Kein »Gründungsmythos« / Über die Verfolgung von Nazi- und Kriegsverbrechern in der DDR

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  • Depuis 1990 les collaborateurs nazis des pays baltes ont droit au régime de retraite des fonctionnaires allemands
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    Le journal Junge Welt publie un extrait d’un nouveau livre qui tire une comparaison entre les procédures judiciaires contre les criminels nazis à l’Ouest et à l’Est.

    Über den Umgang der DDR-Justiz mit den Tätern und Funktionären des Naziregimes existieren allerlei Mythen. Bundesdeutsche Historiker werfen dem sozialistischen Staat gerne vor, die auf seinem Boden vorgenommene Entnazifizierung habe lediglich der Herrschaftslegitimation gedient. Sie sei als ein »Gründungsmythos« des Landes zu betrachten. In ihrem am kommenden Montag erscheinenden Buch »Im Namen des Volkes. Ermittlungs- und Gerichts­verfahren in der DDR gegen Nazi- und Kriegsverbrecher« widersprechen Dieter Skiba und Reiner Stenzel einer solchen Sicht auf die Geschichte. Sie arbeiten zudem heraus, wie sich DDR und Bundesrepublik bei der Verfolgung der Täter unterschieden. Die beiden Autoren waren im Ministerium für Staatssicherheit (Mfs) der DDR tätig und dort unter anderem mit Untersuchungen gegen Nazi- und Kriegsverbrecher betraut. Wir veröffentlichen an dieser Stelle Auszüge aus ihrem Werk in redaktionell bearbeiteter Form. (jW)

    Le cas des collaborateurs baltes n’est qu’un exemple particuliérement révoltant d’une pratique généralisée.

    BRD machte Täter zu Opfern

    Nach 1990, also nach dem Untergang der DDR und der Sow­jetunion, beantragten etwa 100.000 Personen aus den baltischen Republiken als ehemalige Kriegsfreiwillige der Waffen-SS in der Bundesrepublik eine »Kriegsrente«. Auf diesen Sachverhalt stieß der Belgier Alvin De Coninck, als Ende 2011 die deutschen Steuerbehörden von rund 13.500 ehemaligen belgischen Zwangsarbeitern Steuern von 17 Prozent auf die ihnen bewilligten Entschädigungszahlungen forderten, und das sogar rückwirkend bis 2005 (siehe dazu auch jW-Themenseiten vom 5. April 2012). Der Sohn eines antifaschistischen Widerstandskämpfers entdeckte bei seinen Recherchen, warum das so war, zunächst die öffentlich nahezu unbekannte Tatsache, dass rund 2.500 belgische Nazikollaborateure Monat für Monat eine Rente aus Deutschland bezogen. Dies ging ganz offenkundig auf eine Entscheidung der Dönitz-Regierung zurück. Bekanntlich existierte im Mai 1945 eine Reichsregierung unter Großadmiral Karl Dönitz, der dann in Nürnberg als Hauptkriegsverbrecher zu zehn Jahren Haft verurteilt werden sollte.

    On découvre le comportement immoral de l’État ouest-allemand à travers la dicrimination des victimes du fascisme.

    Diese deutsche »Regierung« hatte entschieden, dass den Handlangern des Hitlerreiches eine »Kriegsrente« zugestanden würde. Der Rechtsnachfolger des Reichs, die deutsche Bundesregierung, zahlte gemäß Bundesversorgungsgesetz: Pacta sunt servanda, Verträge sind einzuhalten. Dass Kollaborateure – selbst wenn sie als Nazitäter verurteilt und bestraft worden waren – großzügiger bedacht wurden als die Opfer, bekam Alvin De Coninck ebenfalls heraus. Die sogenannten Zusatzrenten für die Nazi-Handlanger betrugen zwischen 475 und 1.275 Euro, während sich die Zwangsarbeiter mit etwa 50 Euro begnügen mussten. Als die Nazi-Kollaborateure aus Osteuropa ihre Gleichbehandlung einforderten, stiegen die Ausgaben des Rechtsnachfolgers deutlich an. Um zumindest etwas zu sparen, beschloss die Bundesregierung die Besteuerung der »Kriegsrenten« mit 17 Prozent. 2012 bezogen europaweit etwa 900.000 Bürger eine deutsche »Kriegsrente«.

    L’injustice continuera tant que les veuves ou enfants de criminels continueront à toucher des fonds.

    Das ARD-Magazin panorama berichtete am 30. Januar 1997 unter der Überschrift »Steuermilliarden für Naziverbrecher – deutsches Recht macht Täter zu Opfern« und stieg mit der provokanten Feststellung ein: Würde Adolf Hitler noch leben, bekäme er zu seiner normalen Rente noch eine »Opferrente«. Er gälte nach heutiger Gesetzgebung als Opfer, weil er bei einem Attentatsversuch verletzt wurde, und dafür bekäme er Geld, unter Umständen mehrere tausend Mark monatlich. »Diese Opferrente beziehen viele der noch lebenden Naziverbrecher oder deren Angehörige. Hier, bei uns in Deutschland, wurden die Täter nicht nur von der Nachkriegsjustiz oftmals geschont, sondern zu Opfern erklärt, und dafür werden sie noch heute verdammt gut bezahlt.«

    Danach präsentieren die Autoren einige Beispiele: Wolfgang Lehnigk-Emden ließ in Italien als Wehrmacht-Leutnant Frauen und Kinder beim »Kampf gegen Partisanen« niedermetzeln. »Nie wurde Lehnigk-Emden für seine nachgewiesenen Morde bestraft – wegen Verjährung, sagt der Bundesgerichtshof. So wurde aus dem von der Justiz verschonten Mörder plötzlich für die Behörden ein Opfer, denn Lehnigk-Emden leidet an einer leichten Beinverletzung von damals. Dafür bekommt der wohlhabende Rentner bis heute jeden Monat neben seiner normalen Rente zusätzlich 708 Mark, eine sogenannte Opferrente.«

    Wilhelm Mohnke ist ehemaliger SS-Hauptsturmführer in der Leibstandarte »Adolf Hitler«. »Seine monatliche Opferrente bekommt er für einen verletzten Fuß. Mohnke war einer der letzten engen Vertrauten Hitlers. Wegen der Erschießung von 72 US-amerikanischen Soldaten, die sich vorher ergeben hatten, gilt er für die US -Regierung als Kriegsverbrecher und darf das Land nicht betreten. (...) Geregelt ist dieser Skandal im Bundesversorgungsgesetz. Voraussetzung ist lediglich: irgendeine Kriegsverletzung und Zugehörigkeit zur Wehrmacht oder Waffen- SS. Selbst eingezahlt haben die Empfänger keinen Pfenning. Das Geld kommt von den rund 100 Versorgungsämtern, aus Steuermitteln. Mal zahlen sie ein paar hundert Mark, mal mehrere tausend pro Monat an die Opferrentner, egal ob Kriegsverbrecher oder nicht.«

    Und die Journalisten brachten 1997 auch besonders widerwärtige Beispiele wie jenes eines ehemaligen KZ -Bewachers. Dieser wurde bei Kriegsende gefangengenommen und wie andere Soldaten auch in ein Gefangenenlager gesteckt. »Später«, so ein im Beitrag befragter Vertreter des Versorgungsamts Schleswig-Holsteins, »hatte er einen Nierenschaden und behauptete, dass der Nierenschaden von dem Schlafen auf dem kalten Steinfußboden entstand.« »Der KZ-Wärter«, heißt es im Beitrag weiter, »beantragte eine Opferrente für zehn Tage Gefangenschaft in einem kalten Zimmer. Das Amt lehnte ab, doch der KZ -Wärter gewann vor Gericht.«

    Un traitement de faveur pour les ennemis du communisme

    »Keine Entschädigung bis heute. Das gilt für viele Kommunisten aus den KZs«, resümieren die Fernsehjournalisten.
    ...
    »Die Naziopfer durften Anträge nur bis 1969 und nur in den Ländern des Westens stellen, Hitlers Kämpfer hingegen können Anträge ewig und weltweit stellen. Dieser Unterschied macht sich auch finanziell bemerkbar. Während nach dem Enschädigungsgesetz letztes Jahr (d. i. 1996 – d. Hrsg.) 1,8 Milliarden Mark an die wirklichen Opfer gezahlt wurden, waren es für Hitlers Kämpfer siebenmal soviel: 12,7 Milliarden Mark – alles aus Steuergeldern, allein im letzten Jahr.

    Knapp die Hälfte dieser Summe geht an Witwen, darunter auch die von Hitlers oberstem Blutrichter Roland Freisler, damals Präsident des Volksgerichtshofes. Die wohlhabende Witwe bekommt bis heute (1997, jW) eine monatliche Zusatzrente von mehreren hundert Mark, weil ihr Mann durch eine Bombe starb. Begründung für die Zusatzrente: Ihr Mann hätte nach dem Krieg Karriere gemacht und entsprechend verdient.«

    In einem 1998 mit der Zeitschrift konkret geführten Interview merkte die Schriftstellerin Daniela Dahn zu diesem Thema an: »Das Bundesbesoldungsgesetz vom März 1992 legte fest, dass es nicht ehrenrührig war, den Nazis zu dienen, um so mehr aber der DDR. Alle Dienstjahre in Institutionen des »Dritten Reichs« und in den eroberten Gebieten werden heute uneingeschränkt für Gehalt und Rente anerkannt, während es in Ostdeutschland für Systemnähe Rentenabzüge gibt. Dass es möglich sein würde, den in der DDR als Kämpfer gegen den Faschismus Geehrten ihre VdN (Verfolgte des Naziregimes, jW)-Renten zu kürzen und dafür Angehörige der Wehrmacht, sogar der SS, auch wenn sie Bürger anderer Staaten sind, mit einer Kriegsopferrente zu versöhnen, dass eine KZ-Wächterin, die dafür zehn Jahre in Bautzen saß, eine Entschädigung von 64.000 Mark erhält, die osteuropäischen KZ-Häftlinge und Zwangsarbeiter aber nichts oder bestenfalls ein symbolisches Almosen – dafür hatte meine Phantasie tatsächlich nicht gereicht.«

    Dieter Skiba, Reiner Stenzel : Im Namen des Volkes. Ermittlungs- und Gerichts­verfahren in der DDR gegen Nazi- und Kriegsverbrecher. Edition Ost, Berlin 2016, 464 Seiten, 29,99 Euro

    A commander ici :

    http://www.eulenspiegel.com/verlage/edition-ost/titel/im-namen-des-volkes.html

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