3.5.2025 von Falk Steiner - Eine Studie für die Bundesregierung sollte berechnen, wie viel durch den Staat überwacht wird. Nicht alles durften die Forscher wissen.
Die Überwachungsgesamtrechnung arbeitet mit vielen Unbekannten
Wie misst man Überwachung?
Mit Rechenformeln zur Intensität
Bayern: Viele Befugnisse, hohe Standards
Die Polizei weiß oft nicht so genau
424 Millionen Fluggastdaten
Hamburg ist Hauptstadt der Telekommunikationsüberwachung
„Keine Daten“ heißt nicht „kein Problem“
Es war der Versuch, den Dschungel zu lichten: Wie viel staatliche Überwachung findet heutzutage schon statt? Wissenschaftler sollten im Auftrag der Bundesregierung herausfinden, wie sich das erforschen lässt. Wie viele Expeditionen wurde das nur ein Teilerfolg. Die „Überwachungsgesamtrechnung“ wurde am Freitag still und leise veröffentlicht.
Die Arbeitsgrundlage war klar: Der Staat darf nicht alles wissen und er darf auch nicht in die Lage versetzt sein, jederzeit alles wissen zu können. Und zwar deshalb, weil die Bürgerinnen und Bürger sonst ihre Handlungsfreiheit einbüßen würden – da sie ihr Verhalten danach ausrichten würden, sich präventiv nicht nur gesetzeskonform, sondern auch opportun zu verhalten. Immer wieder landen Befugnisse wie die Vorratsdatenspeicherung, Quellentelekommunikationsüberwachung, Kennzeichenabgleich oder großer Lauschangriff, die etwa für nachrichtendienstliche oder polizeiliche Tätigkeiten hilfreich scheinen, deshalb vor den Verfassungsgerichten der Republik.
Das Bundesverfassungsgericht hatte vielfach darauf hingewiesen: Weder darf der einzelne Bürger, selbst als Verdächtiger einer schweren Straftat, einer lückenlosen „Rundumüberwachung“ unterliegen, noch dürfen die Befugnisse die Gesellschaft insgesamt einer auch nur annähernden Totalüberwachung unterwerfen. Zugleich verändern die Befugnisse mit sich verändernder Technologienutzung ihrer Intensität: unverschlüsselte SMS etwa sind heute eine Ausnahmeerscheinung – während die flächendeckende IP-Vorratsdatenspeicherung bei den ersten Diskussionen um sie nur einen Teil der Bevölkerung betraf, heute jedoch fast alle.
Wie misst man Überwachung?
Das Max-Planck-Institut zur Erforschung von Kriminalität, Sicherheit und Recht hatte deshalb den Auftrag von Justiz- und Innenministerium des Bundes erhalten, zu prüfen, wie sich berechnen lässt, wie viel Überwachung heute schon durch staatliche Stellen stattfindet. Das Ziel sei es, Politik und Öffentlichkeit „ein Werkzeug an die Hand zu geben, mit dem die Beiträge der einzelnen Maßnahmen zum Gesamtbild der ’Überwachungslandschaft’ ausgewogen bewertet und miteinander verglichen werden können“, heißt es in der Studie selbst. Doch wie misst man Überwachung möglichst genau?
Dazu sollten im Ampelauftrag zum einen die Gesetzesgrundlagen erfasst werden, mit denen Ermittlungsbehörden und Nachrichtendienste Überwachungsmaßnahmen durchführen. 3228 Befugnisse und Variationen davon fanden die Autoren. Was Behörden dürfen, unterscheidet sich dabei von Bundesland zu Bundesland, denn Polizeirecht und das für die jeweiligen Verfassungsschutzämter ist Landesrecht. Dazu kommt das des Bundes, das auch noch das Recht des Bundesnachrichtendienstes umfasst.
Mit Rechenformeln zur Intensität
Für die Überwachungsgesamtrechnung wurden all diese Befugnisse aufgelistet, analysiert und nach Kategorien bewertet: Sind sie zielgenau oder erfassen sie weitere Personen mit? Wie heimlich sind sie? Insgesamt neun solche „Intensitätskriterien“ wurden ausgewertet. Aber auch: Wie stark sind die Maßnahmen eingehegt? Wie hoch liegen die Hürden, bevor sie eingesetzt werden dürfen? Muss darüber im Nachgang benachrichtigt werden, muss eine Maßnahme protokolliert werden? Gibt es eine unabhängige Kontrolle? All das sind Faktoren, mit denen sich die Studienautoren der Realität nähern wollten. Mit Rechenformeln entstand so ein Wert für jede einzelne der rechtlich möglichen Maßnahmen für jedes Bundesland und die Bundesbehörden.
Entsprechend umfangreich wurde das Ergebnis, das im Januar an die Auftraggeber, die Ministerien, übermittelt wurde. Während Bundesjustizminister Volker Wissing das Ergebnis gerne noch vor der Bundestagswahl veröffentlicht hätte, hatte das Bundesinnenministerium keine Eile bei der Veröffentlichung. Ohne jeden Kommentar von Justiz- oder Innenministerium erfolgte die am Freitagmorgen still und leise online. Dabei ist der Versuch einer Überwachungsgesamtrechnung trotz Problemen durchaus mit einigen Erkenntnissen verbunden.
Bayern: Viele Befugnisse, hohe Standards
So ist etwa die Anzahl der Maßnahmen, die für eine Überwachungsgesamtrechnung als einschlägig gelten müssten, in Bayern und Rheinland-Pfalz im Ländervergleich besonders hoch, in Berlin besonders niedrig. Allerdings sagt das noch nichts über deren tatsächliche Eingriffsqualität aus, meinen die Autoren. Denn in Bayern etwa seien diese regelmäßig mit hohen Regelungsstandards versehen – was die Intensität aus ihrer Sicht wieder verringere.
Die wohl wichtigste Erkenntnis ist aber ein Fehlschlag für das eigentliche Ziel. Denn die Studie sollte nicht nur die rechtlichen Möglichkeiten, sondern auch die tatsächlichen Maßnahmen einbeziehen, die durchgeführt wurden. Also nicht bloß die gesetzliche Theorie, sondern die reale Überwachungspraxis ausleuchten. Von den Nachrichtendiensten gab es mit Verweis auf den Geheimschutz überhaupt keine Angaben dazu. Und auch bei den sonstigen Zahlen mussten die Autoren weitgehend auf das zurückgreifen, was eh öffentlich verfügbar war. Denn viele Behörden, die über Überwachungsbefugnisse verfügen, sind gar nicht in der Lage, genauere Auskünfte zu deren Anwendung zu geben. Denn das wird im Alltag regelmäßig nicht strukturiert erfasst.
Die Polizei weiß oft nicht so genau
Wie lange etwa eine Funkzellenabfrage nach der ersten Beantragung wirklich lief, ist in vielen Ländern kaum zu ermitteln. Auch das Warum einer Maßnahme war laut den Autoren schwer zu erfassen: „Die Vorgangsbearbeitungssysteme der Polizeien sehen beispielsweise nicht standardmäßig vor, dass zu den Vorgängen die in Bezug genommene Ermächtigungsgrundlage eingetragen wird“, heißt es in der Studie beispielhaft. Eine Ausnahme bilde hier das Saarland, wo die bei der Beantragung durch die Polizei seit 2021 angeben muss, auf welcher Grundlage eine Maßnahme erfolgen soll. Außerdem machte den Autoren zu schaffen, dass in vielen Bundesländern viele Systeme nebeneinander eingesetzt werden – digitale Fachverfahren für einzelne Maßnahmen, Verfahrens-Papierakten und Berichte würden oft parallel existieren. Und so rächt sich die Unterdigitalisierung des Alltags der Strafverfolger selbst beim Versuch, herauszufinden, wie viel Überwachung real existiert.
424 Millionen Fluggastdaten
Doch einige Hinweise darauf haben die Autoren finden können, inwieweit die Befugnisse auch tatsächlich genutzt werden. Als den häufigsten Fall staatlicher Eingriffe betrachten die Studienautoren die Fluggastdaten, die an das Bundeskriminalamt gehen: Mehr als 424 Millionen Mal wurden die 2022 an die Wiesbadener Bundesbehörde von den Fluggesellschaften übermittelt – eine nahezu lückenlose Erfassung aller Flugreisenden, die auf Vorrat erfolgt. In der Gesamtschau sei diese europarechtlich vereinbarte Maßnahme ein „Überwachungstreiber“, so die Autoren. Deutlich seltener hingegen komme es zu gezielten Abfragen zu Reisenden durch die dazu befugten Behörden.
Zu den häufigsten Maßnahmen zählen laut den Autoren ansonsten unter anderem die Bestandsdatenauskünfte: Zu wem gehört eine IP-Adresse? Das BKA hatte dafür 86.428 Abfragen angegeben, was an einem hohen Automatisierungsgrad dabei liegt. Hier zeigen die Autoren, dass auch ihr Ansatz für eine Überwachungsgesamtrechnung noch ordentlich Luft nach oben hat: „Da eine (dynamische) IP-Adresse zu einem bestimmten Zeitpunkt nur einem Anschluss zugewiesen sein kann, bedeutet ein Treffer in diesem Fall auch, dass nur ein Datensatz übermittelt wird“, heißt es in der Studie. Dass hinter einer IP-Adresse durch verbreitete Techniken zum Sparen von IP-Adressen (NAT) durch die Internetanbieter inzwischen häufig mehrere Anschlüsse sind, scheint den Autoren so wenig bewusst wie die Tatsache, dass hinter einer öffentlichen IP eine Vielzahl Mitnutzer betroffen sein kann. Derartige technische Feinheiten schmälern die ansonsten durchaus nachvollziehbaren Gedanken der Max-Planck-Forscher zu Fragen wie der Intensität von Eingriffen an einigen Stellen.
Hamburg ist Hauptstadt der Telekommunikationsüberwachung
Trotz solcher Probleme konnten die Autoren auch bei der Intensität einige Aussagen anhand der Datenlage treffen: Die Behörden in Bayern nutzen etwa besonders häufig die Abfrage von Telekommunikations-Verkehrsdaten, in Thüringen findet diese am seltensten statt. Im bevölkerungsreichsten Bundesland Nordrhein-Westfalen wiederum ist die Telekommunikationsüberwachung vergleichsweise selten der Fall, im kleinen Hamburg am häufigsten. Ob das an den jeweiligen Rechtsgrundlagen oder anderen Gründen liegt, diese Frage haben die Autoren in ihrer Studie nicht beantwortet.
„Keine Daten“ heißt nicht „kein Problem“
Ist Deutschland jetzt aber an der Grenze zur überwachten Gesellschaft — oder gar darüber hinaus? Das kann die nun veröffentlichte Studie der Max-Planck-Forscher schlicht nicht beantworten. Dazu fehlten sowohl Daten als auch Kooperationswille. Vor allem betrachten die Wissenschaftler deshalb als bedenklich: Ohne effektive Dokumentation der Maßnahmen sei eine sachliche Bestandsaufnahme schwerlich möglich – und die sei zudem eine zunehmende verfassungsgerichtliche Anforderung. Die Autoren regen hier Nachbesserungen an. Dass dafür wohl Verbesserungen in der Digitalisierung der Arbeitsweise der Polizeibehörden nötig wären, macht eine baldige Besserung des Zustands nicht unbedingt wahrscheinlicher. Sie hätten zudem zwar „keine dezidiert ’überwachungsaffinen’ Behördenzweige oder Bundesländer“ identifizieren können, schreiben die Autoren. Bei der regionalen Verteilung allerdings hätten sich Unterschiede deutlich gezeigt.
Was die Autoren mit ihrer Studie im Auftrag der Bundesministerien also geleistet haben: Einen strukturierten, wenn auch weiter verbesserungsfähigen Ansatz dafür, wie man eine Gesamtschau staatlicher Überwachungsmaßnahmen und ihrer jeweiligen Qualität annäherungsweise erreichen kann. Dass daraus jetzt aber auch Schlussfolgerungen gezogen werden wäre eine Angelegenheit der Politik — im Bund und in den Ländern. Ob der künftige Bundesinnenminister Alexander Dobrindt (CSU) das Projekt weiterverfolgen will, ist bislang nicht bekannt. Im Koalitionsvertrag zwischen CDU, CSU und SPD jedenfalls ist keine derartige Absicht hinterlegt – die letzte Koalition dieser Parteien hatte das Vorhaben noch strikt abgelehnt.