„Schwaben wird das neue Ruhrgebiet“: Forscher aus Berlin sagt Untergang der deutschen Autoindustrie voraus
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„Ich fahre Auto, na klar. In der modernen Welt wird es auch weiterhin Autos geben“: der Berliner Mobilitätsforscher Andreas Knie im Kreuzberger Graefekiez. Dort ließ das Bezirksamt Parkplätze in Grünbereiche umwandeln. Knie und sein Team vom Wissenschaftszentrum begleiten das Projekt. Markus Wächter/Berliner Zeitung
Andreas Knie, Sohn seiner Klasse. Professor Doktor Knie bastelt eine Welt für seinesgleichen, Kreuzberger Bürgerliche. Knie sieht die Welt wie Grüne die Welt sehen. Alles privatisieren, „innovative“ Gangsterkonzerne fördern, öffentliche Infrastruktur zerstören, pardon „optimieren“. Bloß keine tollen, großzügigen kollektiven Transportmittel. ÖPNV-Taxis werden zum „Marktteilnehmer“ herabgestuft und erhalten bestenfalls gleiche „Marktchancen“ wie Megakonzern Uber.
So eine „Vision“ nennt man richtig Dystopie. Eine Welt, in der die Wohlhabenden „grün“ leben und alle anderen am Leben verrecken. Eine zerstörte Welt mit Inseln der Glückseligkeit, verteidigt gegen den Ansturm der Armen mit nachhaltiger Wehrtechnik.
4.12.2024 von Peter Neumann - Andreas Knie kritisiert den Schlingerkurs bei der E-Mobilität. Er will höhere Parkgebühren, mehr Poller, Uber und E-Scooter in Berlin – aber keine neuen Schienenstrecken.
Andreas Knie hat es nicht weit zu dem Kreuzberger Café, in dem das Interview stattfindet. Seitdem der Kottbusser Damm Radfahrstreifen hat, hat er für den rollenden Autoverkehr weniger Platz. Knie findet das in Ordnung. „Die Verkehrsberuhigung tut der Straße gut“, sagt der Mobilitätsforscher vom Wissenschaftszentrum Berlin. Doch so sehr Andreas Knie die Verfechter einer traditionellen fossilen Automobilität seit gut vier Jahrzehnten auf die Palme bringt – als Autofeind kann man den Politikwissenschaftler nicht bezeichnen. Ein Gespräch über Chinas Vorsprung und die Gefahr, in der die deutsche Autoindustrie schwebt. Über Poller, Parkgebühren, Sammeltaxis, subventioniertes Carsharing – und warum Infrastrukturausbau überflüssig ist. So viel wird schon bald klar: Langweilig wird es mit Knie nicht.
Für Pollergegner und andere Feinde grüner Verkehrspolitik sind Sie der Lieblingsgegner. Auf mich wirken Sie eher wie ein Car Guy, weil Sie viel mit Sharing-Autos unterwegs sind und oft davon erzählen, wie sehr Sie sich in Ihrer Heimat Siegerland auf Autos angewiesen fühlten.
Ich fahre Auto, na klar. In der modernen Welt wird es auch weiterhin Autos geben, damit die Menschen unterwegs sein können. Das Wahlplakat der Berliner CDU war aber dennoch unglaublich dumm: „Berlin, lass dir das Auto nicht verbieten“ – so ein Unsinn. Kein Mensch, von wenigen Ausnahmen abgesehen, will ein komplett autofreies Berlin. Aber weltweit geht der Trend dahin, den Autoverkehr sozusagen zu domestizieren. Ziel ist es, mit weniger Autos auszukommen und sich beispielsweise Autos zu teilen, Stichwort Carsharing. Unsere Gesellschaft hat einfach zu viele Autos. Darum geht es. Die Dosis macht das Gift – derzeit ist die Dosis einfach viel zu hoch.
Die Ausweitung der Elektromobilität, ebenfalls möglichst mit Sharing-Fahrzeugen, ist für Sie ein Schlüssel zur Veränderung von Mobilitätsgewohnheiten. Heute gelten Elektroautos aber als Gefahr für den Industriestandort Deutschland. Warum geht es mit der Elektromobilität bei uns nicht voran?
Vor vielen Jahren musste ich meinen Chef am WZB bei einer Konferenz in China krankheitsbedingt vertreten. Damals lernte ich Wan Gang kennen, den späteren Minister für Wissenschaft und Technologie, den ich schon von meiner Zeit bei Audi kannte. Als damaliger Präsident der Tongji-Universität in Shanghai stellte Wan Gang 2006 das chinesische Automobilprogramm vor. Seine Botschaft war unmissverständlich: Wir in China setzen aus industriepolitischen Gründen auf batterieelektrische Fahrzeuge! Schon damals war den Chinesen klar, dass die klimaschädlichen Emissionen gesenkt werden müssen. Sie kündigten auch an, dass China regenerative Energiequellen wie Sonne und Wind fördert. Sie haben ihr Wort gehalten. Elektroautos sind in China ein wichtiger Teil der Mobilität, und seit September 2024 werden in China mehr E-Autos zugelassen als Verbrennerfahrzeuge.
Ein Auto mit Plug-in-Hybrid-Antrieb lädt in Berlin-Mitte an einer Ladesäule Energie. China setzt aus industriepolitischen Gründen auf batterieelektrische Fahrzeuge – Deutschland fremdelt mit der Technologie.
Ein Auto mit Plug-in-Hybrid-Antrieb lädt in Berlin-Mitte an einer Ladesäule Energie. China setzt aus industriepolitischen Gründen auf batterieelektrische Fahrzeuge – Deutschland fremdelt mit der Technologie.Christoph Soeder/dpa
Viele deutsche Autofahrer, manche Parteien und insgeheim auch manche Akteure in der deutschen Automobilindustrie halten nichts von Elektroautos. Sie schwören auf die guten alten Verbrenner.
Die deutsche Autoindustrie sagte damals: Ihr in China setzt auf ein völlig falsches Pferd! Ihr müsst Dieselmotoren nehmen, die sind viel besser auch für die Umwelt. Doch die chinesische Perspektive blieb kristallklar. Alle in der Branche wussten, wohin die Reise geht – zur Elektromobilität. In großen Städten ist es deutlich einfacher, ein Elektroauto zuzulassen als einen Verbrenner. Die deutsche Autoindustrie wollte den Trend jahrelang in ihrer Arroganz nicht wahrhaben. Nun bekommt sie die Quittung. Es werden immer weniger deutsche Autos in China gekauft.
Der Widerstand gegen grüne Ideen für die Mobilität war damals viel härter, das ging bis zur körperlichen Auseinandersetzung. Damals durfte man am Fetisch Auto nicht rütteln.
Andreas Knie
Wird der Schlingerkurs bei der E-Mobilität die deutsche Autoindustrie in den Untergang treiben?
Ja, er wird sie den Kopf kosten! Wolfsburg wird das neue Detroit, Schwaben das neue Ruhrgebiet. Das ist völlig klar, dafür muss man kein großer Visionär sein. Wir in Deutschland scheinen keine Transformation zu können, wir meiden den Wechsel und die grundlegende Veränderung. Und die Politik unterstützt das noch: Wo können wir mit Steuergeldern helfen, um ruhig so bleiben zu können wie wir sind? Die Amerikaner haben Deutschland für lau militärisch beschützt, die Russen haben uns für billig Geld Gas und Öl geliefert – und die Chinesen haben deutsche Produkte zu hohen Preisen abgekauft. Jetzt muss sich Deutschland dringend neu erfinden und dabei seine arrogante Grundhaltung überdenken. Wir glauben immer noch, wir hätten die bessere Technologie, die besseren Ingenieure! Wir glauben sogar, dass wir die besten Fußballer haben.
„Das Auto steht überall im Weg, auch in Berlin. Man muss es wegräumen“
Seit 40 Jahren ist die Mobilität Forschungsthema im Wissenschaftszentrum Berlin. Sie sind 1987 zum WZB gekommen. Hatten Sie davor schon mit dem Thema zu tun?
Seit den 1980er-Jahren! Damals als Mitglied der Alternativen Liste für Demokratie und Umweltschutz, kurz AL. Mit Michael Cramer, der später verkehrspolitischer Sprecher der Grünen-Fraktion und Europaabgeordneter der Grünen war, stritten wir für Tempo 100 auf der Avus und forderten 180 Kilometer Busspuren für die BVG. Das waren harte Kämpfe damals.
Härter als heutzutage? Gegen wen mussten Sie und ihresgleichen damals in Berlin antreten?
Gegen den kompletten ADAC, gegen die anderen Parteien und gegen fast alle Autofahrer. Der Widerstand gegen grüne Ideen für die Mobilität war damals viel härter, das ging bis zur körperlichen Auseinandersetzung. Damals durfte man am Fetisch Auto nicht rütteln. Wegen der Forderung Höchsttempo 100 auf der Avus galten wir schon als Landesverräter und mussten uns immer wieder anhören: Geht doch rüber! Das war fast noch das Freundlichste. Heute haben wir in Berlin eine viel entspanntere Situation, was den Umgang mit dem Auto anbelangt.
Die Menschen fahren zwar weniger Auto, aber sie steigen nicht automatisch auf den öffentlichen Verkehr um.
Andreas Knie
Wer sich dafür einsetzt, den Verkehr zu zivilisieren, muss auch heute mit Gegenwind rechnen. Wenn Poller aufgestellt oder Parkplätze durch Radfahrstreifen ersetzt werden, wallt sofort Kritik auf.
Meist bekommt die Öffentlichkeit einen falschen Eindruck vermittelt. Wann immer Medien über die Verkehrswende berichten, werden kritische und ablehnende Stimmen besonders herausgehoben. Darum wirkt es so, als ob Poller, Verkehrsberuhigung, Radfahrstreifen und andere Themen in jedem Fall heftig diskutiert werden. Ich behaupte: Meist gibt es keinen großen Streit! So gut wie immer sind es nur einige wenige lautstarke Verfechter der Autogesellschaft, die sich dort positionieren.
Unsere Forschungen belegen, dass die Verkehrswende bei den meisten angekommen und der Zauber des Autos verflogen ist. Die Menschen verhalten sich auch so. Daten zeigen, dass die Fahrleistung in Deutschland zurückgeht, mit Autos werden immer weniger Kilometer zurückgelegt. Für Berlin stellen wir fest, dass sogar die Motorisierungsrate zu sinken beginnt. Die ohnehin schon niedrige Zahl der zugelassenen Kfz je tausend Einwohner wird noch kleiner.
Haben wir es nicht zunehmend mit einem Generationsthema zu tun? Wer auf die 70 zugeht und das eine oder andere Zipperlein spürt, reagiert rebellisch, wenn das Auto nicht mehr vor der Tür parken kann und weitere Laufwege zurückzulegen sind. Dann erscheinen Poller als Erschwernis des eigenen Alltags.
Der demografische Wandel macht sich natürlich bemerkbar. Er beeinflusst auch beim Thema Mobilität Routinen und Gewohnheiten. Im ländlichen Raum geht die Busnutzung immer weiter zurück. Da ist keine Verkehrswende in Sicht. In einer großen Stadt wie Berlin wirkt sich dieser Wandel ebenfalls aus. Babyboomer kommen auch hier in die Jahre. Wenn abends ausgegangen wird, dann bevorzugt man das Taxi oder den Mietwagen. Babyboomer, die ihr Leben lang mit dem Auto gelebt haben, nehmen im Alter nicht den Bus. Doch darauf hat der klassische ÖPNV keine Antwort.
Sie sagen, dass sich auch bei jungen Menschen die Mobilitätsgewohnheiten ändern. Allerdings wird immer wieder berichtet, dass sich junge Männer Rennen mit getunten Autos liefern.
Wenn Sie sich spätabends am Kudamm aufhalten, werden Sie auch zu dem Schluss kommen: Verkehrswende? Hahaha! Gibt es die überhaupt? Es sind vor allem junge Männer, die sich einander beweisen wollen. Aber was auch stimmt: Es sind nur ganz wenige Menschen, die in dieser Form auffallen und kriminell werden. Wenn man alle Daten betrachtet, alle Veränderungen bei den Wertepräferenzen und weitere Faktoren einbezieht, bleibt es bei der Feststellung: Die Bedeutung des Autos als Universalgerät ist im Schwinden begriffen.
Man kann aber nicht sagen, dass die Zahl der Fahrgäste im öffentlichen Verkehr exponentiell zunimmt. Die BVG hat gerade erst wieder das Vor-Corona-Niveau erreicht.
Das ist in der Tat eine Schattenseite: Die Menschen fahren zwar weniger Auto, aber sie steigen nicht automatisch auf den öffentlichen Verkehr um. Das gilt auch für Berlin, obwohl wir mit einem guten Angebot gesegnet sind. Selbst hier wird nur etwas mehr als ein Viertel der Wege mit Bahnen und Bussen zurückgelegt. Trotzdem gibt das Land Berlin pro Jahr rund eine Milliarde Euro nur für den Betrieb aus. Wir müssen uns fragen: Steht das noch in einem angemessenen Verhältnis?
Was fordern Sie? Bahnlinien einzustellen, würde niemand verstehen. Die Züge sind doch voll.
Nein, nicht immer und nicht überall. Wir werden angesichts der veränderten Wertepräferenzen intensiver darüber nachdenken müssen, welche Angebote wir uns noch leisten wollen – und welche nicht. Zu vielen Tageszeiten werden BVG und S-Bahn gut genutzt, aber wir haben auch lange Schwachlastzeiten. Für Berlin heißt das konkret: Wir müssen uns viel stärker als bisher darüber unterhalten, wie wir den öffentlichen Verkehr fortentwickeln: Großgefäße für die Mengenverkehre, On-Demand-Angebote und Sharing-Dienste in den Randzeiten und in Schwachlastzeiten. Diese Kombination würde sehr attraktiv sein.
Wir müssen Fahrdiensten mehr Freiraum geben, gesetzliche und bürokratische Hürden abbauen. Das gilt nicht nur für Ridesharing, auch für E-Scooter und Mieträder.
Andreas Knie
Ich ahne schon: Sie sehnen sich nach dem Berlkönig zurück, dem App-Fahrdienst der BVG, der nach dem Prinzip eines Anruf-Sammeltaxis funktionierte. Den Ridepooling-Service im östlichen Stadtzentrum gab es von September 2018 bis Juli 2022.
Natürlich vermissen wir den Berlkönig! Für viele Frauen, die abends oder nachts kein Vergnügen darin fanden, U- oder S-Bahn zu fahren, war er das Mittel der Wahl. Es war die falsche Entscheidung, den Berlkönig abzuschaffen. Aus diesem Digitalangebot hätte Berlin viel machen können. Genauso wie wir alle Clever Shuttle nachtrauern. Das war ein Pooling-Angebot auf der Höhe der Zeit, das Berlin ebenfalls vergeigt hat.
Wer fährt so spät durch Nacht und Wind? Berlkönig hießen die Fahrzeuge, die 2018 bis 2022 im östlichen Stadtzentrum von Berlin nach dem Prinzip des Anruf-Sammeltaxis unterwegs waren. Rechtsgrundlage war die Experimentierklausel des Personenbeförderungsgesetzes. Betreiber war ViaVan im Auftrag der BVG. Seeliger/imagoWenn der Berlkönig wiederkäme und anders als zuerst flächendeckend in ganz Berlin angeboten würde – gäbe es dann nicht noch mehr Autoverkehr?
Erst einmal steigt die Zahl der Fahrzeuge etwas an. Aber auf lange Sicht würde dieser Effekt wieder ausgeglichen. Wenn es in Berlin ein gutes On-Demand-Angebot in Verbindung mit dem klassischen liniengeführten und fahrplangetakteten ÖV gäbe, würden Menschen deutlich weniger Autos kaufen und besitzen. Es geht kein Weg daran vorbei: Wir müssen im Nahverkehr Chancen und Stärken besser nutzen! Wenn die Nachfrage groß ist, bewältigt der klassische öffentliche Verkehr den Andrang. In Schwachlastzeiten sorgen On-Demand-Angebote für Mobilität. Um dies zu erreichen, müssen wir Fahrdiensten mehr Freiraum geben, gesetzliche und bürokratische Hürden abbauen. Das gilt nicht nur für Ridesharing, auch für E-Scooter und Mieträder. Wir müssen alle Sharing-Fahrzeuge von Sondernutzungsgebühren freistellen. Sie übernehmen wichtige Aufgaben für die Öffentlichkeit.
Wie bitte? Sollen in Berlin noch mehr E-Scooter und Mietfahrräder Fußgängern im Weg herumstehen?
Wenn die Bezirksämter ausreichend Abstellflächen schaffen würden, am besten natürlich auf Parkplätzen, dann wäre das kein Problem. Heute stehen überall private Autos herum. Blech dominiert das Straßenbild, kaum jemand beschwert sich darüber, wir haben uns seltsamerweise an diesen Missstand gewöhnt. Dabei ist es ein Unding, dass man mitten in einer Millionenstadt Autos abstellen darf, ohne dafür etwas zu zahlen – oder nur geringe Parkgebühren. Die vielen Autos sind das Problem, nicht die paar E-Scooter. Übrigens würde die Zahl der E-Scooter nicht groß steigen, denn solche Angebote stoßen an Grenzen der Wirtschaftlichkeit.
Die Parkgebühren in Berlin sind Witzbeträge. Die Parkvignette für Anwohner muss jährlich dreistellige Beträge kosten wie in Stockholm, Amsterdam oder London.
Andreas Knie
Die CDU/SPD-Koalition in Berlin spart bei Blitzern, Straßenbahnplanungen, Mieträdern, Radfahrstreifen und Ladesäulen – um nur einige Beispiele zu nennen. Die Parkgebühren bleiben dagegen, wie sie sind. Das gilt auch für den Tarif des Anwohnerparkausweises, der 2008 auf 20,40 Euro für zwei Jahre gesenkt worden ist und seitdem so niedrig blieb.
Die Parkgebühren in Berlin sind Witzbeträge. Die Parkvignette für Anwohner muss jährlich dreistellige Summen kosten wie in Stockholm, Amsterdam oder London. Mindestens aber 250 Euro, wie es selbst in deutschen Städten wie Düsseldorf diskutiert wird. Sonst ergibt sie keinen Sinn. Würde der Anwohnerparkausweis 850 Euro im Jahr kosten, würden sich viele Autobesitzer nach Alternativen umschauen, die ja mit dem neuen ÖV auch vorhanden sind. So einfach ist das.
Ein Politiker, der das Parken so stark verteuern würde, würde nicht wiedergewählt.
Ich glaube nicht, dass das heute noch stimmt. Ich bleibe bei meiner Feststellung: Die Welt ist heute eine andere. Als wir in Kreuzberg und Friedrichshain Anwohner gefragt haben, wie sie es finden würden, wenn die meisten Parkplätze in ihren Vierteln verschwänden, war die Zustimmung groß. Ich sage: Wenn ein Politiker, eine Politikerin mit einem klaren Programm zur schrittweisen Reduktion des Autoverkehrs und für mehr Grün antreten würde – er oder sie würde bei der nächsten Wahl eine Mehrheit bekommen.
Ich bin mir da nicht so sicher. Selbst kleine Themen werden sofort kontrovers diskutiert. Am 29. November hat sich ein Dachverband gegen Poller gegründet. Nicht nur in Mitte wächst die Kritik an Sperren, die Durchgangsverkehr verhindern sollen.
Das sind wenige Leute. Es stimmt nicht, dass es eine breite Front gegen Poller gibt. Bei Umfragen haben sich Tausende für Modalfilter ausgesprochen.
Das sind Pollersperren, die Kraftfahrzeuge zum Abbiegen zwingen, Radfahrer und Fußgänger dagegen durchlassen. Es gibt viele Widersprüche, in Mitte wurde geklagt.
Poller sehen meist nicht gut aus, das stimmt. Sie sind Maßnahmen für den Übergang, bis andere Formen der Straßenraumgestaltung gefunden und umgesetzt worden sind. Aber zur Wahrheit gehört auch, dass Poller Durchgangsverkehr wirksam unterbinden, dass sie Schutzzonen für Radfahrer und Fußgänger schaffen, was wiederum die Verkehrssicherheit in den Wohnvierteln erhöht. Wo es keine Poller gibt, dringen Kraftfahrzeuge in Bereiche ein, die nicht für sie gedacht sind. Nur mit Pollern lassen sich solche Grenzüberschreitungen wirksam verhindern. Auch Richter kommen zu dem Schluss: Gemeingebrauch ist heute anders zu definieren, als überall Platz für private Autos zu schaffen. Die novellierte Straßenverkehrsordnung gibt Gerichten neue Möglichkeiten, im Sinne der Allgemeinheit und der Verkehrswende zu entscheiden.
Wo der Straßenverkehr eingeschränkt wird, klagen Gewerbetreibende über Einbußen. Kunden könnten nicht mehr mit dem Auto zum Einkaufen fahren, die Umsätze sinken, heißt es. Schadet die Verkehrswende der Wirtschaft?
Nein! Die Verkehrswende nützt der Wirtschaft. Nicht Poller, sondern die vielen geparkten Autos sind das Problem. Sie behindern nicht nur Lieferfahrzeuge, Müllwagen, Einsatzfahrzeuge von Polizei und Feuerwehr. Autos stören auch dabei, wenn Straßen und Plätze aufgewertet werden. Dabei gilt: Nur wo ich mich wohlfühle, kaufe ich gern ein! Die Corona-Pandemie hat dazu geführt, dass die Umsätze des Einzelhandels, von Restaurants und Clubs deutlich zurückgegangen sind. Die Menschen kommen nicht mehr freiwillig überall hin. Wo der Verkehr abgenommen hat und Straßen schöner geworden sind, steigen dagegen die Einzelhandelsumsätze. Trotzdem vertritt die Branche immer noch eine antiquierte Haltung – als ob alles vom Auto abhängen würde. Der Einzelhandel kennt seine Kunden offensichtlich nicht.
Erst sollten ausnahmslos alle Parkplätze gebührenpflichtig werden und die Gebühren deutlich steigen, dann sollte der Parkraum verknappt und schließlich ganz aufgegeben werden.
Kommen wir noch einmal zum Thema Nahverkehr. Der Spardruck könnte dazu führen, dass es künftig weniger Geld gibt, um das Schienennetz ausbauen zu können. Fänden Sie das schlimm?
Ich fordere einen Ausbaustopp für die gesamte Verkehrsinfrastruktur in Berlin – und zwar jetzt. Die aktuellen Kürzungen der CDU und der SPD zerstören die Stadt, sie pumpen sinnlos Beton in das letzte Grün und kürzen das Lebenselixier der Stadt, die Kultur, brutal weg. So wird die Stadt sterben. Die meisten Verkehrsprojekte sind Jahrzehnte alt. Nehmen Sie die geplante Verlängerung der Straßenbahnlinie M10 von Friedrichshain nach Kreuzberg und Neukölln: Um von der Warschauer Straße zum Hermannplatz zu gelangen, gibt es mittlerweile bessere Möglichkeiten als eine Gleistrasse, die durch schmale Wohnstraßen und den Görlitzer Park geführt werden soll. Einen Park zu zerschneiden – das geht heute nicht mehr!
Die Simulation zeigt, wie die Strecke für die M10 in der Falckensteinstraße geführt werden könnte. Auf den 450 Metern zwischen der Schlesischen und der Görlitzer Straße soll die Trasse straßenbündig verlaufen. Auf der Westseite der nur 19 Meter breiten Wohnstraße müssen Bäume gefällt werden, so das Planungsbüro Ramboll.
Die Simulation zeigt, wie die Strecke für die M10 in der Falckensteinstraße geführt werden könnte. Auf den 450 Metern zwischen der Schlesischen und der Görlitzer Straße soll die Trasse straßenbündig verlaufen. Auf der Westseite der nur 19 Meter breiten Wohnstraße müssen Bäume gefällt werden, so das Planungsbüro Ramboll.Simulation: Ramboll/Senatsverwaltung für Mobilität
Sie sind auch gegen neue U-Bahn-Tunnel?
Ich kann die Bürger verstehen, die gegen die Verlängerung der U-Bahn-Linie U3 von Krumme Lanke zum Mexikoplatz vorgehen. Berlin braucht diese U-Bahnstrecke nicht. Die Fahrgäste haben sich längst darauf eingerichtet, in diesem Bereich mit dem Bus oder Rad zu fahren. Angesichts der enormen Kosten, die schon jetzt auf 150 Millionen Euro geschätzt werden, wäre der Nutzen verschwindend gering. Die Planungen für den Umsteigebahnhof unter dem S-Bahnhof Mexikoplatz sind bombastisch. Ich weiß nicht, wer sich das ausgedacht hat. Als gäbe es einen Preis dafür, möglichst kompliziert und teuer zu bauen.
Keine einzige neue Schienenstrecke für Berlin – nirgends. Ist ein solcher Verzicht wirklich sinnvoll?
Es gibt einige wenige Projekte, die weiterverfolgt werden sollten. In der Sonnenallee in Neukölln hat sich der Verkehr enorm entwickelt. Der Bus M41 ist rappelvoll. Hier sollte man in der Tat weiter überlegen, ob der Bau einer Straßenbahn sinnvoll sein könnte. Aber natürlich brauchen wir wie überall sonst in Berlin auch dort Uber, Bolt, Bliq, einen neuen Berlkönig, ein neues Clever Shuttle. Der alte Streit mit Uber muss beigelegt werden, Berlin braucht gegenüber diesem Unternehmen eine Befriedungsstrategie. Aber natürlich muss es gleiche Bedingungen für Taxis und Mietwagen geben, und alle müssen sich an diese Regeln dann auch halten. Deshalb muss der Senat das Gespräch mit Uber und den Taxis suchen, damit in Berlin ein gutes On-Demand-Angebot aufgebaut wird.
Braucht die Berliner Mobilität einen Disruptor, der die Dinge schnell und radikal ändert? Jemand wie Travis Kalanick, der Uber 2009 gründete, oder den Tesla-Chef Elon Musk?
Unbedingt. Berlin braucht Disruptoren! So wie bisher kommen wir nicht weiter. Aber es gibt gute Ansätze. Mit Henrik Falk hat die BVG einen wunderbaren Chef, reflektiert und innovativ. Auch Verkehrssenatorin Ute Bonde (CDU) weiß, dass Berlin Impulse, neue Technik, neue Angebote und neue Wettbewerbsmodelle für die Mobilität braucht. Es gibt viele gute Ansätze, aber bislang hat fast keiner von ihnen ökonomisch gezündet.
Denken Sie an das Carsharing: Es ist sehr sinnvoll, aber die Parkgebühren sind für stationäres und flexibles Carsharing viel zu hoch, das macht die Preise kaputt. Den Nutzern erscheint es als viel zu teuer. Ich war mit Carsharing an der Ostsee – und hatte das Gefühl, am Ende arm zu werden. Mit einem privaten Auto wäre ich kostengünstiger ans Meer gefahren. In ganz Deutschland gibt es gerade mal 46.000 Sharing-Autos, viel zu wenige. Die Zahlen müssen steigen. Das geht nur, wenn wir andere Tarifstrukturen und andere Preise ermöglichen und dafür müssen Autos, die alle nutzen, im öffentlichen Raum völlig ohne Gebühren parken können.
Braucht Berlin ein öffentlich subventioniertes Carsharing-System, das die Preise senkt?
Wir müssen darüber nachdenken, wie sich die Tarife anhand von klar definierten Einkommensklassen staffeln ließen, damit ein Teil der Bevölkerung Carsharing zu subventionierten Tarifen nutzen kann. Ziel muss es sein, dass mehr Menschen als jetzt mit Carsharing-Autos mobil sein können. Wir brauchen eine andere Sharingkultur – eine, die nicht nur für Besserverdienende gedacht ist.
Möglichkeitsräume, Mobilitätsräume – das sind Bereiche, innerhalb derer Mobilität stattfinden kann, Menschen sich bewegen, wirtschaften, eine Gesellschaft bilden können. Das sind wichtige Stichworte Ihrer wissenschaftlichen Arbeit. Von den Räumen ist es nicht weit zu den Träumen. Wie sehen sie aus?
Berlin sollte ein Experimentierraum sein, wo Unternehmen mit Gewinnerzielungsabsicht den Verkehr der Zukunft gemeinsam mit öffentlichen Verkehrsunternehmen organisieren. Dazu braucht die Stadt ein Programm der Neuorganisation des öffentlichen Raumes. Erst sollten ausnahmslos alle Parkplätze gebührenpflichtig werden und die Gebühren deutlich steigen, dann sollte der Parkraum verknappt und schließlich ganz aufgegeben werden. Private Autos stehen dann ausschließlich auf privaten Stellplätzen, öffentliche Autos bleiben auf den öffentlichen Straßen. Wir hätten statt der 1,2 Millionen zugelassenen Autos in Berlin vielleicht noch 300.000 Fahrzeuge – und jede Menge Platz für das Fahrrad und dafür, zu Fuß zu gehen. Wenn eine Stadt das schaffen könnte, dann nur Berlin als Welthauptstadt der Mobilität.
Das Auto ist sein Thema
Andreas Knie (63) befasst sich seit den 1980er-Jahren als Forscher und Hochschullehrer mit der Mobilität – besonders mit dem Autoverkehr in all seinen Formen. Der gebürtige Siegerländer, der nahe der Fachwerkstadt Freudenberg aufwuchs, erwarb früh den Führerschein.
In seiner Dissertation geht es um den Diesel-, in seiner Habilitation um den Wankelmotor. 1987 ging Knie ans Wissenschaftszentrum Berlin (WZB), wo er noch heute arbeitet. Mit Weert Canzler leitet der Politikwissenschaftler die 2020 gegründete Forschungsgruppe Digitale Mobilität und gesellschaftliche Differenzierung. An der Technischen Universität Berlin ist Knie seit 1998 Professor für (Technik-) Soziologie.
Gegen Kraftfahrzeuge hat Knie, der in Kreuzberg lebt und Mitglied der Grünen ist, nicht prinzipiell etwas einzuwenden. Er fordert aber, in den Städten Autos und andere „Mobilitätsgeräte“, wie er sie nennt, effizienter zu nutzen – zum Beispiel gemeinschaftlich mit Sharing. Dies müsse der Staat viel stärker fördern als heute.