Hanna Lakomy : „Ich habe Freier, die mich von meinem Job erlösen wollen“
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La prostituée et journaliste Hanna Lakomy nous fournit une analyse dialectique des motivations contradictoires de ses clients. C’est un texte exceptionnel parce qu’il réunit des observations de première main et une réflexion conséquente qui n’a pas lieu dans la majorité des textes sur la prostitution.
2.4.2023 von Hanna Lakomy - Das menschliche Phänomen, an dessen Beschreibung ich mich hier wage, ist kein neues. Nur hat unsere Öffentlichkeit, glaube ich, keinen klaren Begriff davon. Das liegt daran, dass die meisten Menschen solche Exemplare unserer Gattung zwar kennen, oder sogar selbst sind – aber eben nichts davon wissen, weil sie nicht das Privileg haben, die Welt durch die Augen einer Prostituierten zu betrachten.
Es geht um Menschen, die als Kunden zu Prostituierten gehen – aber unsereins dafür verachten. Ja, ganz richtig: Sie sind unwiderstehlich angezogen von uns und dem, was sie von uns erheischen, aber sie hassen uns dafür. Und sinnen auf Rache. Oder sie leugnen einfach hartnäckig die Realität unseres Gewerbes: Es sind die Freier wider Willen, die unfreien Freier. Ich taufe sie einfach: die Unfreier.
Ein Unfreier
Es kann nicht ausbleiben, dass ich ein konkretes Beispiel anführe. Sonst wird es zu abstrakt, und außerdem hat ja auch die Leserschaft ihre Bedürfnisse, die ich befriedigen möchte. Und das, obwohl ich weiß, dass auch einige meiner liebsten Stammkunden die Berliner Zeitung lesen. Doch wie immer in solchen Fällen beuge ich einer Klage wegen Persönlichkeitsrechtsverletzung vor, indem ich mich des Mittels der Verfremdung bediene. Wer immer bangt, sich gemeint zu fühlen, dem sei gesagt: Nein, du doch nicht, mein Lieber. Es ist ja nicht nur ein Einzelner, den ich meine, sondern ein Phantasiegeschöpf, das aus mindestens dreien oder vieren von euch besteht.
Sagen wir, er sei Ende vierzig. Verheiratet, deutsch und christlich von Konfession. Zugleich aber durchaus alternativ, Vertreter eines modernen Glaubens mit schmissigen Gottesdiensten, umweltbewusst, und überhaupt ein mustergültiger Staatsbürger. Er ist selbstverständlich Spender von Organen und von regelmäßigen Summen an diverse gemeinnützige Organisationen, und er hätte auch gern Flüchtlinge aus der Ukraine aufgenommen, aber es scheiterte an den Behörden. Er erzieht seine Kinder antiautoritär und nimmt der Frau gefühlt die Hälfte der Hausarbeit ab. Er ist nicht reich, denn er wollte für seine Eltern nur das teuerste Pflegeheim, und seine Kinder gehen natürlich auf Privatschulen. Und dann ist da noch das süße Patenkind aus einem Kinderhilfsprojekt in Afrika. Er hat es mit der ganzen Familie gemeinsam ausgesucht. Er zeigt mir Fotos auf seinem iPhone, um auch von mir zu hören, wie süß es ist.
Ein Mann, der so idealistisch ist, der kann natürlich nicht so sein wie „die anderen Männer, die du so triffst“.
Dieses Klischee hat er im Kopf. Das von den anderen Freiern, die natürlich reicher, aber auch unmoralischer sind als er. Denn er ist ein hochmoralischer Mensch, das wird er nicht müde zu erklären. Aber ab und zu brauche halt auch jemand wie er mal „Urlaub für die Seele, oder eine sinnliche Auszeit“ – man merkt, dass er sich diese Formulierungen zurechtgelegt hat. Er kommt zu meinesgleichen, um sich als erstes ausführlich zu rechtfertigen.
Aber dann stockt er. Natürlich tut er das. Eine erfahrene Prostituierte weiß, was normalerweise geschieht, nachdem all diese unbezwingbaren Argumente vorgetragen wurden. Sie hört der Moralpredigt geduldig zu und lächelt süß. Nickt verständnisvoll. Oh ja, wir verstehen das doch, wir machen ihm keine Vorwürfe! Wir sind empathisch. Wir spüren, wie unwohl so einer sich fühlt in seiner Haut. Es ist unser Beruf, ihm darüber hinwegzuhelfen, das Eis zu brechen. Fast jeder neue Kunde ist zunächst unsicher und verklemmt und auf die falsche Weise steif.
Nur mit dieser besonderen Spezies ist es anders. Es ist mehr als Unbeholfenheit. In ihrer Nähe, unter ihrem Blick spüre ich die Spannung: Das wird ein hartes Stück Arbeit. Dieser Vorwurf in seinem Blick, diese Gekränktheit. Um seine Mundwinkel spielt ein trotziger Zug von Verzweiflung. Man fühlt sich paradoxerweise dazu bewegt, sich bei dem Mann zu entschuldigen. Doch wofür? Er wusste doch, wen er aufsucht, als er sich mit einer Hure zum Stelldichein verabredete. Will er etwa über den Preis verhandeln? Weil das Hotelzimmer schon zu kostspielig für ihn ist? Nein, das ist es nicht, und die Erwähnung empört ihn zutiefst. Nein, so einer sei er nicht, ein Mann, der um den Preis eines Frauenkörpers feilscht, wie um eine Ware.
Dass es nicht der Körper ist, den er bezahlt, erwähnen wir manchmal, aber meist vergeblich. Er wird so oder so immer wieder darauf zurückkommen, uns vorzuwerfen, dass wir unseren „Körper verkaufen“.
Er besteht darauf, besser zu sein als meine sonstigen Kunden. Denn er geht davon aus, dass Männer, die zu Prostituierten gehen, Schweine sind. Er glaubt übrigens auch, dass ich jeden Kunden annehmen muss, wenn der nur zahlt. Er lässt es sich nicht ausreden, dass mein Job eine Qual ist, er aber meine Erlösung in Person. Und er ist schwerstens gekränkt von meiner Undankbarkeit. Weiß ich denn nicht, was ich für ein Glück habe, dass er es heute ist?
„Es fällt dir wohl schwer, dich zu öffnen! Nähe zuzulassen! Wer weiß, was für schwere Verletzungen deine Seele erlitten hat, wahrscheinlich in deiner Kindheit.“
Immerhin wirkt dann der gewisse karitative Kick. Es baut sich eine heroische Erektion auf.
Ich zahle nicht für Sex!
Es ist nicht immer klar, ob die Zahlungsunwilligkeit mit Geldmangel begründet ist. Aber wenn das Begehren stark ist und sie frustriert sind von der Unerfüllbarkeit ihres Liebeswunsches, dann fällt ihnen ein, dass es ja gar nicht anständig ist, sich zu prostituieren. Eine Frau sollte so etwas nicht tun. Es ist ganz falsch, dass wir auf Bezahlung bestehen. Wenn wir moralisch handeln würden, dann würden wir auf Sex gegen Geld verzichten. Sonst nehmen sie sich das Recht heraus, uns moralisch zu verurteilen.
Das Problem liegt aber viel tiefer: Es kränkt sie, dass ausgerechnet sie für ihr nur allzu berechtigtes Bedürfnis nach Urlaub für die Seele bezahlen müssen. Dass ich ihnen den nicht gratis gewähre, jetzt wo ich sehe, wer sie sind. Wo sie doch so einen guten Charakter haben. Mit ihnen, da müsste ich doch freiwillig schlafen wollen.
Die Selbstverachtung des Freiers ist das Spiegelbild der Hurenverachtung, des Hurenhasses. Huren dürfte es in ihrer Welt eigentlich gar nicht geben. Unsere Art zu leben ist falsch (aber sie verzeihen uns). Keine Frau, glauben sie, sei freiwillig Hure, denn Hure sein bedeutet, die Menschenwürde zu verlieren. Sie verstehen nicht, dass Prostitution auch Selbstbestimmung bedeuten kann. Sie glauben, dass die Selbstbestimmung einer Frau immer nur in die romantische, monogame Paarbeziehung führt. Dass es die tiefste Bestimmung der Frau ist, aufzugehen in der Partnerschaft und Mutterschaft. Ihr Leben der Liebe der Familie zu widmen – natürlich auch als nebenbei berufstätige, vielseitig interessierte Frau, die ihrem Mann dadurch eine ebenbürtige Gesprächspartnerin ist und ihn auch mental unterstützt.
Eine Prostituierte aber, die keinen Partner findet, das arme Ding, weil man sie sozial ächtet, oder weil sie vielleicht irgendeinen Schaden hat, der sie daran hindert, ihre wahren (monogamen) Gefühle zu leben, wird statt zum Eigentum eines einzelnen Partners zum öffentlichen Eigentum – das uralte Besitzdenken des Patriarchats: Wenn die Frau keinem Mann gehört, dann liegen eben ungeklärte Eigentumsverhältnisse vor.
Aber nun sind sie ja gekommen, um mich zu retten. Halleluja: Sie verachten mich nicht wie die anderen für mein Gewerbe (denken sie). Sie wollen mir zeigen, wie das ist, wenn man „beim Sex etwas fühlt“. Sie wollen mir das „taube Gefühl von der Haut küssen“. Bei solchen Worten suchen sich dann bereits Augen und Finger meines Retters den uralten Weg des Fleisches, das stark ist, wenn der Geist so schwach ist. Und einmal mehr ist er irritiert von meinem belustigten, eiskalten Blick.
Aus einem Brief des Magnifico Marco Venier an Veronica Franco, die berühmteste Kurtisane Venedigs im Cinquecento:
Ma com´esser può mai che, dentro al lato molle, il bianco gentil vostro bel petto chiuda sí duro cor e sí spietato?
Jedoch, wie kann es sein, dass dieser weiche Leib, die weiße, sanfte Brust umschließt ein Herz so hart und gnadenlos?
Das kommt unsereins ja so bekannt vor! Der wortgewandte, eitle, zahlungsunwillige Liebhaber beleidigt in schmeichelhaften Worten die Kurtisane als Kurtisane, als Frau, die Geld verlangt für ihre Zuwendung. Er geht zu einer Prostituierten und beschwert sich, dass sie Prostituierte ist. Nicht, dass er sie dann zur Frau nehmen und wirtschaftlich absichern würde. Keiner der beiden Parteien käme so etwas in den Sinn. Nein, er will einfach nur Gratissex, weil er sich für etwas Besseres hält als ihre übrigen Kunden – in Veronicas Fall Fürsten und Kardinäle, die Elite der Renaissance. Und alle diese Herren zahlen. Was Herr Marco sehr wohl weiß. Doch er verlangt eine Ausnahme für sich selbst, allein deshalb, weil er angeblich so sehr für sie schwärmt – oder sich zumindest sehr eloquent ausdrücken kann in diesem elend langen, der Nachwelt erhaltenen Brief.
Veronicas Antwort ist nicht weniger eloquent, nur weniger gespreizt. Sie verblüfft durch ihre schlichte Klarsicht. Hier ist die Stelle, mit der sie den Magnaten auf seinen Platz verweist. Eine Antwort, die Tausenden von heutigen Kolleginnen, auch mir, aus dem Herzen spricht, heute wie vor fünfhundert Jahren:
Piú mi giovi con fatti, e men mi lodi, e, dov´è in ciò la vostra cortesia soverchia, si comparta in altri modi.
Dient mehr mit baren Fakten mir und weniger mit Lobpreis, und wo vor Höflichkeit Ihr schier wollt überwältigt sein, vergeltet sie auf andre Weise mir.
Wie mein Beruf als prominente Hure mich zur Relativistin gemacht hat
Differenzierung
Es gibt zwei Sorten Unfreier: diejenigen, die vorwiegend von ihrer Libido getrieben sind, und dann die Liebeskasper, Liebesnarren.
Letztere suchen nach Liebe, nach Gefühlsbindung, nicht nach Sex: Ich will keinen Sex, ich will dich in mich verliebt machen. Sie sind in Sachen Paarbeziehung unerfahren oder tief verletzt. Da ist eine unendliche emotionale Bedürftigkeit, die kein noch so intensiver Sex stillen kann. Im Gegenteil, das Bindungsbedürfnis wird dadurch nur noch stärker. Sie verwechseln körperliche Zuwendung mit Gegenliebe, und zwar ausnahmslos und trotz ihrer meist hohen Intelligenz. Der Zauber der Sinnlichkeit ist das Heroin der Romantiker. Verloren, wer es anrührt. Oft findet sich bei ihnen ein tiefer Mangel an mütterlicher Zuwendung, an dem sie ein Leben lang leiden, und für den sie jedes weibliche Wesen in Beugehaft nehmen wollen, das sie am unverhüllten Busen ruhen lässt. In ihren klaren Momenten bitten sie explizit um das Vorspielen einer Paarbeziehung. Aber wenn man es ihnen dann gekonnt vorspielt, bleiben sie misstrauisch, sie wollen halt doch keine Illusionen, sie wollen Garantien, die es so oder so nie geben kann. Sie stellen sich sexuell bedürfnislos, in passiver Aggressivität, oder aber sie rechnen mir vor, wie wenig ich tue im Bett, und dass ich alles ihnen überlasse. Oft geht es dabei vor allem um Küsse. Sie bekommen kategorisch zu wenig Küsse. Sie sind hoffnungslos, aber süchtig. Was sie dennoch treibt, wenn sie meinesgleichen als treue Stammkunden immer wieder aufsuchen, ist etwas ganz anderes. Letztendlich wollen sie sich durch uns selbst verletzen, sich mit uns bestrafen für ihre falsche Hoffnung.
Der Liebesnarr ist bedauernswert, aber nicht ungefährlich. Er duldet keine innere Distanz, er überschreitet jede ihm gesetzte Grenze, er ist penetrant und ohne jede Einsicht. Er laugt aus, er ist ein Vampir, der nur vom Leben anderer lebt und an ihnen schmarotzen muss, um seine innere Kälte zu bekämpfen. Gibt man ihm einmal nach, will er immer mehr und mehr. Er will alles. Er will mehr als alles. Es spielt für ihn auch keine Rolle, dass ich außer ihm noch andere Kunden habe. Er erkennt diese Realität gar nicht an. Denn mein Leben jenseits von ihm blendet er aus. Er bezieht alles auf sich, betrachtet sich als mein Schicksal. Die Regel, dass er für die Zeit bezahlen muss und dass er nur einer von vielen ist, begreift er nur als eine infame, boshafte Idee von mir, langfristig geplant eigens zu dem prophetischen Zweck, ihn persönlich zu erniedrigen.
Die andere Sorte Unfreier, die verklemmten Perversen, sind etwas derberer Natur. Sie sind weniger zartfühlend und realistischer. Sie kommen nicht mit wahnhaft leuchtenden Augen, sondern mit gefurchter Stirne, in sich gebückt, verdruckst. Anders als die traurigen Romantiker können sie schmeicheln und beleidigen im Wechsel. Sie können winselnde Bettler und dreiste Erpresser sein. Ihr Trieb macht sie unbeherrscht in der Wahl ihrer Mittel, das zu bekommen, was sie wollen. Etwas, das – in ihren Augen – abstoßend ist und schambesetzt.
Anders als der Liebesnarr, der in seinem Wahnsinn mit sich im Reinen und dessen Verfassung sehr stabil und dauerhaft ist, handelt es sich bei verklemmten Perversen um Menschen im Ausnahmezustand. Es sind Menschen, die neben sich stehen. Sie wollen das nicht wollen, was sie wollen. Aber der verbotene Fetisch ist übermächtig. Sie wären nicht gekommen, hätten sich nicht, nach wer weiß wie langen inneren Quälereien, auf den Weg zu mir gemacht, wenn es da nicht ein Etwas gäbe, das stärker ist als die innere Regierungserklärung. Dieser dunkler Trieb, der mir selbst fremd ist, da ich so tiefe Leidenschaft nicht empfinden kann aufgrund meiner faden Tabulosigkeit. Es lauert bei dieser Sorte Mensch wohl immer unter der Oberfläche des Bewusstseins. Die innere Leere eines toten Moralismus lässt viel Raum für das Unaussprechliche. Unaussprechlich für sie – leicht zu erraten für mich, zwischen den Zeilen. Man drehe ihnen die Worte im Munde um, drehe sie herum und herum wie den Schlüssel im Schloss. Und schon öffnet sich die Tür, in ihrem Falle: eine Falltür.
Ein Sturz in den Abgrund, endlich. Das Abwerfen der Bürde der Würde. „Urlaub für die Seele.“ Eine gequälte Ekstase, die so befremdlich ist wie anrührend. Sie sind so verletzlich ohne den Schutz ihres Selbstwertgefühls. Sie erleben einen Gesichtsverlust: ohne Gesicht sein dürfen, mit verbundenen Augen etwa, oder mit einer Schweinsmaske. „Eine sinnliche Auszeit.“
Und dann das schlechte Gewissen. Das Sich-winden, die Scham, das Sich-nicht-anschauen-können im Spiegel. Die Schuld und die Schuldzuweisung.
Meine früheren Kolleginnen im Bordell, dem Bordell meines Vertrauens, hatten in ihrer Weisheit einen speziellen Begriff für diese Spezies: Grillschnecken. Grillschnecken? Wie diese Dinger für die Grillparty? Genau. Wie grölten sie lachend, unisono:
Er kann sich ringeln wie er will, er kann sich kringeln wie er will, er ist doch nur ein Würstchen und will auf den Grill!
Beide Sorten Unfreier haben eines gemeinsam: Sie können nicht akzeptieren, dass eine Hure als Hure Respekt verdient. Sie hassen unsere geistige Überlegenheit. Und doch sind sie von Frauen wie uns ein Leben lang abhängig.
Unfreier sind notorische Verräter an ihrer eigenen Lust, Verräter an der Intimität, die wir Huren mit ihnen teilen. Das Freierstigma, das sich mit schöner Regelmäßigkeit auch in den Medien als Schrei nach Freierbestrafung manifestiert, haben auch die Männer verinnerlicht, die es zu Prostituierten treibt. Und das sittliche Verbot steigert das Bedürfnis. Den seelischen Druck, der sich aufbaut. Unsere Schamgesellschaft ist die Ursache, dass gerade wohlmeinende, ethische Menschen diese geistigen Verrenkungen machen, weil sie ihre körperlichen und seelischen Bedürfnisse nicht in Einklang bringen können mit den allgemeinen Moralvorstellungen.
Wer unter einem Stigma lebt, wird nicht nur verachtet. Er hat auch seinerseits gelernt, andere zu verachten. Und er sinnt auf Rache. Es gibt einen fatalen Zusammenhang zwischen Lust und Straflust, strafbarer Lust und der Lust, andere stellvertretend für die eigene Schuld zu bestrafen.
Die Zeiten, in denen Prostituierte so souverän mit männlicher Eitelkeit spielen dürfen wie Veronica Franco dereinst, sind historisch meist von kurzer Dauer. Die außergewöhnliche Freiheit der Kurtisanen des frühen Cinquecento wurde nach der Hälfte des Jahrhunderts abgelöst durch ein neues Zeitalter der Moral. Die katholische Kirche, deren Prachtentfaltung am päpstlichen Hof so lange der gesellschaftliche Freiraum für die Unabhängigkeit kluger Frauen gewesen war, musste auf das Phänomen Luther reagieren. Dessen herausfordernder Vorwurf ihre moralische Autorität in Frage stellte. Man musste plötzlich beweisen, dass man frommer war als die anmaßenden Protestanten. Und vice versa! Von allen Todsünden, mit denen der Klerus sich beladen hatte, wurde ökonomischerweise die Wollust auserkoren, um nun demonstrativ gegeißelt zu werden, und das sechste Gebot wurde aufgerichtet zum gebotensten aller Gebote. Die beiden religiösen Lager überboten sich im frömmelnden Eifer. Die Hexenverfolgung nahte. Wo die Sinnlichkeit nicht zu ihrem Recht kommt, triumphiert die Gewalt. Und ich blicke mit wachsender Besorgnis der Mitte dieses Jahrhunderts entgegen.
Totem und Tabu
▻https://de.m.wikipedia.org/wiki/Totem_und_Tabu
Grundlage der Zwangsneurose ist der Gegensatz von Trieblust und Verbot. Der Lust, vor allem der Berührungslust an den Geschlechtsorganen, trat von außen das Verbot gegenüber, die Berührung auszuführen. Dem Verbot gelang es jedoch nicht, den Trieb aufzuheben; der Erfolg des Verbots bestand nur darin, die Lust ins Unbewusste zu verdrängen. Der Gegensatz von Lust und Verbot besteht also fort, und dies führt dazu, dass die Handlungen gegenüber dem Objekt ambivalent sind. Eine bestimmte Aktion, etwa eine bestimmte Berührung, bietet den höchsten Genuss und soll deshalb immer wieder ausgeführt werden; aufgrund des Verbots wird diese Handlung jedoch zugleich verabscheut. Das Verbot ist bewusst, die fortgesetzte Lust hingegen unbewusst. Seine Stärke – seinen Zwangscharakter – verdankt das Verbot gerade der Beziehung zur unbewussten Lust. „Wo ein Verbot vorliegt, muß ein Begehren dahinter sein“
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