Warum der gesetzliche Mindestlohn so oft unterlaufen wird

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  • Warum der gesetzliche Mindestlohn so oft unterlaufen wird
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    23.05.2023 von Barbara Berner + Mindestens zwölf Euro die Stunde für alle: Das ist die Idee des verbindlichen Mindestlohns. Doch die Verbindlichkeit hat ihre Lücken. Arbeitgeber haben ihre Tricks, wie sie Mindestlöhne aushebeln können.

    Dienstagmorgen in Frankfurt: Zivilfahrzeuge des Zolls sind auf dem Weg zu einer der größten Baustellen der Stadt - eine Razzia der Finanzkontrolle Schwarzarbeit. „Wir gehen einem Verdacht nach, gegen den Verstoß von Werksverträgen,“ sagt Arne Niestrath vom Hauptzollamt in Frankfurt. Bei ihm laufen alle Fäden zusammen. Aber es ist nicht der Verdacht allein. 260 Personen werden sie nun kontrollieren müssen, dazu die Bauleitung. Vor Ort heißt es erstmal alle personenbezogen Daten sammeln und Bauunterlagen kontrollieren.

    Später werden die Beamten Tage brauchen, alles auszuwerten. Wenn sie überhaupt alle Personen erfasst haben: Schnell spricht sich die Kontrolle auf der Baustelle herum, und dann „verschwinden auch mal Arbeiter in irgendwelchen Verstecken“, erklärt Niestrath. „Die kennen sich eben besser hier aus als wir.“ Frustration schwingt mit, während er das sagt.
    Beratung für Hilfesuchende

    Einer, der sich auf Baustellen auskennt, ist Antonio (Name von der Redaktion geändert). Wo er überall gearbeitet hat, will er nicht sagen, genauso wenig wie seinen richtigen Namen. Er ist einer der wenigen, die irgendwann mal den Weg zur Beratungsstelle „Faire Mobilität“ fanden.

    Die Beratungsstelle ist für Arbeiter aus Ost- und Mitteleuropa gedacht und dem Deutschen Gewerkschaftsbund angeschlossen. Sie informiert über Arbeitsrechte und unterstützt bei Konflikten. In seiner Muttersprache wird Antonio aufgeklärt; noch weiß er nicht, ob er den Mut aufbringt, seinem Arbeitgeber gegenüber sein Recht einzufordern.

    Der Mindestlohn steigt. mehr
    Eine undurchschaubare Behörde

    Antonio ist noch nie in eine Zollkontrolle geraten. Ob er das gut oder schlecht findet? Er weiß es nicht. Er hat keinen Arbeitsvertrag, keine festen Arbeitszeiten. Und er wird nicht pro Stunde, sondern pro Quadratmeter bezahlt. Hochgerechnet auf seine Arbeitszeit sind das mal 3,50 Euro, mal auch fünf Euro die Stunde. Aber dann räumt er doch ein, dass ihm eine Kontrolle „vielleicht geholfen“ hätte. Aber mit den Kontrollen ging es in den vergangenen zehn Jahren nach unten: deutschlandweit von knapp 63.000 auf knapp 53.000 jährlich. Ein Grund: Es fehlt Personal.

    Doch das ist es nicht allein, kritisiert Frank Buckenhofer, verantwortlich für den Bereich Zoll bei der Gewerkschaft der Polizei. Er spricht von einem „Flickenteppich“ in der Behörde. „Der Zoll hat sich im Wesentlichen als Patchwork organisiert, und - das ist eines der großen Probleme - ohne wirkliche Schlagkraft.“ Er fordert eine übergreifende Finanzpolizei mit entsprechender Befugnis.
    Oft gleich mehrere Gesetzesverstöße

    Der Mindestlohnverstoß kommt selten allein. Steuerhinterziehung, Vorenthaltung von Lohnzahlungen, von Sozialversicherungsabgaben: Bei der Finanzkontrolle Schwarzarbeit müssen sie genau hinschauen. Tage dauert es, bis sie die erfassten Daten auf der Frankfurter Großbaustelle mit anderen Behörden abgeglichen haben.

    Die vorläufige Bilanz: 179 Verstöße gegen den Mindestlohn, 71 Scheinselbstständige, vier illegal Beschäftigte. Klingt nach großem Erfolg - doch angesichts einer Aufklärungsquote bundesweit von unter 0,5 Prozent wird die Schwäche des Systems klar.
    Bis zu drei Millionen Menschen um ihr Geld betrogen

    Laut einer Erhebung des Deutschen Instituts für Wirtschaftsforschung (DIW) werden zwischen 750.000 und mehr als drei Millionen Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer um ihr Geld betrogen. „Die Spanne ist so breit, weil illegale Aktivitäten so schwer zu erfassen sind“, sagt Johannes Seebauer vom DIW. Hinzu kommt, dass seit Einführung des Mindestlohns die Zahl der Arbeitsplätze in den Niedriglohnbranchen sogar zugenommen hat. Es trifft Minijobber, Studierende, Rentner sowie Menschen, die der deutschen Sprache nicht mächtig sind.

    Für Antonio bedeuten die Verstöße seitens des Arbeitgebers weniger Rentenbeiträge, weniger Geld im Krankheitsfall, weniger Urlaubsgeld. Zumindest offiziell. Von Urlaubsgeld hat er noch nie gehört, Geld im Krankheitsfall wurde nicht gezahlt. Nun will er sich einen anderen Job auf einer Baustelle suchen. Er will diesmal seine Rechte im Blick haben. Es wird nicht schwer sein, etwas Neues zu finden, denn Arbeiter wie er werden gerade händeringend gesucht.
    Digitale Erfassung könnte helfen

    Eine digitale Erfassung würde Betrug gegen den Mindestlohn zwar nicht unmöglich machen, aber schwieriger. Das zeigen Beispiele wie das eines Brauhauses in Oberursel. Wer Dienstbeginn hat, checkt sich ein - ob Festangestellte oder Aushilfe. Bei insgesamt fast 80 Beschäftigten bringt die digitale Stechuhr für den Wirt, Thomas Studanski, nur Vorteile: „Vorher gab es immer mal Diskussionen, ’ich war so und so lange da, ich habe die und die Zeit gearbeitet’. Das ist weg.“ Und für seinen Betriebsablauf sieht er ebenso einen Vorteil: Er muss keine Stundenzettel mehr umständlich ausfüllen.

    So sollte es eigentlich flächendeckend sein, doch weit gefehlt. Mal so eben zehn Euro bar auf die Hand anstatt zwölf Euro Mindestlohn: Das findet sich nicht nur in der Gastronomie und der Baubranche. Lohndumping ist ein Massenphänomen, und die Liste der betroffenen Branchen ist lang.

    #Arbeit #Mindestlohn