25.22.2022 von Hanna Lakomy - Eigentlich wollte ich dieses Jahr keine Kolumne mehr schreiben. Eigentlich wollte ich den Kopf abschalten, aussteigen aus der Tretmühle des Denkens. Mein Projekt, als fille publique zur öffentlichen Intellektuellen zu werden, auf winterliches Eis legen. Champagnerkühler-Eis. Nur noch Escort sein den Rest des Jahres. Ich habe dieses Jahr genug gesagt. Ich will bloß nicht zu viel sagen und mich ständig zu allem äußern, sonst komme ich noch auf den fatalen Gedanken, relevant zu sein. Oder, noch schlimmer, ich werde relevant. Denn dieser Kelch ist bisher an mir vorübergegangen.
In der Ruhe meiner beständigen Verworfenheit war ich zu einem Escort-Date für eine Nacht in den Sperrbezirk München gereist, und alles war ganz und gar wundervoll. Am Morgen danach hatte ich Zeit, mein Zug ging erst gegen vier, und so entschied ich mich, die freien Stunden im luxuriösen Wellnessbereich dieses 5-Sterne-Palastes zu verbringen, der, wie alle 5-Sterne-Hotels, mehr als mein heimischer Schreibtisch, mein Arbeitsplatz ist. Sperrbezirk hin oder her.
Denn für die anderen, die auch arbeiten in so einem Palast, sehe ich aus wie ein ganz normaler Hotelgast, eine Geschäftsreisende (Oh, durchaus!), die Gattin eines reichen Geschäftsreisenden oder viel mehr die heimliche Geliebte eines solchen – denn wie eine dieser blonden, großen Trophy Wives sehe ich nicht aus. Das sollte ein geübter Concierge erkennen. Ich sehe auch nicht aus, wie man sich landläufig ein High Class Escort vorstellt (außer man nimmt gerade die bekannteste Prostituierte Deutschlands als Vorbild). Kein noch so geübter Blick eines Concierge könnte das erkennen. Nur ich erkenne immer die anderen Escorts. Wir erkennen unseresgleichen. Aber wir verraten uns nicht.
Dass ich kein Gast bin, sondern auf der anderen Seite stehe, bei den Service-Dienstleistern hier, vergesse ich nie. Meine Solidarität gilt dem Personal. In keinem Hotel, keinem Restaurant kann ich das vergessen. Ich sehe mit Befremden, wenn die Gäste das Personal behandeln wie ihre persönlichen Diener, wie ihr Eigentum. Auf der Toilette meines Lieblingsrestaurants Nobelhart & Schmutzig hängt eine Kaligrafie mit der Warnung: A man who is nice to you, but not nice to the waiter, is not a nice man. Weise Worte.
Dasselbe gilt natürlich auch für weibliche Gäste. Als ich an der Spa-Rezeption stand, um mir einen Schrankschlüssel im Umkleideraum geben zu lassen, gewahrte ich zwei distinguierte Münchenerinnen – Gattinnen, ohne Zweifel, um diese vormittägliche Stunde – die ihrem Ärger Luft machten, dass die Spa-Rezeption nicht besetzt sei. Personalmangel, nicht selten seit der Pandemie!, mischte ich mich ein (und ahmte ihren Dialekt nach, um mich zu tarnen). Mag sein, nörgelte die eine, aber trotzdem darf so etwas nicht passieren. Nicht an so einem Ort!
An so einem Ort, ja, da haben die Menschen ihre Ansprüche. Und ich genoss diesen Ort der Anspruchsvollen, der aller Anspruchsvollsten, für die das Beste gerade gut genug ist. Ich warf den üppigen, flauschigen Bademantel auf eine der mit edlem Leinen gepolsterten Poolliegen, spazierte über Marmorboden und tauchte in das unverschämt warme Wasser, das dem eisigen Wintertag draußen keine Zugeständnisse machte. Ich badete meinen Luxuskörper, auch dies so ein Ding für die Anspruchsvollen, die aller Anspruchsvollsten, diesen mit Champagner begossenen Teufelsbraten von einem Körper, und wusch meine Sünden im Chlorwasser – nicht ab.
Der Junge
Da im Wasser schwamm etwas – es war Kinderspielzeug. Suchend sah ich mich nach dem dazugehörigen Kind um. Es ließ nicht lange auf sich warten. Dort, von den Duschen, kam tänzelnd und laut juchzend ein Junge, an der Hand einer Frau. Er war vielleicht acht Jahre alt, vielleicht auch älter. Es war schwer zu sagen. Sein Betragen passte eher zu dem eines Kleinkindes. Er quietsche laut vor Vergnügen.
Die Frau – seine Nanny – erblickte mich, und nahm dankbar das Spielzeug entgegen. Dankbar umso mehr, als ich es ihr hochreichte, sodass sie sich nicht zum Boden bücken musste. Die Nanny, unzweifelhaft, denn sie sah anders aus als er. Sie war Asiatin, der Junge hingegen sah arabisch aus. Sie sprach englisch mit ihm. Er plapperte in einem kehligen Kauderwelsch, das nur sie verstand.
Wir befinden uns am Pool eines Luxushotels. Eins der teuersten Hotels Deutschlands. Und weil dieses Land so ein wichtiges Land ist, wo mächtige Menschen wichtige Angelegenheiten zu erledigen haben, muss es solche Hotels geben, um ihnen ein standesgemäßes Obdach zu bieten. Und ihrer Entourage.
Die Nanny wusste genau, was der Junge wollte. Sie spielte mit ihm, tat alles, um ihn zu zerstreuen. Freilich musste sie dabei ein Gleichgewicht finden, um den Jungen nicht zu sehr in Begeisterung zu versetzen, denn er äußerte sie lautstark. Wenn er zu sehr schrie, spritzte, in die Hände klatschte, nahm sie ihn beiseite, legte den Finger auf die Lippen und sah sich besorgt um. Zumindest beschwerte sich niemand. Die anderen Poolgäste – die zwei Münchener Damen und dann noch eine vollbusige, etwas ordinäre Schönheit, die auf einer Liege döste, sowie eine Mutter mit ihrer halbwüchsigen Tochter – hatten es längst bemerkt: Der Junge war offensichtlich geistig behindert. Ein Unglück, vor dem kein Reichtum dieser Welt bewahrt. Aber zumindest abschieben kann man es ja, an die Nanny.
Ich fühlte mit ihr, wenn der Junge wieder einen seiner Schrei-Anfälle hatte. Wenn er ihr entwischte, um das Becken herum rannte. Fast hätte er eben eines der schweren Poolhandtücher von einer Liege gezerrt, um es ins Wasser zu versenken. Eigentlich egal – hier bekam jeder so viele frische Handtücher, wie er nur wollte. Die Nanny erhob nie die Stimme, nie war sie streng zu dem Jungen. Sie flehte ihn an, bat ihn. Bettelte, er möge nicht die anderen Leute hier stören, diese feinen Leute, die Anspruch hatten auf die von softem Entspannungssounddesign angetönte Stille eines Wellnessbereichs, in den sie, die Nanny, ich merkte es deutlich, nicht hingehörte.
Alles an ihr drückte dieses Gefühl der Unzugehörigkeit aus. Ihre geduckte Haltung, ihr devoter Blick. Die Tatsache, dass sie nicht mit dem Jungen gemeinsam ins Wasser ging, sondern stattdessen am Rand stehen blieb. Sie trug auch gar keine Badekleidung, sondern ein verwaschenes T-Shirt, eine Leggins und abgetretene Badelatschen. Ziemlich billige Sachen dem Anschein nach.
Kinder in Luxushotels erwecken bei mir stets eine seltsame Beklemmung. Auch wenn es keine behinderten Kinder sind, sondern verständige kleine Menschen. Ich sehe sie beim Frühstück, wenn sie brav mit ihren Tellern zum Buffet gehen, ohne zu rennen. Ohne sich die Teller zu voll zu laden. Ich sehe sie in ihren Kleidchen und Schuhen, die ohne Zweifel viel zu teuer sind, als dass ein Normalsterblicher sie erstehen würde für ein paar Dutzend Monate, für herauswachsende Kinderkörper. Und diese Kinder, sie wissen doch gar nicht, was sie da tragen dürfen. Wo sie sein dürfen.
Sie wachsen auf in einer Normalität, die sie für immer von den meisten Menschen auf dieser Welt und in ihren Vaterländern trennt. Es ist die Unschuld dieser Kinder in dieser Welt der Bösen und Reichen. Dieses Du-sollst-nicht-Merken der Erwachsenen, die alles dafür tun, dass auch diese Kinder so reich und böse werden wie sie, Gewinner unserer ungerechten Gesellschaft. Weil sie ihre Kinder lieben. Ihre Kinder aus Liebe zur Bosheit erziehen oder zumindest zur Blindheit. Diese parfümierte, samtbrokatene, giftige Allgegenwart ihrer Klasse, die ihnen wortlos beibringt, dass sie mehr wert sind als diese Hotelangestellten, die sie bedienen. Die ihnen Pancakes servieren, und die Kinder, gelehrige Wesen, sehen dem Personal nicht in die Augen.
Aber dafür sehen diese Kinder manchmal mich an, fangen meine aufmunternden Blicke auf – ohne zu begreifen, was ich bin. Wenn ihre Mütter es wüssten, sie würden ihre verwöhnten Bälger wegreißen, sie noch bestrafen dafür, dass es mich gibt in ihrer Welt. Der Junge am Pool hat also das erste Mal im Leben Bekanntschaft mit einer Hure gemacht, weil sie ihm sein Badespielzeug reichte. Er wird es niemals wissen. Er wird, wahrscheinlich, Huren verachten lernen. Und später vielleicht welche bezahlen. Falls er bezahlt.
Cecile
Die Nanny hatte schon mehrmals Blicke mit mir gewechselt. Sie hatte dankbar mein ermutigendes Lächeln erwidert, und wenn der Junge erneut laut gewesen war, hatte ich, ich allein von allen Gästen hier, eine beschwichtigende Geste gemacht, alles gut, nicht so schlimm! Ich hatte nicht anders gekonnt. Was die anderen Gäste betraf, die Distanz wahrten, sie diskret ignorierten: Ich mache ihnen keine Vorwürfe. Sie sahen nicht, was ich sah. Ahnten nicht, was ich ahnte. Sie warteten nur stumm darauf, dass dieses subalterne Subjekt mit dem Jungen den Poolbereich wieder verließ.
Ich hingegen musste unbedingt mit ihr sprechen, bevor das geschah. Und es war schon so weit, aber etwas hielt sie zurück, und zwar das auf den Grund des Pools gesunkene nämliche Spielzeug, das sie nicht erreichen konnte in ihrer Kleidung, und der Junge verstand sich nicht darauf, danach zu tauchen. Schließlich fasste sie sich ein Herz und bat mich, mit einer stummen Geste, um Hilfe. Ich angelte es mit den Zehen und reichte es ihr. Dann stieg ich aus dem Wasser, warf mir den Bademantel über und kauerte mich neben sie an den Beckenrand.
You are doing a very good job, begann ich. Sie sah mich scheu an. I am only taking care of this boy. It’s not mine … Sie kam von den Philippinen. Die Eltern des Jungen aber kamen aus Qatar. Ich fragte – ich wagte es tatsächlich zu fragen: I hope they pay you well enough for the hard job you are doin’? Sie starrte auf den Boden. I can not say, sagte sie – und sagte schon genug für mich. I just wish I could work somewhere else.
Und zum ersten Mal war ich dankbar dafür, dass man mich in jeder Talkshow damit konfrontiert hat, was ich dazu sage, dass es auch Zwangsprostitution beziehungsweise Menschenhandel gibt, Menschenhandel, moderne Sklaverei.
Diplomats, erriet ich. Sie nickte. Ich starrte jetzt ebenfalls auf den Boden. Auf ihre Schuhe. Wahrscheinlich waren diese schäbigen Kunststofflatschen noch dieselben, die sie getragen hatte am Flughafen von Manila.
Frau Lakomy, was sagen Sie denn zu den Opfern von Menschenhandel, was sagen Sie denen?
Ich fragte sie nach ihrem Namen. Cecile. Ich sah Cecile in die Augen und erklärte ihr fast streng, dass ich ihr etwas geben wolle. Eine Adresse, eine Website. Ob sie ein eigenes Handy hätte. Sie hatte eines – wenn auch sicher nur zu dem Zweck, dass der Vater des Jungen, der Diplomat aus Qatar, sie jederzeit erreichen konnte. Der Besitzer dieser Sklavin.
Die Adresse, die ich ihr gab, war die von Ban Ying e.V., deren Website in zahlreichen Sprachen übersetzt ist, auch in Filipino. Googeln Sie sie, liebe Leser dieser Kolumne, und wenn Sie Ihr weihnachtlich weiches Herz dazu drängt, dann spenden Sie doch bitte etwas an diese kleine Berliner Organisation für Opfer von Menschenhandel, die spezialisiert ist auf Hausangestellte von Diplomaten. Die mutig den Kampf aufgenommen hat gegen die mächtigsten Menschen auf der Welt, die glauben, sie dürften alles.
Cecile verstand sofort. Sie machte Screenshots von der Website, die sie einer Freundin schicken wollte. Um die Domain wiederzufinden, falls sie das Browserfenster schließen und die Fotos wieder löschen musste. Sie war schlau und umsichtig. Sie hatte nur nicht gewusst, dass es so etwas gibt. Hilfe für sie. Und dass es Menschen gibt, die Menschen wie ihr helfen wollen. Und da, zwischen den Poolliegen, unbemerkt von den anderen Gästen, und vor den blöden Augen des Jungen, brach sie in Schluchzen aus.
Ich umarmte sie. Vorsichtig, dachte ich. Vielleicht hat sie blaue Flecke. Und dann trennten wir uns hastig, die Hure und die Sklavin, und jede ging ihrer Wege unter demselben Dach des Luxushotels, das an diesem Tag unser Arbeitsplatz war. Aber ich habe sie gesehen. Und sie weiß es.
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Ban Ying e.V. ist eine Koordinations- und Beratungsstelle gegen Menschenhandel. Als eines der ältesten Berliner Frauenprojekte in diesem Bereich setzt sich der Verein für die Rechte von Migrantinnen mit Gewalterfahrungen, gegen Ausbeutung und Menschenhandel ein. Spenden können Sie an:
Ban Ying e.V.
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BIC: PBNKDEFF