Studentenbewegung : « Aufmüpfig, rebellisch, links » | ZEIT Campus

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    Pour Knut Nevermann l’année 1968 représente le début de la fin de la révolte des étudiants.

    Vor 50 Jahren brach in Deutschland die Studentenrevolte los. Ein Gespräch über die Ereignisse im Juni 1966 mit dem damaligen Berliner Asta-Vorsitzenden Knut Nevermann.

    Der Jurist Knut Nevermann, 72, war in den Jahren 1966/67 Vorsitzender des Allgemeinen Studentenausschusses (Asta) der Freien Universität Berlin. Später war er Staatssekretär für Wissenschaft in Sachsen und in Berlin.

    DIE ZEIT: Herr Nevermann, wollen Sie die Geschichte der Studentenbewegung neu schreiben? Bislang gilt 1968 als das Schlüsseljahr der Revolte.

    Knut Nevermann: Ich will einfach mit ein paar Mythen um „68“ aufräumen. 1968 fand der studentische und außerparlamentarische Protest sicher seinen Höhepunkt – aber auch sein Ende. Den eigentlichen Aufbruch markiert das Jahr 1966. Erstmals in der deutschen Geschichte zeigte sich in Berlin ein relevanter Teil der akademischen Jugend aufmüpfig, rebellisch, links.

    ZEIT: Sie waren dabei. Was geschah damals?

    Nevermann: Rund 3.000 Studenten setzen sich, das ist genau 50 Jahre her, in die Vorhalle des Henry-Ford-Baus der Freien Universität Berlin. Dort diskutieren sie neun Stunden lang über studentische Interessen, über den Protest gegen den Rektor, der ihnen die Nutzung von Räumen verboten hat, und über die „Demokratisierung aller gesellschaftlichen Bereiche“, wie es in der Abschlusserklärung heißt. Professoren und Assistenten diskutieren mit, sogar der Rektor erscheint für ein kurzes Statement. Es herrscht Hochspannung, die zu nicht enden wollendem Argumentieren führt.

    ZEIT: Ein Aufstand sieht aber anders aus.

    Nevermann: Nein, genau so sah eben der Aufstand aus. Sie müssen sich das vorstellen vor dem Hintergrund einer Gesellschaft, die noch durch die prüde Steifheit der Adenauer-Jahre geprägt ist: Erst mit 21 Jahren werden wir volljährig. Es gilt das rigide Sexualstrafrecht mit dem berühmten Kuppelei-Paragrafen, der es Zimmerwirtinnen verbietet, Pärchen die gemeinsame Übernachtung zu erlauben. Ohne Trauschein ist es schwer, die Pille zu bekommen. Als Studenten siezen wir uns.

    ZEIT: Herr Kommilitone?

    Nevermann: Ja: „Herr Kommilitone, könnte ich einmal einen Blick in Ihre Mitschriften von der letzten Vorlesung werfen? Ich war leider verhindert.“ Der Friseur verpasst uns meist einen kurzen sogenannten Fassonschnitt. Als Studentenvertreter trägt man selbstverständlich Schlips – auch auf Sit-ins und Teach-ins, also den Sitzblockaden und Diskussionsveranstaltungen an der FU.
    Dieser Artikel stammt aus der ZEIT Nr. 28 vom 30.6.2016.
    Dieser Artikel stammt aus der ZEIT Nr. 28 vom 30.6.2016. Die aktuelle ZEIT können Sie am Kiosk oder hier erwerben.

    ZEIT: Wie kam es zu der Protestaktion? Noch 1961 entwarf die Studie Student und Politik, an der auch der Philosoph Jürgen Habermas beteiligt war, das Bild der angepassten Studenten, die kein „Ferment politischer Unruhe“ darstellten.

    Nevermann: Wesentlich zur Politisierung beigetragen haben Regelverletzungen von Studenten, auf die sich die Berliner Massenmedien – Stichwort Springer-Presse – stürzten, womit sie die Stimmung weiter anheizten. Regelverletzungen gab es aber auch durch die „Obrigkeit“, das Rektorat etwa.

    ZEIT: Zum Beispiel? Studieren ohne Abitur? Studiengänge finden

    Nevermann: Im Februar 1966 verbietet der FU-Rektor Studenten die Nutzung eines Raumes der Universität für eine Vietnamdiskussion. Nach Protesten darf sie dann stattfinden, doch der Konflikt wirkt mobilisierend und führt anschließend 2500 Studenten zur ersten größeren Vietnamdemonstration. Hier folgt nun eine Regelverletzung vonseiten der Studenten: Die genehmigte Route wird verlassen, man steuert auf das Amerikahaus zu. Studenten werfen mehrere rohe Eier. In Berlin! Auf die Besatzungsmacht! Das Medienecho ist gewaltig. Vietnam als moralisches Thema ist gesetzt, die Studenten sind alarmiert. Der Streit um die Nutzung von Räumen geht weiter. Hinzu kommt, dass die Universitätsleitung Studenten nur noch befristet zulassen will. Wer zu lange studiert, dem droht die Zwangsexmatrikulation. Der Protest der Studenten reißt nicht ab. Mit uns tritt die erste Nachkriegsgeneration in die politische Arena.

    ZEIT: Welche Rolle spielten Sie dabei?

    Nevermann: Ich war, als 22-Jähriger, gerade zum Asta-Vorsitzenden gewählt worden und stand dem Sozialdemokratischen Hochschulbund nahe. Mitte Juni spitzte sich die Lage zu. Auf der Immatrikulationsfeier hielt ich eine Rede, in der ich die Raumverbote und die geplanten Zwangsexmatrikulationen kritisierte. Man kann sich das heute gar nicht mehr vorstellen, aber damals war es üblich, dass der Asta-Vorsitzende vorab seine Rede dem Rektor zur Kenntnis gab. Als Zeichen der Missbilligung ziehen die Professoren des Akademischen Senats nicht wie üblich feierlich mit Talar in den Saal, und der Rektor kritisiert meine Rede. Doch sie wird mit viel Beifall seitens der Studenten bedacht. Das ist neu; bis dahin galt der Beifall immer dem Rektor. Vier Tage später folgt das Sit-in im Henry-Ford-Bau.

    1968 ist ein Jahr des Scheiterns

    ZEIT: Teach-in, Sit-in, das sind Protestformen nach dem Vorbild der amerikanischen Bürgerrechts- und Studentenbewegung.

    Nevermann: Es war ein kultureller Wetterwechsel zu spüren, der aus den USA kam. An den US-Universitäten verband sich der Protest gegen den Vietnamkrieg mit der Hippiebewegung. Protestsongs von Joan Baez und Bob Dylan wurden populär.

    ZEIT: Oft wird „68“ als Aufstand gegen die Naziväter bezeichnet.

    Nevermann: Das kam in Deutschland dazu. Es gab dieses Schweigen der Väter oder den Streit über die Vergangenheit in vielen Familien. Mehr und mehr stellte sich heraus, welch üble Rolle viele ehrwürdige Ordinarien in der Nazizeit gespielt hatten.

    ZEIT: Die Studentenbewegung gewann nach 1966 an Fahrt. Ostern 1968 kam es in Berlin und im übrigen Westdeutschland zu massiven Aktionen gegen den Springer-Verlag, in Paris wurden die Studenten im Mai militanter, es gab gar einen Generalstreik, Studenten und Arbeiter verbündeten sich. Spricht nicht doch vieles für 1968 als das entscheidende Jahr der Revolte?

    Nevermann: Nein. Ende Mai war in Paris schon wieder alles vorbei, was auch in Berlin zur Desillusionierung führte. Zudem folgte der Schock aus Prag: Sowjetische Panzer beendeten brutal den Prager Frühling und damit die Hoffnung auf einen real existierenden Sozialismus mit menschlichem Antlitz. Paris war gescheitert, Prag war gescheitert. Die Protestbewegung in Berlin war gescheitert, zersplittert, zerstritten. 1968 ist am Ende das Jahr des Scheiterns, nicht das Jahr des Aufbruchs.

    ZEIT: Aber ein irrlichternder Ausläufer dieser Zeit hielt die Bundesrepublik weiterhin in Atem: der Terrorismus der Baader-Meinhof-Gruppe.

    Nevermann: Die haben Tod, Angst und Schrecken verbreitet. Aber sie waren ja nur ein Rinnsal, das aus dem Strom der Studentenbewegung hervorgegangen ist. Dass sie bedeutende Erben dieser Bewegung waren, ist ein Mythos. Er wird dadurch genährt, dass sich diese Terrorerzählungen besser publizistisch vermarkten lassen als differenzierte Analysen zur Veränderung der politischen Kultur.

    ZEIT: Wer sind denn die Haupterben der Studentenbewegung?

    Nevermann: Jene Studenten, die sich selbst verändert haben, die politisches Bewusstsein entwickelt haben, die ihre private Lebensweise durcheinandergewirbelt haben. Das ist die überwältigende Mehrheit der damaligen Studierenden. Dazu kommen noch viele Lehrlinge. Sie alle haben das politische und gesellschaftliche Klima im Land verändert. Sie haben in Massen den langen Marsch durch die Institutionen angetreten.

    ZEIT: Haben sie das Land nach links gerückt?

    Nevermann: Nicht unbedingt. Die Erneuerung hat ja alle politischen Lager erfasst. Es ist auch ein Mythos, dass der SDS, der Sozialistische Deutsche Studentenbund, allein die Bewegung geführt hat. Es war eine plurale Bewegung. Ein Beispiel: Der Veranstalter der Vietnamdiskussion, dem der FU-Rektor 1966 die Raumnutzung verbot, war der RCDS, der Studentenverband der CDU, gemeinsam mit liberalen und linken Studentenverbänden.

    ZEIT: Was ist das wichtigste Verdienst der Studentenbewegung?

    Nevermann: Dass Autoritäten hinterfragt werden. Dass viele auch vor Fürstenthronen Mut zeigen. Die Erkenntnis, dass Politik wichtig ist.

    ZEIT: Und was ist schiefgelaufen?

    Nevermann: Die Verlotterung zwischenmenschlicher Umgangsformen. Die unverantwortliche Gewaltbereitschaft. Die Schmierereien in Zügen und an Häusern. Wir sind sozusagen auf der Suche nach dem verlorenen Über-Ich.

    Knut Nevermann
    https://de.wikipedia.org/wiki/Knut_Nevermann

    #révolte #Allemagne #1968