Der Suizid einer Berlinerin soll Abgeordnete aufrütteln

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  • ME/CFS : Der Suizid einer Berlinerin soll Abgeordnete aufrütteln
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    Le système de soins allemand largement privatisé n’a pas de solution pour les patients atteints de maladies graves hors de la gamme de diagnostics définis dans les normes des assureurs.

    Die Hauptperson fehlt an diesem Nachmittag im Deutschen Bundestag. Nach jahrelanger Krankheit hatte sich die Berlinerin Silja Viermann Mitte 2022 zu einem assistierten Suizid entschlossen, mit gerade einmal 43 Jahren. Ihre Schwester Birte Viermann hat darüber ein Buch geschrieben, und in einer Lesung am vergangenen Mittwoch möchte sie die Abgeordneten aus ihrem parlamentarischen Alltag holen, um sich in Siljas Geschichte hineinzuversetzen.

    Die junge Frau stand mitten im Leben, arbeitete zunächst als Dramaturgin an der Volksbühne und entschied sich dann für eine Karriere als Therapeutin, als sie 2017 an ME/CFS erkrankte. Das Kürzel steht für eine chronische Multisystemerkrankung, die die Lebensqualität so massiv wie kaum eine andere beeinträchtigen und junge Menschen – häufig Frauen – schlagartig zu Pflegefällen machen kann. Silja litt unter Schmerzen und Reizempfindlichkeit, Konzentrationsstörungen und Gleichgewichtsproblemen. Extreme Erschöpfungszustände waren der Dauerzustand. Sie führte „ein Leben, das immer leiser wird“, zitiert Birte Viermann ihre Schwester – „bis es irgendwann verstummt.“

    Mehrere hunderttausend ME/CFS-Erkrankte gibt es allein in Deutschland. Etwa ein Viertel von ihnen lebt hausgebunden, nicht wenige sind rund um die Uhr bettlägerig. Studien legen nahe, dass der Suizid zu den häufigsten Todesursachen bei ihnen gehört – und dass ME/CFS-Betroffene sich jünger dazu entscheiden, ihrem Leben ein Ende zu setzen, als Menschen, die sich aus anderen Gründen zum Suizid entschließen. Sie wolle davon erzählen, „dass so ein Leid nicht sein muss“, sagt Birte Viermann zu Beginn ihrer Lesung.

    Der SPD-Abgeordnete Stefan Schwartze, der auch Patientenbeauftragter der Bundesregierung ist, hatte sie eingeladen. Mit Siljas Familie habe er bereits vor ihrem Suizid in Kontakt gestanden, die Nachricht von ihrem Tod damals unmittelbar erhalten. „Ich weiß, dass ich an diesem Tag nicht mehr zu gebrauchen war“, erinnert sich Schwartze.

    Seitdem sind mehr als zwei Jahre vergangen. Siljas Geschichte vermag es unvermindert, die Abgeordneten zu berühren. Es ist kein alltäglicher Termin inmitten des hektischen parlamentarischen Betriebs. Das zeigt sich auch an den Reaktionen im Sitzungssaal, der mit seinem Ambiente – den kargen Betonsäulen, den langen Tischreihen mit den fest installierten Mikrofonen und den Drehstühlen davor – so gar nicht zum Anlass passen möchte. Ganz vorn hat Ulrike Bahr (SPD) Platz genommen, die Vorsitzende des Familienausschusses im Bundestag. Anfangs nestelt sie noch an Handy und Powerbank, prüft eine Nachricht. Als Birte Viermann zu lesen beginnt, würdigt sie die Geräte keines Blickes mehr.

    An Nachrichten mangelt es sicher nicht. Es ist parlamentarische Sitzungswoche, noch dazu der Tag des Rücktritts von Ricarda Lang und Omid Nouripour vom Vorsitz der Grünen. Doch als die Abgeordneten Monika Spallek (Grüne) und Hubert Hüppe (CDU) etwas verspätet in den Saal kommen, breiten auch sie, anders als üblich, keine Unterlagen vor sich auf dem Tisch aus. Sie sind gekommen, um zuzuhören, folgen still der Lesung – und greifen erst dann einmal zum Handy, als nicht mehr Viermann spricht, sondern andere Abgeordnete das Wort ergreifen.

    Ins Licht durch Long Covid

    „Die Geschichte steht als Beispiel für viele“, ruft der Patientenbeauftragte Schwartze in Erinnerung. Tatsächlich entsteht ME/CFS oft nach einer Infektion, beispielsweise mit dem Epstein-Barr-Virus. Es ist auch die schwerste Form von Long Covid, den Corona-Langzeitfolgen. Die Pandemie hat deshalb nicht nur zahlreiche neue ME/CFS-Fälle produziert, sondern auch ein wenig Licht auf diese seit langem bekannte, öffentlich kaum wahrgenommene Krankheit gelenkt. Die Erfahrungen vieler Erkrankter ähneln sich: Die Versorgung ist schlecht, viele Ärzte kennen sich mit ME/CFS nicht aus. Eine heilende Therapie ist nicht bekannt, was schon deshalb kaum verwundert, weil es jahrzehntelang praktisch keine Forschung dazu gab. Für die Betroffenen fehlt oft schon ein Ort, um einfach nur zu sein: In ihrer Wohnung haben viele nicht die nötige Pflege – und Pflegeheime oder Krankenhäuser sind für sie in aller Regel zu hektisch, zu laut, zu grell.

    Den Abgeordneten schildert Birte Viermann, wie Silja irgendwann in den fünf Jahren ihrer Krankheit „das schwerste Stadium von ME/CFS“ erreichte: jene Zeit, in der „jeder Reiz zu viel“ sei. „Ich sehe dich so sehr leiden“, schreibt sie in ihrem Buch an die Schwester, als diese über ihre Beschwerden nicht einmal mehr sprechen kann. Sie macht zudem auf die Situation der Angehörigen aufmerksam. „Pflege ist hart, auch für die Gesunden“, sagt sie. Und beschreibt, mit welchen bürokratischen Ärgernissen betroffene Familien zu kämpfen haben, als wären die Umstände der Krankheit nicht bereits Aufgabe genug: Da ist der Kampf mit der Pflegekasse um Ansprüche – oder das Ringen mit der Bank. „Siljas Sparkasse schickt mir immer die gleiche Copy-and-paste-Info, dass sie in die Filiale kommen müsse, um irgendwas zu unterzeichnen, egal wie oft ich ihnen sage, dass sie selbst ihr Bett nicht mehr verlassen kann“, so Viermann.

    Die Parlamentarier wirken beeindruckt. Mit Schwartze, Bahr, Spallek und Hüppe sind acht Bundestagsabgeordnete persönlich dabei, auch die die Forschungspolitiker Laura Kraft (Grüne), Ruppert Stüwe (SPD) und Petra Sitte (Linke) sowie der Sozialdemokrat Karamba Diaby sind gekommen. Online zur Diskussion zugeschaltet haben sich zudem Erich Irlstorfer (CSU) und Kathrin Vogler (Linke). Von FDP, AfD und BSW ist kein Abgeordneter im Saal.

    Viel Betroffenheit, aber wenig konkrete Lösungsideen

    Doch der in Berlin ansässige Selbsthilfeverein ME-Hilfe, der die Lesung initiierte, hat die Politiker keineswegs nur eingeladen, um Betroffenheit zu demonstrieren. Gefragt sind Lösungen für die Situation der Erkrankten und ihrer Angehörigen. Wie schwierig sich dies gestaltet, zeigen ihre Antworten.

    Auf die Frage nach konkreten Vorschlägen kommt die Grünen-Abgeordnete Kraft auf das verbreitete „Medical Gaslighting“ zu sprechen: Der Begriff beschreibt eine Situation, in der Patienten keine Hilfe erhalten, Ärzte ihnen nicht glauben, die Symptome als reines Kopfproblem abtun. „Das macht mich unglaublich wütend“, sagt Kraft. Konkrete Lösungen aber hat eher keine anzubieten – außer, dass das aktuelle Wissen über die Erkrankung und über die möglichen Therapieansätze an alle Ärzte weitergegeben werden müsse. Wie, im Jahr 56 nach der offiziellen Anerkennung der Diagnose ME/CFS durch die Weltgesundheitsorganisation und mehr als vier Jahre nach den ersten Long-Covid-Fällen, bleibt offen. Kraft hofft vor allem auf die Ergebnisse der Grundlagen- und Therapieforschung. „Aber ich kann die Ergebnisse nicht buchen, es braucht Zeit“, wirbt sie – wissend, „dass die Betroffenen diese Zeit nicht haben.“

    Dass ME/CFS-Patienten besser geholfen werden solle, darüber besteht Einigkeit im Saal. „Wir sind gefordert und wir müssen helfen“, betont CSU-Mann Irlstorfer, der einen persönlichen Bezug zum Thema hat: Seine Mutter verstarb an Covid-19, er selbst hatte zu Beginn der Pandemie mit Langzeitfolgen zu kämpfen, gründete daraufhin einen Selbsthilfeverein. Der Oppositionspolitiker wirbt dafür, bei dem Thema keinen Parteienzwist auszutragen – vielmehr sehe er sich als Teil einer parteiübergreifenden „Kampfeinheit gegen eine Krankheit, die unsichtbar ist“. Bei den anstehenden Haushaltsgesprächen, deutet Irlsdorfer an, werde er sich für mehr Forschungsmittel einsetzen.

    Konkreter wird dazu die Linken-Gesundheitspolitikerin Vogler. Sie kündigt einen Antrag ihrer Gruppe im Bundestag an, das Ziel: die Mittel für die Versorgungsforschung um 100 Millionen Euro aufzustocken. Bisher stellt der Bundestag über mehrere Jahre hinweg 150 Millionen dafür bereit, bezogen vor allem auf Long Covid. Doch ein Problem bleibt: Die Gelder fließen in regional und zeitlich begrenzte Modellprojekte, nicht in die Regelversorgung. Bestenfalls in ferner Zukunft könnten daraus Ansätze entstehen, die einer größeren Zahl von Patienten zugutekommen. Wie ihnen, denen es am Zugang zu Therapien und Sozialleistungen fehlt, an kompetenten Praxen und an Ärzten, die zu Hausbesuchen bereit sind, heute geholfen werden solle, dafür bleiben an diesem Nachmittag die Ideen aus. „Manchmal ist es auch der Wille, der gefordert ist“, wirft SPD-Mann Schwartze irgendwann mahnend ein.

    Off-Label-Therapien: Patientenbeauftragter fordert Nachbesserungen von Lauterbach

    Dass noch einiger „Diskussionsbedarf“ auch mit seinem Parteifreund Karl Lauterbach besteht, bestätigt der Patientenbeauftragte nach Ende der Lesung. Der Gesundheitsminister hatte bereits vor einem Jahr eine „Off-Label-Liste“ angekündigt. Auf ihr sollen künftig Medikamente stehen, die Ärzte Long-Covid-Patienten auf Kassenrezept verordnen können, obwohl die Präparate bisher nur für andere Diagnosen zugelassen sind – allerdings eben nur bei Long-Covid. Menschen, die Corona-unabhängig an ME/CFS erkrankt oder die Long-Covid-ähnliche Symptome nach einer Impfung erlitten haben, sollen außen vor bleiben, wie die Berliner Zeitung vor einigen Monaten ans Licht brachte. Schwartze ist damit nicht einverstanden: „Das gehört allen Erkrankten zugänglich gemacht, gleich welcher Ursache“, sagt er. „Meine Forderung ist ganz klar: Wer betroffen ist, muss auch die Unterstützung bekommen – wir dürfen da nicht differenzieren.“

    Um derartige Anstöße dürfte es der Autorin Birte Viermann gegangen sein. „Ich habe eine ganz schwere Geschichte mit der Krankheit, aber ich bin hier, weil es um Hoffnung geht“, betont sie. Silja habe die nötige Energie, für Verbesserungen zu kämpfen, nicht mehr gehabt. „Aber wir haben sie“, sagt die Schwester der Verstorbenen zum Ende ihrer Lesung. Es klingt wie ein Appell an die Abgeordneten.

    Zumindest ein Nachdenken hat sie ausgelöst. Die SPD-Politikerin Bahr, Chefin des Familienausschusses, beeilt sich gar nicht erst, aus dem Saal heraus und zum nächsten Termin zu hasten. Stattdessen blättert sie, als die Lesung längst vorbei ist, noch in Viermanns Buch, nimmt schließlich eines mit. „Das ist für mich kein gewöhnlicher Termin“, sagt sie. „Der reißt einen schon ein bisschen raus.“

    Birte Viermann „Liebe Silja, ... Meine Schwester, eine unerforschte Krankheit und ein Tod, der das Leben ehrt“. 276 Seiten, Books on Demand, 14,99 Euro .

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