• Ruanda - Der Opfer gedacht
    https://www.jungewelt.de/artikel/472840.ruanda-der-opfer-gedacht.html

    Il y a 30 ans au Rwanda commence le massacre des Tutsis.

    8.4.2024 - Der ruandische Präsident Paul Kagame (Foto) hat am Sonntag bei der zentralen Gedenkfeier 30 Jahre nach dem Völkermord aufgerufen, Lehren aus der Tragödie seines Landes zu ziehen. Am 7. April hatten Hutu-Milizen nach einer monatelangen, von der Regierung gesteuerten Hasskampagne gegen die ethnische Minderheit der Tutsi mit dem Morden begonnen. Innerhalb von nur 100 Tagen wurden mindestens 800.000 Menschen getötet. Kagame, der seit knapp 24 Jahren an der Macht ist, regiert das rohstoffreiche ostafrikanische Land autoritär und pflegt beste Beziehungen zum Westen.

    #Rwanda #génocide

  • Cop Culture - Vorsicht vorm Reiter!
    https://www.jungewelt.de/artikel/467804.cop-culture-vorsicht-vorm-reiter.html


    Reiterstaffeln gehören in Deutschland seit 200 Jahren zum öffentlichen Erscheinungsbild der Polizei. Wer schon einmal bei einem Fußballspiel oder bei einer Demonstration war, weiß, wie gefährlich die auf dem Bild so nett und freundlich daherkommenden Damen und Herren hoch zu Ross sind (Hannoveraner Reiterstaffel)

    Cop Culture ist Gewalt. Taxikultur ist? Der Fachmann staunt, der Laie wundert sich, denn bislang gibt es Taxikultur nur als disparates Versatzstück. In diesem Artikel wird Cop Culture am Beispiel der Tierquälerei begangen an Dienstpferden vorgestellt.

    23.01.2024 von Michael Kohler - Tierquälerei gehört in der Ausbildung von Polizeipferden zum Alltag. Über ein besonderes Mittel staatlicher Repression und die dahinter stehende Kultur der Gewalt.

    In Mannheim stehen zwei Polizisten der lokalen Reiterstaffel »wegen Verdachts des Verstoßes gegen das Tierschutzgesetz« vor Gericht. Am Donnerstag, dem 7. Dezember 2023, hatte die Hauptverhandlung mit der Verlesung der Anklage begonnen, musste aber wegen Erkrankung einer Sachverständigen vertagt werden. Die Anklage bezieht sich nicht nur auf ein einzelnes Ereignis, sondern auf insgesamt fünf Taten zwischen Winter 2019 und Ende 2021.

    Während des »Einsatztrainings« der Pferde sollen die Beamten die Taten unabhängig voneinander an zwei Dienstpferden namens Camillo und Corleone begangen haben. In der Anklage ist die Rede von einer »gefühllosen und fremdes Leiden missachtenden Gesinnung«. Der Staatsanwalt nennt zunächst mindestens fünf gegen ein Dienstpferd »mit großer Kraft und Reichweite ausgeführte Schläge«, die bei dem Pferd »erhebliche Schmerzen« verursachten. Weiterhin kam es zu Schlägen mit der flachen Hand gegen den Hals, wobei dem Pferd »aus Rohheit erhebliche Schmerzen« zugefügt wurden. Einem Pferd wurde ein sogenannter Klappersack umgehängt, was ein »erhebliches Leiden« verursachte. Das Tier geriet in Panik und rannte »aus Angst ununterbrochen und bis zur Erschöpfung«. Schließlich wurde ein Futtertrog mehrere Tage lang mit Pfefferpaste eingerieben, um dem Pferd eine »Verhaltensauffälligkeit« abzugewöhnen. Das Pferd hatte an dem Trog geknabbert. Das letzte den Beamten vorgeworfenen Delikt sind mit großer Kraft ausgeführte Schläge mit der Reitgerte. Dadurch wurde das Pferd ebenfalls panisch, stellte sich auf die Hinterbeine und versuchte, durch eine Öffnung zu fliehen. Es konnte erst nach mehreren Tagen beruhigt werden.

    Wer die Anzeige stellte, ist nicht bekannt, es verlautete lediglich, dass es eine Beschwerde gab. Aber die Umstände lassen vermuten, dass diese Beschwerde aus den Reihen der Polizei selbst kam, dass irgendwann eine Kollegin oder ein Kollege die tierquälerischen Handlungen nicht mehr mit ansehen wollte oder konnte.

    Kein Disziplinarverfahren

    Zur Verhandlung kam es, weil beide Beamte Einspruch gegen erlassene Strafbefehle eingelegt hatten, über deren Rechtsfolgen keine Auskunft erteilt wurde. Bislang hat sich vor Gericht keiner zur Sache geäußert. Beide sind nach Mitteilung des Polizeipräsidiums noch bei der Mannheimer Reiterstaffel beschäftigt. Es wurde kein Disziplinarverfahren gegen sie eingeleitet. Das Polizeipräsidium teilte hierzu mit, das solle erst »nach Abschluss des strafrechtlichen Ermittlungsverfahrens abschließend geprüft« werden. Eine aus zwei Gründen suspekte Entscheidung: Erstens ist ja mit dem Erlass eines Strafbefehls die strafrechtliche Ermittlung zunächst abgeschlossen (auch wenn sie in der Verhandlung wieder aufgenommen werden kann). Und zweitens sind die beiden Pferde so weiterhin der Gefahr von Misshandlungen ausgesetzt.

    Die den Beamten vorgeworfenen Taten verstoßen gegen Paragraph 17 des Tierschutzgesetzes: »Mit Freiheitsstrafe bis zu drei Jahren oder mit Geldstrafe wird bestraft, wer ein Wirbeltier ohne vernünftigen Grund tötet oder einem Wirbeltier aus Rohheit erhebliche Schmerzen oder Leiden oder länger anhaltende oder sich wiederholende erhebliche Schmerzen oder Leiden zufügt.«

    Aus der im vergangenen Jahr abgeschlossenen Studie »Körperverletzung im Amt durch Polizeibeamt*innen«¹ ergibt sich, dass nicht einmal jeder tausendste Fall illegaler Polizeigewalt eine Verurteilung vor Gericht nach sich zieht. Diese Schätzung bezieht sich auf Zahlen aus dem Jahr 2021, in dem es bei 2.790 einschlägigen Verfahren in lediglich 27 Fällen zu einer Verurteilung kam. Nur etwa 14 Prozent der Fälle werden aber überhaupt angezeigt, und nur bei zwei Prozent der angezeigten Fälle wird Anklage erhoben. Es gibt keinen Grund, anzunehmen, dass die Verhältnisse anders liegen, wenn Polizeigewalt sich statt gegen Menschen gegen Tiere richtet.

    Im Westflügel des Mannheimer Schlosses, in dem die Verhandlung stattfand, ist auch die juristische Fakultät der Universität Mannheim untergebracht. Dort macht seit vielen Jahren Jens Bülte auf die »faktische Straflosigkeit institutionalisierter Agrarkriminalität« aufmerksam. Das Stichwort »Agrarkriminalität« vermag mancherlei Assoziationen zu wecken, Bülte aber geht es vor allem um Verstöße gegen das Tierschutzgesetz. Er stellt fest: »Eine ernsthafte Bekämpfung gravierender, systematischer, institutionalisierter und strafbarer Verletzungen des Tierschutzrechts, der organisierten Agrarkriminalität, findet noch nicht statt. (…) Wer eine Tierquälerei begeht, wird bestraft, wer sie tausendfach begeht, bleibt straflos und kann sogar mit staatlicher Subventionierung rechnen.«²

    Wenn also sowohl polizeiliche Gesetzesverstöße als auch Tierquälerei in aller Regel ohne rechtliche Folgen bleiben, wäre es erstaunlich, wenn die beiden Mannheimer Polizisten verurteilt würden. Aber selbst wenn das der Fall wäre, würden die zugrundeliegenden Problembereiche weiterhin bestehen:

    – Die Ausbildung, das Einsatztraining und der Einsatz von Polizeipferden sind mit dem Tierwohl völlig unvereinbar.

    – Reiterstaffeln sind historisch und kulturell Ausdruck eines reaktionären und repressiven, obrigkeitsstaatlichen Polizeiverständnisses. Sie führen zudem im Ernstfall eher zur Eskalation als zur Vermeidung von Gewalt.

    – Die »Cop Culture«, die Alltagskultur »handarbeitender« Polizisten, ist geprägt von einem kriegerischen, auf Dominanz und Durchsetzung ausgerichteten Selbstbild. Das begünstigt Gewaltaffinität und die Tendenz, dass legales und legitimes Verhalten nicht als deckungsgleich betrachtet werden und stellt somit eine weitere Gefahr für das Wohl sogenannter Dienstpferde (und -hunde) dar.

    – Auch falls künftig mehr auf das Wohlergehen von Polizeipferden geachtet werden sollte, würde die »Agrarkriminalität«, die millionenfache extreme Tierquälerei in der Massentierhaltung weiterhin bestehenbleiben.
    Grundlage der Ausbildung

    Pferde sind Fluchttiere. Es ist ihnen angeboren, entspricht ihrem Wesen und ihrer Art, bereits bei schwachen Reizen die Flucht zu ergreifen, sei es ein ungewohntes Rascheln, eine schwer einzuordnende Bewegung oder ein unbekanntes Geräusch. Derlei Reize führen bei einem Pferd unmittelbar zu einer enormen Stressreaktion mit Adrenalinausschüttung, die in kürzester Zeit den gesamten Bewegungsapparat, das Herz-Kreislauf- und das Atmungssystem auf Höchstleistung einstellt und das Tier dazu befähigt, die Fluchtreaktion auszuführen. Die Stressreaktion muss so massiv und abrupt erfolgen, weil in der Natur ein einziges »Versagen« den Tod bedeuten kann.

    Die Ausbildung dieser sehr sensiblen Tiere hat nur ein Ziel: Sie sollen ihre natürlichen, ihrer Art entsprechenden Fluchtreflexe unterdrücken und sich statt dessen dem Willen des 80 Kilo schweren Primaten unterordnen, der sich – was ebenfalls ihrer Natur und ihrer Art widerspricht – auf ihren Rücken gesetzt hat. Das »Training« führt nur dann zum Ziel, wenn das Tier einerseits lernt, Vertrauen zu einem Menschen zu entwickeln, und wenn andererseits die Intensität der angstauslösenden Reize, denen das Tier ausgeliefert wird, systematisch gesteigert wird. Zu diesem Zweck imitieren Polizisten das Verhalten von Fußballfans bzw. Demonstranten, sie schwenken Fahnen, brüllen, schlagen, trommeln, legen Feuer und setzen sogar Pyrotechnik ein. Die Polizisten geben selbst zu: »Die Böller sind für die Tiere am schlimmsten.«³ Sobald das Pferd seinem natürlichen Verhalten folgend zurückweicht, wird Zwang eingesetzt in Form von Schlägen mit der Gerte oder der flachen Hand. In offiziellen Darstellungen wird seitens der Polizei stets behauptet, die Ausbildung erfolge konsequent gewaltlos, gegenüber den Medien aber haben die Polizisten weniger Hemmungen und berichten offen, dass sie die Tiere schlagen, damit sie gehorchen. Dass die Pferde systematisch Lärm, Feuer, Böllern und anderen angstauslösenden und potentiell traumatisierenden Reizen ausgesetzt werden, wird offensichtlich weder von der Polizei noch von den Medien überhaupt als Gewalt angesehen. Physiologische Messungen zeigen: Auch wenn die Tiere äußerlich ruhig sind, ist ihre Angst ungemindert und der Spiegel der Stresshormone und die Herzschlagfrequenz sind entsprechend hoch. Auch körpersprachlich kommt das zum Ausdruck, etwa in angelegten Ohren, geweiteten Augen oder hochgezogenen Lefzen. Der Polizei ist dies nicht unbekannt. So sagte Hans-Peter Sämann, Leiter der Stuttgarter Reiterstaffel zur Stuttgarter Zeitung: »Innerlich sind die Pferde schweißgebadet, aber sie dürfen sich das niemals anmerken lassen.«⁴

    Ich glaub, mich tritt ein ...

    In den deutschsprachigen Ländern sind Reiterstaffeln Auslaufmodelle, deren Wert sich darauf zu beschränken scheint, als obrigkeitsstaatliches Prestigesymbol zu fungieren. Außerdem sind Reiterstaffeln teuer: Anschaffung, Unterbringung, Futter, ärztliche Betreuung und Transporte kosten viel Geld, vor allem aber schlagen Personalkosten zu Buche. Bevor sie einsetzbar sind, müssen die sogenannten Remonten ein bis zwei Jahre lang täglich »trainiert« werden und auch bei älteren Pferden findet jede Woche ein »Einsatztraining« statt, bei dem nicht nur die Reiterinnen – inzwischen sind es überwiegend Frauen – beschäftigt sind, sondern auch Gruppen von Beamten, die als »Demonstranten« oder »Fußballfans« Krawalle vorspielen.

    In Österreich gab es nach dem Zweiten Weltkrieg nur noch in Graz berittene Polizei, die jedoch schon 1950 aufgelöst wurde. Am 15. Juli 1927 starben beim Brand des Wiener Justizpalastes infolge des Einsatzes berittener Polizei mindestens 84 Arbeiter: Im Januar desselben Jahres waren bei einer Protestveranstaltung des sozialdemokratischen Schutzbundes gegen eine Veranstaltung rechtsextremer Frontkämpfer ein Kriegsinvalide und ein sechsjähriges Kind von Frontkämpfern erschossen worden. Die drei Schützen wurden umgehend verhaftet, am 14. Juli jedoch freigesprochen, was am nächsten Tag in Wien eine große, zunächst friedliche Demonstration auslöste, die aber von mit Gewehren bewaffneter berittener Polizei angegriffen wurde. Bei der dadurch ausgelösten Eskalation wurde der Justizpalast in Brand gesetzt.

    Im Jahr 2018 wollte der rechtsextreme FPÖ-Innenminister Herbert Kickl wieder eine Polizeipferdeeinheit gründen, was jedoch auf heftige und hartnäckige Proteste vor allem von Tierrechtsgruppen stieß. Als Generalsekretär der FPÖ geriet Kickl in den Strudel der Ibiza-Affäre um den FPÖ-Vizekanzler Heinz-Christian Strache und wurde als Minister entlassen. Damit endete auch das Prestigeobjekt Reiterstaffel, in dessen Vorbereitung bereits 2,5 Millionen Euro geflossen waren.

    In Deutschland gibt es neben einer Reiterstaffel der Bundespolizei mit 25 Pferden nur noch in sieben Bundesländern berittene Polizei: in Baden-Württemberg, Bayern, Hessen, Hamburg, Niedersachsen, Nordrhein-Westfalen und in Sachsen. In Bayern werden seit dem ersten Söder-Aiwanger-Kabinett 2018 gemäß dem Koalitionsvertrag die Reiterstaffeln ausgebaut, von damals 35 auf derzeit 68 »Dienstpferde«. Geplant sind 100.

    Wo die Pferde nicht nur zum Repräsentieren eingesetzt werden, kann es schnell sehr gefährlich für Mensch und Tier werden. Bei Protesten gegen den Castor-Transport im November 2011 im Wendland wurde mindestens ein Dutzend Demonstranten von Pferden überritten. Wie durch ein Wunder gab es keine Toten. Extrem gefährlich ist es, wenn mit Pferden durch eine Menschenmenge hindurchgeritten wird. Hierzu liegen Dutzende Berichte von schweren Verletzungen vor.

    »Cop Culture«

    Rafael Behr schob fünfzehn Jahre lang in Frankfurt Dienst als Polizist, bevor er damit begann, Soziologie zu studieren. Heute ist er Professor für Kriminologie und Soziologie an der Akademie der Polizei in Hamburg und einer der prominentesten deutschen Kriminologen und Polizeiwissenschaftler. Besonders bekannt wurde er durch den von ihm aus dem US-amerikanischen entnommenen Begriff der »Cop Culture«, den er auf seine Übertragbarkeit auf die deutsche Polizei überprüfte und weiterentwickelte. Er beruft sich dabei auch auf den von der feministischen Pädagogin, Psychologin und Rechtsextremismusforscherin Birgit Rommelspacher entwickelten Begriff der Dominanzkultur. Behr konstatiert eine »Renaissance aggressiver Maskulinität in der Polizei«,⁵ wobei er zwischen Polizeikultur und Polizistenkultur unterscheidet. Beide Kulturkonzepte beinhalten bestimmte, jeweils unterschiedlich gewichtete Tugenden wie Disziplin, Teamgeist, Toleranz, Loyalität usw. Sie implizieren auch unterschiedliche Vorstellungen darüber, wann und in welchem Ausmaß Gewalt angewendet werden darf oder muss.

    Polizeikultur ist ein Bündel von handlungsleitenden, aber eher abstrakten Wertvorstellungen, das in der Ausbildung gelehrt und für die intensiv betriebene PR und andere Formen der Außendarstellung verwendet wird. Sie orientiert sich strikt an der Legalität. Nach der Polizeischule begegnet der junge Polizist oder die junge Polizistin jedoch in der Regel der Aufforderung: »Jetzt vergiss mal alles, was du in der Ausbildung gelernt hast!« Nach dem Erlernen der offiziellen und eher abstrakten Polizeikultur beginnt die Ausbildung in der eher informellen und konkreten Polizistenkultur, die Rafael Behr auch »Cop Culture« nennt. Sie legitimiert sich aus einem sogenannten Alltagswissen oder Erfahrungswissen, das das sogenannte Bücherwissen der Ausbildung als weltfremd und wenig praxistauglich abwertet. In der »Cop Culture« gelten bestimmte Praktiken als legitim, die nicht mehr ganz legal oder sogar völlig illegal sind. Fast immer sind es Männer, die hier auch illegales Verhalten für angebracht halten. Bei polizeilichen Gewaltexzessen und Machtmissbräuchen geht es immer auch um Männlichkeitsnormen. In der »Cop Culture« geben diese vor, dass es in alltäglichen Einsatzsituationen um Sieg oder Niederlage geht, das ›polizeiliche Gegenüber‹ wird zum Gegner, dem unbedingt mit Dominanz und Überlegenheit begegnet werden muss, eventuell auch mit Hilfe von Demütigungen.

    Diese Polizistenkultur wird intensiv und kontinuierlich sowohl durch das Kollegium als auch durch Vorgesetzte an die jungen Polizistinnen und Polizisten herangetragen. Es ist so gut wie unmöglich, sich diesem Einfluss zu entziehen oder gar entgegenzustellen. Klassische sozialpsychologische Studien können uns ein Verständnis dafür vermitteln, wie weitgehend unter diesen Bedingungen sowohl das Verhalten als auch die Einstellungen bestimmt werden.

    Die Versuchsanordnung des sehr bekannt gewordenen Milgram-Experiments von 1961 beispielsweise bestand darin, dass ein »Lehrer« nach Anweisungen eines »Versuchsleiters« einem »Schüler« bei einem Fehler in schwierigen Rechenaufgaben Stromschläge versetzen sollte, deren Intensität nach jedem weiteren Fehler um 15 Volt gesteigert wurde. Die Stromschläge erfolgten nicht real, sowohl der »Versuchsleiter« als auch der »Schüler« waren Schauspieler, der die vermeintlichen Stromschläge verabreichende »Lehrer« war, ohne es zu wissen, die eigentliche Versuchsperson. Getestet werden sollte der Gehorsam gegenüber den Anweisungen einer Autorität, hier des »Versuchsleiters«. In dem Versuch wie auch in Dutzenden Wiederholungen und Variationen folgten erschreckende 95 Prozent der »Lehrer« den Anweisungen und dem Drängen des »Versuchsleiters« und steigerten die vermeintliche Stromstärke bis auf 450 Volt; obwohl die »Schüler« darum bettelten, abzubrechen, stärkste Schmerzen äußerten wie extreme Qualen zeigten und, schon bevor die 450 Volt erreicht wurden, überhaupt keine Lebenszeichen mehr von sich gaben.

    Mehr Härte

    Viele andere Versuche, wie etwa die von Solomon Asch zum Konformitätsdruck von 1951 oder das berühmt-berüchtigte Stanford-Gefängnis-Experiment von Philipp Zimbardo von 1971 und weitere Studien, die bis in die 1930er Jahre zurückgehen, liefern unabweisliche wissenschaftliche Belege dafür, dass und in welchem Ausmaß obrigkeitliche Macht dazu neigt, sich zu verfestigen, zu verselbstständigen und zu brutalisieren. Sie belegen eindringlich, wie unabdingbar es ist, staatliche Gewalt zu kontrollieren und einzugrenzen und potentielle Opfer zu schützen.

    »Cop Culture« breitet sich jedoch aus und verfestigt sich in Deutschland durch die seit einigen Jahren bestehende Tendenz, von der Polizei eine größere Härte zu verlangen. Schon 2018 veröffentlichte Spiegel online ein internes Strategiepapier der nordrhein-westfälischen Polizei, in dem u. a. ein »robusteres Auftreten« der Polizei gefordert wurde. In den 1980er und 1990er Jahren war die Devise gewesen: »Kommunikation, solange irgendwie möglich!« Sie wird nach und nach ersetzt durch die Devise: »Einschreiten, so konsequent wie möglich!« Wenn nötig eben auch mit Hilfe von Pferden.

    Anmerkungen

    1 https://kviapol.uni-frankfurt.de

    2 https://www.jura.uni-mannheim.de/media/Lehrstuehle/jura/Buelte/Dokumente/Veroeffentlichungen/Buelte__Zur_faktischen_Straflosigkeit_institutionalisierter_Agrark

    3 https://www.stuttgarter-zeitung.de/inhalt.training-der-reiterstaffel-in-stuttgart-boeller-sind-fuer

    4 Ebd.

    5 Rafael Behr: »Die Polizei muss … an Robustheit deutlich zulegen«. Zur Renaissance aggressiver Maskulinität in der Polizei. In: Daniel Loick (Hg.): Kritik der Polizei, Frankfurt/New York 2018, S. 165–178

    Michael Kohler schrieb an dieser Stelle zuletzt am 5. Januar 2024 über Polizisten, die zur Waffe greifen.

  • Broschüre »Mythos#Israel 1948« : »Das Papier ist reine Propaganda« 
    https://www.jungewelt.de/artikel/472419.brosch%C3%BCre-mythos-israel-1948-das-papier-ist-reine-propaganda.h


    Vertrieben : Frauen und Kinder aus dem arabischen Fischerdorf Tantura (1948)

    Le déni obsessionnel règne - à Berlin l’assemblée citoyenne (Bezirksverirdnetenversammlung) de l’arrondissement de Neukölln essaie d’imposer un pamphlet qui défend la thèse du pays sans peuple pour un peuple sans pays à l’enseignement scolaire. Comme par hasard Neukölln est la résidence de la plus grande communauté palestinienne d’Allemagne. On va emcore s’amuser avec ces amis de l’état sioniste.

    2.4.2024 von Jamal Iqrith - Berlin-Neukölln empfiehlt geschichtsverfälschende Broschüre zu palästinensischer Nakba für Schulen. Ein Gespräch mit Ahmed Abed

    Die Bezirksverordnetenversammlung, kurz BVV, von Berlin-Neukölln hatte am 21. Februar beschlossen, die Broschüre »Mythos#Israel 1948« an Schulen einsetzen zu lassen. Bei einer BVV-Sitzung vor zwei Wochen war sie erneut Thema. Worum ging es zuletzt?

    Wir haben als Linksfraktion nachgefragt, ob diese Broschüre tatsächlich vom Bezirksamt beworben wird. Zweitens wollten wir wissen, ob das Amt der Meinung ist, dass die Benennung des israelischen Landraubs »antisemitisch« sei, wie in der Broschüre behauptet wird. Die Antwort war, dass man das in der Tat so sehe. Daraufhin habe ich nachgefragt, ob noch auf andere Weise die rechte Landraubpolitik durch das Bezirksamt unterstützt wird und ob sich die Bezirksstadträtin Karin Korte an das Völkerrecht gebunden fühlt.

    Wie lautete die Antwort?

    Auf die Frage nach der Unterstützung des Landraubs durch die Berliner Behörde sagte sie »nein«, aber sie sei »auch nicht die Außenministerin«. Ob sie sich an das Völkerrecht gebunden fühlt, wollte sie nicht beantworten. Vielleicht hatte sie Angst.

    Ihre Fraktion fordert, die Verbreitung und Nutzung der Broschüre zu verhindern. Warum?

    Die Broschüre »Mythos#Israel 1948« liest sich so, als ob sie von den rechtesten israelischen Politikern geschrieben worden sei. Die Nakba, also die Katastrophe der Palästinenser im Zuge der israelischen Staatsgründung mit der Vertreibung von Hunderttausenden und Entrechtung, die bis heute andauert, wird geleugnet. Die Gewalt, die während der Nakba gegen Palästinenser ausgeübt wurde, wird verharmlost. Organisationen wie die terroristische »Hagana«, die zahlreiche Massaker beging und später in die israelische Armee eingegliedert wurde, werden als ganz normale Organisation dargestellt. Das ist ein reines Propagandapapier!

    Wer hat die Texte verfasst?

    Der Text kommt von Masiyot e. V., einem »gemeinnützigen« Verein. Die Leute dort kommen aus einem politischen Spektrum, wo Palästinenser nur als Störfaktoren behandelt werden. Die Berliner Landeszentrale für politische Bildung hat das Projekt gefördert, auf Nachfrage aber zugegeben, dass sie den Inhalt gar nicht geprüft habe. Trotzdem wird es für die Bildungsarbeit empfohlen …

    Was ist an dieser Broschüre so empfehlenswert?

    Die Diskussion in Schulen soll dahingehend beeinflusst werden, dass die völkerrechtswidrige Besiedlung palästinensischen Landes normalisiert wird. Die CDU hatte den Antrag gestellt, diese Broschüre sowohl bei diversen Jugendeinrichtungen zu benutzen, als auch in den Schulen. Der Jugendhilfeausschuss hat diese Broschüre abgelehnt, weil sie so unausgewogen ist.

    Was die BVV nicht davon abgehalten hatte, ihre Empfehlung auszusprechen.

    In der BVV haben die SPD und die CDU dafür gestimmt, sie trotzdem für Schulen zu empfehlen. Der Bürgermeister ist sowieso ganz stark dafür. Die Linke war dagegen.

    Ist es Usus, dass die BVV festlegt, welche Materialien an Schulen verwendet werden?

    Nein, so etwas hat es noch nie gegeben. Ich bin jetzt seit 2016 Bezirksverordneter. In diesen acht Jahren, gab keinen einzigen Versuch, derart Einfluss auf die Bildung in den Schulen zu nehmen. Allein bei dem Thema Palästina–Israel ist das der Fall. Das werte ich als Unterstützung der völkerrechtswidrigen israelischen Besatzung und der aktuellen ethnischen Säuberungen. Zudem steht der Text konträr zum Völkerrecht.

    Wie geht es in der Sache jetzt weiter?

    Ob die Schulen die Broschüre wirklich verwenden, ist noch unklar. Wir werden dagegen protestieren und versuchen, in den Schulen aufzuklären. Auch die Neuköllner Schüler und Eltern sind sehr aufgebracht und sauer, dass solche geschichtsverfälschenden Behauptungen in den Schulen verbreitet werden sollen. Viele Lehrer und Schüler sind auf uns zugekommen, als sie von dem Vorgang erfahren haben, und haben sich darüber beschwert, dass solch ein Unsinn offiziell verbreitet werden soll. Besonders vor dem Hintergrund des aktuellen Krieges gegen die Zivilbevölkerung im Gazastreifen ist es eine Schande, wie sich das Bezirksamt von Berlin-Neukölln verhält.

    Ahmed Abed ist Rechtsanwalt und für die Linkspartei in der Bezirksverordnetenversammlung von Berlin-Neukölln

    #Allemagne #Berlin #Neukölln #Palestine #philosemitisme #nakba

  • Westeuropa Sohn
    Poète maudit aus dem Ramschladen: Zum Tod des genialischen Popmusikers Kiev Stingl (1943 - 2024)
    https://www.jungewelt.de/artikel/470447.popgeschichte-westeuropa-sohn.html


    Wirrkopf, Sexist, Phantom: Kiev Stingl 1991 in seiner Berliner Arbeitsbibliothek

    Hart wie Mozart
    https://www.youtube.com/playlist?list=OLAK5uy_m7maem_mps4JZ34mSMDcUoqEV5_TjfODU

    1.3.2024 von Maximilian Schäffer - »Ab sofort verbiete ich, Kiev Stingl, der Sprecher der deutschen Schweinenation, sämtlichen Jugendlichen, Staatsnegern und sonstwem, den Keuchakt loszuficken.«

    Kiev Stingl (15.3.1943 bis 20.2.2024), Präsident im Reich der Träume, spricht in Zungen

    In der 1-Euro-Kiste vor dem Laden fand ich ihn, 2020. Unterste Bückware zwischen Volksmusik und Kinderhörspiel. Nicht einmal ins Abteil »Deutsch« hatten sie ihn gepfercht, noch ins Fach »NDW« verramscht. »Kiev Stingl – Hart wie Mozart« prangte auf dem Cover, das aussah wie eine Ausgabe des Spiegel von 1979. Geiler Name, geiler Titel. Wieso will den keiner, kennt den keiner? Ich legte den Euro auf den Tisch, und staunte noch mehr, als ich es zum ersten Mal hörte: »Es lebe die Sowjet­union, nieder mit dem Zar! (…) Ich bin Frank Sinatras Westeuropa Sohn!« Unbestreitbar eine Hymne, dazu erstklasssig aufgenommen und produziert. Diese Stimme aus Ethanol, Nikotin und Testosteron, die 40 Minuten lang nur Sex raunzt. Und hätte ich hundert Euro bezahlt gehabt – sowas hatte ich von der BRD nicht erwartet.
    Frühstücksangebot: RLK-Emaillebecher +Kaffee

    Kiev hingegen hatte von der BRD nichts zu erwarten. Seine Karriere versaute er gründlich und notwendigerweise aus purem individuellen Drang. Eine einzige Tournee versenkte er in allen möglichen Drogen. Im Hessischen Rundfunk rabulierte er gegen Feministinnen, warf Bierflaschen nach dem Aufnahmeleiter (siehe obiges Zitat). Nach Rock und Art-Punk wollte er auf einmal Disco machen, danach Post-Industrial mit der Hälfte der Einstürzenden Neubauten. Er sah gut aus und klang ebenso gut, hätte das Zeug gehabt, dem braven Genuschel eines Udo Lindenberg die Selbstverständlichkeit der eigenen Geilheit im Dienste von mindestens zwei Generationen Punks entgegenzusetzen. Das Messianische allerdings pflegte er eher im Halbprivaten, wollte lieber ein Phantom sein als Legende – so predigte er es mir noch letztes Jahr zu seinem 80. Geburtstag im Interview. Auch Raubtiere – Kiev Jaguar Stingl nannte er sich kurz selbst – sind die meiste Zeit nur scheue Katzen.

    Achim Reichel fand Stingl Mitte der 70er Jahre in Hamburg genauso unvorbereitet, wie ich ihn später in Berlin wiederfand. Im abgedunkelten Zimmer drosch er ihm was auf der Gitarre vor, von »Lila Lippen, Milchkuhtitten!« In seiner Autobiografie »Ich hab das Paradies gesehen« erzählt Reichel von diesem Damaskuserlebnis und seinen Folgen. Drei Alben fertigten sie zusammen: »Teuflisch« (1975), »Hart wie Mozart« (1979) und »Ich wünsch den Deutschen alles Gute« (1981). Reichel, der selbst als Solomusiker sowie mit den Rattles um ein Vielfaches erfolgreicher war als sein unmöglicher Star, hielt Stingl für genial, aber unberechenbar. Die Regisseure Klaus Wyborny, Heinz Emigholz und Christel Buschmann drehten Filme mit Kiev. Letztere setzte ihn in Ballhaus Barmbek neben Christa Päffgen alias Nico – das reale Aufeinandertreffen zweier großer Phantome. Im lange schon verblichenen Kaufbeurer Verlag Pohl ’n’ Mayer erschien 1979 sein Lyrikband »Flacker in der Pfote«, fünf Jahre später »Die besoffene Schlägerei« im Cyrano-Verlag. Sein Alterswerk, ein Dialog aus passionierter Hitlerei und Bumserei, erscheint posthum. »Roman ist fertig!« – war sein letzter Satz auf Whats-App, dann hatte er keinen Bock mehr auf Siechtum.

    Nun fehlt mir der Abstand, um für Zeitungsleser in glaubwürdigem Maße von der Großartigkeit seiner Musik berichten zu können. Natürlich kenne ich sie heute mantrisch auswendig – jeden Song, jede Zeile. Ich kann allerdings davon berichten, was passierte, als ich einst mein Umfeld mit Kiev Stingls Platten zu terrorisieren begann: keinerlei Widerstand. Innerhalb von Wochen bildete sich ein Privatfanclub aus Künstlern, Musikern, Autoren, Barkeepern und Handwerkern im Alter von 18 bis 60. In der Neuköllner Stammkneipe hängten wir bald sein Konterfei über den Tresen, direkt neben den gekreuzigten Messias. Der Chef, bald genervt: »Schon wieder Kiev!?« Aber auch solidarisch: »Wenigstens Kiev!« Wir waren nicht die einzigen, so fand ich heraus: Auch Flake von Rammstein, Dieter Meier von Yello und Hans Joachim Irmler von Faust zählen zu seinen ewigen Fans.

    Irgendwann fand ich mich in Stingls Wohnung wieder. Ein junges, hübsches Mädchen brachte ich ihm mit, das war ihm noch lieber als Cremeschnitten – auch Vanessa sollte später seine Urinflaschen ausleeren. In den vergangenen beiden Jahren sah ich den Berserker deutscher Coolness, den »Einsam Weiss Boy« vom alten Mann zum Greis werden. Wir stritten kokett über Hitler, ich leerte die Pissflaschen aus. Er scheuchte mich durch die zugestellte Altbauwohnung, ich ließ es irgendwie über mich ergehen. In den zartesten Momenten zweier sich halbwegs nahe gekommenen Männer mit 50 Jahren Altersabstand saßen wir uns gegenüber, hatten uns nichts zu sagen übers Leben. »No Erklärungen« heißt ein 2020 erschienener kurzer Dokumentarfilm über ihn. Kiev wusste zuviel, ich noch zuwenig. Ein paar Minuten Stille und Traurigkeit zusammen, weil auch er nicht vergessen werden wollte – so scheißegal ihm alles auch gewesen sein mochte. Kiev Stingl war das konsequent missachtete transgressive Genie der deutschen Popmusik und Beat-Literatur. Er starb am 20. Februar im Alter von 80 Jahren.

    https://de.wikipedia.org/wiki/Kiev_Stingl

    #Allemagne #musique #post-punk

  • Kriegsertüchtigung - Ampel zerlegt Sozialstaat
    https://www.jungewelt.de/artikel/469990.kriegsert%C3%BCchtigung-ampel-zerlegt-sozialstaat.html


    Lindner am Donnerstag abend bei »Maybrit Illner« : »Das Wichtigste ist, dass keine neuen Sozialausgaben dazukommen« 

    La situation est grave. La droite et les libéraux ne se gênent plus. Ils proclament : des canons ou du beurre, il faut choisir. La majorité des allemands paiera pour la guerre. So it goes.

    4.2.2024 von Raphaël Schmeller - Finanzminister Lindner will Aufrüstung mit Kürzungen finanzieren. Armutsforscher spricht von »sozialpolitischer Zeitenwende«

    Die Ampelkoalition will Deutschland kriegstüchtig machen. Und weil das ins Geld geht, führt für Finanzminister Christian Lindner kein Weg an Sozialkürzungen vorbei. Ein »mehrjähriges Moratorium bei Sozialausgaben und Subventionen« sei nötig, um mehr in die Aufrüstung investieren zu können, erklärte der FDP-Politiker am Donnerstag abend bei »Maybrit Illner«. Clemens Fuest, Präsident des kapitalnahen Ifo-Instituts und ebenfalls Gast der ZDF-Sendung, fügte zustimmend hinzu: »Kanonen und Butter – das wäre schön, wenn das ginge. Aber das ist Schlaraffenland. Das geht nicht. Sondern Kanonen ohne Butter.« Der Sozialstaat werde noch nicht abgeschafft, »aber er wird kleiner«, so ­Fuest. Auch die dritte in der Runde, die Grünen-Vorsitzende Ricarda Lang, sagte, Deutschland müsse mehr Geld in die Hand nehmen, um die Ukraine zu unterstützen und Europa bei der Verteidigung unabhängiger von den USA zu machen.

    In der vergangenen Woche hatte Bundeskanzler Olaf Scholz auf der Münchner Sicherheitskonferenz angedeutet, dass Kürzungen bei Renten und Sozialausgaben nötig sein könnten, um die Verteidigungsausgaben langfristig zu erhöhen. »Deutschland investiert dieses Jahr und auch in den kommenden Jahren, in den Zwanziger-, den Dreißigerjahren und darüber hinaus zwei Prozent seines Bruttoinlandsprodukts in die Verteidigung«, so Scholz auf der Konferenz. Er fügte hinzu: »Mein Ziel ist es, dass wir nach dem Auslaufen des Sondervermögens die Ausgaben für die Bundeswehr aus dem allgemeinen Haushalt finanzieren.« Nach Berechnungen des Spiegels würde das im Jahr 2028 Ausgaben von 107,8 Milliarden Euro bedeuten. Zum Vergleich: Der aktuelle Verteidigungsetat des Bundes beträgt 51,9 Milliarden Euro. Um diese Ausgaben zu decken, müsste also an anderer Stelle gekürzt werden – an welcher, hat Lindner nun bekanntgegeben.

    Der Armutsforscher Christoph Butterwegge verurteilte die »sozialpolitische Zeitenwende« der Ampelkoalition am Freitag gegenüber jW. »Was von Christian Lindner als Moratorium erklärt wird, läuft in Wahrheit auf eine Demontage des Wohlfahrtsstaates hinaus. Denn wenn die sozialen Probleme wie bereits seit geraumer Zeit deutlich zunehmen, die Ausgaben aber nicht mehr mitwachsen dürfen, handelt es sich um reale Kürzungen in diesem Bereich«, so Butterwegge. Deutschland stehe vor der Alternative: Rüstungs- oder Sozialstaat. »Setzen sich Bum-Bum Boris Pistorius, Marie-Agnes Strack-Zimmermann, Anton Hofreiter und Co. mit ihren Hochrüstungsplänen durch, wird sich die schon jetzt auf einem Rekordstand befindliche Armut noch verschärfen.«

    Auch der Bundestagsabgeordnete und BSW-Generalsekretär Christian Leye kritisierte Lindners Ankündigung scharf: »Während Rüstungskonzerne Dividendenpartys feiern, sollen Menschen, die ohnehin auf dem Zahnfleisch gehen, noch mehr bluten«, erklärte er gegenüber dieser Zeitung. »Dass sich Vertreter der Regierungsparteien am Wochenende gegen rechts auf die Straße trauen, obwohl sie den Rechten die Wähler von Montag bis Freitag in die Arme treiben, grenzt an Hohn.«

    Nach einem Bericht der Financial Times vom Freitag hat weltweit kein Rüstungskonzern so stark vom »Revival der europäischen Verteidigungspolitik« profitiert wie Rheinmetall. Die Düsseldorfer rechnen bis 2026 mit einer Verdoppelung des Umsatzes auf bis zu 14 Milliarden Euro.

    #Allemagne #guerre #austérité

  • 13.02.2024 Christine Buchholz : Warum ich das Bundestagsmandat nicht annehme
    https://christinebuchholz.de/2024/02/12/warum-ich-das-bundestagsmandat-nicht-annehme


    Christine Buchholz auf einer Kundgebung zum Antikriegstag (Berlin, 1.9.2013)

    Le parti Die Linke n’est plus le parti de la paix et ne représente plus les intérêts de la classe ouvrière. L’ancienne membre du Bundestag Christine Buchholz refuse d’y siéger à nouveau à la place de l’élu berlinois Pascal Meiser qui doit quitter le parlement après les élections de dimanche dernier.
    Une particularité du droit électoral allemand exige que la faible participation des Berlinois aux élections fasse perdre un siège à la ville mais pas au parti qui envoie alors à l’assemblée nationale un candidat d’un autre Land.

    Avec Pascal Meiser Berlin perd un député syndicaliste qui ne fait pas partie de la droite qui domine le « parti de gauche » à Betlin.

    Am 11. Februar fand in Berlin eine Wiederholungswahl statt. Aufgrund des bundesdeutschen Wahlsystems hat der Verlust des Mandats des Abgeordneten Pascal Meiser aus Berlin dazu geführt, dass ich ein Mandat erhalten habe. Ich werde dieses Mandat nicht antreten.

    Im Frühjahr 2021 hat mich die hessische LINKE zum vierten Mal für ihre Landesliste nominiert. Ich hatte in den 12 Jahren davor als Mitglied des Bundestags meinen Schwerpunkt in den Bereichen Krieg und Frieden sowie im Kampf gegen rechts, speziell in der Auseinandersetzung mit antimuslimischem Rassismus.

    Die Entwicklungen der letzten Jahre haben mich wiederholt in Konflikt mit der mehrheitlichen Linie der Partei und der Fraktion gebracht. Das betrifft sowohl einen defensiven Umgang mit der Kritik an der NATO und der deutschen Rolle im Krieg um die Ukraine als auch ihr Versagen in der Kritik der deutschen Unterstützung für Israels Krieg in Gaza. Gerade vor dem Hintergrund der Mobilmachung gegen das mit über einer Million Geflüchteten überfüllte Rafah an der Grenze zu Ägypten wird das tödliche Ausmaß dieses Versagens deutlich. DIE LINKE wird ihrer Aufgabe als Antikriegspartei in den aktuell entscheidenden Situationen nicht gerecht. Die Annahme des Mandats würde mich nun in einen ständigen Konflikt mit der Linie der Parteispitze und der Gruppe der LINKEN im Bundestag bringen. Ich sehe dort momentan keinen Raum für meine Positionen in diesen Fragen.

    Die Wagenknecht-Partei BSW ist für mich keine Alternative. Ihre Argumentation für eine Begrenzung der Migration knüpft an die „das Boot ist voll“-Rhetorik des rechten politischen Spektrums an. Ihr Standortnationalismus schwächt eine linke und internationalistische Perspektive in gesellschaftlichen Bewegungen, darunter insbesondere der Gewerkschaftsbewegung.

    Die Ablehnung des Mandats heißt nicht, dass ich mich aus der politischen Aktivität zurückziehe. Ich bringe meine Kraft und mein ehrenamtliches Engagement dort ein, wo ich außerhalb des Parlaments gemeinsam mit anderen aus der LINKEN und darüber hinaus gegen Krieg und das Erstarken des Faschismus wirken kann – zum Beispiel in der Antikriegskoordination in Berlin, bei Aufstehen gegen Rassismus und bei der Gruppe Sozialismus von unten.

    https://www.jungewelt.de/artikel/469237.christine-buchholz-warum-ich-das-bundestagsmandat-nicht-annehme.htm

    Christine Buchholz, die ehemalige Bundestagsabgeordnete der Partei Die Linke, begründete am Montag in einer auf ihrer Website veröffentlichten Erklärung, warum sie das erneute Bundestagsmandat infolge der Berliner Wiederholungswahl nicht antreten wird:

    Am 11. Februar fand in Berlin eine Wiederholungswahl statt. Aufgrund des bundesdeutschen Wahlsystems hat der Verlust des Mandats des Abgeordneten Pascal Meiser aus Berlin dazu geführt, dass ich ein Mandat erhalten habe. Ich werde dieses Mandat nicht antreten.

    Im Frühjahr 2021 hat mich die hessische Linke zum vierten Mal für ihre Landesliste nominiert. Ich hatte in den zwölf Jahren davor als Mitglied des Bundestags meinen Schwerpunkt in den Bereichen Krieg und Frieden sowie im Kampf gegen rechts, speziell in der Auseinandersetzung mit antimuslimischem Rassismus.

    Die Entwicklungen der letzten Jahre haben mich wiederholt in Konflikt mit der mehrheitlichen Linie der Partei und der Fraktion gebracht. Das betrifft sowohl einen defensiven Umgang mit der Kritik an der NATO und der deutschen Rolle im Krieg um die Ukraine als auch ihr Versagen in der Kritik der deutschen Unterstützung für Israels Krieg in Gaza. Gerade vor dem Hintergrund der Mobilmachung gegen das mit über einer Million Geflüchteten überfüllte Rafah an der Grenze zu Ägypten wird das tödliche Ausmaß dieses Versagens deutlich. Die Linke wird ihrer Aufgabe als Antikriegspartei in den aktuell entscheidenden Situationen nicht gerecht. Die Annahme des Mandats würde mich nun in einen ständigen Konflikt mit der Linie der Parteispitze und der Gruppe der Linken im Bundestag bringen. Ich sehe dort momentan keinen Raum für meine Positionen in diesen Fragen.

    Die Wagenknecht-Partei BSW ist für mich keine Alternative. Ihre Argumentation für eine Begrenzung der Migration knüpft an die »Das Boot ist voll«-Rhetorik des rechten politischen Spektrums an. Ihr Standortnationalismus schwächt eine linke und internationalistische Perspektive in gesellschaftlichen Bewegungen, darunter insbesondere der Gewerkschaftsbewegung. (…)

    #Allemagne #gauche #élections #Die_Linke

  • Blockade von Leningrad : »Die schlimmen Zeiten sind nicht vergessen« 
    https://www.jungewelt.de/artikel/468044.blockade-von-leningrad-die-schlimmen-zeiten-sind-nicht-vergessen.ht


    Verteidiger der Stadt während der Blockade : Sowjetische Panzer auf der Urizkistraße (30.10.1942)

    Un entretien avec un des derniers survivants du siège de Léningrad. Le 27 janvier marque le quatre vingtième anniversaire de la fin de cet acte de barbarie allemand.

    Aujourd’hui en Allemagne on préfère commémorer la libération du camp d’Auschwitz exactement un an plus tard en évitant autant que possible de parler des soldats de l’armée rouge. On plaint les juifs assassinés et passe sous silence le crime contre les citoyens de l’Union Soviétique qui a couté la vie à vingt fois plus d’hommes, femmest et enfants.

    27.1.2024 von Arnold Schölzel - Sie haben die Leningrader Blockade überlebt. Wie viele Überlebende gibt es in Berlin?

    Allein hier sind wir 40 bis 45 Menschen, in der Bundesrepublik etwa 300. Wir haben uns in der Vereinigung »Lebendige Erinnerung« zusammengeschlossen und arbeiten mit dem »Club Dialog« im Wedding und der Stiftung »Erinnerung, Verantwortung und Zukunft« zusammen. Bis zur Pandemie feierten wir den Jahrestag der Befreiung Leningrads stets im Haus der Russischen Kultur, aber das ist jetzt nicht mehr möglich. Einige wenige fliegen auch in diesem Jahr auf Einladung des Gouverneurs von St. Petersburg dorthin, um den 80. Jahrestag der Befreiung Leningrads zu feiern. Überlebende der Blockade leben überall auf der Welt.

    Wie begehen Sie im »Club Dialog« den Jahrestag?

    Wir hören dort ein Fragment der »Leningrader Sinfonie« von Dmitri Schostakowitsch, die er zu Beginn der Blockade komponiert hat und die am 9. August 1942 in Leningrad aufgeführt wurde. Wir gedenken vor allem der Toten. Niemand weiß, wie viele es letztlich waren. Die Schätzungen reichen von 600.000 bis 1,2 Millionen Menschen. Sie starben durch Hunger, Kälte, Bomben und viele andere Ursachen. Heute wissen hier allerdings viele junge Menschen kaum noch, dass St. Petersburg und Leningrad dieselbe Stadt sind.

    Sie waren am 22. Juni 1941 zwölf Jahre alt. Wie haben Sie den Kriegsbeginn erlebt?

    Ich war an jenem Tag in einem Pionierferienlager, gut 20 Kilometer von Leningrad entfernt. Es war für Kinder von Mitarbeitern der großen Leningrader Textilfabrik »Rotes Banner«. Dort arbeitete mein Großvater, denn ich lebte bei meinen Großeltern. Meine Eltern waren unterwegs auf Großbaustellen des sozialistischen Aufbaus, vor allem in den großen Kraftwerken am Wolchow und am Swir. Bis 1936 war ich im Sommer manchmal zwei Monate bei ihnen, dann ging es zurück zu Opa und Oma. 1936 sollte ich auf einmal bei den Eltern bleiben und zur Schule gehen, das war in Staraja Russa. Als ich einen Monat lang die Schule geschwänzt hatte, durfte ich zurück. Ich hatte vier Klassen absolviert, als der Krieg kam.

    Was passierte im Ferienlager?

    Es herrschte Chaos. Nach einigen Tagen kamen viele Mütter und holten unter Klagen und Weinen ihre Kinder ab, zurück blieben ungefähr zehn bis 15 Kinder, darunter ich. Zu mir kam niemand, und ich war sehr unglücklich. Die Lagerleiter erklärten uns nichts, wir hatten nur Zeitungen. Irgendwann entschloss ich mich, allein nach Leningrad zu fahren. Wir waren ja nicht weit weg, aber für mich als Kind war das eine lange Reise. Zum Glück holte mich mein Opa am Bahnhof ab, meine Oma war leider im Januar 1941 gestorben.

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    Meine Mutter sah ich erst nach zehn Jahren 1946 wieder. Sie lebte damals in Wologda, nördlich von Moskau. Von den Behörden hatte sie die Mitteilung erhalten, dass mein Vater bei der Verteidigung Leningrads drei Tage vor dem Ende der Blockade, am 24. Januar 1944, getötet worden war. Er hatte in Jelisawetino, etwa 70 Kilometer südwestlich der Stadt, eine Artilleriestellung kommandiert. Sie erhielt einen Volltreffer, alle fünf Soldaten waren tot. Meine Mutter bekam eine sehr kleine staatliche Unterstützung und arbeitete als Grundschullehrerin. Aber es reichte nicht, um meine drei jüngeren Geschwister zu ernähren. Sie lebten in einem Kinderheim.

    Der Winter 1941/42 war mit bis zu minus 40 Grad extrem kalt. Wie haben Sie und Ihre Familie überlebt?

    Uns halfen vor allem eine Cousine und ein Onkel, der beim Militär war: Sie teilten ihre Lebensmittelrationen mit uns. Aber es war schwer: Im November kam der Befehl, alle Holzzäune und Holzhäuser für Heizung zur Verfügung zu stellen. Wir mussten das Haus, in dem wir wohnten, aufgeben, und zogen alle zusammen in ein Zimmer. Zum Glück waren einige wegen ihrer militärischen Verpflichtungen nur selten da. Das Zimmer war Teil einer Gemeinschaftswohnung, einer Kommunalka, und wurde von einer Granate getroffen, die zwar nicht explodierte, aber es in der Kälte unbewohnbar machte. Wir zogen ein Haus weiter – es gab bereits viele leerstehende Wohnungen. Ich wurde im Februar 1942 zusammen mit meiner Tante und deren Kindern in ein sibirisches Dorf evakuiert, 120 Kilometer südlich der Gebietshauptstadt Tscheljabinsk in der Nähe der kasachischen Grenze. Dort arbeiteten alle in einer Molkerei und ich von Mai bis Ende September als Schafhirte. 1944 hatte ich die Verantwortung für 533 Schafe. Im Kolchos sagten sie, ich müsse das übernehmen, weil ich ein belesener Mensch sei – ich war ständig mit einem Buch unterwegs.

    Die Blockade beendete Ihre Schulbildung?

    Es gab in Leningrad nur wenige Schulen, die weiterarbeiten konnten – vor allem für Jüngere. Ende 1944 hörte ich eines Tages in unserem Dorfrundfunk, der täglich zweimal jeweils 30 Minuten sendete, einen Aufruf: Moskauer und Leningrader Bildungseinrichtungen fordern dazu auf, sich im Januar und Februar 1945 für die ersten Kurse einzuschreiben. Wir erhielten eine Genehmigung, nach Leningrad zu fahren, und kamen im Februar 1945 dort an. In der Marineschule, für die ich mich beworben hatte, gab es aber eine böse Überraschung: Bei der Musterung stellte der Augenarzt bei mir Astigmatismus fest, eine Hornhautverkrümmung. Das war’s.

    Unserer Regierung war aber klar, dass nach dem Krieg Zehntausende, wenn nicht Hunderttausende Kinder und Jugendliche ihre unterbrochene Bildung und Ausbildung fortsetzen wollten. Ich wurde schließlich von einer Fachschule, die Funktechniker ausbildete, angenommen. Der Unterricht und die Ausbildung dort waren allerdings hart, sehr hart, ein halbes Jahr militärischer Ausbildung gehörte dazu. Dort erhielt ich 1949 mein erstes Abschlusszeugnis.

    Sie machten weiter?

    Ich wollte zur Hochschule. Das hieß: Arbeit und zugleich Studium. Das allein war schon anstrengend, aber hinzu kamen die schlimmen Wohnverhältnisse. 1952 heiratete ich meine Frau, stand aber noch bis 1955 auf der Liste der Wohnungssuchenden. Plötzlich erhielten wir ein Zimmer in einer Kommunalka. Zu den Schwierigkeiten gehörte auch: Menschen jüdischer Herkunft waren in den 50er Jahren bestimmte Arbeitsbereiche, gerade in der Nachrichtentechnik und der Militärtechnik insgesamt, verschlossen. Auf mich kam aber irgendwann ein Freund zu und forderte mich auf, in seinem Forschungsinstitut anzufangen. Es stellte sich heraus, dass es um Funktechnik zur Steuerung und Abwehr von Raketen ging, also ein Gebiet, das strenger Geheimhaltung unterlag, auf dem aber Tausende Menschen arbeiteten.

    Vom Blockadekind und Schafhirten zum Spitzenwissenschaftler?

    In den 60er Jahren begann ich eine Aspirantur, das war in der Sowjetunion ein Weg zur Promotion, wurde Dozent und schließlich Professor, erhielt viele Auszeichnungen. Nach meinem 60. Geburtstag und der Pensionierung wollten meine Frau und ich unserem Sohn nach Berlin folgen, ich nicht so sehr, aber meine Frau hatte hier eine ihr nahestehende Cousine, die in der DDR Generaldirektorin der Nachrichtenagentur ADN gewesen war. 1993 konnten wir ausreisen. Übrigens habe ich auch hier vor einem Jahr für meine ehrenamtliche Tätigkeit einen Orden erhalten, das Bundesverdienstkreuz. Das ist unter uns ehemaligen Sowjetbürgern selten.

    Wie empfinden Sie den Umgang mit dem Zweiten Weltkrieg und der Blockade Leningrads in der Bundesrepublik?

    Das ist nicht einfach. Ich habe dazu nicht wissenschaftlich gearbeitet und kann nur meine persönliche Meinung sagen: Die Leute in Deutschland wissen zumeist nichts davon und verstehen auch nichts. Jetzt herrscht dieser Krieg in der Ukraine, und ich höre, dass die Ukraine ihn gewinnen muss. Ich vermeide, darüber zu sprechen, denn die Menschen, die diesen Krieg führen, haben die schlimmen Ereignisse und Zeiten von damals vergessen. Wir Überlebende hören junge Leute sagen: »Die Krim gehört uns.« Ich finde das alles nicht richtig. Ich bin gegen Krieg, alle Menschen sollten in Frieden leben können, sollten Arbeit und Erholung haben. In unserem »Club Dialog« erzählen Zeitzeugen wie ich zu den Jahrestagen des Zweiten Weltkrieges davon. Wir arbeiten weiter, denn niemand ist vergessen und nichts ist vergessen.

    Leonid Berezin wurde 1929 in Sibirien geboren, kam aber als Kleinkind nach Leningrad. Er überlebte die Blockade der Stadt und arbeitete dort Jahrzehnte im Zentralen Forschungsinstitut für Schiffsinstrumente an Waffentypen, über die der Westen nicht verfügte. Seit 1992 lebt er in Berlin

    Siège de Léningrad
    https://fr.m.wikipedia.org/wiki/Si%C3%A8ge_de_L%C3%A9ningrad

    #URSS #Alkemagne #guerre #histoire

  • Kuba : 65 Jahre Kubanische Revolution
    https://www.jungewelt.de/artikel/466178.kuba-65-jahre-kubanische-revolution.html


    Fidel Castro bei einer Rede in Havana (ohne Datum)
    La résistance contre le super-puissances est possible. Aujourd’hui nous fêtons les 65 années de socialisme au Cuba.

    30.12.2024 von Volker Hermsdorf - Am Montag feiert das Land das Ende der Diktatur von Fulgencio Batista

    Millionen Kubaner feiern diesen Montag auch den 65. Jahrestag ihrer Revolution. Wie üblich, werden das neue Jahr und das Revolutionsjubiläum zu Silvester um Mitternacht auf der Festung San Carlos de la Cabaña über der Hafeneinfahrt der Hauptstadt mit 21 Salutschüssen begrüßt. Neben zahlreichen Aktivitäten im ganzen Land findet eine zentrale Feier im Céspedes-Park von Santiago de Cuba statt. Dort hatte Revolutionsführer Fidel Castro am 1. Januar 1959 von einem Balkon den Sieg der von ihm angeführten Rebellenarmee über das Regime des US-freundlichen Diktators Fulgencio Batista verkündet.

    »Wir können sagen, dass wir in den vier Jahrhunderten, seit unsere Nation begründet wurde, zum ersten Mal völlig frei sein werden«, erklärte Castro dort. Als ahnte er die kurz darauf beginnenden Angriffe von US-Regierungen auf die Unabhängigkeit und Souveränität seines Landes, fügte er hinzu: »Die Revolution beginnt jetzt. Sie wird keine einfache Aufgabe sein, sondern eine harte und gefahrvolle Unternehmung.«

    Seitdem unterliegt das erste sozialistische Land auf dem amerikanischen Kontinent der längsten und umfangreichsten Wirtschafts-, Handels- und Finanzblockade, die je gegen ein Volk verhängt wurde. Trotzdem verfügt Kuba seit Jahrzehnten über das politisch stabilste System der Region. Während viele Länder Lateinamerikas in den vergangenen Jahrzehnten unter meist US-freundlichen Diktatoren litten, die ihre Macht mit Todesschwadronen, Folter, »Verschwindenlassen« und Morden an Oppositionellen zu sichern versuchten, verteidigte Kuba mit Erfolg die Ziele der Revolution. In wenigen Jahren gelang es, die bis dahin im Bildungs- und Gesundheitsbereich rückständige Insel zum ersten vom Analphabetismus befreiten Land der Region zu machen. Und trotz US-Blockade verfügt Kuba weiterhin über die größte Anzahl von Ärzten und medizinischen Einrichtungen in Lateinamerika.

    Obwohl »die Last des Mangels« in vielen Bereichen auch an diesem Jahresende weiterbestehe, gebe es Errungenschaften, »die uns nicht einmal die schlimmsten Naturgewalten oder das Imperium nehmen konnten«, so Präsident Miguel Díaz-Canel in der letzten Parlamentssitzung des Jahres am 22. Dezember. »Feiern wir unsere Unabhängigkeit, unsere Souveränität und unsere Freiheit!«

    #Cuba #Révolution #Socialisme

  • Krieg gegen Gaza : »Wenn ich sterben muss« 
    https://www.jungewelt.de/artikel/465222.krieg-gegen-gaza-wenn-ich-sterben-muss.html

    Mahnwache für den getöteten Dichter Refaat Alareer aus Gaza (New York City, 8.12.2023)

    L’assassinat ciblé du poète Refaat Alareer et de sa famille est l’épisode particulièrement insupportable parmi tant d’actes insupportables qui montre que l’état d’Israël n’est plus un état de droit démocratique mais un minuscule Leviathan qui se comporte comme s’il faisait partie des grands méchants dont la bassesse abyssale est dépouvue de conséquences jusqu’au jour où ils s’auto-détruisent.

    Je plains les derniers pacifistes et défenseurs d’une cohabitation paisible de jufs et palestiniens. Il faudra leur offrir un refuge où il seront protégés de la catastrophe en cours.

    14.12.2023 von Jamal Iqrith - Refaat Alareer (Rif’at al-Ar’ir) war Dichter und Literaturprofessor an der Islamischen Universität von Gaza. Er hat zudem zahlreiche Publikationen herausgegeben, zum Beispiel »Gaza writes back« (2013), eine Anthologie mit Kurzgeschichten von 15 Schriftstellern aus der Enklave, und das Projekt »We are not Numbers« mitgegründet, das jungen palästinensischen Schriftstellern Schreibworkshops auf Englisch vermittelt.

    Am 6. Dezember gegen 18 Uhr wurde der 44jährige durch einen mutmaßlich gezielten israelischen Luftangriff zusammen mit seinem Bruder und dessen Sohn sowie seiner Schwester und ihren drei Kindern in Schujaija, im Osten von Gaza-Stadt, ermordet. Wie die Menschenrechtsorganisation »Euro-Mediterranean Human Rights Monitor« am 8. Dezember berichtete, wurde die Wohnung, in der Alareer und seine Familie untergebracht waren, nach bestätigten Augenzeugen- und Familienberichten aus dem Gebäude, in dem sie sich befand, »chirurgisch herausgebombt«. Wochenlang hatte der Schriftsteller demnach online und per Telefon Todesdrohungen erhalten, abgeschickt von israelischen Accounts und Nummern.

    Bereits vor seinem Tod wurde »die Stimme von Gaza« zu einem Symbol des palästinensischen Widerstands gegen die Besatzung, was Alareer wohl schlussendlich zum Verhängnis wurde. Mehrfach gab er internationalen Nachrichtensendern Interviews über die Situation im Gazastreifen und forderte die Weltöffentlichkeit zum Handeln auf. Tage vor seinem Tod heftete der Dichter eines seiner Gedichte an die Spitze seines Profils auf dem Kurznachrichtendienst X, das mit den Worten endet: »Wenn ich sterben muss, lass es Hoffnung bringen, lass es eine Geschichte sein«. Als Berichte über seine Ermordung bekanntwurden, ging das Gedicht um die Welt. Demonstranten zeigten bei propalästinenischen Kundgebungen Alareers Konterfei auf Plakaten. Der Nachrichtensender CNN, dem er zuvor in einem Interview gesagt hatte, dass er und seine Familie »nirgendwo anders hingehen« könnten, sowie andere große Medien, berichteten über den Tod des Schriftstellers. In einem seiner letzten Interviews mit dem Internetportal Electronic Intifada hatte er am 9. Oktober erklärt, als Akademiker sei das Gefährlichste, was er besitze, wohl ein Textmarker, den er aber »benutzen würde, um ihn auf israelische Soldaten zu werfen«, sollten sie einmarschieren. Am 10. Oktober, drei Tage nach Beginn des Krieges, sprach er mit junge Welt über die Situation im Gazastreifen.

    Schon zu diesem Zeitpunkt beklagte er die Hetze »israelischer Beamter, Politiker und Aktivisten überall in den sozialen Netzwerken und in den Mainstreammedien, die buchstäblich dazu aufrufen, Palästinenser mit Bomben zu bewerfen und Hunderttausende von Palästinensern als Kollateralschaden zu töten«. Dies geschehe überdies vor den Augen der Weltöffentlichkeit, und es gebe keine Gegenrede aus dem Ausland, das sich durch sein Schweigen an den Verbrechen gegen die Menschheit in Gaza mitschuldig mache: »Seit Jahrzehnten werden Palästinenser durch Israel getötet. Wenn wir sterben, hören wir kaum ein Wort«, so Alareer.

    Die »Aufrufe zum Völkermord« kamen laut dem Dichter jedoch nicht nur von israelischen Politikern, wie dem Verteidigungsminister Joaw Gallant, der »die Sprache der Nazis verwendet, um die Palästinenser als ›Tiere‹ zu entmenschlichen«, sondern ebenso von »amerikanischen und europäischen Politikern, die sich zu einem Massenritual beeilen«, das er als »Treuebekenntnis zu Israel und Netanjahu« bezeichnete.

    Der Lyriker erklärte weitsichtig, für die Palästinenser in Gaza gebe es keine Möglichkeiten zur Flucht: »Sie werden getötet, egal, wer sie sind, wo sie sind oder wie alt sie sind.« Da der Gazastreifen abgeriegelt sei, gebe es »keinen Ausweg«. Selbst wenn man »durch Bomben gezwungen sei, die eigenen Häuser zu verlassen und in die Stadtzentren und andere Schutzräume zu gehen«, nehme die Armee die Menschen ins Visier.

    Bereits am 10. Oktober war er überzeugt: »Die israelische Regierung arbeitet daran, Gaza in die ›Steinzeit‹ zu schicken«. Alareer befürchtete »Hunderttausende von Kollateralschäden im Gazastreifen, in dem rund die Hälfte der Bevölkerung unter 18 Jahre alt ist«. Die israelischen Regierungen hätten noch »nie ein Versprechen an die Palästinenser gehalten, es sei denn, sie versprachen Zerstörung und Tod«. Inzwischen sind laut »Euro-Mediterranean Human Rights Monitor« in gut zwei Monaten durch die Bomben über 23.000 Menschen getötet worden, mehr als 9.000 davon Kinder.

    Die Angriffe der Hamas vom 7. Oktober und den daran angeschlossenen Kampf anderer bewaffneter palästinensischer Fraktionen kommentierte er mit den Worten: »Alle Versuche, diplomatisch und friedlich von Israel die Freiheit wiederzuerlangen, sind gescheitert. Die israelische Regierung greift die BDS-Bewegung (»Boycott, Divestment and Sanctions«, jW) an und schießt auf friedliche Demonstranten. Die Palästinenser wurden in eine Ecke gedrängt, in der sie nichts zu verlieren haben. Nun tut die Welt überrascht, wenn sich das Ghetto gegen jahrzehntelange Unterdrückung, Verdrängung und Besatzung erhebt.«

    #Gaza #Israël #guerre #exécution_extrjudiciaire #assassinat #poésie #Zivilisationsbruch

  • Deutsch-israelische Beziehungen : »Seelische Bereinigung« 
    https://www.jungewelt.de/artikel/464628.deutsch-israelische-beziehungen-seelische-bereinigung.html


    Wussten um die braunen Kontinuitäten des westdeutschen Staates. Protest gegen den Bundeskanzler und dessen Staats­sekretär Hans Globke 1966 am Ben-Gurion-Flughafen bei Tel Aviv während Adenauers Staatsbesuch in Israel Michael Maor/picture alliance

    Tout le monde connait Eichmann. Son véritable patron, le commanditaire personnel de la déportation de 20.000 juifs grecs à Auschwitz, était sécretaire d’état à Bonn et éminence grise derrière Adenauer et n’a jamais été poursuivi pour ses crimes.

    Hans Globke a tout arrangé pour empêcher Eichmann de témoigner sur sa relation avec lui. Dans les protocoles du procès contre Eichmann son nom n’existe pas. L’état juif a sciemment collaboré avec ce bourreau pour des raisons pragmatiques. Globke et Adenauer payaient des millions à l’Israël et faisaient désormais partie du même racket anticommuniste comme la jeune nation juive.

    Ils avaient besoin l’un de l’autre, les allemands pour obscurcir la responsabilité des nouveaux maîtres à Bonn et le petit Israel pour renflouer ses caisses. Cette histoire d’amour inconditionnel cintinue jusqu’aujourd’hui. L’actuel gouvernement d’extrême droite à Tel Aviv cultive un état d’esprit assez proche de celui des nazi co-fondateurs de l’état ouest-allemand.

    5.12.2023 von Stefan Siegert - In einem alten Schwarzweißfilm kommt ein Mann auf die Kamera zu. Ein grauer Wintertag in den 1960er Jahren. Der Mann, geschätzt Anfang sechzig, geht nah am Kameraauge vorbei. Im Schatten der Krempe eines honorigen Filzhuts eine randlose Brille, im Ausschnitt eines grauen Wollmantels ein dunkler Kaschmirschal. Aus der Nähe wirkt es, als bemerke er niemanden außer sich selbst, das täuscht. Aktentasche links, geht er die Straße hinab. Sein Gang wie alles an ihm: nicht steif, aber kontrolliert, unerschütterlich korrekt, durch und durch ein Beamter. Er geht auf ein Gerichtsgebäude zu, schlüpft durch eine Hintertür hinein. Bis ganz zuletzt hat es dieser Mann geschafft, bei Gericht immer nur als Zeuge aufzutreten.

    »Ein Mann mit Vergangenheit«, hat ein Kenner in Hans Maria Globkes Zeit über ihn gesagt. Als der Publizist Reinhard M. Strecker die bis dahin bekanntgewordenen Bruchstücke der Vergangenheit Hans Globkes aufdeckte – der Deutschlandfunk stellte zuletzt noch 2021 fest, die Akten zum Fall Globke seien »bis heute nicht zugänglich« – und als dessen Buch über einige Dinge im Leben Hans Globkes 1961 schließlich herauskam, prozessierte Globke dagegen. Der Prozess endete mit einem Vergleich, das gerichtlich leicht beanstandete Buch überlebte seine erste Auflage nicht.

    Mann mit Vergangenheit

    Globke war ein mächtiger Mann. Als Chef des Bundeskanzleramts ab 1953 war er der höchste Beamte, er war der personalpolitische und geheimdienstliche Strippenzieher im Staate BRD. In allen westdeutschen Berichten über ihn steht zu lesen, Bundeskanzler Konrad Adenauer habe Globkes Können benutzt und zugleich den perfekten Verwaltungsjuristen und in Machtausübung erfahrenen politischen Berater wegen dessen Vergangnenheit stets in der Hand gehabt. Bei dieser Ansicht wird darüber hinweggesehen, dass es in den Hierarchiespitzen des kapitalistisch-liberalen Demokratietyps wenige, in der Öffentlichkeit weitgehend unsichtbare, außerhalb demokratischer Prozesse stehende Machthaber gab und gibt, welche die jeweiligen Bundeskanzler wenn nicht in der, so doch gut an der Hand haben: die CEOs der großen deutsch-internationalen Energie-, Chemie-, Technologie- und Finanzkonzerne. Sie führten Globke schon auf den Listen ihrer »Freundeskreise«, als es noch der Vorgänger von Konrad Adenauer im deutschen Kanzleramt war, der sich bis 1945 Globkes zweifellos überragender Fähigkeiten bediente. Irgendwo hat jemand diese Fähigkeiten klug auf den Punkt gebracht: »Hans Maria Globke konnte erbarmungslos schweigen.«

    Dieser Staat BRD, der es für geboten hält, die Sicherheit des Staates Israel zur bundesdeutschen »Staatsraison« zu erklären, weiß sich dem Staatsbeamten Globke gegenüber so dankbar, dass dessen Porträt bis heute im Bundeskanzleramt hängt. Ohne dass es viele wissen, ist allerdings seit langem bekannt und gut belegt: Hans Globke, 1898 als Sohn eines wohlhabenden Tuchhändlers in Düsseldorf geboren, hat bereits ab 1929 in seiner Eigenschaft als Regierungsrat im preußischen Innenministerium sein ganz besonderes Verhältnis zu den Juden Wirklichkeit werden lassen. So entstand im Oktober 1932 unter Globkes Federführung die »Verordnung über die Zuständigkeit zur Änderung von Familiennamen und Vornamen vom 21. November 1932«, die erste verwaltungstechnische Maßnahme zur gesonderten Erfassung aller deutschen Juden. 1937 sorgte der nunmehrige Ministerialrat Globke ganz oben im Reichsinnenministerium unter Wilhelm Frick – der am 16. Oktober 1946 in Nürnberg gehängt wurde – per Verordnung dafür, dass deutschen Juden, damit sie nicht mehr entwischen konnten, ein »J« in ihre Pässe eingeprägt wurde. Damit deutsche Menschen, denen ein »J« aufgeprägt war, nicht länger deutsche Namen beschmutzten, ersann im Herbst 1938 Hans Globke die Regelung, in ihre Pässe einen zweiten Vornamen eintragen zu lassen: Alle jüdischen Wilhelme oder Friedrichs des Deutschen Reichs hießen künftig »Wilhelm Israel« oder »Friedrich Israel«, alle deutschen Elfrieden oder Augustes jüdischer Abstammung hießen künftig »Elfriede Sara« oder »Auguste Sara«.

    Bereits 1936 hatte Globke die Nürnberger Rassengesetze der deutschen Reichsregierung dahingehend zur praktischen Anwendung empfohlen, dass es künftig für Deutschlands Volksgenossen galt, sich »im Blut rein« zu erhalten. Die kurze, aber heftige juristische Karriere des Straftatbestands »Rassenschande« geht auf Hans Globke zurück. Den Beteiligten war schon 1938 klar, dass solche Maßnahmen einer bewussten Vorbereitung der physischen Vernichtung der deutschen Juden dienten, nicht nur der deutschen Juden. Um die Umsetzung dieses Ziels machte sich Globke tatkräftig auch in den während des Krieges von der Naziwehrmacht besetzten Ländern verdient. Aus seit 1961 öffentlich zugänglichen CIA-Unterlagen geht hervor, dass Globke »möglicherweise« auch für die Deportation von 20.000 Juden aus Nordgriechenland in deutsche Vernichtungslager im besetzten Polen verantwortlich war. So hatte es Max Merten ohne Benutzung des Wörtchens »möglicherweise« zu Protokoll gegeben, der Verwaltungsoffizier der in Griechenland ihr Unwesen treibenden Heeresgruppe E. Daraufhin hatte der hessische Oberstaatsanwalt Fritz Bauer ein Ermittlungsverfahren gegen Globke eröffnet. Es wurde im Mai 1961 auf Intervention Adenauers an die Staatsanwaltschaft Bonn abgegeben, dort stellte man die Sache »mangels hinreichenden Tatverdachts« ein.
    Streng katholisch

    Um Hans Globkes sich geradezu sadistisch austobende Judophobie nachvollziehen zu können, gilt es, neben der über die ganze Welt verteilten religiösen und kulturellen Ethnie der Juden eine andere Religion ins Auge zu fassen, den römischen Katholizismus. Der Zweitname Globkes, Maria, deutet es an: Globke war nach Erziehung und Selbstverständnis das, was man verharmlosend »streng katholisch« nennt. Das lässt sich in dem, was er getan hat, bis in die Leibfeindlichkeit des Begriffs »Rassenschande« zurückverfolgen. Es war der CDU, deren Geld, darunter die üppigen Parteispenden aus der Industrie, Globke treulich verwaltete, es war derselben Partei, deren Geschicke er – eine Art früher CDU-Generalsekretär – aus dem Hintergrund lenkte und deren Werte er für die Zukunft prägte, es war der gesamten Rechten bis heute wichtig zu betonen, Hans Globke sei »kein Nazi« gewesen.

    Ein interessanter Gedanke. Globke war von 1922 bis zu deren Auflösung 1933 Mitglied der katholischen Zentrumspartei, einer ihrer führenden Repräsentanten war der Kölner Oberbürgermeister Konrad Adenauer. Diese Partei stand in engstem Kontakt mit dem 1939 als Pius XII. zum Papst aufgestiegenen ehemaligen vatikanischen Nuntius im Deutschen Reich, Eugenio Pacelli. Ein toxischer Kommunistenfeind, seit er 1917 von Revolutionären der bayerischen Räterepublik mit dem Revolver bedroht worden war (Globke hatte noch in den Adenauer-Jahren Pacellis »Rundschreiben über den atheistischen Kommunismus« auf dem Nachttisch). Berliner Statthalter dieses Papstes war zu Nazizeiten der Bischof Graf von Preysing, ein antikommunistischer Gegner Hitlers. Globkes Mitwirkung am »Widerstand«, auf die er sich nach dem Krieg herausredete, bezog sich vermutlich auf diesen Bischof und sein Umfeld. Preysing unterhielt 1944 auch Kontakte zu bürgerlich-aristokratischen Hitler-Gegnern: Globke unterrichtete also aus dem Innenministerium den Bischof von Preysing und über diesen den Papst über die Absichten der Nazis. Die Nazis nahmen dafür 1943 Globke auf seinen Antrag hin nicht in ihre Partei auf, mehr an »Widerstand« war nicht.

    Nazis oder Katholiken – für die Juden kam es aufs selbe heraus. Hans Globke konnte als faktischer Doppelagent gegen Ende des Krieges nicht mehr falschliegen. Egal, ob er faschistisch oder katholisch funktionierte: Er war auf der Seite derer, welche aus sehr unterschiedlichen Gründen die Kommunisten und die Juden hassten und beide ausrotten wollten. Die Nazis haben, wie von ihrem Führer in seinem Zwangsbestseller versprochen, das Ausrotten im 20. Jahrhundert wahrgemacht. Das Papsttum in Rom brauchte für ähnlich erschreckende Dimensionen knapp zweitausend Jahre. Das Christentum, Eugen Drewermann hat es faktenreich erzählt, ist Erfinder des Antijudaismus, viele seiner katholischen Anhänger waren für Jahrhunderte seine mörderischen Praktiker. Aber: Hat der Vatikan deswegen – wozu er mindestens so schlechte Gründe hatte wie die Bundesregierungen seit Angela Merkel – die Sicherheit Israels zu seiner Staatsraison erklärt? Und würde sich die römische Kurie endlich entschließen, sich für ihren Völkermord an den Juden unmissverständlich zu entschuldigen, sie müsste sich nicht nur an die Juden im Staat Israel wenden: Sie hätte bei der um vieles größeren, bis heute über den Erdball verstreuten und immer wieder verfolgten jüdischen Diaspora sehr ernsthaft und sehr lange um Vergebung zu bitten.
    Gehlens Mithilfe

    Spätestens an dieser Stelle müssen die Vereinigten Staaten ins Bild. Von der CIA war im Zusammenhang der Information über Globkes Mitwirkung an der Vernichtung von 20.000 nordgriechischen Juden bereits die Rede. Der sehr spezielle US-Geheimdienst trat im Fall Globke erstmals 1945 in Aktion. Der damalige CIA-Chef, Allen Dulles, saß schon im Winter 1944/45 an den Telefonen, Funkgeräten und Fernschreibern seines damaligen Hauptquartiers in Bern. Er muss gute Beziehungen zu den reichsdeutschen Eliten gehabt haben, er hatte den Überblick. Monate vor Ende des Krieges war er damit beschäftigt, die richtigen Leute für die künftig freiheitlich-demokratische Grundordnung Deutschlands zu rekrutieren.

    Als Volltreffer neben Hans Globke (CIA-Deckname »Causa«) erwies sich dabei Reinhard Gehlen (CIA-Deckname »Utility«), Hitlers Kommunistenjäger Nummer eins; Gehlen war als Chef der Abteilung »Fremde Heere Ost« Spezialist für die Ausrottung sowjetischer Kommunisten. Für die CIA baute General Gehlen nach Kriegsende einen deutschen Geheimdienst auf, die »Organisation Gehlen«. Globke integrierte sie 1949 als »Bundesnachrichtendienst« in den tiefen Staat Adenauers. Gehlen bedankte sich mit Gefälligkeiten wie der kostenlosen Bespitzelung von CDU-Konkurrenten; er jagte wie gewohnt die auch in den drei Westzonen immer noch regen Kommunisten.

    Maigalerie junge Welt, 7. Dezember 2023

    Wer im Internet den kurzen »Wochenschau«-Ausschnitt vom ersten Besuch Adenauers 1951 bei Pius XII. in Rom gesehen hat, wird für immer wissen: Auch dieser Katholik schwamm zuverlässig im Kielwasser der Spitze seiner Glaubensrichtung. Nie ward ein Achtzigjähriger gesichtet, der im Frack derart katzenartig leicht den Kratzfuß vollführte, bevor er seinem gleichaltrigen Heiligen Vater Lippe auf Knochen die Hand küsste. Die so besondere Beziehung der BRD zum nach dem Krieg entstandenen Staat Israel gehört wie die Aussöhnung mit Frankreich und die Festlegung Westdeutschlands auf die NATO zu den Grundpfeilern Adenauerscher Außenpolitik, der vatikanische Grundpfeiler bleibt ausgeblendet.

    Wie außerordentlich – mehr »fragwürdig« als »besonders« – die Beziehungen der Bundesrepublik zum Staat Israel sind, wird mit der Wahrnehmung deutlich, dass es bei wichtigen Entscheidungen wie dem Wiedergutmachungsabkommen mit Israel ausgerechnet der Staatssekretär Globke war, bei dem der Bundeskanzler, so Wikipedia, »auf gemeinsamen Spaziergängen im Garten des Kanzleramtes seinen Rat« einholte. Der Judenhasser Globke hat dieses Abkommen gehorsam und gewissenhaft maßgeblich mitgestaltet. Es diente laut Adenauers Bekundungen vor dem Bundestag in unnachahmlichem Deutsch der »seelischen Bereinigung unendlichen Leides«. Israel waren die vereinbarten bundesdeutschen 3,5 Milliarden US-Dollar hilfreich, sie waren abrufbar als Dienstleistungen und Warenlieferungen, heimliche Waffengroßlieferungen inklusive. Zu den »Dienstleistungen« gehörte des Generals Gehlen kompetente Mithilfe beim von der CIA verantworteten Aufbau der Keimzelle aller israelischen Geheimdienste, des Mossad. Neben den geopolitischen Nahostvorstellungen der Vereinigten Staaten war es vor allem die prekäre Finanzlage des jungen Staates Israel, die es der Regierung Ben Gurion 1950 geraten erscheinen ließ, mit den Deutschen zu reden. Die antideutschen Proteste in der jüdischen Bevölkerung Israels waren daraufhin gewaltig, das waren, in proarabischer Argumentation, auch die Proteste der westdeutschen Rechten, allen voran der sehr junge Bundestagsabgeordnete Franz-Josef Strauß.

    Da legten zwei so fundamentalistische Judenfeinde wie Reinhard Gehlen und Hans Globke für den Staat Israel ihren Antisemitismus beiseite. Es war Kalter Krieg. Die Karten wurden neu gemischt. Die Juden als Weltfeind waren out. Das Abendland sollte hinfort nur noch vor den Kommunisten gerettet werden.

    Als nötig erwies sich die Eingliederung der Schoah ins neue Weltbild: Der Adenauer-Staat musste moralisch und – ein für alle Mal! – auch materiell entschuldet, die »seelische Bereinigung unendlichen Leides« musste ins Werk gesetzt werden – aber bitte, ohne dabei den Pelz nass zu machen. Vielleicht war es der kühle Kopf Hans Globkes, dem die Idee entsprang: Man entledigte »Auschwitz« seines komplexen historischen Hintergrunds und machte die Schoah zum isoliert-monolithischen Mythos der Schuld. Dem entgegen kam die bedingungslose Unterstützung leider nicht aller Juden in der Welt, sondern nur die Unterstützung aller israelischen Regierungen bis heute. So könnte es gewesen sein, so könnten die israelischen Regierungen viel später zur »deutschen Staatsräson Israel« gekommen sein. Das hatten sich Globke und die Seinen so gedacht – noch ohne »Staatsräson« freilich, die machte erst Angela Merkel 2008 in einer Rede vor der Knesset erstmals öffentlich¹.
    Unvollständige Aufklärung

    Dann aber kam das Jahr 1960. Da saß seit dem 23. Mai ein gewisser Adolf Eichmann in israelischem Gewahrsam, es erwies sich: Der so sorgsam trockengewaschene Pelz drohte als die ganze Zeit triefend nass erkannt zu werden, es ließ sich nicht leugnen – man musste mit den Israelis über Hans Globke sprechen. Denn es bestand seitens der Bundesregierung die dringende Befürchtung, es könnte vor der versammelten internationalen Öffentlichkeit Globkes Verhältnis zu dem bald in Jerusalem vor Gericht stehenden Organisator des ersten industriellen Genozids der Weltgeschichte zur Sprache kommen.

    Ben Gurion hätte – wäre es öffentlich geworden – heftige Auseinandersetzungen im eigenen Land und in der Diaspora riskiert, hätte er sich auf Adenauers Drängen eingelassen, den Namen Globke im Prozessverlauf nicht in Erscheinung treten zu lassen. Auf welche Weise die Herren einig wurden, wird man, wenn alles gutgeht, in vielleicht 50 Jahren wissen, wenn die vollständigen Akten vorliegen. Fest steht: Der Name Globke fiel zwischen dem 11. April und dem 15. Dezember 1961 während des ganzen Jerusalemer Prozesses gegen Adolf Eichmann nicht ein einziges Mal in Erscheinung (Allen Dulles, so ist aus den Akten der CIA zu erfahren, habe zur selben Zeit persönlich die Erwähnung Globkes in einem Artikel des US-Magazins Life verhindert).

    Es ist, als werde in diesem Moment, wie in einem Brennglas, der Geburtsfehler des US-amerikanisch-deutsch formatierten deutsch-israelisch praktizierten Verhältnisses sichtbar. Die israelische Regierung muss einfach gewusst haben, mit wem sie da in einer besonderen Beziehung stand. Sie kann sich keine Illusionen gemacht haben über den geistigen Leviathan der Judenvernichtung mit Namen Hans Globke, dessen Existenz sie 1961 in Jerusalem vor der Weltöffentlichkeit verbarg. Wie konnten sich Juden nach all dem mit solchen Leuten einlassen?

    Man stelle sich vor: Der Staat Israel hätte 1961 aus Anlass des Eichmann-Prozesses vor den in Jerusalem versammelten Medien der Welt die vollständige Geschichte der Schoah erzählt. Man träume, er hätte den geschichtlichen Hintergrund und Zusammenhang der Vernichtungslager enthüllt, es hätte dem Gründungsmythos des Staates Israel entsprochen. So aber die Bilanz: das Grauen – enthüllt. Die den Juden (vom Verbrecherstaat Deutsches Reich) auferlegte, für die Nachlebenden unvorstellbare Marter mit ihrem millionenfachen Ende im Gas – enthüllt. Nicht enthüllt: das Netzwerk hinter Auschwitz, welches Globke verkörperte.

    Die DDR hat diese Enthüllung ab Juni 1963 in einem aufwendigen Prozess in Leipzig² vorgenommen. Dessen zeitgeschichtliches Substrat und seine im Kern sachliche, akribisch belegte Richtigkeit ignorierte der Westen mit den üblichen Schubladenfloskeln von wegen »Halbwahrheiten« und »Propanda-Show«: Das Netzwerk der Globkes und Gehlens und ihrer, dem erwähnten demokratieenthobenen Milieu entstammenden Weisungsbefugten sollte unsichtbar bleiben. Es sollte die Vorbereiter und Profiteure, die Finanziers von Auschwitz und Nazis nie gegeben haben. Nur den letzten Mosaikstein ihrer Beweiskette mussten die DDR-Juristen schuldig bleiben: einen direkten Beleg für die persönliche Kooperation von Adolf Eichmann und Hans Globke. Es gab eine erdrückende Fülle eindeutiger Indizien. Nur noch das Dokument, auf dem Eichmann den Namen des Bonner Staatssekretärs direkt erwähnte, fehlte.

    An dieser Stelle kommt Reinhard Streckers Buch über Globke erneut ins Spiel. Eichmanns Verteidiger brachte seinem Mandanten ein frischgedrucktes Exemplar in die Zelle nach Jerusalem mit. Eichmann las es, er machte sich auf vierzig engbeschriebenen Seiten Notizen. Von diesen Notizen wusste man, ihre Existenz war belegt. Seit 2006 sind sie wieder da. Sie fielen in den Tiefen des Koblenzer Bundesarchivs zufällig zwei Historikern in die Hände. Man hatte in den Bundesarchiven, wo sie hingehören, schon gar nicht mehr nach ihnen gesucht, so verschwunden waren sie; das Gros der Globke-Akten liegt ohnehin wohlverwahrt und unerreichbar in den unergründlichen Ablagen der Konrad-Adenauer-Stiftung. Im Internet sind Eichmanns Notizen in der Arte-Doku »Globke – ein Nazi in der BRD« zu sehen.³ Wer 2023 danach im Internet recherchiert, wird sich wundern, sie wirken abermals recht verschwunden.

    Mit ihnen aber hat die Welt die neben und über Eichmann welthistorische Rolle Hans Globkes nun schwarz auf weiß. Eichmann betont auf 40 Seiten mehrfach seine »Befehlsabhängigkeit« von den Verordnungen des Innenministeriums, er fordert die Vorladung Globkes, der das alles als der Verantwortliche zu seiner, Eichmanns, Entlastung bestätigen könne. »Die Deportationsdienststellen«, kritzelte Eichmann auf den Block, »brauchten in die Kommentare (zu den Nürnberger Gesetzen, St. S.) ja nur Einblick zu nehmen, um zu wissen, ob die Person zu dem vom Innenministerium festgestellten Personenkreis gehörte oder nicht«. Globke, das ist seitdem gesichert, war der Herr über Leben und Tod der Juden. Eichmanns Schlussfolgerung über seinen ehemaligen unmittelbaren Vorgesetzten trifft ins Braune: »Hier Staatssekretär einer Regierung – da zum Tode verurteilt!« Erst kommt das Fressen, dann die Doppelmoral.

    Die Juden, bliebe zusammenzufassen, sind nicht das Problem. Nicht etwa die jüdischen Staatsbürger Israels oder die vielen Millionen jüdischen Opfer in der Diaspora. Ihr Martyrium, ihre Aschegräber werden schändlich missbraucht von einer Regierungspolitik Israels, die, neben allem anderen, worüber zu reden wäre, in einem historisch entscheidenden Moment die Aufklärung verweigert hat über die Vorgeschichte und das historische Umfeld der ­Schoah. Aufklärung nicht, um mit irgend etwas recht zu behalten, Aufklärung, damit sich die Schoah nicht irgendwann irgendwo auf der Welt wiederholt. Die Schuldigkeit der damaligen israelischen Regierung gegenüber dem bald zweitausend Jahre weltweit befeindeten Volk der Juden wäre Aufklärung gewesen über die vollständige Geschichte der Schoah. Sie hat sich statt dessen für ein Bündnis mit der Welt der Globkes entschieden.

    Die aggressiv expansive Regierungspolitik Israels auf der einen – das zum Himmel schreiende Schicksal der Juden auf der anderen. Beides wird derzeit im Westen fälschlich gleichgesetzt.

    Anmerkungen

    1 Die »Sicherheit Israels« war im April 2004 erstmals in einem Essay des damaligen deutschen Botschafters in Israel als bundesdeutsche »Staatsräson« bezeichnet worden, sein Name: Rudolf Dreßler, bis heute verschweigt dieser uns als linker Sozialpolitiker in guter Erinnerung gebliebene SPD-Politiker, was ihn dazu bewog. Der Begriff selbst wurde von Niccolò Machiavelli geprägt, der Chefideologe absolutistischen Machthabens, ein demokratischen Denkens extrem unverdächtiger Mensch.

    2 Auf der Seite des MDR befindet sich ein Beitrag mit Originaltönen vom Globke-Prozess der DDR: Der Fall Globke – Adenauer und die Nazis. www.mdr.de/geschichte/ns-zeit/zweiter-weltkrieg/nachkriegszeit/hans-maria-globke-staatssekretaer-adenauer-100.html

    3 www.youtube.com/watch?v=AuEIpcMASic

    #Allemagne #Israël #histoire #shoa #gaza

  • Tag der Entscheidung
    https://www.jungewelt.de/artikel/464411.tag-der-entscheidung.html

    Als einziger Abgeordneter des Reichstags stimmte Karl Liebknecht am 2. Dezember 1914 gegen Kriegskredite

    2.12.2023 von von Sevim Dagdelen - Der 2. Dezember ist der Tag der historischen Entscheidung zwischen Militarismus und Antimilitarismus in Deutschland. 1914 stimmte der SPD-Abgeordnete Karl Liebknecht an diesem Tag als einziger Abgeordneter im Reichstag gegen die Kriegskredite zur Finanzierung des Feldzugs gegen Frankreich, Großbritannien und Russland. Es gehe um einen Verteidigungskrieg, ja um einen Befreiungskrieg Europas vom Joch des russischen Zarismus, tönte es damals allseits, gerade auch beim linken Flügel der Sozialdemokratie. Liebknecht nahm in seiner Stimmerklärung auf dieses Element der Kriegspropaganda Bezug: »Die deutsche Parole ›Gegen den Zarismus‹ diente (…) dem Zweck, die edelsten Instinkte, die revolutionären Überlieferungen und Hoffnungen des Volkes für den Völkerhass zu mobilisieren.«

    Die Kriegskredite von damals sind die Waffen- und Finanzhilfen an die Ukraine heute, sind die Entbehrungen des Wirtschaftskriegs gegen Russland und die schier schrankenlose Aufrüstung im Rahmen eines Stellvertreterkrieges von NATO und USA. Liebknechts Widerstandsgeist ist Vorbild, heute »Nein« zu sagen zu Deutschlands Weg in eine Kriegsbeteiligung gegen Russland.

    Bedingungslose Kriegsunterstützung für die Ukraine mit nunmehr 50 Milliarden Euro Steuergeldern, Sanktionen gegen Russland, die den höchsten Reallohnverlust für Beschäftigte in der Geschichte der Bundesrepublik mit sich brachten, und eine Haushaltsplanung, die für 2024 mit 90 Milliarden Euro mehr als 20 Prozent für Militär und Waffen vorsieht. Es gibt nicht eine Fraktion im Deutschen Bundestag, die sich gegen diesen toxischen Politikmix der Ampel stellt. Entweder werden Aufrüstung, Wirtschaftskrieg und Überweisungen an Kiew befürwortet oder Waffenlieferungen in ein Kriegsgebiet als Verteidigung legitimiert und Sanktionen gegen russische Oligarchen in Stellung gebracht, die am Ende aber doch die gesamte Wirtschaft und damit die Bevölkerung treffen.

    Der Stellvertreterkrieg der NATO an der Seite der USA in der Ukraine ist ein Krieg für finstere geopolitische Zwecke, ein Krieg für eine Weltordnung, die auf Ausbeutung, Neokolonialismus und Unterdrückung des globalen Südens setzt. Verbunden ist dieser Krieg mit einem sozialen Angriff der Bundesregierung auf die eigene Bevölkerung, die die Zeche für einen neuen Militarismus zahlen soll. Über 5,5 Millionen Menschen können in Deutschland nicht mehr angemessen heizen, eine Verdoppelung seit Beginn der Energiesanktionen gegen Russland. Der Aktienwert von Rheinmetall dagegen ist seit Amtsübernahme der Ampel um über 250 Prozent gestiegen. Es ist Zeit für einen Tag der Entscheidung. Zeit, den Kriegstreibern im Land, die auf Durchhalteparolen, Mästung der Rüstungskonzerne und Steigerung des Elends der Beschäftigten setzen, in den Arm zu fallen.

    Sevim Dagdelen vom »Bündnis Sahra Wagenknecht« ist Mitglied des Deutschen Bundestages.

    #Allemagne #guerre #histoire #politique #Ukraine #1914-1918

  • Gert Wunderlich: »Wenn die Sonne tief steht, werfen selbst Zwerge lange Schatten.«
    https://www.jungewelt.de/artikel/463451.ddr-grafik-meister-der-form.html

    18.11.2023 von Peter Michel - Eine Erinnerung an den Plakatkünstler, Typographen, Buch- und Schriftgestalter Gert Wunderlich anlässlich seines 90. Geburtstages

    »Die Meisterung der Form, wenn sie keine leere Virtuosität, sondern eine wahre ­Meisterschaft sein soll, kommt aus einer ­Disziplin, die den ganzen Menschen ergreift.«, Johannes R. Becher

    Am 15. August 2023 verstarb Gert Wunderlich. Er war international geachtet und anerkannt. Gemeinsam mit seiner Frau Sonja sorgte er bis in die Gegenwart dafür, dass Maßstäbe einer anspruchsvollen Gebrauchsgrafik nicht aus dem Gedächtnis verschwinden. Seinen 90. Geburtstag erlebte er nicht mehr. Am 8. September 2023 wurde er auf dem Leipziger Südfriedhof beigesetzt.

    »Überklebt – Plakate aus der DDR« war der Titel einer Ausstellung, die 2008 in der Galerie der Gesellschaft zum Schutz von Bürgerrecht und Menschenwürde (GBM) stattfand, kuratiert von der Kunsthistorikerin Sylke Wunderlich. Auch ihr Vater, Gert Wunderlich, war zur Eröffnung am 22. Oktober erschienen. So sahen wir uns nach vielen Jahren wieder. Er gehörte zu den Lesern und Unterstützern unserer Zeitschrift Icarus.¹ Wir erinnerten uns an die gemeinsame Arbeit im Künstlerverband und an die jährlichen Ausstellungen der besten Plakate. Wir waren uns darin einig, dass die Plakatkunst in der DDR eigenständig war, dass sich – wie Friedrich Dieckmann in einem Katalogtext schrieb – an der Spitze der Zunft ein künstlerischer Eigensinn behauptet hatte, »der wusste, was in der Welt an relevanter Plakatgrafik produziert wurde, in Polen und in Japan, in Frankreich, Westdeutschland oder den USA, und ihr eine Kunst humaner Differenzierung, des intrikaten Effekts, der malerischen Figur, auch der vehementen Collage entgegensetzte, fast verträumt manchmal, dann wieder scharfzüngig oder auf ernsthafteste Weise verspielt«.²

    Der Leipziger Verlag Faber & Faber hatte im selben Jahr in seiner Reihe »Die Graphischen Bücher« einen Band mit einem Text des Wuppertaler Ästhetikprofessors Bazon Brock herausgegeben. Dieses Buch trug den Titel »Kotflügel. Sprechmaschine nackt im Damenjournal«. Brock war als Provokateur bekannt, er hielt auf dem Kopf stehend Vorträge, warf seine Schuhe in den Ätna und gründete ein Institut für Gerüchteverbreitung. Er war an Happenings mit Joseph Beuys beteiligt, bemühte sich, der öffentlich verbreiteten Ideologie entgegenzusteuern und hatte auf die Künstlergeneration der »Neuen Wilden« entscheidenden Einfluss. Gert Wunderlich gestaltete dieses Buch, legte jedem Exemplar acht schon 2006 geschaffene Originaltypographiken auf Transparentfolie bei und schrieb in eine der Ausgaben: »Wenn die Sonne tief steht, werfen selbst Zwerge lange Schatten.« Hier übertraf wohl eine Ironie die andere. Als die Weimarer Ausstellung »Aufstieg und Fall der Moderne«, in der es 1999 um die Diskriminierung in der DDR entstandener Kunst ging, von allen Seiten heftig kritisiert wurde, hatte sich auch Bazon Brock eingemischt. Im Deutschlandradio Berlin äußerte er, angesichts dessen, was Ausstellungen und Kunstmarkt den Künstlern im Westen zugemutet hätten, sei die Kritik an der Weimarer Ausstellung lachhaft.³ Er war es also gewöhnt, dass man Kunst wie Müll behandelt.

    Die transparenten Originaltypographiken von Gert Wunderlich verstehe ich demgegenüber als Zeugnisse des Bestehens auf einer künstlerischen Leistung, die unwiederholbar ist und die man achten muss. Wunderlich spielte mit Schriften, farbigen und schwarzen, winzigen und großen Typen, mit geometrischen Formen, die die Funktion von Schriftzeichen übernehmen, mit spannungsvoll komponierten Flächen, mit herausfordernden Verrätselungen – und wenn man die Grafiken gegen das Licht hält, entstehen Assoziationen zu den Sprachblättern von Carlfriedrich Claus. Das sind Werke eines Künstlers, der sein typographisches Handwerk perfekt beherrschte und der solche Spiele – die natürlich ihren Eigenwert haben – braucht, um klare Botschaften ebenso meisterhaft unter die Leute zu bringen.
    »affiche directe«

    Sein Plakat »Hemmungsloser Maximalprofit tötet Moral« aus der Serie »affiche directe«, das 2008 entstand, ist ein Beispiel dafür. Der Begriff »Maximalprofit« steht schwer, schwarz und blockhaft im Zentrum. Die roten Schriftzüge bilden die weitergehende Aussage: »Profitgier tötet«, wobei die kalligrafisch scheinbar schnell hingeworfene und die massige Blockschriftzeile in ihrer Gegensätzlichkeit jeweils nach oben oder unten weisen und nach links einen Keil bilden. Es werden Bezüge zur frühen nachrevolutionären russischen Kunst deutlich. Die Serie »affiche directe« entstand seit den 1970er Jahren zu gesellschaftspolitischen Themen, die national und international von entscheidender Bedeutung waren – und noch sind. Hier stellten Gert und Sonja Wunderlich ihre eindeutige Haltung in einer breiten Öffentlichkeit aus. Sie stießen die Betrachter mit ihren Plakaten und Postkarten sehr direkt auf aktuell brennende Probleme, provozierten ein Weiterdenken und forderten zum Handeln auf. Sie nutzten dafür typographische, schriftgrafische und fotografische Mittel. Auf einem Plakat aus dem Jahr 1999 sind auf schwarzem Grund das NATO-Symbol und das Hakenkreuz miteinander verzahnt; darüber in Gelb das Wort »Aggressoren« und oben die Jahreszahlen 1939 und 1999 mit schlagwortartigen Schriftzügen: »Überfall deutscher Truppen auf Polen: 1.9.1939« und »Bombenkrieg der NATO gegen Serbien. Ohne UN-Mandat: 24.3.1999«.
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    Gert Wunderlich/Stiftung Plakat OST (2)

    Gert Wunderlich: Nie wieder Faschismus, Plakat (2006)

    Einige Postkarten dieser Serie schickte Gert Wunderlich an uns. Meist sind sie mit persönlichen Widmungen versehen. Wir bewahren sie als Zeugnisse unserer Freundschaft. »Kriege sind vom Aussterben nicht bedroht … Megaprofite, imperiale Gewalt und religiöser Fanatismus sind gegenwärtig«, steht auf einer dieser Postkarten aus dem Jahr 2014. Auf einer anderen wird davor gewarnt, Russland permanent als »Reich des Bösen« zu diffamieren. Auf der Rückseite einer Postkarte zur anhaltenden inneren Spaltung der Deutschen zitiert Gert Wunderlich eine Äußerung Stefan Zweigs aus dem Jahr 1938 über den Hass zwischen Systemen, Parteien, Klassen, »Rassen« und Ideologien. Anlässlich der V. Internationalen Plakatausstellung in Leipzig 2022 entstand sein Plakat mit dem Text des Gedichtes »Das große Karthago …« von Bertolt Brecht. Im selben Jahr beteiligten sich Sonja und Gert Wunderlich an einem japanischen Plakatwettbewerb gegen den Krieg und nutzten dafür die Nationalfarben der Ukraine.

    Das schöpferische Spiel mit der Schrift ist typisch für Gert Wunderlichs Plakatkunst. Als er das Plakat für die Internationale Buchkunstausstellung in Leipzig schuf, ordnete er die vierfach wiederholten Schriftzeichen der Abkürzung »iba« spiegelbildlich um eine senkrechte Mittelachse. Für die Thomas-Mann-Ehrung 1975 sind auf einer dunkelblauen Fläche drei Schriftzeilen an den oberen und unteren Rand sowie in die Mitte gestellt, so dass unter dem Wort »Mann« die Fliege genügt – die der Schriftsteller gern anstelle einer Krawatte trug –, um den Betrachter darauf zu stoßen, worum es geht. Beinahe monumental ist auf einem Plakat für eine Aufführung des »Rings des Nibelungen« die blockhafte Masse der schweren Typen auf einen Bühnenboden gestellt – als ein Zeichen für die Gewalt der Wagnerschen Musik. Ebenso symbolisiert ein kräftiger Punkt mit auf- und abschwellenden Linien die Kunst der Grafik auf einem Plakat für die Ausstellung »100 ausgewählte Grafiken 1977«. Solche Klarheit des Aufbaus bestimmte auch ein Schriftplakat zur Abrüstung 1983 und ein Plakat mit kyrillischer Schrift für eine Ausstellung grafischer Arbeiten der Leipziger Hochschule für Grafik und Buchkunst 1989 in Moskau. Fast alle diese Arbeiten sind Kulturplakate. Der Blickfang ist auf weite Sicht konzipiert, die notwendigen weiterführenden Informationen sind klein gedruckt. Wer neugierig geworden ist, tritt an das Plakat heran.
    Konsequenter Lebensweg

    Gert Wunderlich wurde am 18. November 1933 in Leipzig geboren. Er erlernte in den Deutschen Grafischen Werkstätten den Beruf des Schriftsetzers und studierte anschließend an der Hochschule für Grafik und Buchkunst Leipzig (HGB) bei Irmgard Horlbeck-Kappler, Wolfgang Mattheuer und Elisabeth Altmann im Grundstudium. Sein Fachstudium absolvierte er bei den Designern, Kalligraphen und Typographen Albert Kapr, Oskar Zech und Otto Erler. Nach dem Diplom arbeitete er bis 1960 als Buchgestalter in der Druckerei »Fortschritt« Erfurt. 1959 wurde Wunderlich in den Verband Bildender Künstler aufgenommen. Seine erste große internationale Aufgabe war die Tätigkeit als Sekretär der Internationalen Buchkunstausstellung in Leipzig. Das dafür geschaffene Plakat machte ihn über die Grenzen der DDR hinaus bekannt. 1966 wurde er Aspirant bei Albert Kapr, 1967 Assistent, 1968 Oberassistent und 1971 Dozent. Der Bund Deutscher Buchkünstler, der seinen Sitz in Offenbach am Main hat, nahm ihn im selben Jahr als Mitglied auf. 1979 übertrug man ihm eine Professur mit künstlerischer Lehrtätigkeit sowie die Leitung der Abteilung Buchgestaltung/Gebrauchsgrafik an der HGB. 1982 wurde Wunderlich zum Vorsitzenden des DDR-Zweigs des International Council of Graphic Design Associations (Weltdachverband für Grafikdesign und visuelle Kommunikation, Icograda) gewählt. Eine erste Gastdozentur im Ausland führte ihn 1988 an die Akademie für Kunst und Design nach Beijing. Von 1991 bis 1999 bildete er Meisterschüler aus. 1992 erfolgte die Berufung als Professor neuen Rechts an der Leipziger Hochschule, bis 1999 leitete er dort die Fachklasse für Typographie, Buch- und Plakatgestaltung. Nach seiner Emeritierung ging Wunderlich 1999 noch einmal als Gastdozent für praktisch-künstlerischen Unterricht nach Beijing und hielt Vorträge an der Universität Xiamen und an der Kunsthochschule Suzhou. Er arbeitete in zahlreichen nationalen und internationalen Jurys mit und war von 1992 bis 2011 Mitglied des Kuratoriums zur Verleihung des Gutenberg-Preises der Städte Leipzig und Mainz.

    Gert Wunderlich gehörte zu den Typographen, die bis heute Maßstäbe setzen. Die klassische Ausbildung, die er nach dem Zweiten Weltkrieg in Leipzig erhielt, ist heute nicht mehr allgemein üblich. Sie schloss Offenheit gegenüber anderen Kunstbereichen ein. Schon in den 1950er Jahren – als das noch nicht selbstverständlich war – beschäftigte er sich mit dem Erbe des Expressionismus und des Bauhauses. Bewährtes und Neues zusammenzuführen, war Wunderlich wichtig. Stets war er der Auffassung, dass die typographische Form dem Inhalt entsprechen müsse; er wählte Formen, die es ermöglichen, einen Text dauerhaft erlebbar zu machen und zugleich die Lesbarkeit zu sichern. Das ist ohne gestalterische Disziplin nicht möglich; visuelles Marktgeschrei verbietet sich.

    Wunderlich entwickelte neue Schriften, darunter die »Antiqua 58«. Die von ihm geschaffene Linear-Antiqua »Maxima« gehörte wegen ihrer guten Lesbarkeit, ihrer Formschönheit und Ausdruckskraft in den 1980er Jahren zu den meistgenutzten Groteskschriften in der DDR und wurde für alle Buchgenres, aber auch zum Beispiel im Berliner Nahverkehr genutzt.
    Eigene Buchkunsttradition

    Die von Wunderlich gestalteten Bücher sind kaum zählbar. Wolfgang Hütts Bücher über Lea Grundig und Willi Sitte gehören dazu, der Sammelband »Weggefährten. 25 Künstler der DDR«, die vom Künstlerverband herausgegebene Publikation »Gebrauchsgrafik in der DDR«, Günter Meißners Buch über Werner Tübke, das Gert Wunderlich und seine Frau Sonja gestalteten, und andere. Gemeinsam mit den beiden älteren Buchgestaltern Albert Kapr und Walter Schiller gilt Gert Wunderlich als Vertreter einer Buchkunsttradition, die sich seit den 1950er Jahren in der DDR herausbildete – oft unter materiellen Schwierigkeiten und begleitet von kulturpolitischen Auseinandersetzungen. Die Zusammenarbeit mit Grafikern und Illustratoren war ihm stets wichtig, um ein ganzheitliches buchkünstlerisches Werk zu schaffen. Zwischen 1991 und 2011 schuf er zum Beispiel für den Leipziger Bibliophilen-Abend vorbildhaft gestaltete Bücher und Buchkassetten mit Holzstichen von Karl-Georg Hirsch, Lithographien und Steindrucken von Jiří Šalamoun und Rolf Münzner, Holzschnitten, Kupferstichen und Radierungen von Baldwin Zettl, Hans Ticha, Joachim John, Rolf Kuhrt und anderen. Seine Arbeiten zu Texten von Edgar Allan Poe, Bertolt Brecht, Volker Braun, Hermann Kant, Rolf Hochhuth, Lothar Lang und anderen sind Meisterwerke, die ihresgleichen suchen. Viele Verlage schätzten Gert Wunderlich als einfühlsamen, maßstabsetzenden Gestalter. Wenn man solche Bücher in die Hand nimmt und sieht, wie alle Teile zusammenspielen, wie komplizierte Texte und unterschiedliche grafische Elemente ein Ganzes geworden sind, wird einem die ästhetische Verarmung der Gegenwart bewusst. Aus dem Kulturgut Buch ist in vielen Fällen ein Wegwerfartikel geworden, eine Ware wie jede andere.
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    Gert Wunderlich/Stiftung Plakat OST

    Gert Wunderlich: Plakat für den Wettbewerb »100 Ausgewählte Grafiken« 1977 (1977)

    Bis kurz vor seinem Tod bestritt Wunderlich unzählige Einzel- und Gruppenausstellungen und wurde vielfach ausgezeichnet. Seine Arbeiten sind in Sammlungen auf der ganzen Welt zu finden. Der 1933 Geborene konnte auf das Erreichte stolz sein. Es machte ihn sympathisch, dass er bei alledem bescheiden auftrat und nicht vergaß, woher er kam. Wir trafen uns im Sommer 2013 zum letzten Mal. Der Anlass war traurig und unser Treffen war zufällig. In der Menschenmenge vor der Feierhalle auf dem Gertraudenfriedhof in Halle sahen wir uns, als wir von Willi Sitte Abschied nahmen.

    Der Grafikdesigner Kurt Weidemann schrieb: »Wer Typographie macht, dem muss es völlig wurscht sein, ob er im Trend liegt, up to date ist oder nicht. Wer dauernd neuen Idolen dient oder sie nur abkupfert, verliert seine Identität. Wer Angst davor hat, als altmodisch bezeichnet zu werden, darf seinen Kontrahenten Ahnungslosigkeit und Unkenntnis der Geschichte vorwerfen.«⁴ Gert Wunderlich besaß dieses Selbstbewusstsein. Und die Anmerkung Kurt Weidemanns betrifft wohl nicht nur die Typographie.

    Anmerkungen

    1 Icarus, Zeitschrift für soziale Theorie, Menschenrechte und Kultur, herausgegeben von der Gesellschaft zum Schutz von Bürgerrecht und Menschenwürde

    2 Friedrich Dieckmann: Eigensinn und Eigenart. Plakate aus der Deutschen Demokratischen Republik. In: Überklebt – Plakate aus der DDR, Schwerin 2007, S. 9

    3 Gespräch mit Bazon Brock, Deutschlandradio Berlin, Mai 1999. Siehe auch: Peter Michel: Ankunft in der Freiheit. Essays gegen den Werteverlust der Zeit, Berlin 2011, S. 42

    4 Kurt Weidemann: Typografen sind Dienstleute. In: Sonja und Gert Wunderlich: Graphik-Design, herausgegeben von der Stiftung Plakat Ost, Leipzig 2013, S. 94

    #art #DDR

  • Sozialreform in Deutschland: Dem Umsturz vorbauen
    https://www.jungewelt.de/artikel/461153.sozialreform-in-deutschland-dem-umsturz-vorbauen.html


    Dem Staatsgebäude ein paar stützende Säulen einziehen, um es vor dem Einsturz zu bewahren. Karikatur zur Sozialreform in der sozialdemokratischen Satirezeitschrift Der wahre Jakob, Januar 1884

    Le bougeois sous le Kaiser comprenaient qu’il leur fallait freiner la montée du parti social-démocrate. Il nous ont légué une association de bienfaiteurs le Verein für Socialpolitik VfS.

    24.10.2023 von Ingar Solty - Kathedersozialliberale. Vor 150 Jahren wurde der Verein für Socialpolitik gegründet.

    Die immer stärker werdende Arbeiterbewegung in den 1870er Jahren zwang das Bürgertum zu einer Reaktion. Die Kombination aus Erster Internationale (1864–1872) und Pariser Kommune 1871 hatte den Herrschenden das Herz in die Hose rutschen lassen. Der Beginn einer weltumspannenden kapitalistischen Krise verstärkte 1873 die Angst vor einer sozialistischen Revolution. Der Aufstieg der Sozialdemokratie zur Massenpartei schien diese Angst zu bestätigen. Die Reaktion der Herrschenden zeigte zwei verschiedene Tendenzen: einerseits die buchstäbliche Reaktion, die eine demokratische Mobilisierung der Arbeiterklasse mit dem althergebrachten Mitteln aus Unterdrückung und ideologischer Ablenkung im Keim ersticken sollte. Andererseits der weitgefasste »Sozialliberalismus« (Reinhard Opitz), der den Arbeitern entgegenkam, um ihnen den umstürzlerischen Wind aus den Segeln zu nehmen.

    Die erste Strömung setzte auf Demagogie: Die 1876 gegründete Deutschkonservative Partei, die evangelische Kirche unter dem Berliner Domprediger Adolf Stoecker und die »Berliner Bewegung« mobilisierten den Antisemitismus. Das verfing vor allem bei den Grundbesitzern, weil die ökonomische Wut über globalisierte Agrarkonkurrenz, Deflation und Kreditnot sich als Judenhass kanalisieren ließ. Zugleich sollte der Antisemitismus auch die Arbeiter gewinnen. In diesem »Präfaschismus« (Hans-Jürgen Puhle) waren bereits wesentliche Elemente der faschistischen Bewegung herausgebildet.

    Die zweite Strömung entstand in den ideologischen Staatsapparaten. Es brauchte praktische Integrationsangebote, um die mit dem Kapitalismus entstandenen Unsicherheiten einigermaßen abzufedern und die widerspenstige Arbeiterklasse davon zu überzeugen, dass das kapitalistische System und die althergebrachten undemokratischen Hierarchien doch tolerabel seien. Die Geschichte vereint Elemente beider Strömungen, wobei die »Ordnungspartei« dominant blieb: Bei Bismarcks »Zuckerbrot-und-Peitsche«-Politik war das Parteiverbot (»Sozialistengesetz«, 1878–1890) entscheidend und ging auch der Einführung der eingeschränkten Sozialversicherung von 1884 voraus.

    Sozialkonservative Bündnispläne

    Im Geist der Reform von oben zur Verhinderung der Revolution von unten wurde vor 150 Jahren der einflussreiche und bis heute existente »Verein für Socialpolitik« (VfS) gegründet. Lange bezeichnete man die dort Organisierten als »Kathedersozialisten«. Das Attribut »Katheder« verweist auf deren universitäre Verankerung. Sozialismus nannten die Herrschenden in dieser Zeit indes alles, was von der wirtschaftsliberalen Orthodoxie abwich. In Wahrheit handelte es sich bei der Hauptströmung im VfS um Sozialliberale. Sie stellten den krisenhaften Kapitalismus nicht prinzipiell in Frage, sondern diskutierten, welche Sozialpolitik – Regulierung, Redistribution, Staatsinterventionismus – nötig sei, um ihn zu stabilisieren. Es entstand so unter dem Druck von unten und in der Krise der liberalkapitalistischen Weltordnung die Theorietradition der Institutionellen Politischen Ökonomie zwischen Marxismus einerseits und der sich herausbildenden altwirtschaftsliberalen Neoklassik andererseits. Zu ihr zählen letztlich John Stuart Mill, die Historische Schule der Nationalökonomie, Werner Sombart, Max Weber, John Maynard Keynes, John K. Galbraith, u. a.

    Die Bemühung um eine Sozialreform war indes älter. Die Sozialkonservativen im Umfeld von Bismarcks Geheimrat Hermann Wagener und der von ihm herausgegebenen Berliner Revue hatten schon in den 1860er Jahren die weltgeschichtliche Bedeutung der Arbeiterbewegung erkannt und versucht, den Agrarier Bismarck für ein Bündnis der konservativen, kapitalistisch gewordenen Grundbesitzerpartei mit der Industriearbeiterklasse zu gewinnen. Dies entstand im antirevolutionären Geist des »sozialen Königtums« (Lorenz Stein). Es sollte zugleich den Reichskanzler, dessen Machtbasis eine »Klassensymbiose von Junkertum und Bourgeoisie« (Lothar Machtan/Dietrich Milles) war, aus der Abhängigkeit vom liberalen Bürgertum befreien, das parlamentarisch die Mehrheit bildete. Bismarck hatte sich, wie auch sein Briefwechsel mit Lassalle zeigt, hierfür zunächst offen gezeigt.

    Ein solches Bündnis wäre freilich zwangsläufig auf Kosten der Landarbeiterklasse gegangen. Denn die ostelbischen Großgrundbesitzer, die sich im Zuge der »Bauernbefreiung« sukzessive das Agrarland der Kleinbauern unter den Nagel gerissen hatten, waren nicht bereit, sich auf die Vorschläge der Berliner Revue für einen Normalarbeitstag für Landarbeiter einzulassen.

    Daraus ergaben sich aber neue Widersprüche. Mit der Krise des Junkertums wurden sie offensichtlich. Die kleinen sozialkonservativen Kreise beschäftigten sich mit der Agrarfrage weniger aus Sorge um die Landarbeiter, sondern aus Angst vor der Agrarmonopolisierung und ihren Folgen. Sie erschien ihnen aus staatspolitischen Gründen heikel, weil sie eine doppelte Abwanderung zur Folge hatte: nach Nordamerika und in die Städte. Damit verbunden war die Angst vor landwirtschaftlichem Arbeitskräftemangel, der Polonisierung der östlichen Kolonialgebiete (vor allem Ostpreußens), der Wehrunfähigkeit im Osten und des Verlusts der Ernährungssouveränität. Die Abwanderung in die Städte ließ zudem einen Bedeutungszuwachs der Arbeiterbewegung und des Sozialismus auch im Militär befürchten.

    Das kleine und mittlere Grundeigentum sollte aus all diesen Erwägungen heraus erhalten werden. Es entzündete sich eine Debatte über dessen Konkurrenzfähigkeit gegenüber dem agrarischen Großgrundbesitz. Die Abwanderung verschärfte sich dabei in dem Maße, wie die »Große Depression« auch Ergebnis der Globalisierung der Agrarmärkte war, was eine »Große Deflation« und einen entsprechenden Abwertungsdruck für die Landarbeit sowie intensivierten Rationalisierungsdruck für die ostelbisch-gutsherrschaftliche Landwirtschaft bedeutete. Insofern aber die Finanzkrise bei den Banken eine restriktive Politik des Geldverleihs bewirkte, verteuerten sich die für die Rationalisierung nötigen Kredite. Diese »Kreditnot des Grundbesitzes« (Karl Rodbertus) war die Triebkraft des Antisemitismus, weil die Konservativen die Wut auf das Finanzkapital gegen die Juden richteten.

    Die Angst vor der Arbeiterbewegung wiederum war die Triebfeder der »Eisenacher Versammlung zur Besprechung der sozialen Frage« vom 6. bis 8. Oktober 1872. Aus ihr ging ein Jahr später der »Verein für Socialpolitik« hervor. Mitten in diesem Prozess ereignete sich allerdings die bis dahin größte Krise des Kapitalismus. Seit dem Winter 1872/73 gab es die ersten Warnsignale. Schließlich kam es zwischen dem 23. April und dem 1. Mai zum Wiener Börsencrash mit Kursverfall und Panikverkäufen. Im Juni erreichte die Finanzkrise Berlin. Am 15. September brach die New Yorker Bank Jay Cooke & Co. zusammen, die den Eisenbahnbau finanziert hatte. Es folgte die »Große Depression« (Hans Rosenberg), die bis 1896 anhielt.

    Die Krise warf neue Fragen auf. Sie war eine »organische« (Antonio Gramsci), insofern sich in ihr ausdrückte, dass der bisherige Entwicklungstyp des Kapitalismus an seine inneren Grenzen gestoßen war. Mit der Entstehung der großen Konzerne vollzog sich der Übergang vom Konkurrenz- zum Monopolkapitalismus. Die Überakkumulation produzierte Überschusskapital auf der Suche nach profitablen Anlagesphären und intensivierte internationale Spannungen. Aus diesem Grund forderten die neu entstandenen Verbände von Großgrundbesitz und Industriekapital nun Schutzzölle. Zugleich drängten die nationalen Bourgeoisien zur Gewährleistung von Kapitalexport und zum Schutz von Auslandsinvestitionen ihre Staaten in Richtung Kolonialismus. So war die Weltwirtschafts- auch eine Transformationskrise. Auf dem Weg des Krisenmanagements verwandelte sich der alte liberale Konkurrenzkapitalismus im Rahmen der freihändlerischen »Pax Britannica« in den »Organisierten Kapitalismus« (Rudolf Hilferding) der zwischenimperialistischen Rivalitäten in einem fragmentierten Weltmarkt der Kolonialreiche. Der Kurs in Richtung Erster Weltkrieg war damit gesetzt.
    Ideologie der nachholenden Nation

    Der Umbruchprozess war notwendigerweise auch ein intellektueller. In den Diskussionen im VfS lässt sich die krisengetriebene Theoriegeschichte der politischen Ökonomie nachvollziehen. Dazu gehört, wie Sozialreform und Staatsinterventionismus, die ursprünglich der Revolutionsabwehr dienen sollten, sich im Kontext der Krise mit einer Orientierung auf einen auch nach außen starken Staat vermengten. Überhaupt besteht seit Cecil Rhodes und Joseph Chamberlain ein enger Zusammenhang zwischen bürgerlicher Sozialreform und Imperialismus, weil dieser als die einzige nichtrevolutionäre Lösung der sozialen Frage erschien. In Deutschland verkörpert diese Verbindung wohl niemand prominenter als Max Weber, der eine tragende Rolle im VfS spielte und sowohl Abhilfe gegen die »Marktabhängigkeit« der Lohnarbeiter wie auch einen starken Staat anstrebte, etwa gegen die »Polonisierung« im Osten.

    1872/73 war die Situation jedoch noch offen. Der zugespitzte Gegensatz von Kapital und Arbeit und die Krise offenbarten die Notwendigkeit einer Reform. Die allgemeine Tendenz in der Wirtschaftswissenschaft der Zeit bestand darin, die angelsächsische liberale Orthodoxie zu hinterfragen und die Rolle des Staates in der Wirtschaft neu zu verhandeln. Die Frage war, wie stark der Bruch ausfallen sollte. Die »Historische Schule« von Bruno Hildebrand und ihrem wichtigsten Schüler Gustav Schmoller wandte sich gegen abstrakten Utilitarismus und betonte das Historische, Institutionelle, Kulturelle, Besondere. Allgemeine Annahmen über den liberalen »Nachtwächterstaat«, den Freihandel usw. als Nonplusultra für alle Zeiten und alle Staaten seien abzulehnen. An die Stelle des theoretischen Abstraktionismus und seiner in Frage gestellten Annahmen setzte man empirisch-induktive Verfahren. Joseph Schumpeter und die zeitgleich entstehende neuliberale Österreichische Schule warfen der Historischen Schule daher Theorielosigkeit vor. Auch aus marxistischer Sicht ist festzustellen, dass sie als Teil der Institutionellen Politischen Ökonomie kaum mit dem Wirtschaftsliberalismus bricht, sondern den kapitalistischen Markt zum Ausgangspunkt nimmt, um dann mehr oder weniger starke Ausnahmen zu definieren.

    Die Kritik der angelsächsischen Ökonomik blieb dabei freilich nicht nur wissenschaftliche Auseinandersetzung. Vielmehr handelte es sich um die ideologische Entsprechung des Konflikts zwischen britisch-imperialem Herzland und einem nachholend sich entwickelnden »hobbesschen Randstaat« (Kees van der Pijl). Zu Recht verwies die Historische Schule gemeinsam mit dem Marxismus auf die Tatsache, dass die Marktvergötterung der Angelsachsen verschweige, dass der Staat durchaus eine wesentliche Rolle in der Entstehung des englischen Kapitalismus gespielt hatte, und zwar sowohl in der gewaltsamen Herstellung von »doppelt freien Lohnarbeitern« während der ursprünglichen Akkumulation als auch in der merkantilistischen Abschottung der Wirtschaft in der kapitalistischen Frühentwicklung. Entsprechend suchte die Historische Schule die notwendige Staatslenkung im nachholenden Deutschland zu begründen.

    Allerdings würde es zu kurz greifen, den VfS nur als Indikator einer nationalen Kurskorrektur anzusehen. Im Kontext von Revolutionsfurcht, zugespitzter internationaler Konkurrenz und Krise war er auch Ausdruck der »Großen Transformation« (Karl Polanyi) und dem damit einhergehenden Paradigmenwechsel. Als solcher wurde er auch von seinen Feinden erkannt. So schrieb Friedrich August von Hayek in »Der Weg zur Knechtschaft« (1944) zutreffend: »Über zwei Jahrhunderte hatten englische Ideen ihren Weg ostwärts genommen (…). Um das Jahr 1870 (…) setzte eine rückläufige Bewegung ein (…). Von nun an wurde Deutschland zum Zentrum, von dem die Ideen, die die Welt im 20. Jahrhundert regieren sollten, nach Osten und Westen ausgingen«: Hegel, Marx, List, Schmoller, Sombart, Mannheim.

    Die Positionen im VfS waren indes kaum einhellig. Es gab heftige Richtungsstreitigkeiten. Sie erfolgten insbesondere zwischen Historischer Schule und den stärker kapitalismuskritischen Sozialkonservativen. Deren wesentliche theoretische Vertreter waren Karl Rodbertus, in Eisenach vertreten durch den Berliner Revue-Redakteur Rudolf Meyer, und der Nationalökonom Adolph Wagner. Es ist Dieter Lindenlaubs Schrift »Die Richtungskämpfe im Verein für Socialpolitik« (1966) zu verdanken, dass die nachträgliche Homogenisierung des VfS entmythologisiert wurde. Sie ergab sich durch die Niederlage der Sozialkonservativen während der Gründungsphase. Die Krise von 1873 hatte deren »Staatssozialismus« noch verstärkt. Standen bis dahin regulatorische Vorhaben wie die Fabrikinspektion, der Arbeiterschutz, der Normalarbeitstag zur Behandlung der Arbeiterfrage sowie das Rentenprinzip von Rodbertus und die Grundentschuldung zur Behandlung der Agrarfrage im Vordergrund, so änderte sich dies mit der Krise, weil sich nun auch sehr viel stärker gesamtwirtschaftliche Steuerungsfragen aufdrängten: für oder gegen den Schutzzoll, für oder gegen staatliche Rettungen privatwirtschaftlicher Akteure, für oder gegen Verstaatlichungen?

    Projekt Staatssozialismus

    In diesem Kontext radikalisierten die Sozialkonservativen ihre »staatssozialistischen« Vorstellungen und operierten mit frühen Formen der makroökonomischen Wirtschaftssteuerung. Die Bezeichnung »Kathedersozialismus« als Gegenprinzip zum Manchesterkapitalismus ist insofern nicht ganz falsch, als sie sich, auf ein Kontinuum Markt – Staat bezogen, stärker in Richtung Staat bewegt. Dies erkannte selbst der dem alten Wirtschaftsliberalismus zugeneigte Lujo Brentano an: Alle »Kathedersozialisten« seien »zu neuer Anerkennung der Berechtigung der Staatseinmischung in das Wirtschaftsleben« gekommen. Damit ist aber noch nicht ausgesagt, wie stark und zu welchem Zweck.

    Die Sozialkonservativen plädierten für ein Bündnis von Grundbesitz und Arbeiterklasse in Gegnerschaft zu den Bürgerlich-Liberalen, die genau das zu verhindern trachteten. Artikuliert wurde der Konflikt in Form der Frage nach der Tiefe der Korrekturen an der kriselnden liberalen Orthodoxie. Die konservativen »Staatssozialisten« Wagener und Meyer befanden sich im Richtungsstreit indes in der strukturell unterlegenen Position. Es war von daher nicht verwunderlich, dass in Eisenach neben Meyer (als Zögling von Rodbertus und Wagener) zwischenzeitlich noch zwei weitere Akteure auftraten: Adolph Wagner, seit 1870 Professor für Nationalökonomie in Berlin, und Hermann Roesler, Professor für Staatswissenschaft in Rostock.

    Wagner hatte am 12. Oktober 1871 auf der freien kirchlichen Versammlung evangelischer Männer in Berlin einen vielbeachteten Vortrag gehalten, der 1872 als »Rede über die soziale Frage« publiziert wurde. In ihm stellte er sich grundsätzlich gegen die liberale Wirtschaftstheorie. In der Folge hatte er auch Tuchfühlung zu den Sozialkonservativen aufgenommen. Seither kooperierten sie eng, was Wagner auch stärker mit Rodbertus verband, der sich von außen in den Konstituierungsprozess des VfS einschaltete.

    Meyer reiste zusammen mit Wagner nach Eisenach. Rodbertus zeigte sich in einem Brief an Meyer vom 17. September 1872 zuversichtlich, dass man hier würde reüssieren können. Der Brief belegt, wie sehr Rodbertus die Gegensätze zwischen »staatssozialistischen« Sozialkonservativen und sozialliberalen »Kathedersozialisten« bewusst waren: »Seit dem Frühjahr (…) glaubte ich, die Kathedersocialisten würden unter sich sein. Nun sehe ich an den andern Namen (…), dass die ganze Angelegenheit ihrem Chef W[agener] in die Hände gespielt ist.« Meyer merkte dazu später an: »R[odbertus] war, nicht mit Unrecht misstrauisch, allein hier ging er zu weit. Die Kathedersocialisten handelten nicht unter den Impulsen Wageners sondern der [liberalen] Delbrückclique (…). Wageners Stellung war schon damals unhaltbar, da er die ganze liberale Bureaukratie gegen sich und Bismarck nur noch hie und da für sich hatte.« Er selbst sei »in Eisenach (…) sofort in die heftigste Opposition zum Gros der Kathedersocialisten« geraten. Diese Einschätzung Meyers teilte auch Brentano, neben Schmoller und Wagner der prominenteste Eisenacher. In seinen Lebenserinnerungen weist auch er auf die isolierte Stellung der Sozialkonservativen hin: »Wagner erwartete vom preußischen Königtum die Förderung (der) kulturhistorischen Entwicklung« der »Verminderung des (Privat-)Eigentumsumfangs als leitendes Prinzip im Kulturgang der Rechtsentwicklung«. In Eisenach habe »1872 nur (…) Meyer (…) diesen Anschauungen Sympathie entgegengebracht.«

    Die erheblichen Unterschiede zwischen Sozialliberalen und »Staatssozialisten« offenbarten sich in ihren Auffassungen über Pläne für die Fabrikinspektion, die Einführung von Mindestlöhnen, einer Sozialversicherung und progressiven Einkommenssteuer, für öffentliche Beschäftigungsprogramme, Verstaatlichungen und den Rechtsschutz für gewerkschaftliche Lohnverhandlungen und Tarifverträge. Am heftigsten tobte der Konflikt über die Besteuerung der großen Einkommen, Verstaatlichungen und die Stärkung von Gewerkschaftsrechten. Dabei nahmen die Sozialkonservativen in all diesen Fragen die »sozialistischere« Position ein, was Rodbertus im Brief an Meyer zu der Aussage führte: »Wie kann man Sie aber die äusserste Rechte in der socialen Frage nennen? Sie repräsentiren ja die äusserste Linke.«

    Auch Brentano bestätigt in seinen Erinnerungen, dass man sich im VfS über die Differenzen bewusst war: »Wagner (…) stimmte in dem, was er wollte, weder mit meiner Auffassung noch mit der von Schmoller und Gneist überein (…). (E)r wollte die soziale Reform prinzipiell und in allen ihren Teilen aufrollen (…). Die Zeit sollte nun bald zeigen, welche Auffassung berufen sei, dem Verein das Gepräge zu geben (…). Auf dem Kongress von 1875 erschien nun Rudolf Meyer allein, um einen von ihm und von Rodbertus unterzeichneten Antrag zu stellen, dem Reichskanzler das Ersuchen auszusprechen, der deutschen Industrie sowie den bei derselben beteiligten Unternehmern und Arbeitern sowohl nach außen wie nach innen den Schutz zu gewähren bzw. zu verschaffen, welcher in Anerkennung des Wertes der Arbeit und der eigengearteten Stellung der deutschen Industrie als das alleinige Mittel erscheint, unsere in Frage gestellte Konkurrenzfähigkeit auf dem Weltmarkt und den sozialen Frieden auf dem heimischen Markt wiederzugewinnen. Meyer wünschte, dass sein Antrag an einem dritten Kongresstage verhandelt werde, um bis dahin soviel Sukkurs heranzuziehen, dass der Antrag angenommen worden wäre. Mit seiner Annahme wäre der Verein (…) Wagener ausgeliefert gewesen. Um dies zu verhindern, habe ich (…) auf Grund (…) unserer Geschäftsordnung, dass jeder Antrag drei Wochen vor der Versammlung bekannt zu geben sei, beantragt, Meyers Antrag als unzulässig abzuweisen. So geschah es. Meyer stampfte vor Wut und verließ zornig den Saal.« Kein Wunder, dass Meyer Brentano fortan als Erzfeind bezeichnete.

    Die »Staatssozialisten« blieben mit ihren Forderungen nach »Nationalisierung der wichtigsten Dienstleistungsindustrien, insbesondere derjenigen, welche bereits unter beinahe monopolistischen Bedingungen arbeiteten wie z. B. auf den Gebieten der Transport- und Kommunikationsmittel, des Bank- und Versicherungswesens, der Kraftwerke und öffentlichen Versorgungsbetriebe« letztlich isoliert.

    So konsequent nun aber Wagner wirtschaftlich war, so eng verknüpft blieb sein Staatssozialismus mit der »Staatsräson«. Er pries den »preußischen Kameralismus« und redete dem Machtstaat das Wort. Dazu gehörte die Propagierung des Kolonialismus. Die Demokratie lehnte er ab. So oder so: Wagner und die Sozialkonservativen unterlagen. Nicht lange danach verließ Wagner den Verein.

    Im »Nationalen« unterschied sich Wagner kaum von Schmoller. Während dem Liberalen Brentano die Nachahmung des englischen Liberalismus vorschwebte, der Arbeiterforderungen über die Gewerkvereine in die liberale Partei integriert hatte, wollte Schmoller die Gesellschaft durch Sozialreformen einen, als Voraussetzung für eine Machtstaatpolitik nach außen.

    Meyer wiederum ging nach der Niederlage im VfS auch mehr und mehr zum Reichskanzler auf Distanz, als sich abzeichnete, dass dieser in Richtung Schutzzoll, Sozialistengesetz und (Kolonial-)Imperialismus gehen würde, womit sich die Hoffnung auf den »staatssozialistischen« Cäsaren zerschlagen hatte. 1877 warf er Bismarck in »Politische Gründer und die Corruption in Deutschland« persönliche Vorteilsnahme vor. Mit Wagner entzweite er sich später in der Frage der Agrarzölle und des Kolonialismus. In »Die Ursachen der amerikanischen Concurrenz« (1883) attackierte er ihn auch in einem Atemzug mit den »Kathedersocialisten, welche (…) noch immer glauben, Fürst Bismarck sei ein socialer Reformator«. Wagners national-sozial-imperialistischen Kurs wollte er nicht mittragen: Er wende sich »mit Abscheu von jenem Chauvinismus ab, der von der Tribüne des Parlaments einer Großmacht (…) mit jener Macht und Größe prahlt, welche wir 1866 und 1870 zwei Nachbarn gegenüber bewiesen haben.«
    Das Elend der Neoklassik

    Der Richtungsstreit von einst kennzeichnet den VfS heute nicht mehr. Dabei gäbe es für Kontroversen ausreichend Grund. Insofern als Ergebnis des Siegs der neoliberalen Konterrevolution jedoch der Druck von unten fehlt, ist er dieser Tage ein homogen dem Wirtschaftsliberalismus und der Neoklassik verschriebener Zusammenschluss. Man könnte auch von einer Versammlung der Kathederneoliberalen sprechen, und insofern wäre der Name »Verein gegen Socialpolitik« passender. Zu den Vorsitzenden gehörten in jüngerer Zeit der Marktdoktrinär Hans Werner Sinn und die aktuelle Vorsitzende der »Wirtschaftsweisen« der Bundesregierung, Monika Schnitzer, die sich u. a. für die Rente mit 70 und viele weitere »alternativlose« Sozialkürzungsmaßnahmen stark macht.

    In jedem Fall hat sich der VfS von seinem Gründungskonsens zum Scheitern wirtschaftsliberaler Politik weit entfernt. Streit findet heute in getrennten Organisationen statt. Im Nachgang der globalen Finanzkrise, die das Elend und den Autismus der Neoklassik und ihrer Annahmen zu »homo oeconomicus«, Gleichgewichtstheorem usw. offenbarte, entwickelte sich der Widerstand heterodoxer Ökonomen. 2012 gipfelte er in einer Gegenkonferenz. Die Kritiker forderten »Theorienvielfalt statt geistiger Monokultur«, »Methodenvielfalt statt angewandter Mathematik« und »Selbstreflexion statt unhinterfragter, normativer Annahmen«. Konsultationen, die eine Erweiterung des Spektrums ergeben sollten, scheiterten.

    Die angesichts der heutigen Systemkrise anstehende Erneuerung des wirtschaftstheoretischen Denkens dürfte sich jenseits des VfS vollziehen. Vielleicht trifft sich die alternative politische Ökonomie irgendwann noch einmal in Eisenach. Von dort kam ja auch nicht das schlechteste Programm der sozialistischen Arbeiterbewegung, das im Bürgertum für ein solches Fracksausen sorgte, dass der VfS überhaupt entstehen konnte.

    #histoire #Allemagne #aide_sociale #counterinsurgency #VfS


  • #Gaza, 11.10.2024

    EIN PFERD KLAGT AN

    Ich zog meine Fuhre trotz meiner Schwäche
    Ich kam bis zur Frankfurter Allee.
    Dort denke ich noch: O je!
    Diese Schwäche! Wenn ich mich gehenlasse
    Kann ’s mir passieren, daß ich zusammenbreche.
    Zehn Minuten später lagen nur noch meine Knochen auf der Straße.

    Kaum war ich da nämlich zusammengebrochen
    (Der Kutscher lief zum Telefon)
    Da stürzten aus den Häusern schon
    Hungrige Menschen, um ein Pfund Fleisch zu erben
    Rissen mit Messern mir das Fleisch von den Knochen
    Und ich lebte überhaupt noch und war gar nicht fertig
    mit dem Sterben.

    Aber die kannt‘ ich doch von früher, die Leute!
    Die brachten mir Säcke gegen die Fliegen doch
    Schenkten mir altes Brot und ermahnten
    Meinen Kutscher, sanft mit mir umzugehen.
    Einst mir so freundlich und mir so feindlich heute!
    Plötzlich waren sie wie ausgewechselt! Ach, was war
    mit ihnen geschehen?

    Da fragte ich mich: Was für eine Kälte
    Muß über die Leute gekommen sein!
    Wer schlägt da so auf sie ein
    Daß sie jetzt so durch und durch erkaltet?
    So helft ihnen doch! Und tut das in Bälde!
    Sonst passiert euch etwas, was ihr nicht für möglich haltet!

    Text: Bertolt Brecht
    Musik: Hanns Eisler
    ca. 1920

  • Zeitgeschichte: Holocaust in Saloniki
    https://www.jungewelt.de/artikel/456762.zeitgeschichte-holocaust-in-saloniki.html


    Sadistisches, antisemitisches Spektakel auf dem »Platz der Freiheit« in Thessaloniki (Juli 1942)

    12.8.2023 von Jürgen Pelzer - Innerhalb von fünf Monaten, von Mitte März bis Mitte August 1943, wurde fast die gesamte jüdisch-sephardische Gemeinde Thessalonikis nach Auschwitz deportiert. Im April 1941 hatte die deutsche Invasion zur Kapitulation und Aufteilung Griechenlands in deutsche, italienische und bulgarische Besatzungszonen geführt. Die Deutschen behielten sich neben Athen Thessaloniki vor, das schon vor dem Krieg ins Visier des »Sonderkommandos Rosenberg« geraten war, das sogleich mit der Plünderung von Bibliotheken, Synagogen, Zeitungsredaktionen und Buchhandlungen begann, angeblich, um Material für eine Fachbibliothek zur »Judenfrage« zu sammeln. Die ökonomische Ausplünderung des Landes, namentlich die Requirierung von Lebensmitteln, führte zu hoher Inflation und einer massiven Hungersnot. Der Massenmord an den Juden wurde deshalb verzögert in Gang gesetzt, zumal sich die italienischen Bündnispartner gegen Judenverfolgungen oder gar Deportationen sperrten. Die angestrebte »Endlösung« konnte also zunächst nur in den von den Deutschen besetzten Gebieten stattfinden, und dazu gehörte Thessaloniki, die »Mutter Israels«, wie die Stadt von den jüdischen Einwohnern stolz genannt wurde.
    Antisemitische Hetze

    Auf die Verbreitung judenfeindlicher Parolen in Cafés und Restaurants, die Schließung jüdischer Zeitungsredaktionen, die Vertreibung der Juden aus ihren Häusern und willkürliche Enteignungen folgten die Plünderung der Kunstschätze der Gemeinden, die Erniedrigung von Rabbinern und die Erschießung »jüdischer Bolschewisten«. Im Juli 1942 wurde ein sadistisches Spektakel auf dem zentralen »Platz der Freiheit« veranstaltet: Um die männliche jüdische Bevölkerung für zivile Arbeiten heranzuziehen, versammelte der für Nordgriechenland zuständige Wehrmachtskommandeur Curt von Krenzki 10.000 Männer an einem Sonnabend, ließ sie stundenlang in der Sonne stehen und setzte sie grausamer Behandlung, Schlägen und Verhöhnungen aus. Wehrmachtsführung und -verwaltung, Sicherheitsdienst (SD), SS und das »Kommando Rosenberg« zogen an einem Strang, auch wenn sie verschiedene Zwecke verfolgten. So forderte die Wehrmacht Arbeitskräfte für die angeblich notwendige Verbesserung der militärischen Infrastruktur an, ließ sich dann aber eine Freistellung von der Zwangsarbeit hoch bezahlen. Im Dezember 1942 nahmen sich die Deutschen den großen jüdischen Friedhof im Osten der Stadt vor, dessen schrittweise Verlegung in langwierigen Verhandlungen zwischen Stadtverwaltung und jüdischer Gemeinde ins Auge gefasst worden war. Die Deutschen ordneten nun kurzerhand den Abriss des Friedhofs an und verwendeten die Grabsteine für den Bau von Straßen und Befestigungsanlagen. Die gewaltige Nekropole bot bald, wie ein Augenzeuge berichtet, den »Anblick einer schwer bombardierten oder von einem Vulkanausbruch zerstörten Stadt«.

    Anfang 1943 wurde der SS-Offizier Dieter Wisliceny von Adolf Eichmann nach Thessaloniki geschickt, um das »Judenproblem« in kürzester Frist zu lösen. Systematisch wurden Juden zunächst ausgeplündert, ihrer Wohnungen beraubt und in das als Ghetto dienende Baron-Hirsch-Viertel in der Nähe des Bahnhofs eingewiesen. Es galt eine Ausgangssperre, der gelbe Stern mit der Aufschrift »Evraios« (Jude) musste getragen werden, Gespräche mit Nichtjuden waren verboten. Das ganze Arsenal der antisemitischen NS-Gesetzgebung wurde aufgeboten, um Juden und Jüdinnen vom Rest der Stadt zu isolieren. Anfang März teilte Wisliceny dem Oberrabbiner Zvi Koretz mit, dass Eichmann die Deportation der gesamten jüdischen Gemeinde angeordnet habe. Der Appell, jüdische Arbeiter in Griechenland einzusetzen, fruchtete nichts. Auch ein Besuch beim griechischen Ministerpräsidenten Ioannis Rallis verlief ohne Ergebnis.

    Insgesamt wurden 48.000 Juden und Jüdinnen in Viehwaggons nach Auschwitz deportiert. Die Fahrt dauerte jeweils fünf Tage. Etwa 37.000 Menschen wurden sofort nach ihrer Ankunft in den Gaskammern ermordet, weitere 8.000 bis 9.000 gingen an Zwangsarbeit, Krankheiten und Unterernährung zugrunde. Am Ende des Krieges bestand die sephardische Gemeinde Thessalonikis praktisch nur noch aus einer kleinen Gruppe von etwa 1.200 Menschen.

    Einem ähnlichen Schicksal waren nach der deutschen Übernahme der italienischen Besatzungszone auch die anderen auf antike Zeiten zurückgehenden jüdischen Gemeinden ausgeliefert, wenn sie nicht – wie etwa in Athen oder auf der Insel Zakynthos – von mutigen Bürgermeistern, griechisch-orthodoxen Geistlichen oder anderen nichtjüdischen Griechen geschützt, gewarnt oder versteckt wurden. Dass das Ziel der Deportationen in der massenhaften Ermordung bestand, stellte sich auch hier sehr bald als traurige Gewissheit heraus.

    Unwiederbringlich zerstört

    Man hatte den Deportierten in Thessaloniki erzählt, sie würden »umgesiedelt«, um in Polen eine jüdische Stadt zu gründen. Gold und Schmuckstücke wurden ihnen abgenommen. Geld musste in polnische Złoty gewechselt werden, wofür sie eine Quittung erhielten. Tatsächlich floss dieses Geld auf ein Konto bei der Griechischen Nationalbank, auf das die Deutschen Zugriff hatten. Im März 1943 wurde auch eine sogenannte Treuhandstelle eingerichtet, um die zwangsweise verlassenen jüdischen Wohnungen, Geschäfte, Unternehmen und anderen Vermögenswerte zu übernehmen. Dies führte zu chaotischen Zuständen. Die örtliche Wehrmachtsverwaltung ließ es zu, dass trotz der Wohnungsnot Gebäude abgerissen wurden und die neuen Eigentümer nach versteckten Schmucksachen oder anderen Schätzen suchten. Die Deutschen nutzten die zahlreichen Synagogen zur Unterbringung ihrer Pferde, plünderten sie oder sprengten sie in die Luft. Hätten die ursprünglichen Bewohner zurückkehren können, hätten sie nur noch die Ruinen ihrer einstigen Heimstätten vorgefunden.

    Einst aus Spanien (daher »sephardisch«) geflohen, hatte die Juden und Jüdinnen Thessalonikis ihre Kultur und ihr altkastilisches »Ladino« bewahrt und ihren Beitrag dazu geleistet, die mittelmeerische Metropole zu einer blühenden, verschiedene Ethnien beherbergenden Handelsstadt zu machen. Diese Tradition wurde unwiederbringlich zerstört. Heute erinnern nur noch Gedenksteine und Museen an das jüdische Leben der Stadt. Eingerichtet wurde auch eine digitalisierte Sammlung von Berichten und Erinnerungen an die Jahre der von Raub und Zerstörung, von Massenmord und Massakern gekennzeichneten Besatzung.
    »Aussiedlung« in die Vernichtung

    »Die Aussiedlung der hiesigen etwa 56.000 Personen zählenden Juden griechischer Staatsangehörigkeit hat heute mit dem Abtransport von 2.600 Personen von Saloniki nach dem Generalgouvernement begonnen. Es ist in Aussicht genommen, wöchentlich vier Transporte durchzuführen, so dass die ganze Aktion in etwa sechs Wochen beendet sein wird. Das bewegliche und unbewegliche Vermögen der ausgesiedelten Juden wird beschlagnahmt und einem Fond zugeführt, aus welchem die Transportkosten bestritten und die Schulden bezahlt werden. Die Geschäfte der Ausgesiedelten werden bis auf weiteres durch eingesetzte griechische Treuhänder weiterbetrieben. (…)

    In den Besprechungen mit den zuständigen hiesigen deutschen Stellen ist von diesen darauf hingewiesen worden, dass der Zweck der Aussiedlungsmaßnahme, die Sicherung des von den deutschen Truppen besetzten nordgriechischen Gebietes, nicht erreicht würde, wenn den nicht-griechischen Juden der Aufenthalt weiter erlaubt bliebe. (…)

    Der Bevollmächtigte des Reichs für Griechenland in Athen erhält Durchdruck dieses Berichts.«

    Fritz Schönberg, deutscher Generalkonsul in Saloniki, am 15. März 1943 an das Auswärtige Amt über die Deportation jüdischer Bürger, zitiert nach: Martin Seckendorf und Bundesarchiv Koblenz (Hg.): Europa unterm Hakenkreuz, Band 6. Die Okkupationspolitik des deutschen Faschismus in Jugoslawien, Griechenland, Albanien, Italien und Ungarn. Berlin/Heidelberg 1992, S. 226 f.

    https://die-quellen-sprechen.de/14-210.html

    Generalleutnant Curt von Krenzki (1888–1962), Berufssoldat; Juli 1941 bis Jan. 1943 Befehlshaber Saloniki-Ägäis und Leiter der Feldkommandantur 395 (Thessaloniki), Jan. 1943 bis Sept. 1943 Führerreserve, Sept. 1943 bis Okt. 1944 Kommandant des rückwärtigen Armeegebiets 584; Aug. 1945 bis Okt. 1955 in sowjet. Gefangenschaft.

    Dok. 14-148

    Der Chef der deutschen Militärverwaltung in Serbien Harald Turner unterrichtet am 11. April 1942 den SS-Führer Karl Wolff in einem privaten Brief über die Ermordung von Frauen und Kindern aus dem Lager Semlin bei Belgrad

    Bekanntmachung vom 10. Juli 1942, dass alle männlichen Juden Thessalonikis zum Appell auf der Platia Eleftherias anzutreten haben

    Appell an alle Israeliten im Alter von 18–45 Jahren

    Auf Anordnung des Militärbefehlshabers Saloniki-Ägäis werden alle in Thessaloniki lebenden männlichen Israeliten [...] von 18 bis 45 Jahren aufgefordert, am 11. Juli 1942 um 8.00 Uhr vormittags auf der Platia Eleftherias zu erscheinen. Als Israelit wird betrachtet, wer der israelitischen Rasse angehört, gleichgültig welcher Religion er ist. Ausweispapiere müssen mitgeführt werden. Israeliten italienischer oder spanischer Staatsangehörigkeit sind ausgenommen. Nichterscheinen wird mit Geldstrafe und Haft im Konzentrationslager bestraft.

    Wilhelm List
    https://de.m.wikipedia.org/wiki/Wilhelm_List

    ...
    Als Oberbefehlshaber der 14. Armee nahm List am Überfall auf Polen 1939 teil und erhielt am 30. September das Ritterkreuz des Eisernen Kreuzes.[4] Beim Westfeldzug unterstand sein jetzt in 12. Armee umbenannter Großverband der Heeresgruppe A im Zentrum der Front. Für seinen wesentlichen Anteil am Sieg über Frankreich wurde er am 19. Juli 1940 zum Generalfeldmarschall befördert (ebenso 11 weitere Generäle).

    Im Balkanfeldzug mit Beginn am 6. April 1941 war List Oberbefehlshaber der 12. Armee und in dieser Stellung Chef der gesamten deutschen Bodenoperationen gegen Griechenland und Ostjugoslawien. Am 21. April nahm List die griechische Kapitulation entgegen, nachdem bereits am 17. April das Königreich Jugoslawien kapituliert hatte.
    ...
    Nach dem Abschluss des Balkanfeldzuges wurde List Wehrmachtbefehlshaber Südost. In dieser Funktion unterstanden ihm die Militärbefehlshaber Serbien sowie Nord- und Südgriechenland. Am 4. Oktober 1941 gab er den Befehl, Sammellager für Geiseln zu errichten, um diese beim Widerstand von Partisanen zu erschießen.[5] Aufgrund einer Erkrankung gab List seinen Posten im Oktober 1941 wieder ab.

    Verbrechen der Wehrmacht
    https://de.m.wikipedia.org/wiki/Verbrechen_der_Wehrmacht

    Die Wehrmacht stellte ihre Infrastruktur, unter anderem das europaweite Wehrmachttransportwesen, vielfach für die Judendeportationen zur Verfügung, so etwa für die Transporte der französischen Juden und griechischen Juden ins KZ Auschwitz.

    #histoire #nazis #Grèce #holocaust #Wehrmacht

  • »Es kommt vermehrt zu Kündigungen«
    https://www.jungewelt.de/artikel/450717.ddr-garagen-es-kommt-vermehrt-zu-k%C3%BCndigungen.html


    Auch von Gentrifizierung bedroht: Garagen aus der DDR (Berlin, 4.10.2018)

    13.5.2023 von Fabian Lehmann - Vielen Pächtern von Garagen droht die Kündigung, manchmal sogar der Abriss der Garage. Was sind die Gründe dafür?

    In der DDR hatten die Bürger das Recht, Eigentumsgaragen zu bauen. Man wollte aber nicht, dass die Menschen auch das Grundstück erwerben konnten, denn das widersprach der damaligen Philosophie. So entstand dieses Konstrukt des Gebäudeeigentums auf fremdem Grund und Boden. Im Recht der Bundesrepublik gibt es eine solche Trennung von Gebäude- und Grundeigentum aber nicht. Deshalb hat man 1994 das sogenannte Schuldrechtsanpassungsgesetz beschlossen. Demnach bleibt das selbstständige Gebäudeeigentum so lange erhalten, bis das DDR-Vertragsverhältnis endet. Endet der Vertrag aber, geht die Garage automatisch in das Eigentum des Grundstückseigentümers über – also Kommune, Kirchengemeinde oder eine Privatperson. Der neue Eigentümer kann die Garage dann abreißen oder weitervermieten. Mit beiden Fällen sind wir konfrontiert.

    Was für ein Interesse hat eine Kommune, den alten Vertrag aufzulösen?

    Oft kündigen Kommunen die Verträge, um an das Eigentum der Garage zu gelangen und diese weiterzuvermieten. Kündigen können sie jederzeit und ohne Angabe von Gründen. Kommunen können dann Mieten nehmen, die erheblich höher sind, als es die Pacht bislang war. Außerdem versuchen sie in vielen Fällen, mit dem neuen Vertrag auch die Pflichten, die eigentlich der Vermieter zu erfüllen hat, auf den Mieter zu übertragen. Das betrifft vor allem die Instandhaltung. Häufig sind es die bisherigen Eigentümer der Garage, denen dieselbe Garage zur Miete angeboten wird. Da setzt dann unsere Beratung an. Denn für die bisherigen Eigentümer besteht die Möglichkeit, eine Entschädigung zu erhalten, deren Höhe sich danach bemisst, welche Einnahmen die Kommune in den kommenden Jahren durch die Vermietung der Garage voraussichtlich erwirtschaften wird.

    Wie hoch fällt eine solche Entschädigung üblicherweise aus?

    Ferienhütten Barsdorf

    Das bemisst sich individuell nach Zustand und Standort der Garage. Aber um ein Beispiel zu nennen, haben wir für ein Mitglied des Verbands Deutscher Grundstücksnutzer in Thüringen 2.000 Euro vor Gericht erkämpft.

    Wenn mir als Garageneigentümer gekündigt wird, wie sollte ich dann vorgehen?

    Das kommt darauf an, ob der Abriss droht oder die Garage weiter genutzt werden soll. Auf alle Fälle sollte man sich rechtlichen Beistand suchen. Mit der Kündigung wird den ehemaligen Eigentümern oft mitgeteilt, dass sie die Garage selbst abreißen und eine beräumte Fläche übergeben sollen. Bislang gab es für die Abrisskosten eine 50:50-Regelung. Die ist zum Jahresende 2022 jedoch ausgelaufen. Was statt dessen angewendet werden soll, bleibt unklar. Viele Kommunen gehen davon aus, dass nach Ende des Vertrags der Pächter nicht nur sein Eigentum verliert, sondern auch einhundert Prozent der Abrisskosten übernehmen muss. Weil das in unseren Augen hochgradig ungerecht ist, haben wir versucht, das Auslaufen der bisherigen Regelung zu verhindern, aber dafür keine politische Mehrheit gefunden. Jetzt wird wohl erst die Spruchpraxis der Gerichte endgültige Klarheit bringen.

    Stellen Sie fest, dass es nach Auslaufen der bisherigen Regelung vermehrt zu Kündigungen kommt, weil die Grundstückseigentümer ihren Vorteil sehen?

    Ja, es kommt vermehrt zu Kündigungen, aber eine größere Kündigungswelle ist bislang nicht zu verzeichnen. Es gibt allerdings Beispiele, bei denen die Kündigung am 3. Januar ausgesprochen wurde, wo man also offensichtlich auf das Auslaufen der bisherigen Abrissregelung gewartet hat. In Leipzig haben die Stadträte indes beschlossen, dass, wenn kommunale Garagenhöfe verschwinden müssen, die Garageneigentümer nicht mit den Abrisskosten belangt werden.

    Hat sich das Modell der Garage fern der eigenen Wohnung vielleicht auch überlebt?

    Das müsste sich in einem schwindenden Bedarf widerspiegeln, aber der ist nicht festzustellen. Wenn man diese Garagenhöfe jetzt abreißt, droht ein Parkchaos. Außerdem haben die Garagenhöfe auch eine soziale Komponente. Garagengemeinschaften sind ein Faktor des sozialen Zusammenhalts.

    Hagen Ludwig ist Mitglied des Präsidiums des Verbands Deutscher Grundstücksnutzer

    #Allemagne #DDR #capitalisme #immobilier #voiture

  • Weltweit die Nase vorn
    https://www.jungewelt.de/artikel/449525.weltweit-die-nase-vorn.html

    Mao Zedong verliest die Proklamation zur Gründung der Volksrepublik China (Beijing, 1.10.1949)

    Cet article explique quelques éléments essentiels à la base de la stratégie politique de la Chine. Ce sont des faits connus de tous les sinologues. Ces faits pourtant simples à comprendre n’intéressent pas les politiciens et journalistes qui décident sur le discours public dans les pays de l’Ouest.

    29.4.2023 von Jörg Kronauer - China hat im Lauf seiner vier Jahrtausende alten Geschichte über lange Perioden hinweg zu den führenden Mächten der Welt gehört, auch wenn diese Perioden zuweilen von Phasen der Krise und des Zerfalls unterbrochen wurden. Noch um 1820 war es ein einflussreicher und wohlhabender Staat – nach Volumen die globale Wirtschaftsmacht Nummer eins, in der etwas über ein Drittel der Weltbevölkerung knapp ein Drittel der Weltwirtschaftsleistung erarbeitete. Sein katastrophaler Absturz, der sich in den folgenden Jahrzehnten ereignete, ist maßgeblich von den Kolonialmächten Europas herbeigeführt worden, die sich die inneren Schwächen des chinesischen Kaiserreichs zunutze machten, um sich das Land als Halbkolonie zu unterwerfen. Als 1949 die Volksrepublik gegründet wurde, lebten dort zwar immer noch 22,5 Prozent der Weltbevölkerung. Ihr Anteil an der Weltwirtschaftsleistung aber lag bei nur noch 4,6 Prozent. Dass es ins Elend führt, wenn man äußere Aggression nicht abwehren kann und dem Gegner durch innere Konflikte auch noch Angriffspunkte bietet, ist eine historische Grunderfahrung des heutigen China, aus der die Kommunistische Partei ihre Schlussfolgerungen und der chinesische Staat seine Konsequenzen gezogen hat.

    Chinas Wiederaufstieg hat mit der Gründung der Volksrepublik begonnen und mit der Reform- und Öffnungspolitik, die Ende der 1970er Jahre unter Deng Xiaoping eingeleitet wurde, an Fahrt aufgenommen. Zunächst ging es darum, das riesige Land gesellschaftlich und in seinem territorialen Bestand zu konsolidieren. Letzteres begann mit der Festigung der staatlichen Kontrolle über Tibet und Xinjiang in den 1950er Jahren und setzte sich mit der Entkolonialisierung Hongkongs und Macaus fort, die in den Jahren 1997 bzw. 1999 von den Kolonialmächten Großbritannien bzw. Portugal an China zurückgegeben wurden. Abgeschlossen ist der Prozess noch nicht: Taiwan, das gegen Ende des 17. Jahrhunderts von China eingegliedert wurde, entzieht sich der Volksrepublik bis heute. Separatistische Bestrebungen bestehen auch in anderen Landesteilen mehr oder weniger fort. Dass sich Beijing mit ihnen abfinden würde, darf man vor dem Hintergrund der historischen Erfahrungen aus den vergangenen 200 Jahren getrost ausschließen.

    Wirtschaftlich ging es für die Volksrepublik vor allem seit den 1980er Jahren bergauf – mit einem Wachstum, das Jahresraten von bis zu 15 Prozent erreichte. Lag Chinas Wirtschaftsleistung 1980 der Weltbank zufolge bei 191 Milliarden US-Dollar, so erreichte sie 2022 17,9 Billionen US-Dollar. Berechnet nach Kaufkraftparität ist der Anteil Chinas an der globalen Wirtschaftsleistung laut IWF-Statistik von 2,26 Prozent im Jahr 1980 auf 18,79 Prozent im Jahr 2022 gestiegen, letzteres Hongkong eingeschlossen. Der Volksrepublik ist es zudem gelungen, in der technologischen Entwicklung rasant aufzuholen. Auch wenn sie noch gravierende Lücken verzeichnet – etwa in der Halbleiterproduktion –, so hat sie in den Bereichen Mobilfunktechnologie, künstliche Intelligenz und auf weiteren Feldern zur Weltspitze aufgeschlossen. Eine vom US-Außenministerium finanzierte Studie des Australian Strategic Policy Institute (ASPI) kam Anfang 2023 zu dem Schluss, China habe mittlerweile bei 37 von 44 als kritisch eingeschätzten Technologien weltweit die Nase vorn.

    All das hat Folgen. Zu denen gehört, dass – wieder nach Kaufkraftparität berechnet – der Anteil der USA an der globalen Wirtschaftsleistung, der 1990 noch bei 21,54 Prozent lag, auf 15,57 Prozent gefallen ist. Die Vereinigten Staaten liegen damit ebenso hinter China wie die heutigen EU-Staaten plus Großbritannien, deren Anteil von 23,48 Prozent (1990) auf 14,85 Prozent geschrumpft ist. Fällt der Westen nun, wie es die ASPI-Studie nahelegt, auch noch in der technologischen Entwicklung zurück, erodiert die ökonomische Basis seiner globalen Dominanz umfassend. Bis sich das in das Ende seiner politischen Dominanz übersetzt, ist nur eine Frage der Zeit. Dreierlei Optionen gibt es, dies zu verhindern: die eigene Entwicklung beschleunigen; Chinas Entwicklung mit Zwangsmaßnahmen bremsen; und wenn all das nicht hilft, bleibt noch der Griff zu militärischer Gewalt. An den ersten zwei Optionen versuchen sich die westlichen Mächte bereits. Die dritte bereiten sie für den Fall der Fälle vor.

    #Chine #histoire #économie

  • Das Schweigen ist gebrochen
    https://www.jungewelt.de/artikel/449180.gewalt-gegen-kinder-das-schweigen-ist-gebrochen.html


    Kein Kinderspiel : Der Aufenthalt in vermeintlichen Kurheimen hat viele traumatisiert (Bad Dürrheim, 1959)

    Jusqu’à la fin des subventions publiques pour les colonies de vacances on pratiquait la pédagogie nazie dans ces institutions allemandes. Pendant que dans la coccinelle familiale partissent en vacances vers l’Italie les enfants des familles petites bourgeoises on envoyait les enfants des moins fortunés dans les camps de vacances (Ferienlaget) où sévissaient éducatrices et médecins formés dans l’esprit nazi. On y traitait les petits corps et esprits avec des méthodes abusives et traumatisantes aujourd’hui considérées comme criminelles Une initiative composée d’hommes et de femmes qui n’ont pas oublié ce qui leur est arrivé revendique la constitution d’une commission d’enquête nationale sur ces pratiques.

    20.4.2023 von Annuschka Eckhardt - Die ehemaligen sogenannten Verschickungskinder haben einen Kreis um die verschlissenen alten Lederkoffer gebildet und halten sich an den Händen. Grablichter brennen zwischen den Koffern, die vor dem Kanzleramt im Berliner Regierungsviertel abgestellt wurden. Die Gruppe beginnt leise zu singen: »Wer sich umdreht oder lacht, kriegt die Hucke voll gemacht«.

    Die »Berliner Gruppe Verschickungskinder« hat am Mittwoch zur »Aktion Kinderkoffer« vor dem Bundeskanzleramt aufgerufen. Wie viele Kinder in der BRD zwischen Ende der 1940er Jahren bis in die 1990er Jahre auf vermeintliche Kinderkuren geschickt wurden, ist noch nicht genau erforscht. Schätzungen zufolge könnten es zwischen sechs und zwölf Millionen Kinder gewesen sein. Der »Initiative Verschickungskinder« liegen mittlerweile 5.000 Zeitzeugenberichte vor, die Einrichtungen sämtlicher Trägergruppen betreffen, von den Kommunen über private
    Heimträger und Wohlfahrtsverbände bis zu Krankenkassen und betrieblichen Einrichtungen. Kinderärzte bekamen Prämien von den Krankenkassen, wenn sie Eltern rieten, ihre Kinder in die »Kur« zu schicken. Gründe für den Kuraufenhalt waren unter anderem »Unterernährung«. Prügel, Misshandlung und Vernachlässigung waren für viele an der Tagesordnung. Es gab auch Medikamentenversuche an Kindern und unaufgeklärte Todesfälle.

    »Ich war die allerjüngste in den drei Einrichtungen, in denen mein Bruder und ich im Jahr 1962 waren, ich war erst viereinhalb Jahre alt«, erzählt die heute 65jährige Manuela Güntensberger. Insgesamt seien die Geschwister sechs Monate von ihren Eltern getrennt gewesen. »In dem Heim an der Nordsee ist mein Bruder fast verhungert«, sie schluckt. »Die haben da alles mit Milch gekocht: Milchnudeln, Haferbrei mit Milch, Milchreis. Und mein Bruder mochte keine Milch.« Sie habe ihren nur elf Monate älteren Bruder mehrere Tage vergeblich gesucht, als er endlich wieder im Essenssaal auftauchte, war er apathisch und abgemagert.

    Einmal nach einer langen Busfahrt seien Jungs und Mädchen gemeinsam auf eine Toilette gerannt, weil alle so dringend mussten. »Ein Erzieher hat uns da rausgeprügelt«, sie schüttelt ungläubig den Kopf bei dieser Erinnerung. Mit den Folgen der Verschickung hat die 65jährige bis heute zu kämpfen. Wenn Manuela Güntensberger alleine ist, hospitalisiert sie. Am Rande der Aktion im Regierungsviertel schwenkt sie ihren Kopf hin und her, um es zu demonstrieren. Hospitalismus kann überall dort entstehen, wo Menschen zu wenige oder sehr negative emotionale Beziehungen erhalten. Für dieses Verhalten fördernd ist das Fehlen optischer sowie akustischer Stimulation. »Wenn wir krank waren, wurden wir ganz alleine in einem abgedunkelten Zimmer gelassen«, erzählt die gelernte Krankenschwester.

    Die Initiative fordert eine Bundesbefassung mit dem Thema, die Aufarbeitung der »Kinderverschickung« sei dringend nötig. Eine bundesweite unabhängige Untersuchungskommission müsse endlich die Daten der Initiative ernst nehmen. Neben ihrer Aufklärungsarbeit und der Vernetzung Betroffener, hat sie auch einen Beschluss der Jugend- und Familienministerkonferenz 2020 erwirkt, in dem die Bundesregierung aufgefordert wird, »eine bundesweite Aufklärung der Vorkommnisse gemeinsam mit Vertreterinnen und Vertretern der ehemaligen Verschickungskinder und den damals involvierten Institutionen beispielsweise im Rahmen eines Forschungsauftrages vorzunehmen«. Auf der Website der Initiative können Betroffene ihre Geschichten aufschreiben.

    Maria Krisinger ist jünger als die anderen. Die 40jährige wurde 1992 wegen Husten und Untergewicht ins »Schloss am Meer« auf der Nordseeinsel Föhr verschickt. »Wir Kinder haben es immer ›Gefängnis am Meer‹ genannt«, sagt sie. Obwohl das Gebäude direkt am Meer lag, erinnert sie sich nur an einen einzigen Strandbesuch in den sechs Wochen »Kuraufenthalt«. Sie habe schreckliches Heimweh gehabt und viel geweint. Einmal musste sie auf dem kalten Kachelboden im Waschraum übernachten, weil sie mit einem anderen Kind während der Bettruhe geflüstert hatte. Jeden Dienstag »durften« die Kinder drei Minuten unter Aufsicht der Erzieher mit ihren Eltern telefonieren. Krisinger brachte eine Lungenentzündung mit nach Hause, die sie wochenlang ans Bett fesselte. Zugenommen hatte sie nicht.

    #Allemagne #enfance #nazis #lutte_des_classrs

  • »Asow«-Neonazis in Israel - Ukrainische Ultrarechte auf »Arbeitsbesuch«: Empfang durch Politik, Austausch mit Militär und rassistische Entgleisungen
    https://www.jungewelt.de/artikel/441452.revisionistische-tour-asow-neonazis-in-israel.html


    Offiziell empfangen: »Asow«-Vertreterin Julia Fedosiuk (l.) und Nachrichtendienstoffizier Illja Samoilenko (r.)


    Besuch der »Asow«-Vertreter bei IDF-Reservisten in Uniform samt Wolfsangel


    Bis September in russischer Kriegsgefangenschaft, jetzt auf Propagandatour in der einstigen Wüstenfestung Masada: Nachrichtendienstoffizier Illja Samoilenko

    23.12.2022 von Susann Witt-Stahl - Seit Monaten bereiten Volksvertreter in der westlichen Welt ukrainischen »Asow«-Kämpfern einen begeisterten Empfang. Nach dem Kapitol in Washington und dem EU-Parlament steht nun offenbar die ideologisch wichtigste Eroberung an: die Knesset in Israel, Heimat zahlreicher Juden, die vor Hitlers systematischem Massenmord geflohen waren oder den Holocaust überlebt hatten.

    Vergangene Woche wurde nun erstmals offiziell eine zweiköpfige »Asow«-Delegation ins »Heilige Land« entsendet – »um die von der russischen Propaganda aufgebauten Mythen über das Regiment zu entlarven«, die »in einigen israelischen Kreisen leider immer noch großen Einfluss« hatten, erklärte der »Verband der Familien der Verteidiger von Asowstal«. Dessen stellvertretende Vorsitzende Julia Fedosiuk vertrat die Neonazis zusammen mit dem Nachrichtendienstoffizier Illja Samoilenko, der im September aus russischer Gefangenschaft freigekommen war.

    Der neuntägige »Arbeitsbesuch« in Israel ist eine heikle Mission: »Asow«, das seit dem »Euromaidan« 2014 von einem Regiment zu einer Massenbewegung wuchs, steht bis heute fest in der Tradition der ukrainischen Faschisten, die in den 1940er Jahren als treue Verbündete Nazideutschlands in der Organisation Ukrainischer Nationalisten oder als Angehörige der SS, der Wehrmacht oder der Hilfspolizei am Völkermord an den Juden beteiligt waren.

    Diese verstörende Tatsache versucht die gut geschmierte »Asow«-Propagandamaschine mit allen Mitteln zu verschleiern, besonders in Israel. Seit Beginn des russischen Einmarschs in die Ukraine behaupten Kämpfer des Regiments – wie unlängst der Vizekommandeur Swjatoslaw Palamar in einem Haaretz-Interview – beharrlich, bei dem von SS-Einheiten stammenden Wolfsangelsymbol im »Asow«-Emblem handele es sich nur um die zusammengesetzten Anfangsbuchstaben I und N der Hauptwörter ihres Slogans »Idee der Nation«.

    Folglich gebe es in der Bewegung »keine Nazis«, wie Fedosiuk am Montag gegenüber dem israelischen Nachrichtenportal Detali beteuerte. Dafür aber »Antifaschisten, Sozialisten and Anarchisten«, und »da sind auch Juden, schon die ganze Zeit«, ergänzte Samoilenko im Gespräch mit The Times of Israel. »Einer meiner besten Freunde ist Jude, und der ist in Asow«, setzte Fedosiuk noch einen drauf – während ukrainische Neonazikrieger auf Telegram aktuelle Fotos von »Asow«-Panzern mit den Hoheitszeichen der deutschen Wehrmacht und SS auf Feindfahrt durch die Ostukraine veröffentlichten.

    Für seine groteske Erzählung ist das faschistische Duo infernale nur wenige Tage vorher sogar vom »Asow«-Chefideologen persönlich Lügen gestraft worden: Ohne »Patriot der Ukraine« würde »es sicher kein Asow geben«, würdigte Andrij Bilezkij die Bedeutung des bewaffneten Arms der 2008 gegründeten Neonaziorganisation »Sozial-Nationale Versammlung«, die für eine »rassenreine Ukraine« streitet. Dass Samoilenko genauso denkt wie Bilezkij, der sich vor einigen Jahren für einen »letzten Kreuzzug« gegen »die von Semiten angeführten Untermenschen« ausgesprochen hatte –, das belegt er eindrucksvoll durch rassistische Entgleisungen: »Mittelalterliche Höhlenmenschen« nennt er die Russen gegenüber The Times of Israel. Er sehe Israel und die Ukraine auf der gleichen Seite: »Die Zivilisierten kämpfen gegen die Unzivilisierten um die Zukunft der Menschheit.«

    Das hielt Naama Lazimi, Knesset-Abgeordnete der sozialdemokratischen Awoda-Partei, nicht davon ab, die »Asow«-Delegation zu empfangen und sich für ein Gruppenbild mit Neonazis instrumentalisieren zu lassen. Es gab auch einen Besuch der Ruine der einstigen Wüstenfestung Masada, der Samoilenko zu einem kruden Vergleich seiner »Asow«-Kameraden mit den jüdischen Aufständischen inspirierte, die im Jahr 74 bis in den Tod Widerstand gegen die römischen Besatzer geleistet hatten. Ferner wurde zwecks »Austauschs wertvoller Kampferfahrung« eine Zusammenkunft mit Reservisten der israelischen Armee (Abkürzung IDF) arrangiert. Beide Programmpunkte absolvierte Samoilenko in Kampfuniform mit besagtem SS-Symbol. Ein weiterer Höhepunkt der Reise dürfte die Aufführung eines »Asow«-Propagandafilms in Tel Aviv und Haifa über die russischen »Konzentrationslager des 21. Jahrhunderts« gewesen sein.

    Die von der ukrainischen Botschaft unterstützte Neonazitournee wurde von israelischen Bandera-Anhängern und der Nadav-Stiftung von Leonid Newslin finanziert. Der 2008 in Russland wegen »Verschwörung zum Mord« in Abwesenheit zu lebenslanger Haft verurteilte Oligarch ist der engste Geschäftspartner des nicht minder für kriminelle Machenschaften bekannten Unternehmers Michail Chodorkowski. Laut Presseberichten war die »Asow«-Delegation sogar zu einem Treffen mit israelischen Regierungsbeamten geladen – ein deutliches Indiz dafür, dass die Neonazis im gelobten Land ein noch dringlicheres Anliegen als Holocaustrelativierung und Persilscheinjagd verfolgen: mehr Waffenlieferungen. Ukrainische Militärs, inklusive der faschistischen Einheiten, werden seit Jahren mit »Tavor«-, »Galil«- und »Negev«-Gewehren sowie anderen Rüstungsgütern aus Israel ausgestattet.

    Einige Israelis zeigten sich in Leserkommentaren »schockiert«, dass »diese Monster« und »Ukronazis«, deren politische Vorgänger »die Ukraine mit dem Blut von Juden getränkt« hatten, nach Israel einreisen durften. Andere reagieren mit bitterer Ironie: »Die IDF-Logik ist simpel: Beim nächsten Krieg gegen die Araber haben wir Neonazikämpfer auf unserer Seite.« Keineswegs überrascht äußerte sich auch der Historiker ­Moshe Zuckermann gegenüber jW: »Schon lange, besonders seit Beginn der Ära Netanjahu, werden Faschisten, Diktatoren, Rassisten, ja selbst Antisemiten in diesem Land willkommen geheißen, wenn sie bloß ›Israel-Solidarität‹ bezeugen.«

    #Israël #Ukraine #fascistes #géopolitique

  • Berlin : le plus gros aquarium cylindrique du monde explose au milieu d’un hôtel, au moins 2 blessés
    https://www.bfmtv.com/international/europe/allemagne/berlin-le-plus-gros-aquarium-cylindrique-du-monde-explose-au-milieu-d-un-hote

    Haut de 25 mètres, l’"AquaDom" du Radisson Collection Hotel s’est fissuré, dans la nuit de jeudi à vendredi, dans le centre de la capitale allemande, déversant près d’un million de litres d’eau. Aucun des 1500 poissons tropicaux n’a survécu.

    Installer un aquarium de 1000 tonnes au centre d’un hôtel, franchement, qui aurait pu croire que ça se finirait mal ?