• Reise in die Brüssel-Blase : So bereitet die EU den großen Krieg vor
    https://www.berliner-zeitung.de/politik-gesellschaft/geopolitik/bruessel-so-bereitet-die-eu-den-grossen-krieg-vor-ukraine-li.233008

    Au niveau européen on prépare la guerre pour l"an 2030. C’est le moment pour se rappeller ce que c’est la guerre.

    Der Graben Eisler/Tucholsky/Busch
    https://www.youtube.com/watch?v=VohwsFL6ViQ

    John Heartfield, Krieg und Leichen - die letzte Hoffnung der Reichen

    7.6.2025 von Raphael Schmeller - Die EU mobilisiert Rekordsummen für Rüstung gegen Russland. Diplomatie spielt kaum noch eine Rolle. Eine Journalistenreise zeigt: Frieden ist kein Thema.

    Die Europäische Union plant die größte militärische Aufrüstung ihrer Geschichte. Bis zu 800 Milliarden Euro sollen bis Ende dieses Jahrzehnts in Waffen, Munition, Drohnen, militärische Infrastruktur und weitere Bereiche der Verteidigung investiert werden. Um sicherzustellen, dass diese europäische Zeitenwende in der Öffentlichkeit als notwendig und gerechtfertigt wahrgenommen wird, organisiert die EU sogenannte „Verteidigungsreisen“ für Journalisten nach Brüssel. Auch der Autor dieses Textes wurde in dieser Woche zu einer solchen Reise eingeladen.
    „Putin versteht nur Stärke“

    Zwei Tage lang fanden Briefings, Podiumsdiskussionen und Hintergrundgespräche mit hochrangigen EU-Vertretern und Politikern statt, darunter auch solche, die regelmäßig in deutschen Talkshows vehement für eine verstärkte Aufrüstung werben. Auf der Agenda stand zudem ein Gespräch mit Verteidigungskommissar Andrius Kubilius.

    Alle Gesprächspartner in Brüssel betonten, dass eine massive Aufrüstung angesichts der Bedrohung durch Russland alternativlos sei. Ob hinter verschlossenen Türen im Kommissionsgebäude, beim Kaffee oder beim Abendessen in einem Brüsseler Hotel – überall wurde vermittelt, dass sich die EU und ihre Mitgliedstaaten auf einen großen Krieg mit Russland vorbereiten müssten. Als wäre dieser unausweichlich. Von Frieden oder diplomatischen Initiativen war keine Rede.

    Der estnische EU-Abgeordnete und ehemalige Generalstabschef Riho Terras zählt zu den entschiedensten Verfechtern der neuen verteidigungspolitischen Ausrichtung der EU. Für ihn stellt die russische Bedrohung ein historisches Muster dar. „Alle 25 Jahre wird Estland von Russland angegriffen“, sagt er. „42 Mal in tausend Jahren. Niemand ist also bei uns überrascht darüber, dass Russland die Ukraine angegriffen hat.“ Seine Konsequenz: „Putin versteht nur Stärke.“

    Terras fordert, dass andere Mitgliedstaaten dem Beispiel Estlands folgen. Das baltische Land investiert bereits 3,5 Prozent des Bruttoinlandsprodukts in Verteidigung, führt eine umfassende Wehrpflicht durch, organisiert Zivilschutzübungen und bietet Schulungen im Überlebenstraining an. Für Terras ist dies keine Panikmache, sondern rationale Vorsorge. „Jeder Baum wird schießen, wenn der Russe kommt“, sagt er und warnt: „Wenn die Ukraine verliert, wird Europa einen großen Krieg erleben. Und der wird schlimmer sein als das, was wir jetzt sehen.“

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    Auch die Nato-Staaten wollen ihre Aufrüstungsziele stark anheben.Wiktor Dabkowski/imago

    Auch Hannah Neumann, Mitglied im Ausschuss für Sicherheit und Verteidigung des Europaparlaments, unterstreicht im Gespräch die Notwendigkeit einer militärischen Aufrüstung. „Wir Grünen sind total dafür, dass wir die europäische Rüstungsindustrie stärken“, sagt sie. Neumann kritisiert, dass viele Mitgliedstaaten im Alleingang handeln. „Wir haben vereinbart, dass wir das europäisch machen. In der Praxis agieren die Staaten aber oft alleine“, so die Grünen-Politikerin. Ob bei der Rüstungsproduktion, bei Exportentscheidungen oder in der strategischen Planung – oft fehle es an echter Kooperation. Nationale Alleingänge behinderten einen funktionierenden europäischen Verteidigungsbinnenmarkt.

    Neumann fordert Eurobonds für die Verteidigung. „Aber das wollten viele Mitgliedstaaten, darunter Deutschland, nicht“, beklagt sie. Der Druck, die Verteidigungspolitik stärker auf europäischer Ebene zu koordinieren, wachse jedoch stetig, sagt sie.
    800 Milliarden in Aufrüstung bis 2030

    Die geplante Aufrüstung Europas ist im Plan „Readiness 2030“ verankert, den Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen auf den Weg gebracht hat. Ursprünglich trug das Programm den Namen „ReArm Europe“, doch einige Staaten – insbesondere Spanien und Italien – störten sich am martialischen Klang. Der neue Name ist bewusst gewählt: 2030 könnte Russland laut EU-Experten in der Lage sein, ein EU- oder Nato-Land anzugreifen.

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    Eine Drohne wurde von ukrainischen Soldaten bei Charkiw eingesetzt.Evgeniy Maloletka/AP

    Mit dem Plan von der Leyens sollen insgesamt 800 Milliarden Euro für Verteidigungsvorhaben aufgebracht werden. 150 Milliarden davon sind durch den EU-Haushalt abgesicherte Kredite. Die Mitgliedstaaten stimmten dem als „Safe“ (Security and Action for Europe) bezeichneten Kreditmechanismus erst vor zwei Wochen zu. Wenn EU-Länder auf diese Mittel zugreifen, haben sie bis zu 45 Jahre Zeit für die Rückzahlung.

    Weitere 650 Milliarden Euro sollen durch eine Lockerung der EU-Schuldenregeln aufgewendet werden. Dies stellt einen bemerkenswerten Bruch dar, da die strikten Schuldenregeln der EU bisher als unantastbares Prinzip galten. In der Eurokrise wurden beispielsweise in mehreren EU-Ländern, insbesondere in Südeuropa, deshalb drastische Sparmaßnahmen durchgesetzt, die zu erheblichen sozialen Einschnitten führten.

    Auch die Mobilisierung privaten Kapitals für die Aufrüstung ist Teil der Readiness-Strategie. In Frankreich erwägt die Regierung beispielsweise, Mittel aus dem beliebten Sparbuch „Livret A“, das bislang vor allem dem sozialen Wohnungsbau diente, in die Rüstungsindustrie umzuleiten. Präsident Emmanuel Macron stellte bereits im März in einer Fernsehansprache klar: „Das Vaterland braucht euch.“

    Die Koordination der gigantischen Investitionen und die Vorbereitung der europäischen Rüstungsindustrie auf eine massenhafte Produktion liegen in den Händen von Andrius Kubilius, dem Verteidigungskommissar der EU. Er gilt als Schlüsselfigur der sicherheitspolitischen Neuausrichtung Europas. Der „Readiness 2030“-Plan basiert laut Kubilius auf drei Säulen: Erstens müsse die militärische Unterstützung der Ukraine intensiviert werden. „Wir müssen deutlich mehr leisten“, sagt er. Die Ukraine sei „unsere erste Verteidigungslinie“. Zweitens gehe es darum, bestehende Kapazitätslücken in der Verteidigung zu schließen – nicht nur im Hinblick auf aktuelle, sondern auch auf zukünftige Konflikte.

    Drittens müsse die europäische Rüstungsindustrie drastisch gestärkt werden. Sie sei keine gewöhnliche Branche, sondern eine strategische Schlüsselressource. Derzeit verfüge Europa nur über 50 Prozent dessen, was es materiell benötige. Das sei unzureichend. Die EU müsse zur industriellen Verteidigungsmacht werden.

    Kubilius betont, dass sich diese Vorhaben nicht gegen die Nato richten. „Wir konkurrieren nicht mit der Nato – wir unterstützen sie mit unserer Industriepolitik.“ Es müssten bestehende Hürden abgebaut werden, denn „unsere Regulierung stammt aus Friedenszeiten“. Sie müsse dringend reformiert werden, wenn Europa „bereit sein“ wolle.

    Mitte Juni will die EU-Kommission ein Gesetzespaket mit dem Titel „Defense Omnibus“ vorstellen. Dabei handelt es sich um ein Maßnahmenbündel zur Entbürokratisierung der Verteidigungsindustrie. Es soll Genehmigungsverfahren beschleunigen und Erleichterungen im Umwelt- und Arbeitsrecht bringen. Kubilius mahnt zur Eile: „Wir haben keine Zeit zu verlieren.“ Putin werde nicht warten, bis Europa vorbereitet sei.

    Für den Litauer steht fest: Europa muss nicht nur technologisch aufholen, sondern auch von der Ukraine lernen, insbesondere was die schnelle, flexible und effektive Organisation von Rüstung betrifft. „Deshalb arbeiten wir mit der Ukraine zusammen, um dieses Wissen in unser System zu integrieren“, erklärt er. Die Ukraine sei ein Vorbild an industrieller Anpassungsfähigkeit unter Kriegsbedingungen. Besonders im Bereich der Drohnen müsse Europa enger mit der Ukraine kooperieren.

    Deutschland lobt Kubilius als Positivbeispiel: Die deutschen Verteidigungsausgaben könnten anderen Mitgliedstaaten als Vorbild dienen. Er erinnert daran, dass die EU selbst über kaum eigene Finanzmittel verfügt. „Das Geld liegt bei den Mitgliedstaaten – wir haben keins.“

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    EU-Verteidigungskommissar Andrius Kubilius möchte im Bereich der Rüstungsindustrie enger mit der Ukraine zusammenarbeiten.Nicolas Tucat/AFP

    Trotzdem sei die Verpflichtung zu einer gemeinsamen europäischen Verteidigung vertraglich festgeschrieben, betont Kubilius: „Das ist keine Option, das ist eine Verpflichtung. Sie steht in den Verträgen.“

    Auf die Frage der Berliner Zeitung, welche diplomatischen Schritte die EU unternehme, um Frieden in der Ukraine zu erreichen, antwortet der Kommissar: „Ich sehe nicht, dass die Russen den Krieg beenden wollen. Diplomatie beginnt, wenn beide Seiten ähnliche Ziele haben. Das ist im Moment nicht der Fall.“ Erst wenn Europa mehr für die Ukraine tue, könne sich auch politisch etwas bewegen.

    Ist Friedrich Merz der neue Hoffnungsträger der EU?

    Kubilius ist nicht der Einzige, der betont, dass Deutschland unter Bundeskanzler Friedrich Merz als Hoffnungsträger eines neuen verteidigungspolitischen Europas gilt. Auch zahlreiche andere Gesprächspartner setzen ihre Hoffnungen auf den CDU-Politiker. Frankreichs Präsident Macron, der sich zuletzt stark ins internationale Rampenlicht rückte, genießt in Brüssel hingegen deutlich weniger Vertrauen. „Die Franzosen reden, aber sie tun nichts“, heißt es häufig. Oder: „Macron ist a lame duck.“ Kritisiert wird auch, dass Frankreich trotz Macrons scharfer Rhetorik gegen Russland weiterhin massiv russisches Gas bezieht.

    In diesen zwei Tagen in Brüssel fiel vor allem eine bemerkenswerte intellektuelle Homogenität auf. Kritik blieb weitgehend aus. Das Denken kreist in sich selbst. Ein EU-Beamter sagt: „Wir tun nicht genug für die Ukraine.“ Ein anderer fügt hinzu: „Wir müssen mehr produzieren als Russland.“ Und alle zusammen: „Russland ist am Ende.“ Die Realität ist jedoch: Die Strategie, den Krieg durch immer mehr Waffen zu gewinnen, hat seit drei Jahren keine Wende gebracht. Trotzdem hält man daran fest, als gäbe es keine Alternative.

    Aufrüstung gilt in Brüssel als rational. Wer etwas anderes denkt, gilt hier als Putinversteher oder als naiv. Existenzielle Fragen, wie etwa der Krieg enden soll, wie Europa Diplomatie betreiben will oder ob Aufrüstung wirklich Frieden schafft, stellt hier kaum jemand. Eine Exit-Strategie für den Ukrainekrieg? Nicht erkennbar. Die EU sieht sich als „Leuchtturm der Demokratie“ – alles andere ist Finsternis.

    Die Profiteure dieser politischen Verschiebung sind klar auszumachen. Die europäische Rüstungsindustrie verzeichnet seit Februar 2022 Rekordaufträge. So steigerte Rheinmetall seinen Umsatz im ersten Quartal 2025 wieder um 46 Prozent, wie das Unternehmen jüngst verkündete. Der Auftragsbestand liegt bei über 62 Milliarden Euro. Seit dem Einmarsch Russlands in die Ukraine ist die Rheinmetall-Aktie um fast 1900 Prozent gestiegen. In Brüssel heißt es, das sei erst der Anfang. Die Nachfrage werde weiter steigen und die Produktionskapazitäten müssten drastisch ausgeweitet werden.

    Die Industrie begrüßt, dass die Kommission plant, neue Rüstungsfabriken von langwierigen Genehmigungsverfahren zu befreien. Kritik an den ökologischen und sozialen Folgen bleibt jedoch weitgehend aus. Auch die Ukraine wird in gewisser Weise romantisiert. Von den jüngsten ukrainischen Drohnenangriffen auf russische Luftwaffenstützpunkte zeigt man sich begeistert. Immer wieder wird betont: „Die Ukrainer verteidigen unsere Freiheit.“

    Auffällig an der Brüsseler Verteidigungsreise war nicht nur die rhetorische Wucht, mit der für Aufrüstung plädiert wurde. Ebenso bemerkenswert war, dass kritische Stimmen innerhalb des Europäischen Parlaments, die sich beispielsweise für friedenspolitische Alternativen oder diplomatische Initiativen einsetzen, im Programm keine Berücksichtigung fanden. Dabei steht auch ein nicht unerheblicher Teil der EU-Abgeordneten der Aufrüstung skeptisch gegenüber.

    EU definiert sich über seine Feinde

    Der Eindruck, der sich verdichtet: In der Brüsseler Blase hat sich ein sicherheitspolitischer Konsens verfestigt, der kaum noch hinterfragt wird. Krieg ist nicht mehr die Ausnahme, sondern der politische Bezugsrahmen. Rüstung ist nicht das Problem, sondern die Lösung. Die Debatte um Frieden? Ausgesetzt. Dabei hat sich die EU in den letzten Jahrzehnten gern als Friedensprojekt verstanden – sie wurde gegründet, um die Lehren aus zwei Weltkriegen zu ziehen. In Brüssel redet heute jedoch kaum noch jemand darüber.

    Stattdessen hört man von „Readiness“, „Abschreckung“ und den „Kriegen der Zukunft“. Russland, China, Trump – das neue Europa definiert sich über seine Feinde. Ob das wirklich zu mehr Sicherheit führt? Das ist zu bezweifeln. Doch diese Frage stellt man sich in Brüssel nicht mehr.

    #Europe #guerre