Ein Begräbnis
Bundesarchiv, Bild 102-09303 / CC-BY-SA
Hier wird jemand mit Pomp zu Grabe kutschiert. Schutzleute auf einem LKW vorneweg, man biegt nach links ab, während anderes Schupos Passanten und Zuschauer auf Distanz halten. Links ragt auf halber Höhe ein Kandelaber ins Bild, rechts oben sind Umrisse eines Kirchturms zu erahnen. Eine Straßenkreuzung im Stadtinnern, Straßenbahngleise, Oberleitungen sind an Pfeilern und Wänden montiert, an zwei bis fünfgeschossigen Häuser aus der Zeit zwischen 1860 und 1910.
Von diesen Häusern steht kein einziges mehr. Wäre es anders, wüßte ich es.
Warum der Aufwand ? Wo sind wir ? Wo stehr der Photograph ? In welche Richtung blickt er ? Was würden wir heute an dieser Stelle sehen ?
Bildlegende
Die feierliche Beisetzung des Nationalsozialisten Wessel in Berlin! Der Trauerzug bewegt sich unter starker polizeilicher Bedeckung durch die Judenstrasse in Berlin.
Ein Leser hat hinzugefügt:
Sicht von der Jüdenstraße zur Königstraße (links, heutige Rathausstraße) und zum Hohen Steinweg (rechts).
Der heutige Verlauf der Jüdenstraße findet sich im Kaupert.
▻http://berlin.kauperts.de/Strassen/Juedenstrasse-10178-Berlin
In der Tat war der Hohe Steinweg die Verlängerung der heute noch existierenden Jüdenstraße ab dem Roten Rathaus, d.h. jenseits der heutigen Rathausstraße. Damit erschließ sich, daß wir am rechten Bildrand auf die Fassaden der kurzen ehemaligen Bischofstraße, die von der Spandauer Straße nach Nordosten zur Klosterstraße verlief.
Ansehen kann man sich die Lage der Straßen auf dem Pharus Plan von 1930.
▻http://www.landkartenarchiv.de/pharus_berlin_gross_1930.php
Das gesamte Areal wurde abgetragen, um dem parkähnlichen Areal um den Fernsehturm Platz zu machen. Nur die mittelalterliche Marienkirche blieb erhalten. Die Klosterstraße reicht heute von der Spree nur noch bis zur Grunerstraße, auf den Verlauf der Bischofstraße nahe der Spandauer Straße wurde der Neptunbrunnen versetzt. Zuvor stand er am Stadtschloß.
Wenn wir den Beerdigungsumzug heute fotografieren würden, hätten wir freien Blick auf die Marienkirche hinter einer Reihe von Bäumen. Nur ihre Position und der links von der Rathausmauer in das Bild ragende Kandelaber ermöglichen, den historischen Ort zu bestimmen.
Waldemat Titzenthaler hat im Jahr 1909 den Blick in die Königstraße nach rechts zum Bahnhof Alexanderplatz festgehalten. Auf diesem Abschnitt befinden sich heute eine Freifläche und Zugangsbauwerke zum Fernsehturm.
https://upload.wikimedia.org/wikipedia/commons/0/03/K%25C3%25B6nigstra%25C3%259Fe_Berlin_1909.jpg
▻http://commons.wikimedia.org/wiki/Waldemar_Titzenthaler
Vom toten Nazischläger mit dem Namen Horst Wessel soll hier nicht weiter die Rede sein, nur der Grund für das massive Polizeiafgebot zum Schutz seiner Beerdigung sei erwähnt :
Die meisten Berliner mochten die Nazis nicht, selbst nach der Machtergreifung und Beginn des hemmungslosen Terrors 1933 erhielten sie nur von 31 Prozent der abgegebenen Stimmen. Zum Zeitpunkt der Beerdigung standen über 60 Prozent der Berliner auf Seiten der Arbeiterparteien SPD und KPD, mehrheitlich waren sie sogar für die KPD. Ohne Polizeischutz wäre die von Goebbels als pompöser Nazi-Aufmarsch inszenierte Beerdigungsgesellschaft kaum unbeschadet durch das Stadtzentrum gelangt.
▻http://www.wahlen-in-deutschland.de/wrtwberlin.htm
Den genauen Ort der Aufnahme und den Standort des Photograpen haben wir nachgeprüft. Dabei sind uns weitere Geschichten begegnet, von denen eine bis ins Heute hineinwirkt.
Auf dem Photo des Begräbniszuges fällt der Name Otto Boenicke über einem Geschäft ins Auge. Diese Marke war noch bis in die 1970ger Jahre Teil des typischen Westberliner Stadtbilds. Eine Filiale in der Königstraße, der heutigen Rathausstraße gab, würde die Bildbeschreibung bestätigen.
Das Jüdische Adreßbuch für Berlin von 1930 zeigt enthält eine Anzeige der Firma Boenicke-Zigarren mit dem Stammhaus Französische Straße 21 in Berlin W 8 und seinen Filialen, eine in der Königstraße 49. Bingo, die Hausnummer können wir auf dem Photo nicht erkennen, aber das Ladenschild gibt eindeutig Auskunft. Otto Boenickes Filiale befand sich auf der nördlichen Seite der Königstraße genau gegenüber dem Berliner Roten Rathaus.
▻http://digital.zlb.de/viewer/image/1931001_1931/36/LOG_0011
▻http://digital.zlb.de/viewer/image/10089470_1930/1/LOG_0003
Das konnte anders nicht sein, denn Otto Boenickes Geschäft ist eine der großen Erfolgsgeschichten aus der Zeit nach dem Gründerkrach.
Im damaligen Königreich Preußen wurde ein Unternehmen oder deren Inhaber vom Monarchen für seine Verdienste und auf Grund der hohen Qualität der Produkte mit dem Titel Königlicher Hoflieferant geehrt. Die königlich-preußischen Hoflieferanten wurden ab 1871 ebenfalls kaiserliche Hoflieferanten, so auch Otto Boenicke mit seinen Zigarren.
▻https://de.wikipedia.org/wiki/Liste_preu%C3%9Fischer_HoflieferantenOtto Boenicke stammt aus Woltersdorf im Südwesten von Berlin.
▻https://www.google.de/maps/search/Berliner+Chaussee,+14947+Nuthe-Urstromtal+OT+Woltersdorf/@52.1146303,13.2065317,211m/data=!3m1!1e3
Sein großer Wohlstand ermöglichte es ihm, seiner Heimatgemeinde im Jahr 1909 den Bau ener Kirche zu finanzieren.
▻http://www.kirche-woltersdorf-jaenickendorf.de/woltersdorf.htm
Bis 1909 scheiterte ein Kirchbau (in Woltersdorf) an den fehlenden Finanzen. Anfang des 20 Jahrhunderts änderte sich das jedoch, als Otto Boenicke beschloss, Woltersdorf eine Kirche zu stiften. Otto Boenicke war Zigarrenfabrikant aus Berlin. Er stammte aus Woltersdorf, seine Eltern besassen eine gewisse Zeit die hiesige Papiermühle. Aus Verbundenheit mit seiner Heimatgemeinde und zum Gedenken an seine Verwandten stiftete er die Kirche. Geplante Kosten dafür waren 60.000 Reichsmark, nach genauer Berechnung kam dann doch eine Summe von ca. 70.000 Reichsmark zusammen.
Die Kirche ist nach dem Muster der Kirche in Berlin-Wannsee entworfen und gebaut worden. Geplant und gebaut wurde sie von Friedrich Metzing, einem Bauunternehmer aus der Kurfürstenstraße in Berlin.
Der beeindruckende Zigarren-Versandkatalog von Otto Boenicke aus dem Jahr 1906
Die Raucher-Website Art of Smoke berichtet
▻http://www.artofsmoke.de/zigarrenbibliothek/katalog-aus-dem-jahre-1906-des-berliner-zigarrenhaendlers-boecnicke
Lagerbestände, bei deren Anblick der heutige Alleinimporteur von kubanischen Zigarren in Deutschland, 5thAvenue, vor Neid erblasst.
Erster und zweiter Verkaufsraum für „importierte Havana-Zigarren“, Verkaufsraum für in Deutschland gearbeitete Zigarren, erstes bis fünftes Lager – und alles bis an die etwa drei Meter hohe Decke mit Zigarrenkisten gefüllt. Dazwischen Kunden und eine Vielzahl Personal.
Alleine in der Expedition sind elf Personen mit dem Versand an die entfernt wohnenden Kunden beschäftigt.
Im Vergleich dazu war die „Buchhalterei“ mit sieben bis 10 Personen eine relativ kleine Abteilung.
Die Veränderungen zu heute fanden im Verkaufs- und Expeditionsbereich statt. Die absolute Größe der Buchhaltung dürfte heutigen Standards entsprechen, der proportionale Anteil der Verwaltung am gesamten Betrieb ist gewachsen.
Verkauft wurde vornehmlich Jahrgangsware. Für das Sammeln oder gar „agen“ (= altern lassen) bestand weder Bedarf noch Anlass. Man rauchte die Ware des Vorjahres.
Und schon damals gab es schlechte Ernten. In seinem Anschreiben an die „geehrten Abnehmer“ teilt Otto Boenicke mit, dass das Ergebnis der 1906er Ernte nur 50–60 % der Ernte eines normalen Jahres sei und diverse Fabriken wohl im Jahre 1907 mangels Tabakblätter würden schließen müssen.
Zigarren, die mit einem Ring versehen waren, wurden damals extra gekennzeichnet. Die Norm war die ringfreie Zigarre. (Und richtigerweise sprach man von „Ring“. Der Begriff „Bauchbinde“ war auch damals schon falsch.)
70 verschiedene kubanische Marken mit rund 700 verschiedenen Formaten bot der Hoflieferant des Königs und Kaisers an. Zum Vergleich: Heute sind es, je nach dem, ob man die Cohiba-Derivate als eigenständige Marke sieht, 33, die die Liste der kubanischen Zigarre füllen.
Bei den Maßangaben war man ehrlich. Den Durchmesser einer Zigarre auf den 100stel Millimeter anzugeben, hätte wohl ein ungläubiges Grinsen hervorgerufen. Selbst mit den Längenmaßen nahm man es locker. „Die notierten Längenmaße der Cigarren gelten nur als ungefährer Anhalt.“ – hieß es daher.
Der Katalog stammt aus der Zigarrenbibliothek des Hamburger Verlegers Paul Altenau.
Echte Boenicke-Fans sammeln heute noch Briefstempel mit seiner Werbung.
▻https://de.wikipedia.org/wiki/Berliner_Postbezirke_%28ab_1862%29Havanna Verkaufsraum im Stammhaus Französische Straße
Die Französische Straße 21 (vormals Berlin W8, jetzt 10117 Berlin-Mitte) ist heute wieder eine bedeutsame Adresse im Stadtzentrum. Schräg gegenüber befindet sich Borchards Restraurant, ebenfalls ehemaliger kaiserlicher Hoflieferant, und auf dem Boenicke-Grundstück selber wurde ein Glaspalast für das Luxuskaufhaus Galeries Lafayette errichtet.
Der Spiegel kennt Details. Roland Ernst, über den auch viel zu erzählen wäre, hat das neue Gebäude errichten lassen.
▻http://www.spiegel.de/spiegel/print/d-8889106.html
Etwa eine halbe Milliarde Mark soll Ernst in den Glaspalast investiert haben. Drei Millionen gingen an die Erben und Mythos-Verwalter der entscheidenden Parzelle - die Nachkommen von Otto Boenicke, der hier Rauchwaren unters Volk gebracht hat, 26 Millionen Zigarren jährlich, „aneinandergereiht die Strecke von Berlin nach Kamerun“, wie es vor dem Krieg hieß.
Damit ist klar: Es geht um Geld, um ganz viel Geld, und das wird über Generationen weitergegeben, genau wie Armut. Nur das historische Intermezzo DDR hat dieses Prinzip unterbrochen. Seitdem sind die Möbel wieder gerade gerückt worden. Schauen wir mal, wie so ein Zigarrenhaldel erfolgreich im Geist der Zeit betrieben wird.
Im Kaiserreich sieht das so aus :
▻http://kleinanzeigen.ebay.de/anzeigen/s-anzeige/antike-zigarrenkiste-deutsches-reich-otto-boenicke-schwarz-+weiss/205097929-234-3426
Weiter geht es mit Nazi-Fanartikeln von der Webseite War on Cigar Boxes des National Cigar History Museum
▻http://cigarhistory.info/Cigar-box_THEMES/War.html#108
Zum Hoflieferanten von Herrmann Göring hat es Otto Boenicke nicht begracht, das blieb der Firma Gildemann vorbehalten.
Hermann Goring’s private brand custom made in these large wooden boxes by Gildemann of Berlin. A number of these were “liberated” full from humidors in Goring’s various homes.
Each cigar comes in a glass tube with a band printed with his crest. Alternating cigars are wrapped in foil. These boxes have been found missing one cigar, presumably smoked on V-E Day.
Von 1945 bis 1995 hat es gedauert, bis die Erben Otto Boenickes das Filetstück seines Zigarrenimperiums verkaufen konnten. In diesen fünfzig Jahren ging es munter weiter mit dem Rauchwarenverkauf an prominenten Standorten ebenso wie in der Provinz:
An Otto Boenickes Zigarrenhandlungen in den fünfziger und sechziger Jahren erinnert sich ein ehemaliger Lehrling.
▻http://www.garcon24.de/2010/07/30/reinhardt-fischer-tabak-und-pulver
Reinhardt Fischer – Tabak und Pulver
In einer Zeit, in der gute Zigarren, kostbare Pfeifen und edle Tabake selbst an Zeitungskiosken verkauft werden, gilt einer wie Fischer für viele als Exot. Der gebürtige Berliner absolvierte eine dreijährige Ausbildung zum Tabawarenkaufmann und führte danach 17 Jahre die Geschäfte einer Filiale des damaligen Branchenprimus Otto Boenicke. „Es war eine Zeit, in der Deutschland Weltmeister im Zigarrerauchen war und in der wir zehn Pfeifen am Tag verkauft haben“, erinnert sich Fischer. Als Lehrling hat er Helmut Schmidt und Herbert Wehner bedient. „Die kannten sich aus“, erzählt der 59-jährige, „ die konnten mit geschlossenen Augen eine Castello von einer Dunhill unterscheiden oder eine Savinelli von einer Stanwell.“ Die Traditionsmarken hat Fischer noch heute im Angebot, dazu weitere 20.
Am Ende war der Tabakwarenhaldel wohl doch nicht mehr lukrativ genug. Die letzten Fundstellen zu Filialen sind spärlich.
Flughaben Berlin Tegel
▻http://www.humidoronline.de/adresse_detail.php?adresse_id=99
Einkaufszentrum neben dem Quartier Napoléon
▻http://berlin.staedte-info.net/kurt-schumacher-damm_66750.php
Irgendwo im Nirgendwo
▻http://www.lotto-tabak.de/standort/simeonstr-5-54290-trier-boenicke-otto-gmbh-co-tabakwaren-geschenkart-u-w
Weil’s so schön ist hier gibtr es noch ein paar Seiten Zigarrenkatalog zu kaufen.
▻http://www.ebay.it/itm/208R01-Prospekt-ca-1930-Zigarren-Otto-Boenicke-Berlin-folder-cigars-30er-Jahre-/171089640307
#Berlin #Tabak #Geschichte #Geographie #Nazi