#adi_abeito

  • Zurück in die Diktatur

    Seit Jahren ist Eritrea das wichtigste Herkunftsland von Asylsuchenden in der Schweiz. Weil die Behörden die Asylpraxis schrittweise verschärft haben, müssten immer mehr Eritreerinnen und Eritreer in ihre Heimat zurückkehren. Freiwillig aber geht fast niemand und unfreiwillige Rückkehrer akzeptiert das eritreische Regime nicht. Deshalb werden die politischen Forderungen immer lauter, die sogenannte «freiwillige Rückkehr» zu fördern und mehr abgewiesene Asylsuchende zur Ausreise zu bewegen. Doch was erwartet die Menschen, die zurückkehren müssen? Weshalb kehrt überhaupt jemand in eine Diktatur zurück? Und wie schlimm ist die Menschenrechtslage in Eritrea wirklich?

    «Eritreer, die eine Wegweisung erhalten haben, können jederzeit freiwillig zurückkehren», sagte 2019 Mario Gattiker, der Chef des Schweizer Staatssekretariats für Migration (SEM). Jedes Asylgesuch werde sorgfältig und einzeln geprüft, ergänzt ein SEM-Sprecher auf Anfrage. Wegweisungen würden nur ausgesprochen, wenn aus Sicht des SEM keine konkrete Bedrohung bestehe.

    Unsere Recherche zeigt aber, dass die Schweizer Behörden nicht wissen, was mit Rückkehrern in Eritrea passiert. Im aktuellsten Eritrea-Bericht des SEM steht: «Eine Überwachung zurückgekehrter ehemaliger Asylbewerber ist nicht möglich. Dies bedeutet, dass es an wesentlichen Informationsquellen (…) fehlt.» Und: «Eine Quelle besagt, dass Gerüchten zufolge einige inhaftiert sind und andere nicht. In den meisten Fällen gibt es jedoch keinerlei Informationen.» Das SEM kann keinen einzigen dokumentierten Fall eines illegal ausgereisten Eritreers vorlegen, der nach seiner Rückkehr unbehelligt geblieben ist.

    Jetzt hat REFLEKT in Zusammenarbeit mit dem Online-Magazin Republik erstmals fünf Geschichten von Rückkehrerinnen und Rückkehrern rekonstruiert. Ihre Reisen sind auf der folgenden Karte dargestellt.

    Zwei der Rückkehrer, Tesfay und Yonas (beide Namen geändert), erhielten in der Schweiz kein Asyl, kehrten nach Eritrea zurück und flohen dann ein zweites Mal aus ihrer Heimat. Tesfay sagt, dass er nach der Rückkehr ein offizielles Aufgebot erhalten habe und aufgrund von Erfahrungsberichten davon ausgehen musste, inhaftiert, gefoltert oder anderswie bestraft zu werden. Yonas sagt, dass er am Flughafen von Mitarbeitern des Geheimdienstes abgeholt wurde, die ihn mit dem Auto in eine circa zwanzig Fahrtminuten entfernte Wohnung brachten. Dort sei er in einer Einzelzelle festgehalten, mehrmals verhört sowie gefoltert worden.

    Solche Fälle dürfte es eigentlich nicht geben. Die Schweizer Behörden gehen davon aus, dass weggewiesene Eritreerinnen und Eritreer zurückkehren können, ohne in ihrer Heimat eine unverhältnismässige Strafe fürchten zu müssen. Die Erzählungen der Rückkehrer widersprechen dieser Annahme. Sie zeigen, dass eine Rückkehr nach Eritrea problematisch sein kann. Und: Wenn Yonas tatsächlich gefoltert wurde, hätte die Schweiz mit seiner Wegweisung wohl das Folterverbot nach Artikel 3 der Europäischen Menschenrechtskonvention verletzt. Doch ob sein Fall jemals juristisch aufgearbeitet wird, ist unklar. Weil das Staatssekretariat für Migration seinen Fall für abgeschlossen hält, müsste er auf illegalem Weg in die Schweiz einreisen, um von den Behörden angehört zu werden.

    Unsere Recherche wirft dringliche Fragen auf:

    Wissen die Schweizer Behörden genug über die Lage in Eritrea, um einschätzen zu können, wie gefährlich eine Rückkehr ist?
    Wie will die Schweiz abgewiesene Asylsuchende dazu bringen, zurückzukehren, wenn sie keinen einzigen Fall einer problemlosen Rückkehr vorlegen kann?
    Ist es unter diesen Umständen vertretbar, die selbstständige Rückkehr zu fördern?
    Und weshalb weiss die Schweiz so wenig über ihre Rückkehrer, wenn es doch möglich ist, sie aufzuspüren?

    Nothilfe

    Immer mehr eritreische Asylsuchende erhalten einen negativen Entscheid und müssen mit Nothilfe über die Runden kommen. Sie dürfen keinen offiziellen Sprachkurs besuchen und dürfen nicht arbeiten. Sie sollen sich nicht integrieren und nicht integriert werden, denn aufgrund ihres negativen Asylentscheids sind sie in der Schweiz unerwünscht. In einigen Kantonen wird praktisch kein Geld an die BezügerInnen ausbezahlt, stattdessen erhalten sie Essen, Kleidung sowie Unterkunft und können medizinische Versorgung in Anspruch nehmen. In anderen Kantonen gibt es 6 bis 12 Franken pro Person und Tag.

    Im Kanton Bern gibt es 8 Franken. Die folgenden Bilder zeigen, was sich damit kaufen lässt:

    Trotz schwierigster Bedingungen harren viele abgewiesene Asylsuchenden aus Eritrea in der Schweiz aus oder reisen in andere europäische Länder weiter – nur ganz wenige kehren in ihre Heimat zurück.

    Rund 150 Eritreerinnen und Eritreern sind laut Staatssekretariat für Migration in den letzten drei Jahren selbstständig zurückgekehrt. Das SEM verweist auf diese Zahlen und sagt, dass eine freiwillige Rückkehr für abgewiesene Asylsuchende möglich ist. Die Statistik zeigt aber, dass nur wenige dieser Ausgereisten einen negativen Bescheid hatten und von der Nothilfe lebten. Die Rückkehrer sind nicht in erster Linie Personen, die gehen müssen, sondern solche, die bleiben könnten – ältere Personen zum Beispiel oder regimetreue Eritreerinnen und Eritreer aus der früheren Fluchtgeneration.

    Keiner der fünf Rückkehrer, deren Geschichten wir rekonstruieren konnten, ist wirklich freiwillig zurückgekehrt. Die meisten standen unter starkem psychischem Druck, einer hatte einen Suizidversuch hinter sich, zwei weitere hatten laut Beschreibungen von Augenzeugen schwere psychische Probleme.

    Von all den Personen mit Nothilfe, mit denen wir in der Schweiz gesprochen haben, konnte sich keine einzige eine Rückkehr in die Heimat vorstellen. Niemand weiss genau, was ihn oder sie bei einer Rückkehr erwarten würde, doch alle befürchten das Schlimmste. So auch Merhawit (Name geändert), die mit Nothilfe im Kanton Bern lebt:

    https://www.youtube.com/watch?v=-0AkqYYW8Iw&feature=emb_logo

    Die Vorstellung, dass abgewiesene Asylsuchende nach Eritrea zurückkehren, wenn man sie nur schlecht genug behandelt, scheint falsch zu sein. Die Zermürbungsstrategie der Schweiz funktioniert in diesem Fall nicht.

    Allein in den letzten drei Jahren sind rund 1500 Eritreerinnen und Eritreer unkontrolliert aus der Schweiz abgereist oder untergetaucht – zehn Mal mehr als selbständig nach Eritrea zurückgekehrt sind. Viele von ihnen sind etwa in Belgien gelandet, von wo aus sie versuchen, nach England weiterzureisen. Für die Schweiz geht die Rechnung auf: Seit 2017 haben die Abgänge eritreischer Asylsuchender deutlich zugenommen und die Ankünfte nahmen ab. Die Last der Schweizer Asylpolitik tragen andere Staaten – und all die Eritreerinnen und Eritreer, die nun durch Europa irren.

    Diktatur

    Seit Jahren diskutiert die Schweiz darüber, wie schlimm die Menschenrechtslage in Eritrea wirklich ist. Wer ins Land reist, kann weder Gefängnisse besuchen noch offen mit Betroffenen sprechen. Äussern sich Asylsuchende in Europa, heisst es, die müssten ja übertreiben, damit sie einen positiven Entscheid erhalten. Dieser Mangel an Quellen ohne Eigeninteresse hat zu einem Misstrauen gegenüber Informationen zu Eritrea geführt.

    Deshalb sind wir ins Nachbarland Äthiopien gereist, um mit Eritreern zu sprechen, die das Land vor Kurzem verlassen haben, die nicht nach Europa reisen wollen und die unabhängig vom Druck einer Asylbehörde oder einer Regierung erzählen können. Zehn Personen, die zwischen 2016 und 2019 geflohen sind, haben mit uns über ihr ehemaliges Leben, ihren Alltag, über Folter, Gefängnisse und den eritreischen Nationaldienst gesprochen.

    Die Hälfte unserer Interview-Partner ist nach dem Friedensabkommen zwischen Eritrea und Äthiopien ausgereist. Neun mussten während ihrer Zeit in Eritrea Gefängnisstrafen absitzen, die meisten sogar mehrere. Einige verschwanden während Jahren in einer Zelle – fast alle wurden Opfer körperlicher Gewalt. Kein einziger wurde von einem Gericht verurteilt. Keinem wurde gesagt, weshalb er ins Gefängnis muss und für wie lange.

    Die folgende Karte zeigt eine Auswahl von Gefängnissen in Eritrea und was unsere Interview-Partner dort erlebt haben:

    Anhand von Zeugenaussagen und Satellitenbildern konnten wir den exakten Standort eines der wichtigsten Gefängnisse in Eritrea ermitteln. Die folgenden Bilder zeigen hunderte Häftlinge im Innenhof von #Adi_Abeito, wenige Klilometer nördlich der Hauptstadt Asmara.

    Entgegen aller Hoffnungen hat sich die Lage in Eritrea auch nach dem Friedensabkommen mit Äthiopien im September 2018 nicht verbessert. Alle zehn Gesprächspartner sind sich einig, dass die systematischen Menschenrechtsverletzungen weitergehen. «Nach dem Friedensabkommen habe ich wie alle anderen darauf gewartet, dass sich etwas verändert», sagt Abraham (Name geändert), der 2019 geflohen ist. «Aber nichts ist passiert. Es war dasselbe wie zuvor: unlimitierter Nationaldienst, keine Verbesserungen. Also verlor ich die Hoffnung und verliess das Land.»

    Acht unserer zehn Gesprächspartner haben im obligatorischen Nationaldienst gedient, zwei sind vor der Rekrutierung geflohen. Alle acht waren dem militärischen Arm des Nationaldienstes zugeteilt, wobei nur vier tatsächlich in militärischen Funktionen eingesetzt wurden. Die anderen mussten Schiffe entladen oder Gebäude, Strassen und sonstige Infrastruktur bauen. Ihr monatlicher Lohn: zwischen 75 und 950 Nakfa – nach offiziellem Umrechnungskurs 5 bis 60 Franken.

    Der eritreische Nationaldienst werde als Mittel zur Arbeitskraftbeschaffung für das ganze Wirtschaftssystem eingesetzt, schreibt das Schweizer Bundesverwaltungsgericht in seinem Referenzurteil vom 10. Juli 2018. Seine Dauer sei willkürlich festgelegt sowie unabsehbar. Zudem komme es zu Misshandlungen und die Dienstverweigerung werde «rigoros bestraft».
    Das Fazit: Schickt die Schweiz Menschen nach Eritrea zurück, erwartet diese Zwangsarbeit.

    Das britische Upper Tribunal, auf welches sich das Schweizer Urteil in wichtigen Punkten stützt, hält fest, dass die Gefahr, dass jemand bei der Rückkehr in den Nationaldienst einbezogen wird, wohl nicht nur gegen das Zwangsarbeitsverbot, sondern auch gegen das Verbot unmenschlicher Behandlung nach Artikel 3 der EMRK verstösst. Damit wäre der Nationaldienst ein Wegweisungshindernis.

    Dennoch kommt das Schweizer Bundesverwaltungsgericht zum Schluss, dass in bestimmten Fällen eine Wegweisung von eritreischen Asylsuchenden möglich ist – weil es sich in Eritrea nicht um eine «krasse Verletzung» des Zwangsarbeitsverbots handle. Darüber, ob der Entscheid des Schweizer Gerichts rechtlich haltbar ist, müssten nun der Europäische Gerichtshof für Meschenrechte und der UNO-Ausschuss gegen Folter entscheiden. Vor beiden Institutionen sind Fälle weggewiesener eritreischer Asylsuchender hängig.

    https://reflekt.ch/eritrea
    #Erythrée #COI #asile #migrations #réfugiés #dictature #aide_d'urgence #déboutés #Suisse #retour_au_pays #renvois #expulsions #droits_humains #prisons #prisons_secrètes

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    Traduit aussi en tigrinya :
    https://reflekt.ch/wp-content/uploads/2020/02/Teil-1-Tigrinya_Lay.pdf