GLASNOST Berlin - Persoenliche Erklaerung von Erich Honecker vor dem Berliner Landgericht am 3.12.1992

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  • 29 mai 1994 à Santiago du Chili il, y a 31 ans, mort d’Erich Honnecker, résistant antifasciste et septième chef d’état de la RDA
    http://www.glasnost.de/db/DokZeit/92honerkl.html

    Inhalt
    I. Erich Honecker nach seinem Ruecktritt / Chronologie
    II. Erklaerung Erich Honeckers vor dem Berliner Landgericht vom 3. Dezember 1992

    I. Chronologie:

    18.10.1989 Honecker tritt auf der 9. ZK-Tagung der SED
    von allen Aemtern zurueck
    03.12.1989 Ausschluss aus der SED
    08.12.1989 DDR-Staatsanwaelte werfen Honecker Vertrauens-
    missbrauch und Korruption, spaeter auch Hochverrat
    vor

    29.01.1990 Festnahme bei Entlassung aus der Charite nach
    Krebsoparation. Inhaftierung im Gefaengnis Rummelsburg.
    30.01.1990 Freilassung wegen Haftunfaehigkeit. Pfarrer Holmer nimmt
    das wohnungslose Ehepaar in Lobethal auf.
    03.04.1990 Uebersiedlung ins sowjetische Militaerhospital Beelitz
    bei Berlin
    01.12.1990 Haftbefehl der Berliner Justiz

    13.03.1991 Mit einer sowjetischen Militaermaschine wird das Ehepaar
    Honecker nach Moskau ausgeflogen
    14.03.1991 Bonn uebermittelt der UdSSR ein Auslieferungsersuchen
    18.11.1991 Honecker beantragt Asyl
    09.12.1991 Russlands Regierung: Honecker muss das Land bis zum
    13.12.1991 verlassen.
    11.12.1991 Flucht des Ehepaars in die chilenische Botschaft in
    Moskau

    19.02.1992 Chiles Aussenminister Vargas erkllaert, Honecker koenne
    in sein Land kommen, wenn Russland zustimmt.
    15.05.1992 Berliner Justiz legt 783 Seiten lange Anklageschrift
    wegen 49fachen Totschlags vor.
    29.07.1992 Von russischen Beamten wird Honecker gezwungen, Chiles
    Botschaft zu verlassen. Flug nach Berlin-Tegel. Inhaftierung
    im Gefaengnis Alt-Moabit 12a
    30.07.1992 Honecker werden zwei Haftbefehle verkuendet: wegen 49fachen
    Totschlags und Veruntreuung oeffentlicher Gelder zur Versor-
    gung der Funktionaerssiedlung Wandlitz
    16.08.1992 Ein aerztliches Gutachten attestiert Honecker Leberkrebs
    12.10.1992 Gutachter: Honeckers Lebenserwartung bestenfalls noch
    18 Monate
    16.10.1992 Haftverschonung wird abgelehnt
    12.11.1992 Prozesseroeffnung ohne Stoph. Wenig spaeter scheidet
    Miehle aus.
    03.12.1992 Honecker verliest vor Gericht seine ERKLAERUNG/s.unten
    17.12.1992 Gutachter schaetzen, dass Honecker nur noch 3 bis 6 Mon.
    lebt.
    21.12.1992 27. Strafkammer beschliesst: Prozess gegen Honecker geht
    weiter

    05.01.1993 Richter Braeutigam muss wegen Befangenheit aus dem Prozess
    ausscheiden.
    07.01.1993 Verfahren gegen Honecker wird von dem gegen die Mitange-
    klagten Kessler und Albrecht abgetrennt.
    12.01.1993 Berliner Verfassungsgerichtshof: Prozess-Fortsetzung
    und weitere Haft ist Verstoss gegen Menschenwuerde. 27.
    Strafkammer stellt Verfahren ein, hebt den Haftbefehl
    wegen Totschlags auf.
    13.01.1993 Aufhebung des zweiten Haftbefehls
    13.01.1993 Honecker wird nach 169 Tagen Untersuchungshaft entlassen
    und nach Chile ausgeflogen.

    II. Persoenliche Erklaerung von Erich Honecker vor dem Berliner Landgericht am 3. Dezember 1992

    Ich werde dieser Anklage und diesem Gerichtsverfahren nicht da-
    durch den Anschein des Rechts verleihen, dass ich mich gegen den
    offensichtlich unbegruendeten Vorwurf des Totschlags verteidige.
    Verteidigung eruebrigt sich auch, weil ich Ihr Urteil nicht mehr
    erleben werde. Die Strafe, die Sie mir offensichtlich zudenken,
    wird mich nicht mehr erreichen. Das weiss heute jeder. Ein Prozess
    gegen mich ist schon aus diesem Grunde eine Farce. Er ist ein po-
    litisches Schauspiel.

    Niemand in den alten Bundeslaendern, einschliesslich der Frontstadt
    Westberlin, hat das Recht, meine Genossen Mitangeklagten, mich,
    oder irgendeinen anderen Buerger der DDR wegen Handlungen anzukla-
    gen oder gar zu verurteilen, die in Erfuellung staatlicher Aufga-
    ben der DDR begangen worden sind.

    Wenn ich hier spreche, so spreche ich allein um Zeugnis abzulegen
    fuer die Ideen des Sozialismus, fuer eine gerechte politische und
    moralische Beurteilung der von mehr als einhundert Staaten voel-
    kerrechtlich anerkannten Deutschen Demokratischen Republik. Diese
    jetzt von der BRD als „Unrechtsstaat“ apostrophierte Republik war
    ein Mitglied des Weltsicherheitsrates stellte zeitweise den Vor-
    sitzenden dieses Rates und stellte auch einmal den Vorsitzenden
    der UN-Vollversammlung.

    Die gerechte politische und moralische Beurteilung der DDR er-
    warte ich nicht von diesem Prozess und diesem Gericht. Ich nehme
    jedoch die Gelegenheit dieses Politschauspiels wahr, um meinen
    Standpunkt meinen Mitbuergern zur Kenntnis zu geben.

    Meine Situation in diesem Prozess ist nicht ungewoehnlich. Der
    deutsche Rechtsstaat hat schon Karl Marx, August Bebel, Karl
    Liebknecht und viele andere Sozialisten und Kommunisten angeklagt
    und verurteilt. Das Dritte Reich hat dies mit den aus dem Rechts-
    staat der Weimarer Republik uebernommenen Richtern in vielen Pro-
    zessen fortgesetzt, von denen ich selbst einen als Angeklagter
    erlebt habe. Nach der Zerschlagung des deutschen Faschismus und
    des Hitlerstaates brauchte die BRD nicht nach neuen Staatsanwael-
    ten und Richtern zu suchen, um erneut Kommunisten massenhaft
    strafrechtlich zu verfolgen, ihnen mit Hilfe der Arbeitsgerichte
    Arbeit und Brot zu nehmen und sie mit Hilfe der Verwaltungsge-
    richte aus dem oeffentlichen Dienst zu entfernen oder sie auf an-
    dere Weise zu verfolgen. Nun geschieht uns das, was unseren Ge-
    nossen in Westdeutschland schon in den 50er Jahren geschah. Es
    ist seit ca. 190 Jahren immer die gleiche Willkuer. Der Rechts-
    staat BRD ist kein Staat des Rechts, sondern ein Staat der Rech-
    ten.

    Fuer diesen Prozess wie fuer andere Prozesse, in denen andere DDR-
    Buerger wegen ihrer „Systemnaehe“ vor Straf-, Arbeits-, Sozial- und
    Verwaltungsgerichten verfolgt werden, muss ein Argument herhalten.
    Die Politiker und Juristen sagen, wir muessen die Kommunisten ver-
    urteilen, weil wir die Nazis nicht verurteilt haben. Wir muessen
    diesmal die Vergangenheit aufarbeiten. Das leuchtet vielen ein,
    ist aber ein Scheinargument. Die Wahrheit ist, dass die westdeut-
    sche Justiz die Nazis nicht bestrafen konnte, weil sich Richter
    und Staatsanwaelte nicht selbst bestrafen konnten. Die Wahrheit
    ist, dass die bundesdeutsche Justiz ihr derzeitiges Niveau, wie
    immer man es beurteilt, den uebernommenen Nazis verdankt. Die
    Wahrheit ist, dass die Kommunisten, die DDR-Buerger heute aus den
    gleichen Gruenden verfolgt werden, aus denen sie in Deutschland
    schon immer verfolgt wurden. Nur in den 40 Jahren der Existenz
    der DDR war das umgekehrt. Dieses Versaeumnis muss nun
    „aufgearbeitet“ werden. Das alles ist natuerlich rechtsstaatlich.
    Mit Politik hat es nicht das geringste zu tun.

    Die fuehrenden Juristen dieses Landes, gleich ob Angehoerige der
    Regierungsparteien oder der SPD, erklaeren beschwoerend, unser Pro-
    zess sei ein ganz normales Strafverfahren und kein politischer
    Prozess, kein Schauprozess. Man sperrt die Mitglieder eines der
    hoechsten Staatsorgane des Nachbarstaates ein und sagt, das hat
    mit Politik nichts zu tun. Man wirft den Generalen eines gegneri-
    schen Militaerbuendnisses militaerische Entscheidungen vor und sagt,
    das hat mit Politik nichts zu tun. Man nennt die heute Verbre-
    cher, die man gestern ehrenvoll als Staatsgaeste und Partner in
    dem gemeinsamen Bemuehen, dass nie wieder von deutschem Boden ein
    Krieg ausgeht, begruesst hat. Auch das soll mit Politik nichts zu
    tun haben.

    Man klagt Kommunisten an, die, seit sie auf der politischen Buehne
    erschienen sind, immer verfolgt wurden, aber heute in der BRD hat
    das mit Politik nichts zu tun.

    Fuer mich und, wie ich glaube, fuer jeden Unvoreingenommenen liegt
    auf der Hand: Dieser Prozess ist so politisch, wie ein Prozess ge-
    gen die politische und militaerische Fuehrung der DDR nur sein
    kann. Wer das leugnet, der irrt nicht, sondern der luegt. Er luegt,
    um das Volk ein weiteres Mal zu betruegen. Mit diesem Prozess wird
    das getan, was man uns vorwirft. Man entledigt sich der politi-
    schen Gegner mit den Mitteln des Strafrechts, aber natuerlich ganz
    rechtsstaatlich.

    Auch andere Umstaende lassen unuebersehbar erkennen, dass mit dem
    Prozess politische Ziele verfolgt werden. Warum war der Bundes-
    kanzler, war Herr Kinkel, der fruehere Geheimdienstchef, spaetere
    Justizminister und noch spaetere Aussenminister der BRD, so darauf
    aus, mich, koste es, was es wolle, nach Deutschland zurueckzuholen
    und wieder nach Moabit zubringen, wo ich unter Hitler schon ein-
    mal war? Warum liess mich der Bundeskanzler erst nach Moskau flie-
    gen, um dann Moskau und Chile unter Druck zu setzen, mich entge-
    gen jedem Voelkerrecht auszuliefern? Warum mussten russischen Aerzte
    die richtige Diagnose, die sie auf Anhieb gestellt hatten, ver-
    faelschen? Warum fuehrt man mich und meine Genossen, denen es ge-
    sundheitlich nicht viel besser geht als mir, dem Volke vor wie
    einst die roemischen Caesaren ihre gefangenen Gegner vorfuehrten?

    Ich weiss nicht, ob das alles noch rational zu erkaeren ist. Viel-
    leicht bewahrheitet sich hier das alte Wort: Wen Gott vernichten
    will, den schlaegt er zuvor mit Blindheit. Es ist doch wohl jedem
    klar, dass alle diejenigen Politiker, die sich einst um eine Audi-
    enz bei mir bemuehten und die sich freuten, mich bei sich begruessen
    zu duerfen, von diesem Prozess nicht unbeschadet bleiben. Dass an
    der Mauer Menschen erschossen wurden, dass ich der Vorsitzende des
    Nationalen Verteidigungsrates, der Generalsekretaer, der Vorsit-
    zende des Staatsrates der DDR war, der fuer diese Mauer als
    hoechster lebender Politiker die groesste Verantwortung trug, wusste
    jedes Kind in Deutschland und darueber hinaus. Es gibt demnach nur
    zwei Moeglichkeiten: Entweder haben die Herren Politiker der BRD
    bewusst, freiwillig und sogar begierig Umgang mit einem Totschlae-
    ger gesucht, oder sie lassen jetzt bewusst und genussvoll zu, dass
    Unschuldige des Totschlags bezichtigt werden. Keine dieser beiden
    Moeglichkeiten wird ihnen zur Ehre gereichen. Eine dritte Moeglich-
    keit gibt es nicht. Wer dieses Dilemma in Kauf nimmt, so oder so
    ein Mensch ohne Charakter zu sein, ist entweder blind oder ver-
    folgt ein Ziel, das ihm mehr gilt als die Bewahrung seiner Ehre.

    Nehmen wir an, dass weder Herr Kohl noch Herr Kinkel noch all die
    anderen Herren Ministerpraesidenten und Parteifuehrer der Bundesre-
    publik Deutschland blind sind (was ich dennoch nicht ausschliessen
    kann), dann bleibt als politisches Ziel dieses Prozesses nur die
    Absicht, die DDR und damit den Sozialismus in Deutschland total
    zu diskreditieren. Die Niederlage der DDR und des Sozialismus in
    Deutschland und in Europa allein genuegt ihnen offenbar nicht. Es
    soll alles ausgerottet werden, was diese Epoche, in der Arbeiter
    und Bauern regierten, in einem anderen als furchtbarem, verbre-
    cherischem Licht erscheinen laesst. Total sollen der Sieg der
    Marktwirtschaft (wie man den Kapitalismus heute euphemistisch
    nennt) und die Niederlage des Sozialismus sein. Man will, wie es
    Hitler einst vor Stalingrad sagte, „dass dieser Feind sich nie
    mehr erheben wird“. Die deutschen Kapitalisten hatten eben immer
    schon einen Hang zum Totalen.

    Dieses Ziel des Prozesses, den totgesagten Sozialismus noch ein-
    mal zu toeten, offenbart, wie Herr Kohl, wie Regierung und Opposi-
    tion der BRD die Lage einschaetzen. Der Kapitalismus hat sich oeko-
    nomisch genauso totgesiegt, wie sich Hitler einst militaerisch
    totgesiegt hat. Der Kapitalismus ist weltweit in eine ausweglose
    Lage geraten. Er hat nur noch die Wahl zwischen dem Untergang in
    einem oekologischen und sozialen Chaos und der Aufgabe des Privat-
    eigentums an Produktionsmitteln, d.h. dem Sozialismus. Beides be-
    deutet sein Ende. Nur der Sozialismus erscheint den Herrschenden
    der Bundesrepublik Deutschland offenbar als die akutere Gefahr.
    Dem soll dieser Prozess genauso vorbeugen wie der ganze Feldzug
    gegen das Andenken an die untergegangene DDR, wie deren Stigmati-
    sierung als „Unrechtsstaat“.

    Der unnatuerliche Tod jedes Menschen in unserem Land hat uns immer
    bedruckt. Der Tod an der Mauer hat uns nicht nur menschlich be-
    troffen, sondern auch politisch geschaedigt. Vor allen anderen
    trage ich seit Mai 1971 die Hauptlast der politischen Verantwor-
    tung dafuer, dass auf denjenigen, der die Grenze zwischen der DDR
    und der BRD, zwischen Warschauer Vertrag und NATO, ohne Genehmi-
    gung ueberschreiten wollte, unter den Bedingungen der Schusswaffen-
    gebrauchsbestimmung geschossen wurde. Das ist sicher eine schwere
    Verantwortung. Ich werde spaeter noch darlegen, warum ich sie auf
    mich genommen habe. Hier, bei der Bestimmung des politischen
    Ziels dieses Prozesses, komme ich jedoch nicht umhin, auch fest-
    zustellen, mit welchen Mitteln das Prozessziel Verunglimpfung der
    DDR erreicht werden soll. Dieses Mittel sind die Toten an der
    Mauer. Sie sollen und werden diesen Prozess wie schon vorangegan-
    gene Prozesse medienwirksam gestalten. Es fehlen dabei die ermor-
    deten Grenzsoldaten der DDR. Wir und vor allem Sie haben bereits
    erlebt, wie ohne Ruecksicht auf Pietaet und Anstand die Bilder der
    Toten vermarktet wurden. Damit soll Politik gemacht und Stimmung
    erzeugt werden. Jeder Tote wird so gebraucht, richtiger miss-
    braucht, im Kampf der Unternehmer um den Erhalt ihres kapitali-
    stischen Eigentums. Denn um nichts anderes geht es bei dem Kampf
    gegen den Sozialismus. Die Toten sollen die Unmenschlichkeit der
    DDR und des Sozialismus beweisen und von der Misere der Gegenwart
    und den Opfern der sozialen Marktwirtschaft ablenken. Das alles
    geschieht demokratisch, rechtsstaatlich, christlich-human und zum
    Wohle des deutschen Volkes. Armes Deutschland.

    Nun zur Sache selbst. Die Staatsanwaelte der Frontstadt klagen uns
    als gemeine Kriminelle, als Totschlaeger an. Da wir nun offen-
    sichtlich keinen der 68 Menschen, deren Tod uns in der Anklage
    vorgeworfen wird, persoenlich totgeschlagen haben, da wir auch de-
    ren Toetung ebenso offensichtlich nicht vorher befohlen oder sonst
    veranlasst haben, wirft mir die Anklage auf Seite 3 woertlich vor:

    „...als Sekretaer des NVR und Sekretaer fuer Sicherheitsfragen beim
    Zentralkomitee der SED (angeordnet zu haben), die Grenzanlagen um
    Berlin (West) und die Sperranlagen zur Bundesrepublik Deutschland
    auszubauen, um ein Passieren unmoeglich zu machen.“

    Ferner wirft mir die Anklage vor, in 17 Sitzungen der NVR vom
    29.11.1961 bis 1.7.1983 an Beschluessen teilgenommen zu haben,

    – weitere Drahtminensperren zu errichten (wobei das Wort
    „weitere“ erkennen laesst dass die Streitkraefte der UdSSR vorher
    schon solche Sperren errichtet hatten),
    – das Grenzsicherungssystem zu verbessern, die Schiessausbildung
    der Grenzsoldaten zu verbessern,
    – Grenzdurchbrueche nicht zuzulassen,
    – am 3.5.1974 persoenlich erklaert zu haben, von der Schusswaffe muss
    ruecksichtslos Gebrauch gemacht werden, was im uebrigen nicht zu-
    trifft,
    – und dem Entwurf des am 1. Mai 1982 in Kraft getretenen Grenzge-
    setzes zugestimmt zu haben.

    Die Vorwuerfe gegen mich bzw. gegen uns richten sich gegen Be-
    schluesse des NVR, gegen Beschluesse eines verfassungsmaessigen Or-
    gans der DDR. Gegenstand des Verfahrens ist somit die Politik der
    DDR, das Bemuehen des NVR, die DDR als Staat zu verteidigen und zu
    erhalten. Diese Politik soll durch dieses Verfahren kriminali-
    siert werden. Damit soll die DDR als „Unrechtsstaat“ gebrandmarkt
    und alle, die ihr dienten, zu Verbrechem gestempelt werden. Die
    Verfolgung von Zehntausenden und unter Umstaenden Hunderttausenden
    DDR-Buergern, von denen die Staatsanwaltschaft jetzt schon
    spricht, ist das Ziel dieses Verfahrens, das durch
    „Pilotverfahren“ gegen Grenzsoldaten vorbereitet sowie von unzaeh-
    ligen, die DDR-Buerger diskriminierenden anderen Gerichtsverfahren
    vor Zivil-, Sozial-, Arbeits- und Verwaltungsgerichten und von
    zahlreichen Verwaltungsakten begleitet wird. Es geht also nicht
    um mich oder um uns, die wir in diesem Prozess angeklagt sind. Es
    geht um die Zukunft Deutschlands, Europas, ja der Welt, die mit
    der Beendigung des Kalten Krieges, mit dem neuen Denken so glueck-
    lich zu beginnen schien. Hier wird nicht nur der Kalte Krieg
    fortgesetzt, hier soll ein Grundstein fuer ein Europa der Reichen
    gelegt werden. Die Idee der sozialen Gerechtigkeit soll wieder
    ein mal endgueltig erstickt werden. Unsere Brandmarkung als Tot-
    schlaeger soll dazu ein Mittel sein.

    Ich bin der letzte, der gegen sittliche und rechtliche Massstaebe
    zur Be- oder auch Verurteilung von Politikern ist. Nur muessen
    drei Voraussetzungen erfuellt sein:

    Die Massstaebe muessen exakt vorher formuliert sein. Sie muessen fuer
    alle Politiker gleichermassen gelten. Ein ueberparteiliches Ge-
    richt, also ein Gericht, das weder mit Freunden noch Feinden der
    Angeklagten besetzt ist, muss entscheiden.

    Mir scheint, dass alles dies einerseits selbstverstaendlich, ande-
    rerseits aber in der heutigen Welt noch nicht machbar ist. Wenn
    Sie heute dennoch ueber uns zu Gericht sitzen, so tun Sie das als
    Gericht der Sieger ueber uns Besiegte. Dies ist ein Ausdruck der
    realen Machtverhaeltnisse, aber nicht ein Akt, der irgendeinen An-
    spruch auf Geltung vor ueberpositivem Recht oder ueberhaupt Recht
    fuer sich beanspruchen kann.

    Das allein koennte schon genuegen, um darzulegen, dass die Anklage
    ein Unrechtsakt ist. Doch da wir die Auseinandersetzung auch im
    Detail nicht scheuen, will ich im einzelnen darlegen, was die An-
    klage, sei es aus boeser Absicht, sei es aus Verblendung, nicht
    darlegt.

    Wie bereits zitiert, beginnt die Anklage die chronologische Auf-
    zaehlung der Vorwuerfe gegen uns mit den Worten:

    „Am 12. August 1961 ordnete der Angeschuldigte Honecker als Se-
    kretaer des NVR und Sekretaer fuer Sicherheitsfragen beim Zentralko-
    mitee der SED an, die Grenzanlagen um Berlin (West) und die
    Sperranlagen zur Bundesrepublik Deutschland auszubauen, um ein
    Passieren unmoeglich zu machen.“

    Diese historische Sicht der Dinge spricht fuer sich. Der Sekretaer
    fuer Sicherheitsfragen des ZK der SED ordnete 1961 ein welthisto-
    risches Ereignis an. Das uebertrifft noch die Selbstironie der
    DDR-Buerger, die die DDR als die groesste DDR der Welt bezeichneten.
    Wenn auch heute Enno von Loewenstern die DDR zu einem „grossen
    Land“ machen will, um den Sieg der BRD entsprechend gewichtiger
    darstellen zu koennen, so versucht doch nicht einmal dieser
    Rechtsaussen des politischen deutschen Journalismus, die DDR zur
    Weltmacht hochzustilisieren. Das bleibt der „objektivsten Behoerde
    der Welt“, der Staatsanwaltschaft, vorbehalten. Jeder macht sich
    vor der Geschichte so laecherlich, wie er will und kann.
    Wahr ist, dass der Bau der Mauer auf einer Sitzung der Staaten des
    Warschauer Vertrages am 5.8.1961 in Moskau beschlossen wurde. In
    diesem Buendnis sozialistischer Staaten war die DDR ein wichtiges
    Glied, aber nicht die Fuehrungsmacht. Dies duerfte gerichtsbekannt
    sein und braucht wohl nicht bewiesen zu werden.

    Da wir - wie ich schon sagte - offensichtlich niemand pesoenlich
    totgeschlagen noch den Totschlag eines Menschen unmittelbar be-
    fohlen haben, wird der Bau der Mauer, ihre Aufrechterhaltung und
    die Durchsetzung des Verbots, die DDR ohne staatliche Genehmigung
    zu verlassen, als Toetungshandlung angesehen. Mit Politik soll das
    alles nichts zu tun haben. Die deutsche Jurisprudenz macht das
    moeglich. Nur vor der Geschichte und dem gesunden Menschenverstand
    wird sie damit nicht bestehen. Sie wird nur ein weiteres Mal de-
    monstrieren, woher sie kommt, wes Geistes Kind sie ist und wohin
    Deutschland zu gehen im Begriff steht.

    Wir alle, die wir in den Staaten des Warschauer Vertrages damals
    Verantwortung trugen, trafen diese politische Entscheidung ge-
    meinsam. Ich sage das nicht, um mich zu entlasten und die Verant-
    wortung auf andere abzuwaelzen; ich sage es nur, weil es so und
    nicht anders war, und ich stehe dazu, dass diese Entscheidung da-
    mals, 1961, richtig war und richtig blieb, bis die Konfrontation
    zwischen den USA und der UdSSR beendet war. Eben diese politische
    Entscheidung und die Ueberzeugungen, die ihr zugrunde liegen, sind
    der Gegenstand dieses Prozesses. Man muss schon blind sein oder
    bewusst vor den Geschehnissen der Vergangenheit die Augen ver-
    schliessen, um diesen Prozess nicht als politischen Prozess der Sie-
    ger ueber die Besiegten zu erkennen, um nicht zu erkennen, dass er
    eine politisch motivierte Entstellung der Geschichte bedeutet.

    Wenn Sie diese politische Entscheidung fuer falsch halten und mir
    und meinen Genossen die Toten an der Mauer zum strafrechtlichen
    Vorwurf machen, dann sage ich Ihnen, die Entscheidung, die Sie
    fuer richtig halten, haette Tausende oder Millionen Tote zur Folge
    gehabt. Das war und das ist meine Ueberzeugung und, wie ich an-
    nehme, auch die Ueberzeugung meiner Genossen. Wegen dieser politi-
    schen Ueberzeugung stehen wir hier vor Ihnen. Und wegen Ihrer an-
    dersartigen politischen Ueberzeugung werden Sie uns verurteilen.

    Wie und warum es zum Bau der Mauer gekommen ist, interessiert die
    Staatsanwaltschaft nicht. Kein Wort steht darueber in der Anklage.
    Die Ursachen und Bedingungen werden unterschlagen, die Kette der
    historischen Ereignisse wird willkuerlich zerrissen. Erich Honec-
    ker hat die Mauer gebaut und aufrechterhalten. Basta. So einfach
    vermag der bundesdeutsche Jurist die Geschichte zu sehen und dar-
    zustellen. Hauptsache, der Kommunist wird zum Kriminellen gestem-
    pelt und als solcher verurteilt. Dabei kann doch jeder Deutsche
    wissen, wie es zur Mauer kam und warum dort geschossen wurde. Da
    die Anklage so tut, als sei es dem Sozialismus eigen, Mauern zu
    bauen und daran Menschen erschiessen zu lassen, und als truegen
    solche „verbrecherischen“ Einzelpersonen wie ich und meine Genos-
    sen dafuer die Verantwortung, muss ich, ohne Historiker zu sein,
    die Geschichte, die zur Mauer fuehrte, rekapitulieren.

    Der Ursprung liegt weit zurueck. Er beginnt mit der Entstehung des
    Kapitalismus und des Proletariats. Der unmittelbare Beginn des
    Elends der deutschen Geschichte der Neuzeit ist das Jahr 1933.
    1933 haben bekanntlich sehr viele Deutsche in freien Wahlen die
    NSDAP gewaehlt, und der Reichspraesident Hindenburg, der schon 1932
    ebenfalls frei gewaehlt worden war, hat Adolf Hitler dann ganz de-
    mokratisch zum Reichskanzler berufen. Anschliessend haben die po-
    litischen Vorlaeufer unserer etablierten Parteien mit Ausnahme der
    SPD dem Ermaechtigungsgesetz zugestimmt, das Hitler diktatorische
    Vollmachten verlieh. Nur die Kommunisten hatten vor den genannten
    Wahlen gesagt: „Wer Hindenburg waehlt, waehlt Hitler, wer Hitler
    waehlt, waehlt den Krieg.“ Bei der Abstimmung zum Ermaechtigungsge-
    setz waren die kommunistischen Abgeordneten bereits aus dem
    Reichstag entfernt. Viele Kommunisten waren inhaftiert oder leb-
    ten illegal. Schon damals begann mit dem Verbot der Kommunisten
    der Untergang der Demokratie in Deutschland.

    Kaum war Hitler Reichskanzler, erlebte Deutschland sein erstes
    Wirtschaftswunder. Die Arbeitslosigkeit wurde ueberwunden, die An-
    rechtsscheine auf Volkswagen wurden verkauft, die kochende Volks-
    seele fuehrte zur Vertreibung und Ermordung der Juden. Das deut-
    sche Volk war in seiner Mehrheit gluecklich und zufrieden.

    Als der Zweite Weltkrieg ausgebrochen war und die Fanfaren die
    Siege in den Blitzkriegen gegen Polen, Norwegen, Daenemark, Bel-
    gien, Holland, Luxemburg, Frankreich Jugoslawien und Griechenland
    vermeldeten, kannte die Begeisterung keine Grenzen. Die Herzen
    fast aller Deutschen schlugen fuer ihren Kanzler, fuer den groessten
    Fuehrer aller Zeiten. Kaum einer dachte daran, dass das Tausendjaeh-
    rige Reich nur zwoelf Jahre bestehen wuerde.

    Nachdem 1945 alles in Scherben lag, gehoerte nicht die ganze Welt
    Deutschland (wie es in einem bekannten Nazilied vorausgesungen
    wurde), sondern Deutschland gehoerte den Alliierten. Deutschland
    war in vier Zonen geteilt. Freizuegigkeit gab es nicht. Dieses
    Menschenrecht galt damals bei den Alliierten noch nicht. Es galt
    nicht einmal fuer die deutschen Emigranten, die wie Gerhart Eisler
    aus den USA nach Deutschland zurueckkehren wollten.

    In den USA gab es damals Plaene (z.B. den Morgenthauplan),
    Deutschland fuer dauernd in mehrere Staaten aufzuteilen. Diese
    Plaene gaben Stalin Veranlassung zu seinem oft zitierten Satz:
    „Die Hitler kommen und gehen, das deutsche Volk und der deutsche
    Staat bleiben.“ Die damals von der UdSSR angestrebte Erhaltung
    der Einheit Deutschlands kam jedoch nicht zustande. Deutschland
    wurde im Ergebnis des 1947 von den USA ausgerufenen Kalten
    Krieges auf dem Weg ueber die Bildung der Bizone, der Trizone, die
    separate Waehrungsreform und schliesslich die Bildung der Bundesre-
    publik im Mai 1949 fuer lange Zeit zweigeteilt. Diese Teilung war,
    wie die zeitliche Abfolge beweist, nicht das Werk der Kommuni-
    sten, sondern das Werk der westlichen Alliierten und Konrad
    Adenauers. Die Bildung der DDR war eine zeitliche und logische
    Folge der Bildung der BRD. Nunmehr existierten zwei deutsche
    Staaten nebeneinander. Die BRD war jedoch nicht gewillt, die DDR
    anzuerkennen und mit ihr friedlich zu leben. Sie erhob vielmehr
    fuer ganz Deutschland und alle Deutschen den Alleinvertretungsan-
    spruch. Sie verhaengte mit Hilfe ihrer Verbuendeten ueber die DDR
    ein Wirtschaftsembargo und versuchte so, die DDR wirtschaftlich
    und politisch zu isolieren. Es war eine Politik der nichtkriege-
    rischen Aggression, die die BRD gegen die DDR fuehrte. Es war dies
    die Form des Kalten Krieges auf deutschem Boden.
    Es war diese Politik, die zur Mauer fuehrte.

    Nachdem die BRD der NATO beigetreten war, schloss sich die DDR dem
    Warschauer Vertrag an. Damit standen sich beide deutschen Staaten
    als Mitglieder feindlicher Militaerbuendnisse feindlich gegenueber.

    Die BRD war der DDR nach der Zahl ihrer Bevoelkerung, nach ihrer
    Wirtschaftskraft und nach ihren politischen und oekonomischen Ver-
    bindungen in vielfacher Hinsicht ueberlegen. Die BRD hatte durch
    den Marshallplan und durch geringere Reparationsleistungen weni-
    ger an den Kriegsfolgen zu tragen. Sie hatte mehr Naturreichtuemer
    und ein groesseres Territorium. Sie nutzte diese vielfache Ueberle-
    genheit gegenueber der DDR in jeder Hinsicht, besonders aber da-
    durch aus, dass sie DDR-Buergern materielle Vorteile versprach,
    wenn sie ihr Land verliessen. Viele DDR-Buerger erlagen dieser Ver-
    suchung und taten das, was die Politiker der BRD von ihnen erwar-
    teten: Sie „stimmten mit den Fuessen ab“. Der wirtschaftliche Er-
    folg verlockte die Deutschen nach 1945 nicht weniger, als er sie
    nach 1933 verlockt hatte.

    Die DDR und die mit ihr verbuendeten Staaten des Warschauer Ver-
    trages gerieten in eine schwierige Situation. Die Politik des
    Roll back schien in Deutschland zum Erfolg zu fuehren. Die NATO
    schickte sich an, ihren Einflussbereich bis an die Oder zu erwei-
    tern.

    Durch diese Politik entstand 1961 eine Spannungssituation in
    Deutschland, die den Weltfrieden gefaehrdete. Die Menschheit stand
    am Rande eines Atomkrieges. In dieser Situation also beschlossen
    die Staaten des Warschauer Vertrages den Bau der Mauer. Niemand
    fasste diesen Entschluss leichten Herzens. Er trennte nicht nur Fa-
    milien, sondern er war auch das Zeichen einer politischen und
    wirtschaftlichen Schwaeche des Warschauer Vertrages gegenueber der
    NATO, die nur mit militaerischen Mitteln ausgeglichen werden
    konnte.

    Bedeutende Politiker ausserhalb Deutschlands, aber auch in der
    BRD, erkannten nach 1961 an, dass der Bau der Mauer die Weltlage
    entspannt hatte.
    Franz Josef Strauss schrieb in seinen Erinnerungen: „Mit dem Bau
    der Mauer war die Krise, wenn auch in einer fuer die Deutschen un-
    erfreulichen Weise, nicht nur aufgehoben, sondern eigentlich auch
    abgeschlossen.“ (Seite 390) Vorher hat er ueber den geplanten
    Atombombenabwurf im Gebiet der DDR berichtet (Seite 388).

    Aus meiner Sicht haette es weder den Grundlagenvertrag noch Hel-
    sinki noch die Einheit Deutschlands gegeben, wenn damals die
    Mauer nicht gebaut oder wenn sie vor der Beendigung des Kalten
    Krieges abgerissen worden waere. Deswegen meine ich, dass ich ge-
    nauso wie meine Genossen nicht nur keine juristische, sondern
    auch keine politische und keine moralische Schuld auf mich gela-
    den habe, als ich zur Mauer ja sagte und dabei blieb.

    Es ist in der Geschichte Deutschlands sicher nur am Rande zu ver-
    merken, dass jetzt viele Deutsche sowohl aus dem Westen wie aus
    dem Osten sich die Mauer wieder wuenschen.

    Fragen muss man aber auch, was geschehen waere, wenn wir uns so
    verhalten haetten, wie das die Anklage als selbstverstaendlich vor-
    aussetzt. Das heisst, wenn wir die Mauer nicht gebaut, die Aus-
    reise aus der DDR jedem zugebilligt und damit freiwillig die DDR
    schon 1961 aufgegeben haetten. Man muss nicht spekulieren, um sich
    die Ergebnsse einer solchen Politik vorzustellen. Man muss nur
    wissen, was 1956 in Ungarn und 1968 in der CSSR geschehen ist.
    Genauso wie dort haetten auch 1961 in der DDR die ohnehin anwesen-
    den sowjetischen Truppen interveniert. Auch in Polen rief 1981
    Jaruzelski das Kriegsrecht aus, um eine solche Intervention zu
    verhindern.

    Eine derartige Zuspitzung der Ereignisse, wie sie von der Anklage
    als selbstverstaendliche politische, moralische und juristische
    Aktion von uns verlangt wird, haette das Risiko eines dritten
    Weltkrieges bedeutet. Dieses Risiko wollten, konnten und durften
    wir nicht eingehen. Wenn das in Ihren Augen ein Verbrechen ist,
    so werden Sie sich vor der Geschichte mit Ihrem Urteil selbst
    richten. Das waere an sich nicht bedeutungsvoll. Bedeutungsvoll
    ist jedoch, dass Ihr Urteil ein Signal sein wird, das die alten
    Fronten erneut aufreisst, statt sie zu schliessen. Sie demonstrie-
    ren damit im Angesicht eines drohenden oekologischen Kollapses der
    Welt die alte Klassenkampfstrategie der 30er Jahre und die Macht-
    politik, die Deutschland seit dem eisernen Kanzler beruehmt ge-
    macht hat.

    Wenn Sie uns wegen unserer politischen Entscheidung von 1961 bis
    1989 verurteilen, und ich gehe davon aus, dass Sie das tun werden,
    so faellen Sie Ihr Urteil nicht nur ohne rechtliche Grundlage,
    nicht nur als ein parteiisches Gericht, sondern auch unter voelli-
    ger Ausserachtlassung der politischen Gepflogenheiten und Verhal-
    tensweisen derjenigen Laender, die als Rechtsstaaten Ihren
    hoechsten Respekt geniessen. Ich will und kann in diesem Zusammen-
    hang nicht alle Faelle aufzaehlen, in denen politische Entscheidun-
    gen in diesen 28 Jahren Menschenleben gefordert haben, weil ich
    Ihre Zeit und Ihre Sensibilitaet nicht ueberstrapazieren will. Auch
    kann ich mich nicht mehr an alles erinnern. Nur folgendes will
    ich erwaehnen:

    1964 entschied der damalige Praesident der USA, Kennedy, Truppen
    nach Vietnam zu entsenden, um anstelle der besiegten Franzosen
    bis 1973 Krieg gegen die um ihre Freiheit, ihre Unabhaengigkeit
    und ihr Selbstbestimmungsrecht kaempfenden Vietnamesen zu fuehren.
    Diese Entscheidung des Praesidenten der USA, die eine eklatante
    Verletzung der Menschenrechte und des Voelkerrechts beinhaltete,
    wurde von der Regierung der BRD in keiner Form kritisiert. Die
    Praesidenten der USA Kennedy, Johnson und Nixon wurden vor kein
    Gericht gestellt, auf ihre Ehre fiel, zumindest wegen dieses
    Krieges, kein Schatten. Dabei hatte kein US-amerikanischer und
    kein vietnamesischer Soldat die Freiheit, zu entscheiden, ob er
    sich wegen dieses ungerechten Krieges in Lebensgefahr begeben
    wollte oder nicht.

    1982 setzte England Truppen gegen Argentinien ein, um die Falk-
    landinseln als Kolonie fuer das Empire zu erhalten. Die „Eiserne
    Lady“ sicherte sich damit einen Wahlsieg, und ihr Ansehen wurde
    dadurch, auch nachdem sie abgewaehlt worden ist, nicht beschaedigt,
    von Totschlag keine Rede.

    1983 befahl der Praesident Reagan seinen Truppen die Besetzung von
    Grenada. Niemand geniesst in Deutschland hoeheres Ansehen als die-
    ser Praesident der USA. Keine Frage dass die Opfer dieses Unterneh-
    mens rechtens zu Tode gekommen sind.

    1986 liess Reagan die Staedte Tripolis und Bengasi in einer Stra-
    faktion bombardieren, ohne zu fragen, ob seine Bomben Schuldige
    oder Unschuldige trafen.

    1989 ordnete Praesident Bush an, General Noriega aus Panama mit
    Waffengewalt zu entfuehren. Tausende unschuldige Panamesen wurden
    dabei getoetet. Wiederum fiel auf den Praesidenten der USA kein Ma-
    kel, geschweige denn, dass er wegen Totschlags oder Mordes ange-
    klagt wurde.

    Die Aufzaehlung liesse sich beliebig erweitern. Von dem Verhalten
    Englands in Irland ueberhaupt nur zu sprechen, duerfte als unan-
    staendig gelten.

    Nachdem, was die Waffen der Bundesrepublik Deutschland unter
    tuerkischen Kurden oder der schwarzen Bevoelkerung Suedafrikas an-
    richten, werden zwar rhetorische Fragen gestellt, doch niemand
    zaehlt die Toten, und niemand nennt die Schuldigen.

    Ich habe hier nur die als besonders rechtsstaatlich anerkannten
    Staaten mit nur einigen ihrer politischen Entscheidungen aufge-
    zaehlt. Jeder kann vergleichen, wie sich diese Entscheidungen zu
    der Entscheidung verhalten, an der Grenze des Warschauer Vertra-
    ges und der NATO eine Mauer zu errichten.

    Sie werden sagen, dass Sie ueber die Handlungen in anderen Laendern
    nicht entscheiden koennen und duerfen. Sie werden sagen, dass Sie
    das alles nicht interessiert. Doch ich meine, das Urteil der Ge-
    schichte ueber die DDR kann nicht gefaellt werden, ohne dass die Er-
    eignisse Berucksichtigung finden, die sich in der Zeit der Exi-
    stenz der DDR auf Grund der Auseinandersetzung zwischen den bei-
    den Bloecken in anderen Laendern abspielten. Ich meine darueber hin-
    aus auch, dass politische Handlungen nur aus dem Geist ihrer Zeit
    zu beurteilen sind. Wenn Sie die Augen davor verschliessen, was
    von 1961 bis 1989 in der Welt ausserhalb Deutschlands passierte,
    koennen Sie kein gerechtes Urteil faellen.

    Auch wenn Sie sich auf Deutschland beschraenken und die politi-
    schen Entscheidungen in beiden deutschen Staaten einander gegen-
    ueberstellen, wuerde eine ehrliche und objektive Bilanz zugunsten
    der DDR ausfallen. Wer seinem Volk das Recht auf Arbeit und das
    Recht auf Wohnung verweigert, wie das in der BRD der Fall ist,
    nimmt in Kauf, dass zahlreichen Menschen ihre Existenz genommen
    wird und sie keinen anderen Ausweg sehen, als aus dem Leben zu
    scheiden. Arbeitslosigkeit, Obdachlosigkeit, Drogenmissbrauch, Be-
    schaffungskriminalitaet, Kriminalitaet ueberhaupt sind alle das Er-
    gebnis der politischen Entscheidung fuer die soziale Marktwirt-
    schaft. Selbst anscheinend so politisch neutrale Entscheidungen
    wie die Geschwindigkeitsbegrenzung auf Autobahnen sind Folgen ei-
    ner Staatsverfassung, in der nicht die frei gewaehlten Politiker,
    sondern die nichtgewaehlten Wirtschaftsbosse das Sagen haben. Wenn
    die Abteilung Regierungskriminalitaet des Generalstaatsanwalts
    beim Kammergericht ihre Aufmerksamkeit einmal hierauf richten
    wuerde, haette ich bald die Moeglichkeit, den Repraesentanten der
    Bundesrepublik wieder wie frueher die Hand zu schuetteln. - Diesmal
    allerdings in Moabit. Das wird natuerlich nicht geschehen, weil
    die Toten der Marktwirtschaft alle rechtens ihr Leben verloren.

    Ich bin nicht derjenige, der die Bilanz der Geschichte der DDR
    ziehen kann. Die Zeit dafuer ist noch nicht gekommen. Die Bilanz
    wird spaeter und von anderen gezogen werden.

    Ich habe fuer die DDR gelebt. Ich habe insbesondere seit Mai 1971
    einen betraechtlichen Teil der Verantwortung fuer ihre Geschichte
    getragen. Ich bin also befangen und darueber hinaus durch Alter
    und Krankheit geschwaecht. Dennoch habe ich am Ende meines Lebens
    die Gewissheit, die DDR wurde nicht umsonst gegruendet. Sie hat ein
    Zeichen gesetzt, dass Sozialismus moeglich und besser sein kann als
    Kapitalismus. Sie war ein Experiment, das gescheitert ist. Doch
    noch nie hat die Menschheit wegen eines gescheiterten Experiments
    die Suche nach neuen Erkenntnissen und Wegen aufgegeben. Es ist
    nun zu pruefen, warum das Experiment scheiterte. Sicher scheiterte
    es auch, weil wir, ich meine damit die Verantwortichen in allen
    europaeischen sozialistischen Laendern, vermeidbare Fehler begangen
    haben. Sicher scheiterte es in Deutschland unter anderem auch
    deswegen, weil die Buerger der DDR wie andere Deutsche vor ihnen
    eine falsche Wahl trafen und weil unsere Gegner noch uebermaechtig
    waren. Die Erfahrungen aus der Geschichte der DDR werden mit den
    Erfahrungen aus der Geschichte der anderen ehemaligen sozialisti-
    schen Laender fuer die Millionen in den noch existierenden soziali-
    stischen Laendern und fuer die Welt von morgen insgesamt nuetzlich
    sein. Wer seine Arbeit und sein Leben fuer die DDR eingesetzt hat,
    hat nicht umsonst gelebt. Immer mehr „Ossis“ werden erkennen, dass
    die Lebensbedingungen in der DDR sie weniger deformiert haben,
    als die „Wessis“ durch die „soziale“ Marktwirtschaft deformiert
    worden sind, dass die Kinder in der DDR in Krippen, in Kindergaer-
    ten und Schulen sorgloser, gluecklicher, gebildeter und freier
    aufwuchsen als die Kinder in den von Gewalttaten beherrschten
    Schulen, Strassen und Plaetzen der BRD. Kranke werden erkennen, dass
    sie in dem Gesundheitswesen der DDR trotz technischer Rueckstaende
    Patienten und nicht kommerzielle Objekte fuer das Marketing von
    Aerzten waren. Kuenstler werden begreifen, dass die angebliche oder
    wirkliche DDR-Zensur nicht so kunstfeindlich war wie die Zensur
    des Marktes. Staatsbuerger werden spueren, dass die DDR-Buerokratie
    plus der Jagd auf knappe Waren nicht soviel Freizeit erforderte
    wie die Buerokratie der BRD. Arbeiter und Bauern werden erkennen,
    dass die BRD ein Staat der Unternehmer (sprich Kapitalisten) ist
    und dass die DDR sich nicht ohne Grund einen Arbeiter-und-Bauern-
    Staat nannte. Frauen werden die Gleichberechtigung und das Recht,
    ueber ihren Koerper selbst zu bestimmen, die sie in der DDR hatten,
    jetzt hoeher schaetzen. Viele werden nach der Beruehrung mit dem Ge-
    setz und dem Recht der BRD mit Frau Bohley, die uns Kommunisten
    verdammt, sagen: „Gerechtigkeit haben wir gewollt. Den Rechts-
    staat haben wir bekommen.“ Viele werden auch begreifen, dass die
    Freiheit, zwischen CDU/CSU, SPD und FDP zu waehlen, nur die Frei-
    heit zu einer Scheinwahl bedeutet. Sie werden erkennen, dass sie
    im taeglichen Leben, insbesondere auf ihrer Arbeitsstelle, in der
    DDR ein ungleich hoeheres Mass an Freiheit hatten, als sie es jetzt
    haben. Schliesslich werden die Geborgenheit und Sicherheit, die
    die kleine und im Verhaeltnis zur BRD arme DDR ihren Buergern ge-
    waehrte, nicht mehr als Selbstverstaendlichkeit missachtet werden,
    weil der Alltag des Kapitalismus jetzt jedem deutlich macht, was
    sie in Wahrheit wert sind.

    Die Bilanz der 40jaehrigen Geschichte der DDR sieht anders aus, als
    sie von den Politikern und Medien der BRD dargestellt wird. Der
    wachsende zeitliche Abstand wird das immer deutlicher machen.

    Der Prozess gegen uns Mitglieder des Nationalen Verteidigungsrates
    der DDR soll ein Nuernberger Prozess gegen Kommunisten werden. Die-
    ses Unternehmen ist zum Scheitern verurteilt. In der DDR gab es
    keine Konzentrationslager, keine Gaskammern, keine politischen
    Todesurteile, keinen Volksgerichtshof, keine Gestapo, keine SS.
    Die DDR hat keinen Krieg gefuehrt und keine Kriegs- oder Mensch-
    lichkeitsverbrechen begangen. Die DDR war ein konsequent antifa-
    schistischer Staat, der wegen seines Eintretens fuer den Frieden
    hohes internationales Ansehen besass. Der Prozess gegen uns als die
    „Grossen“ der DDR soll dem Argument entgegengesetzt werden, „die
    Kleinen haengt man, und die Grossen laesst man laufen“. Das Urteil
    ueber uns soll damit den Weg voellig freimachen, um auch die Klei-
    nen zu „haengen“. Schon bisher hat man sich allerdings hierbei we-
    nig Zwang auferlegt. Der Prozess soll die Grundlage fuer die Brand-
    markung der DDR als „Unrechtsstaat“ bilden. Ein Staat, der von
    solchen „Verbrechern“ wie uns, von „Totschlaegern“ regiert wurde,
    kann nur ein „Unrechtsstaat“ sein. Wer ihm nahestand, wer ein
    pflichtbewusster Buerger der DDR war, soll mit einem Kainszeichen
    gebrandmarkt werden. Ein Unrechtsstaat kann natuerlich nur von
    „verbrecherischen Organisationen“ wie dem MfS, der SED usw. ge-
    fuehrt und gestuetzt worden sein. Kollektivschuld, kollektive Ver-
    urteilung soll an die Stelle individueller Verantwortlichkeit
    treten, um das Fehlen von Beweisen fuer die behaupteten Verbrechen
    zu verschleiern. Pfarrer aus der DDR geben ihren Namen fuer eine
    neue Inquisition, fuer eine moderne Hexenjagd. Millionen werden so
    gnadenlos ausgegrenzt, aus der Gesellschaft ausgestossen. Vielen
    werden die Existenzmoeglichkeiten bis aufs aeusserste eingeschraenkt.
    Es reicht, als IM registriert worden zu sein, um den buergerlichen
    Tod zu erleiden. Der Journalist als Denunziant wird hoch gelobt
    und reich entlohnt, nach seinem Opfer fragt niemand. Die Zahl der
    Selbstmorde ist tabu. Das alles unter einer Regierung, die sich
    christlich und liberal nennt, sowie mit Duldung, ja sogar Unter-
    stuetzung einer Opposition, die diesen Namen ebensowenig verdient
    wie die Bezeichnung „sozial“. - Das alles geschieht mit dem
    selbstverliehenen Guetesiegel des Rechtsstaats. Der Prozess offen-
    bart seine politische Dimension auch als Prozess gegen Antifaschi-
    sten. Zu einer Zeit, in der der rechte neonazistische Mob unge-
    straft auf den Strassen tobt, Auslaender verfolgt und wie in Moelln
    ermordet werden, zeigt der Rechtsstaat seine ganze Kraft bei der
    Verhaftung demonstrierender Juden und eben bei der Verfolgung von
    Kommunisten. Hier fehlt es auch nicht an Beamten und Geld. Das
    alles hatten wir schon einmal.

    Resuemiert man den politischen Gehalt dieses Prozesses, so stellt
    er sich als Fortsetzung des Kalten Krieges, als Negierung des
    neuen Denkens dar. Er enthuellt den wahren politischen Charakter
    dieser Bundesrepublik. Die Anklage, die Haftbefehle und der Be-
    schluss des Gerichts ueber die Zulassung der Anklage sind gepraegt
    vom Geist des Kalten Krieges. Die Praejudizien zu den Gerichtsent-
    scheidungen gehen auf das Jahr 1964 zurueck. Die Welt hat sich
    seitdem geaendert, aber die deutsche Justiz fuehrt politische Pro-
    zesse, als regiere noch Wilhelm II. Sie hat die voruebergehende
    liberale politische „Schwaeche“, die sie nach 1968 ueberfiel, wie-
    der ueberwunden und ihre alte antikommunistische Hochform wieder-
    gewonnen. Uns schalt man „Betonkoepfe“ und warf uns Reformunfaehig-
    keit vor. - In diesem Prozess wird demonstriert, wo die Betonkoepfe
    herrschen und wer reformunfaehig ist. Nach aussen ist man zwar aeu-
    sserst geschmeidig, wird Gorbatschow die Ehrenbuergerschaft von
    Berlin verliehen, wird gnaedig verziehen, dass er einst die soge-
    nannten Mauerschuetzen durch seinen Eintrag in ihr Ehrenbuch belo-
    bigte, aber nach innen ist man „hart wie Kruppstahl“. Den einsti-
    gen Verbuendeten von Gorbatschow stellt man dagegen vor Gericht.
    Gorbatschow und ich gehoerten beide der kommunistischen Weltbewe-
    gung an. Es ist bekannt, dass wir in einigen wesentlichen Punkten
    verschiedener Meinung waren. Doch unsere Differenzen waren aus
    meiner damaligen Sicht geringer als unsere Gemeinsamkeiten. Mich
    hat der Bundeskanzler nicht mit Goebbels verglichen, und ich
    haette ihm das auch nicht verziehen. Weder fuer den Bundeskanzler
    noch fuer Gorbatschow ist dieses Strafverfahren ein Hindernis fuer
    ihre Duzfreundschaft. Auch das ist kennzeichnend.

    Ich bin am Ende meiner Erklaerung. Tun Sie, was Sie nicht lassen
    koennen.

    Liste des chefs d’État allemands
    https://fr.m.wikipedia.org/wiki/Liste_des_chefs_d%27%C3%89tat_allemands

    #Allemagne #histoire #DDR