• Der Kurfürstendamm - Joseph Roth 1929
    https://archive.org/stream/JosephRothWerke3/RothjWerke3#page/n109/mode/2up

    Am Abend gehe ich über den Berliner Kurfürstendamm. Ich drücke mich an die Mauern wie ein Hund. Ich bin einsam, aber ich habe das sichere Gefühl, von der Vorsehung geführt zu werden. Manchmal muß ich ein Gitter sachte umschreiten, hinter dem sich ein Garten befindet. Man darf ihn nicht betreten. Ich beneide die Straßenbahnen, die flott und frisch über grüne Rasen in der Mitte der Fahrbahn dahingleiten dürfen. Eigens für sie hat man die Rasen angelegt, als waren sie Tiere, aus der saftigen grünen Natur nach Berlin gebracht, und als müßte man ihnen, ähnlich wie den Tieren im Zoologischen Garten, ein kümmerliches Bischen von ihrem Milieu vortäuschen. Manchmal befindet sich hinter dem Gitter allerdings kein Rasenbeet, sondern ein Kiesbeet. Von Ziegeln eingefaßt, in flacher Erhabenheit, tragt es lauter kleine Steinchen, bei deren Anblick es zwischen den Zahnen knistert. Ich wüßte gerne, wer diese steinerne Flora erfunden hat und ob man die Kieselsteine täglich begießt, damit sie nicht verdorren. Über den Asphalt, parallel mit den Straßenbahnschienen im Rasen, rattern die Autobusse und die Automobile, um Verkehrsstockungen zu verursachen. Oft gelingt es ihnen erst mit Hilfe der Verkehrsampeln, die automatisch rot, gelb und grün aufleuchten, ohne ersichtliche Ursache. Sie hängen an Drahten in der Luft, überall, wo durch Querstraßen eine Kreuzung entstanden ist, Augen, die leuchten, aber blind sind. Wenn sie böse sind, werden sie rot, und wenn ihr Zorn verraucht, werden sie grim. Wenn sie rot sind, müssen die Gefährte stehenbleiben. Manch mal gelingt es den Verkehrsampeln, zur richtigen Zeit rot zu werden, das heißt: wenn aus den Querstraßen ein paar Lastautomobile kommen. Meist aber werden sie schon zornig, wenn auch nur ein Radfahrer aus einer Querstraße kommt oder ein Mann mit einem Karren. Selbst die Schutzleute, die doch ohne Zweifel das Gesetz vertreten, sind ohnmächtig gegenüber den Ampeln in der Höhe, den wirklichen Augen des Gesetzes, mit denen verglichen die Augen der Polizisten nur eine Metapher sind.

    Manchmal unterbrechen die Reihe der Wohnhäuser Kaffeehäuser, Kinos und Theater. Sie sind es eigentlich, denen der Kurfürstendamm seine Bedeutung als Verkehrsader zu verdanken hat. Gott weiß, was er ohne sie wäre! Deshalb sind sie unaufhörlich bemüht, seine Größe zu heben. Da sie seine Ansprüche auf internationale Bedeutung kennen, streben sie nach Internationalist. Ein Gasthaus wird amerikanisch, ein Kaffeehaus französisch. Zwar sieht es niemals aus wie in New York oder in Paris. Aber es weckt Reminiszenzen an dieses oder jenes. In ihrer Bescheidenheit halten sie sich nur für gelungene Imitationen, aber sie sind in Wirklichkeit mißlungene Originale. Im amerikanischen Restaurant sind die Speisekarten englisch. Wahrscheinlich ist die Muttersprache der Gäste sozusagen Deutsch, aber ihre Umgangssprache wechselt nach Laune und Vergnügungsort.

    Es kommt ihnen nicht darauf an, sie verstehen auch Englisch. Im französischen Kaffeehaus sitzen sie draußen, auf der »Terrasse«, frieren und fühlen sich pariserisch. Ja, sie sind noch mehr als pariserisch, weil sie es in Berlin sind. Offenbar infolge einer baupolizeilichen Verfügung müssen die Terrassen eingezäunt sein und deutlich von der Straße abgegrenzt. Nun unterscheidet sie gerade diese Abgeschlossenheit von den Pariser Terrassen. Aber es kommt auf die Ähnlichkeiten an und nicht auf die Unterschiede. Auf manchen Terrassen leuchtet ein violettes Licht, das an Totenkammern erinnert. Trotzdem lacht man bei dieser Beleuchtung. Aus dem Zusammenstoß der Leute, die von den Terrassen kommen, mit den andern, die zu den Terrassen gehen, ergibt sich dann das Leben und Treiben der Fußgänger. Wenn sie die Strafte überqueren wollen, begeben sie sich zu einer Kreuzung. Haben sie Glück, sind die Ampeln gerade grün, und sie gelangen ungehindert auf die andere Seite, wo ebenfalls Terrassen lagern.

    An den Rändern der Bürgersteige stehen Bäume und vor den Gittern Zeitungshändler. Die Nachrichten sind schauderhaft. Die Zeitungen sind schneller als die Zeit, nicht einmal das Tempo, das sie selbst erfunden haben, kann ihnen nachkommen. Atemlos rennt der Nachmittag dem Spätabendblatt nach und der Abend dem Morgenblatt vom Morgen. Die Mitternacht sieht sich bereits mit Schrecken vom morgigen Nachmittag überholt und hofft inbrünstig auf einen Streik der Setzer, um sich einmal in Ruhe wie eine Mitternacht betragen zu dürfen. Auf diese Weise erstreckt sich der Kurfürstendamm rastlos Tag und Nacht. Auch wird er renoviert. Man muß diese zwei konkreten Eigenschaften deutlich hervorheben, weil er von Stunde zu Stunde sozusagen Moleküle seiner Körperlichkeit an seinen kulturhistorischen Charakter abgibt. Obwohl er nicht aufhört, eine »wichtige Verkehrsader« zu sein, ist es doch, als wäre es nicht sein Ziel, zu einem Ziel zu führen, sondern, so lang er sich auch erstrecken mag, ein Ziel zu sein. Befände sich dort, wo er aufhört, nicht eine andere Strafte, er wäre imstande, sich noch weiterhin zu erstrecken. Ohnedies sind seine Dimensionen schrecklich genug. Seine furchtbare Fähigkeit, sich unaufhörlich zu erneuern, zu »renovieren« also, widerspricht allen natürlichen Gesetzen von Jung-Sein und Alt-Werden. Seit langem bemühe ich mich, das Geheimnis zu erraten, das ihn befähigt, trotz jedem jähen Wechsel seiner Physiognomie doch noch erkennbar zu bleiben, ja sogar immer mehr Kurfürstendamm zu werden. Unwandelbar ist seine Wandelbarkeit. Langmütig ist seine Ungeduld. Beharrlich seine Unbeständigkeit. Eine launenhafte Laune der Schöpfung, konnte man sagen, wäre die Annahme gestattet, daß sie ihn gewollt hat . . .

    Dies scheint aber leider nicht der Fall zu sein.

    Münchner Neueste Nachrichten, 29.9. 1929

    Bildquelle: http://www.kurfuerstendamm.de/berlin/historie/historie_weimar

    P.S. Die Qualität der OCR von archive.org ist eher schlecht, so daß dieser Text mit der Rechtschreibkorrektur von Libreoffice (alte Rechtschreibung von 1901) korrigiert und anschließend erneut durchgesehen wurde. Für Hinweise auf weiterhin vorhandene Fehler bin ich dankbar.

    #Berlin #Charlottenburg #Kudamm #Geschichte #20ger #Literatur #Joseph_Roth #Kurfürstendamm #Gloria_Palast

  • Der ukrainische Nationalismus - ein deutsches Patent
    https://archive.org/stream/JosephRothWerke3/RothjWerke3#page/n885/mode/2up/search/%22ukrainische+Nationalismus%22

    Der moderne ukrainische Nationalismus ist ganz jungen Datums, obwohl die Ukrainer und viele von jenen, die in der letzten Zeit, aus Gründen der Aktualitat, über dieses Volk zu schreiben pflegen, das ehrwürdige Alter des ukrainischen Nationalbewußtseins betonen.

    Das nationale »Erwachen« der Ukrainer, um es mit einem neudeutschen Wort zu kennzeichnen, ist in der österreichisch-ungarischen Monarchie erfolgt, wo überhaupt, ja, dank der falschen Politik der deutschsprachigen Österreicher, nationalistische Instinkte der anderen Volker gediehen. Das ukrainische Nationalbewußtsein ist keineswegs älter als der Herzlsche Zionismus zum Beispiel: Und ebenso wie dieser, ist er das Werk einer intellektuellen oder halb-intellektuellen, sehr dünnen Oberschicht. Weniger noch als die Zionisten, denen das tausendjahrige Leid ihres Volkes und dessen uralte, religiös bedingte Abgeschlossenheit, ihre Arbeit leichter machten, konnten die ukrainischen Fahnenträger des nationalen Gedankens eine entscheidende Legitimität für sich in Anspruch nehmen. Aber ähnlich wie der Herzlsche Zionismus - wohlgemerkt kein anderer als dieser; denn es gibt mehrere »Zionismen«, wie man weiß - beruhte auch der ukrainische Nationalisms auf einem Widerstand, nicht auf einer spontan-positiven Idee.

    Die Ukrainer oder Ruthenen, wie sie im alten Österreich hießen, wurden aus einer Art sozialem Minderwertigkeitsgefühl »bewußte« Ukrainer. Jahrzehntelang war unter ihnen der soziale Aufstieg gleichbedeutend mit einer Polonisierung, einer Assimilation an das polnische »Herren-Volk«. Der ukrainische oder ruthenische Apotheker, Gymnasiallehrer, Advokat usw. ging geradezu selbstverständlich von der griechisch-unierten Kirche zur römisch-katholischen über. Der römische Katholik war im alten Galizien gleichsam Pole. Griechisch-katholisch war ein Synonym fur ruthenisch. Römisch-katholisch eins für polnisch. Es gab auch Mischehen: Die Söhne, die ihnen entsprossen, waren polnisch und römisch, die Tochter, also das politisch und sozial schwächere Element, gewöhnlich ruthenisch und griechisch. Die in Rußland lebenden Ukrainer aber waren orthodox. Sie sprachen auch ein anderes Ukrainisch als die galizischen Stammesgenossen. Und wenn sie » sozial emporgestiegen« waren, das heißt: intellektuelle Berufe ergriffen, russifizierten sie sich vollständig.

    Es ist kein Zufall, daß die Ukrainer nur einen einzigen Dichter von Bedeutung aufzuweisen haben: namlich Sawezenko. Aber auch der hat sich als ein im Dialekt schreibender Russe gefühlt. Wollte man ihn, wie es die Ukrainer tun, als Nicht-Russen bezeichnen, so wäre zum Beispiel auch Mistral kein Franzose und Fritz Reuter kein Deutscher. Das Provenzalische ist dem Französischen weiter als das Ukrainische dem Russen.

    Den Anstoß zum Erwachen des ukrainischen Nationalgedankens gaben immer die Deutschen; die Deutschen Österreichs und die Deutschen aus dem Reich. Ich weiß von meiner Tätigkeit als zeitweiliger Berichterstatter aus Polen und Rußland her, daß die Wilhelmstraße die ukrainischen Separatisten in Polen mit Waffen, Geld und Propaganda ebenso unterstützt hat wie das Ministerium Tschitscherins. Es ist nicht anzunehmen, daß Deutschland, auch in seiner Form als »Drittes Reich«, die Beziehungen zu den polnischen Ukrainern abgebrochen hat: Beziehungen, die zu einer bereits sehr würdigen Tradition deutscher Außenpolitik geworden sind: trotz der zeitweiligen und problematischen Freundschaft zwischen Beck und Neurath-Ribbentrop. Auch heute, wie zu Zeiten »Schwarzer Reichswehr«-Politik, gehen deutsche Waffen und Gelder nach Lemberg. Und während Göring den Polnischen Eber schießt, geht eine ganz andere Munition deutschen Ursprungs an die Herren, die Lewicki, Gargasch und Kanink und noch anders heißen.

    Die Zukunft (Paris), 13. 1. 1939

    in Joseph Roth, Werke 3, Das journalistische Werk, 1929-1939, Büchergilde Gutenberg, Frankfurt am Main 1989, Seite 874 ff

    #histoire #nationalisme #Ukraine #Pologne #Russie #Autriche #auf_deutsch #Joseph_Roth

    • Merci, c’est bien l’orthographe que tu as retenue qui est dans le livre. Je ne vois pas qui ça peut être d’autre que Taras Grigorovitch Chevtchenko (considéré en effet aujourd’hui comme véritable héros national en Ukraine, oups Taras Hryhorovytch Chevtchenko).

      Les transcriptions en alphabet latin des langues slaves sont toujours compliquées et… variées.
      Шевченко, Chevtchenko [fr], Schewtschenko [de] (avec variante dans WP Ševčenko (je pense pour une version de celle-ci où les carons (antiflexes) auraient disparu pour cause d’absence dans la casse du type…), Shevchenko [en]…