« Kreta ist für mich Musik »

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  • Und was macht ihr?
    http://www.jungewelt.de/m/artikel/288170.und-was-macht-ihr.html

    Das verbotene Wort Revolution denken. Mit Mikis Theodorakis unterwegs in Kreta
    Von Asteris Kutulas

    3. Juni – Kreta, eigentlich

    Das Flugzeug von Athen nach Chania ist voll. Mein Sitznachbar zur Rechten erklärt mir: »Kreta gehört eigentlich nicht zu Griechenland. Kreta ist das eigentliche Griechenland.« Links neben mir sitzt Anastassia, eine griechische Lyrikerin, die aus demselben Grund wie ich nach Kreta fliegt. Sie meint: »Vielleicht ist das seine letzte Reise. Da muss man dabeisein.« Vorn in der ersten Reihe sitzt der fast 91jährige Mikis Theodorakis mit seiner Tochter Margarita und seiner Assistentin Rena. Am Telefon hatte er mir gesagt: »Ich muss checken, ob sie mein Grab richtig bemessen haben. Ich bin 1,97 groß, und ich will nicht, dass sich während meiner Beerdigung plötzlich herausstellt, dass das Grab zu kurz ist.« Die griechische Ikone Theodorakis fliegt nach Kreta, in das Land seiner Vorfahren, um in Galatas, dem Vorort von Chania, das zukünftige Theodorakis-Museum zu besichtigen, das im Haus seiner Eltern eingerichtet wird.

    Gleich nach meiner Ankunft besuche ich Stelios Lainakis. Einer der bedeutendsten Erforscher kretischer Musik. Der Taxifahrer, der mich zu ihm hinbringt, fragt mich, ob ich auf die Quittung verzichten kann: »Dann verdiene ich wenigstens was. Die Mehrwertsteuer ist auf 24 Prozent erhöht worden, Benzin ist teurer geworden und auch die Wartung. Weißt du, wieviel hängenbleibt bei mir als Fahrer von den 25 Euro? 3,50 Euro! Die Krise frisst uns alle auf.«

    Stelios Lainakis zeigt mir die Instrumente, die er entweder geerbt oder selbst gebaut hat: Laute, Bouzouki, Saz, Bulgari, Gitarren. Dann holt er seinen Sohn Leonidas, der ebenfalls Instrumentenbauer und Musiker ist, und sie spielen mir eine »Mantinada«, ein kretisches Volkslied, für Mikis vor. »Du nimmst das jetzt auf und spielst ihm das vor. Ist das klar?« Als sie fertig sind, sagt er zu mir: »Diese Mantinada hat einer meiner Onkel geschrieben, der wie Mikis erst gegen die deutsche Wehrmacht und dann im Bürgerkrieg Ende der 1940er gegen die Engländer gekämpft hat. Also genau wie Mikis. Er wird jedes Wort des Liedtextes verstehen.« Und dann voller Stolz: »Weißt du, was Mikis auf der Todesinsel Makronisos seinen Folterern entgegnete, als er die Reueerklärung unterschreiben sollte? Er hat nicht gesagt: Ich unterschreibe nicht, weil ich Kommunist bin. Sondern er hat gesagt: Ich unterschreibe nicht, weil ich Kreter bin.«
    4. Juni – Licht in dunklen Tagen

    Das Theodorakis-Museum in Galatas ist noch lange nicht fertig. Es zeigt sich, dass bisher nur die Arbeiten an der äußeren Hülle so weit fortgeschritten sind, dass man sagen kann: In Ordnung. Aber sowohl die Stadt Chania als auch der griechische Komponist wollen ein Zeichen setzen für die Zukunft. Der Bürgermeister von Chania erklärt: Wie Salzburg die Stadt Mozarts und Bayreuth die Stadt Richard Wagners ist, so soll Chania die Stadt Mikis Theodorakis’ werden. Chania legt am heutigen Tag ihrem berühmtesten Sohn alles zu Füßen, was sie hat: Ehrenbürgerschaften, Auszeichnungen der Präfektur, Auszeichnungen der Universitäten Kretas, Ehrendoktorwürde.

    Mikis dankt mit einer Rede. Ganz langsam, Satz für Satz, liest er aus Perikles’ Gefallenenrede, die in Thukydides’ Geschichte des Peloponnesischen Krieges überliefert ist. Über Demokratie. Über Freiheit. Über Bürgerrechte. Zu jedem Absatz macht Mikis eine Anmerkung im Hinblick auf die gegenwärtige Situation. Er erzählt: »Als ich 1967 gefangengenommen wurde, hielt man mich 60 Tage in Einzelhaft fest, in der Sicherheitszentrale in der Athener Bouboulinastraße, und kurz vor dem Tribunal durfte ich meinen Vater sehen, wovon man sich erhoffte, dass er mich zur Räson bringen würde. Ich sollte meinen Überzeugungen abschwören. Als man uns zusammenbrachte, sagte der zuständige Offizier zu meinem Vater: ›Herr Theodorakis, Ihr Sohn wird angeklagt nach dem Paragraphen 447 des Kriegsrechts.‹ Mein Vater: ›Können Sie mir das bitte bringen?‹ Er schlug die entsprechende Seite langsam auf, sah mich an und sagte: ›Mein Sohn, das ist ein Kriegsrechtsgesetz, und es steht darunter: Kann zur Verurteilung zum Tode führen.‹ Er schaute den Offizier an. Dann, wieder mir zugewandt: ›Du hast meinen Segen.‹«

    Er sieht seinen Zuhörern in die Augen: »Haben wir heute Demokratie in unserem Land? Nein. Verhalten wir uns gastfreundlich gegenüber den Fremden? Nein.« Wie wehrhaft ist unsere Demokratie? Wie weit kann oder muss man gehen, um sie zu verteidigen? Er hat zwei Botschaften für die Zuhörer im Saal: »Sie haben euch eure Unabhängigkeit genommen. Sie haben euch eure Demokratie genommen. Sie haben euch euer Geld genommen. Und was macht ihr? Ihr geht zum Strand, trinkt einen Kaffee und vergnügt euch.« Und in Anlehnung an Perikles’ Aussagen, dass die Athener »Kampf und Tod für besser hielten als Unterwerfung und Leben« sagt er: »Ich verfluche meine Beine, weil sie mich nicht mehr tragen können und weil ich keine Kalaschnikow mehr halten kann, um mich zu verteidigen. Ihr müsst Widerstand leisten. Ihr müsst wieder das verbotene Wort Revolution denken.« Im Saal wird es noch stiller. 75 Jahre zuvor, Ende Mai 1941, fand die Luftlandeschlacht um Kreta statt. Wer auf Kreta lebt, lebt schon immer im Widerstand, vor 1941 und danach. Bevor deutsche Fallschirmjäger kamen und danach.

    Nach etwa fünfzig Minuten beendet Theodorakis seine Rede. Im Saal braust Beifall auf, und die Kulturbeauftragte der Stadt Chania schluchzt ins Mikrofon: »Danke, Mikis, für dein Licht in diesen dunklen Tagen.«
    5. Juni – Bürgerkriegsland

    Im Auto, unterwegs zu einem großen Konzert zu Ehren von Theodorakis am Fuße des Weißen Gebirges, meint Stathis: »Wir hier auf Kreta haben alles. Selbst der Menschenschlag ist hier ein anderer. Wir könnten unser eigenes Ding machen.« Giorgos widerspricht: »Quatsch! Wir sind Griechen. Wir gehören zu Griechenland.« Und zu mir gewandt: »Das Problem, das viele Griechen mit Mikis haben, offenbart das ganze Dilemma Griechenlands. Er gehört seit den 50er Jahren zu den wenigen – und manchmal war er auch der einzige –, die die Entzweiung unseres Volkes in die Bürgerkriegsparteien, in Linke und Rechte, niemals hinnehmen wollten. Parteigrenzen waren ihm egal. Er wollte, dass die Griechen sich vereinigen, unabhängig davon, ob sie links oder rechts sind, um ein demokratisches und unabhängiges Land aufzubauen. Aber das war über Jahrzehnte das Schlimmste, was man in Griechenland denken und äußern konnte. Griechenland ist bis heute ein Bürgerkriegsland geblieben.«
    6. Juni – Mosche Dajan in Athen

    Ich besuchte heute noch einmal Mikis nach unserer Rückkehr in Athen. Die Kreta-Reise hat ihn verjüngt. Er strahlt. Er spricht und spricht – wie früher: »Es geht natürlich nicht um einen bewaffneten Widerstand, das ist absurd. Aber es geht um die innere Haltung der Menschen. Es geht um unsere nationale Souveränität, die wir längst verloren haben. Es sind neue Arten von Diktaturen, auf die wir uns jetzt einstellen müssen. Wie überlebt Demokratie unter solchen Umständen, denen wir jetzt ausgesetzt sind? Während der Diktatur zwischen 1967 und 1974 waren die Dinge eindeutig. Als die Obristen am 21. April 1967 putschten, war das eine Militärdiktatur nach altem Muster, die errichtet wurde. Ich erinnere mich, dass Mosche Dajan, der damals in Athen war, einen Tag nach dem Putsch meine Frau aufsuchte und sie bat, ein Treffen mit mir möglich zu machen. Ich lebte in der Illegalität, war untergetaucht. Zwei Tage später kam es zu diesem Treffen, und Mosche Dajan (der einige Wochen später als Verteidigungsminister in Israel den Sechstagekrieg entscheiden sollte) sagte zu mir: ›Mikis, lass uns zusammen den Widerstand gegen die Junta in Griechenland aufbauen! Du übernimmst die politische Arbeit, und ich werde den militärischen Flügel der Befreiungsorganisation PAM leiten.‹ Ich erwiderte: ›Mosche, das ist keine gute Idee. Wenn das bekannt wird, haben wir alle Geheimdienste der Welt am Hals. Ich bleibe hier in der Illegalität, und du gehst zurück nach Israel und machst Druck gegen die griechische Junta in der israelischen Öffentlichkeit und bei der Regierung.‹ Damals waren die Dinge klarer. Das Feindbild war klarer. Heute gleiten wir in einer ›verschwommenen Situation‹ in die Diktatur hinein bzw. aus der Demokratie heraus.«
    11. Juni – Rhythmus und Klang

    In einem Spiegel-Artikel lese ich die Aussage einer deutschen Studentin: »Allein kann man viel mehr bewegen als mit einem störenden Apparat im Hintergrund«. Eine andere sagt, sie wolle sich nicht als Parteimitglied engagieren, sondern als Mensch. Mikis verhielt sich irgendwie immer wie diese »Jugend von heute«.

    Ich höre, es ist frisch in Chania. Aus Deutschland haben sich die Unwetter verzogen, in Frankreich hat die Europameisterschaft begonnen. Es wird Sommer. In ein paar Wochen hat Theodorakis wieder Geburtstag. Widerstand ist eine Sache von Rhythmus und Klang einer »Mantinada«. Das erfährt man, wenn man auf Kreta ist.

    cf. http://seenthis.net/messages/500013

    Zatouna und das Mikis-Theodorakis-Museum
    http://www.argolis.de/Lousios/theodorakis_museum.htm

    Museum Mikis Theodorakis in Vrakades
    http://www.visitikaria.gr/en/discover/museums/museum-mikis-theodorakis

    Museum Mikis Theodorakis
    https://theodorakisfriends.com/articles/museum-mikis-theodorakis

    The Museum of Mikis Theodorakis is located in the village Vrakades. It is actually the old stone house of Mikis Theodorakis, known as the “House with scorpions.” An old Ikarian farmhouse that hosted the famous music composer and his companions, during his exile on the island. This house is now a museum and has been oficially recognized by the Greek state, as listed building. It includes many exhibits of his everyday life during his exile.

    „Kreta ist für mich Musik“ | Merian
    http://www.merian.de/artikel/kreta-ist-fuer-mich-musik

    Mikis Theodorakis spricht über die Insel seiner Väter und über die Musik. Über die Lieder aus den Weißen Bergen, die sein Werk geprägt haben.

    „Das Glück der Heimkehr“

    Kreta, die mythische Insel, die mein Vater Georgios als junger Mann verlassen hatte, um draußen in der Welt seinen Weg zu finden, habe ich selbst erst spät richtig kennengelernt. Ich wurde ja auf Chíos geboren. Es war 1949, als ich, von der wüsten, baumlosen Gefängnisinsel Makrónissos kommend, voller Sehnsucht und Freude das grüne Land meiner Vorfahren betrat. Mein Vater und die Familie waren Jahre zuvor, also während des Bürgerkrieges, nach Kreta zurückgekehrt. Ich wollte sie wiedersehen, nach so vielen furchtbaren Monaten, die ich im Lager überstanden hatte. Nie habe ich vergessen, dass ich Kreta riechen konnte - noch bevor ich seine Küste vom Schiff aus sah. Es duftete nach Zitronen und Orangen. Nebel lagen über dem Wasser und dann, endlich, tauchten aus dem warmen Dunst des Oktobers die hellen Gipfel der Lefká Óri, der Weißen Berge, auf. Es war einer der wunderbarsten Momente meines Lebens. Ich bin auch heute, mit meinen 85 Jahren, zuallererst ein Kreter - danach erst Grieche und Europäer.

    #Grèce #Crète #révolte #révolution #musique