den Bezirk retten. Für die Bezirksbürgermeisterin Reinauer hat er »überhaupt nur eine Chance, wenn sich die Medienindustrie im Spreeraum weiter ansiedelt«. Vor einem Jahr zog Universal-Musik von Hamburg an das Friedrichshainer Spreeufer, demnächst will der Musiksender MTV folgen.

    Links und rechts der Spree ist ein riesiges Medienviertel mit 50 000 Arbeitsplätzen geplant. Für viele knüpft sich daran die Hoffnung, dass dort kleinere Kreuzberger Firmen im Dienstleistungssektor einen Markt finden könnten.

    Doch statt von der Teilnahme am unteren Dienstleistungsbereich zu träumen, könnte man sich auch wehren. Am vergangenen Sonntag veranstaltete die Kampagne Berlin-umsonst eine Fahrraddemo von Schwimmbad zu Schwimmbad in Kreuzberg und Mitte »gegen die unbezahlbaren Eintrittspreise«. Wer umsonst ins Prinzenbad kommt, braucht auch vorher den Medienarbeitern nicht die Schuhe zu putzen. Also wurden die Badehosen eingepackt, die Strandbälle aufgepumpt und die Wasserpistolen durchgeladen, um endlich freies Plantschen in den Fluten zu erkämpfen. Immerhin ein Anfang.

    #Berlin #Kreuzberg #Taxi #Arbeit #2003