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  • jungle-world.com - 15/2016 - Dan O’Hara über die Einführung automatisierter Rechtsprechung
    http://jungle-world.com/artikel/2016/15/53822.html

    Die Oxford-Professoren Carl Frey und Michael Osbourne haben 2013 eine Studie veröffentlicht, derzufolge 47 Prozent der Jobs in den kommenden 25 Jahren automatisiert werden. Die bisherigen Studien beziehen sich vor allem auf den US-amerikanischen Raum. Inwiefern lassen sich diese Prozesse auf andere Arbeitsmärkte übertragen?

    Die Oxford-Studie für den US-Markt lässt sich nicht eins zu eins auf Deutschland, Großbritannien, China, Indien oder Brasilien anwenden. Nicht alle Länder sind denselben Bedrohungen durch algorithmische Automatisierung ausgesetzt. Nehmen wir ein praktisches Beispiel: Das britische Justizsystem beruht vor allem auf bürgerlichem Recht, auf Urteilen und Fallbeispielen. Im Gegensatz zum deutschen Rechtssystem ist es nicht wirklich kodifiziertes Recht im Sinne des Gesetzbuchs. Daraus folgt, dass verschiedene Systeme nicht in gleichem Maße anfällig sind. Kodifiziertes Recht ist zwangsläufig anfälliger für algorithmische Automation als bürgerliches Recht.

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    Der Übersetzer des Interviews spricht vom „bürgerlichem Recht“, das „auf Urteilen und Fallbeispielen“ beruhe. Das ist natürlich Quatsch, denn das bürgerliche Recht, der „code civil“ beruht eben nicht auf der Entwicklung der Rechtsnormen aus Fallentscheidungen, sondern auf (mehr oder weniger) klaren Ansagen des Gesetzgebers, der Nationalversammlung.

    O’Hara meint, daß in die Rechtspraxis des civil law leichter automatisiert werden kann als die Rechtspraxis des common law .
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    Ich bin nicht einverstanden mit O’Haras Behauptung, das Richterrecht des common law wäre stärker immun gegen die Einführung einer automatisierten Rechtsprechung als das gesetzbasierte civil law . Ob das gemacht wird, wann und in welcher Form ist zunächst eine Frage der gesellschaftlichen Kräfteverhältnisse. Ob algorithmische Lösungen aus Begriffen des civil law oder des common law entwickelt werden, ist dann eine technische Frage, die im Rahmen des software engineering bearbeitet wird.

    Der Philosoph denkt ein bischen abgehoben. Kommen wir deshalb wieder runter auf die Straße und sprechen über Konkretes.

    Wir kennen automatisierte Abläufe in der Rechtspraxis aus dem Vereinigten Königreich ebenso wie aus Frankreich und Deutschland. Ich meine die Tickets wegen zu schnellen Fahrens und die für Rotlichtverstöße. Solange man sich nicht resolut gegen die Sanktionen wehrt, wird automatisch gemessen, sanktioniert, gemahnt und die Ausführung der Sanktion ebenso automatisch kontrolliert. Alles folgt einem algorithmisch beschriebenen Workflow.

    Uns interessiert hier, wie weit die Automatisierung greift, und unter welchen Voraussetzungen sie durchbrochen wird, also die Beurteilung und Interpretation von Tatsachen, Ereignissen und Gesetzen in Menschenhand liegt.

    Das hängt mehr oder weniger vom Geldbeutels der Betroffenen ab, davon was es kostet, die Angelegenheit vor Gericht zu bringen. In Großbritannien werden zunächst ca. 3200 Euro für den Anwalt fällig, denn vor Gericht darf man nicht selber vortragen, das geht nur über einen sollicitor . In Frankreich ändert sich der Wert kleiner Knöllchens für eine Geschwindigkeitsübertretung um 4 km/h von ca. 100 Euro auf ca. 300 Euro, sowie man Widerspruch einlegt. Das funktioniert wie beim Pokern, wer genug Geld hat und sich gute Chancen ausrechnet, der geht mit. In Deutschland ändert sich durch einen Widerspruch nichts an der Höhe des Bußgelds, aber es kommen Verwaltungs- und Gerichtsgebühren hinzu, wenn man im Verfahren unterliegt.

    Das Beispiel zeigt, wie die Praxis O’Haras Position widerlegt. Ich vermute, daß sogar das genaue Gegenteil seiner These zutrifft.

    Die extrem abstrakte Begründung der „Gleichheit vor dem Gesetz“, welche sich, entwickelt aus Vorstellungen des antiken Pandektenrechts und des Preußischen Landrechts, im heutigen BGB findet, führt dazu, dass wir deutschen Prinzipienreiter Einschränkungen unseres Anspruchs auf rechtliches Gehör wie in der französischen oder britischen Praxis nie akzeptieren würden. Eine Sanktion darf sich nicht dadurch ändern, daß sie infrage gestellt wird.

    Dieser Anspruch auf ungehinderten direkten, persönlichen Zugang zu rechtlichem Gehör auch für „Kleinigkeiten“ unterscheidet unser Rechtssystem wesentlich vom angelsächsischen und französischen. Dort schwächen Vorstellungen von Subsidiarität und Moralität die Position des Einzelnen gegenüber staatlichen Maßnahmen.

    In der Folge sind die Hürden für die Durchsetzung einer algorithmenbasierten Rechtspraxis in Deutschland höher als in den anderen mir bekannten Ländern der Welt.

    Wir wissen, wie stark die Hegel, Eichhorn, Grimm, Beseler, Carmer, Dernburg, Gierke, Savigny, Suarez, Windscheid und Kollegen die Berliner Viertel prägen, alles Juristen und Philosophen, die vom ausgehenden achtzehnten Jahrhundert bis hinein ins Kaiserreich Axiome, Definitionen, Rechtslogik und -bewußtsein für die bürgerliche Gesellschaft entwickelt und kodifiziert haben. Nur wer sie radikal in Frage stellt oder ihre Vorstellungen abschafft, wie es die Nazis mit dem Führerprinzip getan haben, wird die juristische Zunft auf angelsächsisches Niveau reduzieren und durch Algorithmn ersetzen können.

    Hier schließt sich der Kreis vom common law als Rechtstradition des britischen Imperialismus über die protofaschistischen Ideen der Ayn Rand zu ihren Jüngern, den Helden von Silicon Valley.

    Manchmal ist Deutschsein verhältnismäßig O.K. oder ?

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    Georg Wilhelm Friedrich Hegel
    https://de.wikipedia.org/wiki/Georg_Wilhelm_Friedrich_Hegel
    https://berlin.kauperts.de/Strassen/Hegelplatz-10117-Berlin

    Friedrich Eichhorn
    https://de.wikipedia.org/wiki/Friedrich_Eichhorn
    https://berlin.kauperts.de/Strassen/Eichhornstrasse-10785-Berlin
    https://berlin.kauperts.de/Strassen/Eichhornstrasse-12621-Berlin

    Brüder Grimm
    https://de.wikipedia.org/wiki/Br%C3%BCder_Grimm
    https://berlin.kauperts.de/Strassen/Grimmstrasse-10967-Berlin
    https://berlin.kauperts.de/Strassen/Grimmstrasse-12305-Berlin

    Hans Hartwig von Beseler
    https://berlin.kauperts.de/Strassen/Beselerstrasse-12249-Berlin

    Er war der Sohn des Juristen und Führers des rechten Zentrums in der Frankfurter Nationalversammlung Georg Beseler. Sein Bruder Max Beseler war von 1905 bis 1917 preußischer Justizminister.

    https://de.wikipedia.org/wiki/Georg_Beseler
    https://de.wikipedia.org/wiki/Max_von_Beseler

    Johann Heinrich von Carmer
    https://de.wikipedia.org/wiki/Johann_Heinrich_von_Carmer
    https://berlin.kauperts.de/Strassen/Carmerstrasse-10623-Berlin

    Heinrich Dernburg
    https://de.wikipedia.org/wiki/Heinrich_Dernburg
    https://berlin.kauperts.de/Strassen/Dernburgstrasse-14057-Berlin

    Anna von Gierke
    https://berlin.kauperts.de/Strassen/Gierkezeile-10585-Berlin
    https://de.wikipedia.org/wiki/Anna_von_Gierke

    Sie war die Tochter des Rechtslehrers Otto von Gierke, der 1911 geadelt wurde und 1921 in Charlottenburg verstarb.

    https://de.wikipedia.org/wiki/Otto_von_Gierke

    Friedrich Carl von Savigny
    https://berlin.kauperts.de/Strassen/Savignyplatz-10623-Berlin
    https://de.wikipedia.org/wiki/Friedrich_Carl_von_Savigny

    Carl Gottlieb Svarez
    https://berlin.kauperts.de/Strassen/Suarezstrasse-14057-Berlin
    https://de.wikipedia.org/wiki/Carl_Gottlieb_Svarez

    Bernhard Windscheid
    https://berlin.kauperts.de/Strassen/Windscheidstrasse-10627-Berlin
    https://de.wikipedia.org/wiki/Bernhard_Windscheid

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    Allgemeines Landrecht für die Preußischen Staaten
    https://de.wikipedia.org/wiki/Allgemeines_Landrecht_f%C3%BCr_die_Preu%C3%9Fischen_Staaten

    Pandektenwissenschaft
    https://de.wikipedia.org/wiki/Pandektenwissenschaft

    Bürgerliches Gesetzbuch
    https://de.wikipedia.org/wiki/B%C3%BCrgerliches_Gesetzbuch

    Code civil
    https://de.wikipedia.org/wiki/Code_civil

    Common Law
    https://de.wikipedia.org/wiki/Common_Law

    Civil law / Römisch-germanischer Rechtskreis
    https://de.wikipedia.org/wiki/Rechtskreis#R.C3.B6misch-germanischer_Rechtskreis

    Challenging a Speeding Finehttp://www.nopenaltypoints.co.uk/challenging-speeding-fine.html

    Only 1% of motorists actually challenge their speeding tickets. The £2,500 cost to hire a solicitor to challenge a speeding fine may be one of the reasons why people do not usually challenge the tickets.

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    #disruption #Recht #Justiz #Hegelplatz #Eichhornstraße #Grimmstraße #Beselerstraße #Carmerstraße #Dernburgstraße #Gierkezeile #Savignyplatz, #Suarezstraße #Windscheidstraße

  • jungle-world.com - Archiv - 15/2016 - Thema - Dan O’Hara im Gespräch darüber, wie künstliche Intelligenzen die Arbeitswelt verändern werden
    http://jungle-world.com/artikel/2016/15/53822.html
    Der Philosoph Dan O’Hara beschreibt im Interview die politischen und wirtschaftlichen Gefahren der sogenannten Digitalisierung.

    »Hey, du fährst einen LKW, du solltest dir Sorgen um deinen Beruf machen.«

    Arbeitsplätze im Transportsektor scheinen am stärksten von der Automatisierung durch KI bedroht.

    Absolut. Uber zum Beispiel hat als Unternehmen eine spezielle Nische ausgemacht: Leute, die Zeit haben, Autofahren können und ihr eigenes Fahrzeug besitzen. Sie fahren zu einem Preis, der unter dem der Taxifahrer liegt, und treten einen Anteil an Uber ab. Uber benutzt also eine Form von Automatisierung der nächsten Generation, um, so würden sie argumentieren, den Mobilitätsprozess zu optimieren. In London müssen Taxifahrer einen legendär schwierigen Test – »The Knowledge« – bestehen. Man muss London wie seine Westentasche kennen, um Taxi fahren zu dürfen. Uber nutzt ein relativ einfaches System aus Satellitennavigation, Smartphones und GPS, rudimentäre Formen Künstlicher Intelligenz also, und spricht von der Disruption des Taximarktes. Erst jetzt begreifen Taxifahrer, was für eine enorme Bedrohung dieses System für ihren Lohnerwerb und die erlernte Qualifikation darstellt.

    Ist es ein mögliches Szenario, dass die Taxibranche auf lange Sicht komplett einem Uber-System weicht?

    Die Frage ist, ob es es möglich ist, Uber-Fahrer in Vollzeit zu sein. Kann man damit seinen Lebensunterhalt bestreiten, seine Familie ernähren, in derselben Form wie ein Taxifahrer? Das ist nicht möglich, da das Geschäftsmodell darauf basiert, einen bereits am Boden liegenden Geschäftszweig preislich zu unterbieten. Douglas Rushkoff beschreibt in seinem Buch »Throwing Rocks at the Google Bus« den amerikanischen Mythos des ständigen Wachstums. Jede Industrie müsse konstant wachsen, um zu bestehen. Damit verknüpft ist die Bedrohung durch Automatisierung.

    Rushkoff verdeutlicht, wie viele dieser vermeintlich disruptiven Firmen vor allem den lokalen Handel untergraben, indem sie Monopole erschaffen. Das ist ein sehr altmodisches Geschäftsverhalten.

    Uber besitzt nichts, es beschäftigt diese Menschen nicht im Sinne eines Arbeitgebers. Uber-Fahrer haben keine Sicherheiten, die normalerweise mit einer Anstellung einhergehen – keine Rente, keine Zuschüsse, keine gesicherten Arbeitsplätze. Man macht es nebenher, wenn man einen halben Tag oder 16 Stunden Zeit hat. Uber stellt keine Karriere, keinen Beruf in Aussicht. Die deutsche Idee des steuerfreien 400-Euro-Jobs ist nicht viel anders.

    Mehr zu Dan O’Hara

    Eigene Webpräsenz von Dan O’Hara
    http://danohara.co.uk

    Autorenseite des Guardian
    http://www.theguardian.com/profile/dan-o-hara

    How bots are taking over the world
    http://www.theguardian.com/commentisfree/2012/mar/30/how-bots-are-taking-over-the-world

    We’ve started to see numbers of humans pretending to be bots, a strange development that signals a shift in the power and identity politics of the internet. Ronson had a bot pretending to be him, which is annoying. But following the release of Ronson’s videos, we have been confronted by Twitter versions of ourselves – @dan_o_hara, @lookrobertmason – accounts that are humans, pretending to be bots, pretending to be us. In such an online environment, where your true identity is reduced to an algorithmically generated collage, and where humans – already an endangered species – are simulating machines, it’s hard to say if being “you” online has any real meaning.

    #disruption #Uber #Taxi #Digitalisierung