Le bougeois sous le Kaiser comprenaient qu’il leur fallait freiner la montée du parti social-démocrate. Il nous ont légué une association de bienfaiteurs le Verein für Socialpolitik VfS.
24.10.2023 von Ingar Solty - Kathedersozialliberale. Vor 150 Jahren wurde der Verein für Socialpolitik gegründet.
Die immer stärker werdende Arbeiterbewegung in den 1870er Jahren zwang das Bürgertum zu einer Reaktion. Die Kombination aus Erster Internationale (1864–1872) und Pariser Kommune 1871 hatte den Herrschenden das Herz in die Hose rutschen lassen. Der Beginn einer weltumspannenden kapitalistischen Krise verstärkte 1873 die Angst vor einer sozialistischen Revolution. Der Aufstieg der Sozialdemokratie zur Massenpartei schien diese Angst zu bestätigen. Die Reaktion der Herrschenden zeigte zwei verschiedene Tendenzen: einerseits die buchstäbliche Reaktion, die eine demokratische Mobilisierung der Arbeiterklasse mit dem althergebrachten Mitteln aus Unterdrückung und ideologischer Ablenkung im Keim ersticken sollte. Andererseits der weitgefasste »Sozialliberalismus« (Reinhard Opitz), der den Arbeitern entgegenkam, um ihnen den umstürzlerischen Wind aus den Segeln zu nehmen.
Die erste Strömung setzte auf Demagogie: Die 1876 gegründete Deutschkonservative Partei, die evangelische Kirche unter dem Berliner Domprediger Adolf Stoecker und die »Berliner Bewegung« mobilisierten den Antisemitismus. Das verfing vor allem bei den Grundbesitzern, weil die ökonomische Wut über globalisierte Agrarkonkurrenz, Deflation und Kreditnot sich als Judenhass kanalisieren ließ. Zugleich sollte der Antisemitismus auch die Arbeiter gewinnen. In diesem »Präfaschismus« (Hans-Jürgen Puhle) waren bereits wesentliche Elemente der faschistischen Bewegung herausgebildet.
Die zweite Strömung entstand in den ideologischen Staatsapparaten. Es brauchte praktische Integrationsangebote, um die mit dem Kapitalismus entstandenen Unsicherheiten einigermaßen abzufedern und die widerspenstige Arbeiterklasse davon zu überzeugen, dass das kapitalistische System und die althergebrachten undemokratischen Hierarchien doch tolerabel seien. Die Geschichte vereint Elemente beider Strömungen, wobei die »Ordnungspartei« dominant blieb: Bei Bismarcks »Zuckerbrot-und-Peitsche«-Politik war das Parteiverbot (»Sozialistengesetz«, 1878–1890) entscheidend und ging auch der Einführung der eingeschränkten Sozialversicherung von 1884 voraus.
Sozialkonservative Bündnispläne
Im Geist der Reform von oben zur Verhinderung der Revolution von unten wurde vor 150 Jahren der einflussreiche und bis heute existente »Verein für Socialpolitik« (VfS) gegründet. Lange bezeichnete man die dort Organisierten als »Kathedersozialisten«. Das Attribut »Katheder« verweist auf deren universitäre Verankerung. Sozialismus nannten die Herrschenden in dieser Zeit indes alles, was von der wirtschaftsliberalen Orthodoxie abwich. In Wahrheit handelte es sich bei der Hauptströmung im VfS um Sozialliberale. Sie stellten den krisenhaften Kapitalismus nicht prinzipiell in Frage, sondern diskutierten, welche Sozialpolitik – Regulierung, Redistribution, Staatsinterventionismus – nötig sei, um ihn zu stabilisieren. Es entstand so unter dem Druck von unten und in der Krise der liberalkapitalistischen Weltordnung die Theorietradition der Institutionellen Politischen Ökonomie zwischen Marxismus einerseits und der sich herausbildenden altwirtschaftsliberalen Neoklassik andererseits. Zu ihr zählen letztlich John Stuart Mill, die Historische Schule der Nationalökonomie, Werner Sombart, Max Weber, John Maynard Keynes, John K. Galbraith, u. a.
Die Bemühung um eine Sozialreform war indes älter. Die Sozialkonservativen im Umfeld von Bismarcks Geheimrat Hermann Wagener und der von ihm herausgegebenen Berliner Revue hatten schon in den 1860er Jahren die weltgeschichtliche Bedeutung der Arbeiterbewegung erkannt und versucht, den Agrarier Bismarck für ein Bündnis der konservativen, kapitalistisch gewordenen Grundbesitzerpartei mit der Industriearbeiterklasse zu gewinnen. Dies entstand im antirevolutionären Geist des »sozialen Königtums« (Lorenz Stein). Es sollte zugleich den Reichskanzler, dessen Machtbasis eine »Klassensymbiose von Junkertum und Bourgeoisie« (Lothar Machtan/Dietrich Milles) war, aus der Abhängigkeit vom liberalen Bürgertum befreien, das parlamentarisch die Mehrheit bildete. Bismarck hatte sich, wie auch sein Briefwechsel mit Lassalle zeigt, hierfür zunächst offen gezeigt.
Ein solches Bündnis wäre freilich zwangsläufig auf Kosten der Landarbeiterklasse gegangen. Denn die ostelbischen Großgrundbesitzer, die sich im Zuge der »Bauernbefreiung« sukzessive das Agrarland der Kleinbauern unter den Nagel gerissen hatten, waren nicht bereit, sich auf die Vorschläge der Berliner Revue für einen Normalarbeitstag für Landarbeiter einzulassen.
Daraus ergaben sich aber neue Widersprüche. Mit der Krise des Junkertums wurden sie offensichtlich. Die kleinen sozialkonservativen Kreise beschäftigten sich mit der Agrarfrage weniger aus Sorge um die Landarbeiter, sondern aus Angst vor der Agrarmonopolisierung und ihren Folgen. Sie erschien ihnen aus staatspolitischen Gründen heikel, weil sie eine doppelte Abwanderung zur Folge hatte: nach Nordamerika und in die Städte. Damit verbunden war die Angst vor landwirtschaftlichem Arbeitskräftemangel, der Polonisierung der östlichen Kolonialgebiete (vor allem Ostpreußens), der Wehrunfähigkeit im Osten und des Verlusts der Ernährungssouveränität. Die Abwanderung in die Städte ließ zudem einen Bedeutungszuwachs der Arbeiterbewegung und des Sozialismus auch im Militär befürchten.
Das kleine und mittlere Grundeigentum sollte aus all diesen Erwägungen heraus erhalten werden. Es entzündete sich eine Debatte über dessen Konkurrenzfähigkeit gegenüber dem agrarischen Großgrundbesitz. Die Abwanderung verschärfte sich dabei in dem Maße, wie die »Große Depression« auch Ergebnis der Globalisierung der Agrarmärkte war, was eine »Große Deflation« und einen entsprechenden Abwertungsdruck für die Landarbeit sowie intensivierten Rationalisierungsdruck für die ostelbisch-gutsherrschaftliche Landwirtschaft bedeutete. Insofern aber die Finanzkrise bei den Banken eine restriktive Politik des Geldverleihs bewirkte, verteuerten sich die für die Rationalisierung nötigen Kredite. Diese »Kreditnot des Grundbesitzes« (Karl Rodbertus) war die Triebkraft des Antisemitismus, weil die Konservativen die Wut auf das Finanzkapital gegen die Juden richteten.
Die Angst vor der Arbeiterbewegung wiederum war die Triebfeder der »Eisenacher Versammlung zur Besprechung der sozialen Frage« vom 6. bis 8. Oktober 1872. Aus ihr ging ein Jahr später der »Verein für Socialpolitik« hervor. Mitten in diesem Prozess ereignete sich allerdings die bis dahin größte Krise des Kapitalismus. Seit dem Winter 1872/73 gab es die ersten Warnsignale. Schließlich kam es zwischen dem 23. April und dem 1. Mai zum Wiener Börsencrash mit Kursverfall und Panikverkäufen. Im Juni erreichte die Finanzkrise Berlin. Am 15. September brach die New Yorker Bank Jay Cooke & Co. zusammen, die den Eisenbahnbau finanziert hatte. Es folgte die »Große Depression« (Hans Rosenberg), die bis 1896 anhielt.
Die Krise warf neue Fragen auf. Sie war eine »organische« (Antonio Gramsci), insofern sich in ihr ausdrückte, dass der bisherige Entwicklungstyp des Kapitalismus an seine inneren Grenzen gestoßen war. Mit der Entstehung der großen Konzerne vollzog sich der Übergang vom Konkurrenz- zum Monopolkapitalismus. Die Überakkumulation produzierte Überschusskapital auf der Suche nach profitablen Anlagesphären und intensivierte internationale Spannungen. Aus diesem Grund forderten die neu entstandenen Verbände von Großgrundbesitz und Industriekapital nun Schutzzölle. Zugleich drängten die nationalen Bourgeoisien zur Gewährleistung von Kapitalexport und zum Schutz von Auslandsinvestitionen ihre Staaten in Richtung Kolonialismus. So war die Weltwirtschafts- auch eine Transformationskrise. Auf dem Weg des Krisenmanagements verwandelte sich der alte liberale Konkurrenzkapitalismus im Rahmen der freihändlerischen »Pax Britannica« in den »Organisierten Kapitalismus« (Rudolf Hilferding) der zwischenimperialistischen Rivalitäten in einem fragmentierten Weltmarkt der Kolonialreiche. Der Kurs in Richtung Erster Weltkrieg war damit gesetzt.
Ideologie der nachholenden Nation
Der Umbruchprozess war notwendigerweise auch ein intellektueller. In den Diskussionen im VfS lässt sich die krisengetriebene Theoriegeschichte der politischen Ökonomie nachvollziehen. Dazu gehört, wie Sozialreform und Staatsinterventionismus, die ursprünglich der Revolutionsabwehr dienen sollten, sich im Kontext der Krise mit einer Orientierung auf einen auch nach außen starken Staat vermengten. Überhaupt besteht seit Cecil Rhodes und Joseph Chamberlain ein enger Zusammenhang zwischen bürgerlicher Sozialreform und Imperialismus, weil dieser als die einzige nichtrevolutionäre Lösung der sozialen Frage erschien. In Deutschland verkörpert diese Verbindung wohl niemand prominenter als Max Weber, der eine tragende Rolle im VfS spielte und sowohl Abhilfe gegen die »Marktabhängigkeit« der Lohnarbeiter wie auch einen starken Staat anstrebte, etwa gegen die »Polonisierung« im Osten.
1872/73 war die Situation jedoch noch offen. Der zugespitzte Gegensatz von Kapital und Arbeit und die Krise offenbarten die Notwendigkeit einer Reform. Die allgemeine Tendenz in der Wirtschaftswissenschaft der Zeit bestand darin, die angelsächsische liberale Orthodoxie zu hinterfragen und die Rolle des Staates in der Wirtschaft neu zu verhandeln. Die Frage war, wie stark der Bruch ausfallen sollte. Die »Historische Schule« von Bruno Hildebrand und ihrem wichtigsten Schüler Gustav Schmoller wandte sich gegen abstrakten Utilitarismus und betonte das Historische, Institutionelle, Kulturelle, Besondere. Allgemeine Annahmen über den liberalen »Nachtwächterstaat«, den Freihandel usw. als Nonplusultra für alle Zeiten und alle Staaten seien abzulehnen. An die Stelle des theoretischen Abstraktionismus und seiner in Frage gestellten Annahmen setzte man empirisch-induktive Verfahren. Joseph Schumpeter und die zeitgleich entstehende neuliberale Österreichische Schule warfen der Historischen Schule daher Theorielosigkeit vor. Auch aus marxistischer Sicht ist festzustellen, dass sie als Teil der Institutionellen Politischen Ökonomie kaum mit dem Wirtschaftsliberalismus bricht, sondern den kapitalistischen Markt zum Ausgangspunkt nimmt, um dann mehr oder weniger starke Ausnahmen zu definieren.
Die Kritik der angelsächsischen Ökonomik blieb dabei freilich nicht nur wissenschaftliche Auseinandersetzung. Vielmehr handelte es sich um die ideologische Entsprechung des Konflikts zwischen britisch-imperialem Herzland und einem nachholend sich entwickelnden »hobbesschen Randstaat« (Kees van der Pijl). Zu Recht verwies die Historische Schule gemeinsam mit dem Marxismus auf die Tatsache, dass die Marktvergötterung der Angelsachsen verschweige, dass der Staat durchaus eine wesentliche Rolle in der Entstehung des englischen Kapitalismus gespielt hatte, und zwar sowohl in der gewaltsamen Herstellung von »doppelt freien Lohnarbeitern« während der ursprünglichen Akkumulation als auch in der merkantilistischen Abschottung der Wirtschaft in der kapitalistischen Frühentwicklung. Entsprechend suchte die Historische Schule die notwendige Staatslenkung im nachholenden Deutschland zu begründen.
Allerdings würde es zu kurz greifen, den VfS nur als Indikator einer nationalen Kurskorrektur anzusehen. Im Kontext von Revolutionsfurcht, zugespitzter internationaler Konkurrenz und Krise war er auch Ausdruck der »Großen Transformation« (Karl Polanyi) und dem damit einhergehenden Paradigmenwechsel. Als solcher wurde er auch von seinen Feinden erkannt. So schrieb Friedrich August von Hayek in »Der Weg zur Knechtschaft« (1944) zutreffend: »Über zwei Jahrhunderte hatten englische Ideen ihren Weg ostwärts genommen (…). Um das Jahr 1870 (…) setzte eine rückläufige Bewegung ein (…). Von nun an wurde Deutschland zum Zentrum, von dem die Ideen, die die Welt im 20. Jahrhundert regieren sollten, nach Osten und Westen ausgingen«: Hegel, Marx, List, Schmoller, Sombart, Mannheim.
Die Positionen im VfS waren indes kaum einhellig. Es gab heftige Richtungsstreitigkeiten. Sie erfolgten insbesondere zwischen Historischer Schule und den stärker kapitalismuskritischen Sozialkonservativen. Deren wesentliche theoretische Vertreter waren Karl Rodbertus, in Eisenach vertreten durch den Berliner Revue-Redakteur Rudolf Meyer, und der Nationalökonom Adolph Wagner. Es ist Dieter Lindenlaubs Schrift »Die Richtungskämpfe im Verein für Socialpolitik« (1966) zu verdanken, dass die nachträgliche Homogenisierung des VfS entmythologisiert wurde. Sie ergab sich durch die Niederlage der Sozialkonservativen während der Gründungsphase. Die Krise von 1873 hatte deren »Staatssozialismus« noch verstärkt. Standen bis dahin regulatorische Vorhaben wie die Fabrikinspektion, der Arbeiterschutz, der Normalarbeitstag zur Behandlung der Arbeiterfrage sowie das Rentenprinzip von Rodbertus und die Grundentschuldung zur Behandlung der Agrarfrage im Vordergrund, so änderte sich dies mit der Krise, weil sich nun auch sehr viel stärker gesamtwirtschaftliche Steuerungsfragen aufdrängten: für oder gegen den Schutzzoll, für oder gegen staatliche Rettungen privatwirtschaftlicher Akteure, für oder gegen Verstaatlichungen?
Projekt Staatssozialismus
In diesem Kontext radikalisierten die Sozialkonservativen ihre »staatssozialistischen« Vorstellungen und operierten mit frühen Formen der makroökonomischen Wirtschaftssteuerung. Die Bezeichnung »Kathedersozialismus« als Gegenprinzip zum Manchesterkapitalismus ist insofern nicht ganz falsch, als sie sich, auf ein Kontinuum Markt – Staat bezogen, stärker in Richtung Staat bewegt. Dies erkannte selbst der dem alten Wirtschaftsliberalismus zugeneigte Lujo Brentano an: Alle »Kathedersozialisten« seien »zu neuer Anerkennung der Berechtigung der Staatseinmischung in das Wirtschaftsleben« gekommen. Damit ist aber noch nicht ausgesagt, wie stark und zu welchem Zweck.
Die Sozialkonservativen plädierten für ein Bündnis von Grundbesitz und Arbeiterklasse in Gegnerschaft zu den Bürgerlich-Liberalen, die genau das zu verhindern trachteten. Artikuliert wurde der Konflikt in Form der Frage nach der Tiefe der Korrekturen an der kriselnden liberalen Orthodoxie. Die konservativen »Staatssozialisten« Wagener und Meyer befanden sich im Richtungsstreit indes in der strukturell unterlegenen Position. Es war von daher nicht verwunderlich, dass in Eisenach neben Meyer (als Zögling von Rodbertus und Wagener) zwischenzeitlich noch zwei weitere Akteure auftraten: Adolph Wagner, seit 1870 Professor für Nationalökonomie in Berlin, und Hermann Roesler, Professor für Staatswissenschaft in Rostock.
Wagner hatte am 12. Oktober 1871 auf der freien kirchlichen Versammlung evangelischer Männer in Berlin einen vielbeachteten Vortrag gehalten, der 1872 als »Rede über die soziale Frage« publiziert wurde. In ihm stellte er sich grundsätzlich gegen die liberale Wirtschaftstheorie. In der Folge hatte er auch Tuchfühlung zu den Sozialkonservativen aufgenommen. Seither kooperierten sie eng, was Wagner auch stärker mit Rodbertus verband, der sich von außen in den Konstituierungsprozess des VfS einschaltete.
Meyer reiste zusammen mit Wagner nach Eisenach. Rodbertus zeigte sich in einem Brief an Meyer vom 17. September 1872 zuversichtlich, dass man hier würde reüssieren können. Der Brief belegt, wie sehr Rodbertus die Gegensätze zwischen »staatssozialistischen« Sozialkonservativen und sozialliberalen »Kathedersozialisten« bewusst waren: »Seit dem Frühjahr (…) glaubte ich, die Kathedersocialisten würden unter sich sein. Nun sehe ich an den andern Namen (…), dass die ganze Angelegenheit ihrem Chef W[agener] in die Hände gespielt ist.« Meyer merkte dazu später an: »R[odbertus] war, nicht mit Unrecht misstrauisch, allein hier ging er zu weit. Die Kathedersocialisten handelten nicht unter den Impulsen Wageners sondern der [liberalen] Delbrückclique (…). Wageners Stellung war schon damals unhaltbar, da er die ganze liberale Bureaukratie gegen sich und Bismarck nur noch hie und da für sich hatte.« Er selbst sei »in Eisenach (…) sofort in die heftigste Opposition zum Gros der Kathedersocialisten« geraten. Diese Einschätzung Meyers teilte auch Brentano, neben Schmoller und Wagner der prominenteste Eisenacher. In seinen Lebenserinnerungen weist auch er auf die isolierte Stellung der Sozialkonservativen hin: »Wagner erwartete vom preußischen Königtum die Förderung (der) kulturhistorischen Entwicklung« der »Verminderung des (Privat-)Eigentumsumfangs als leitendes Prinzip im Kulturgang der Rechtsentwicklung«. In Eisenach habe »1872 nur (…) Meyer (…) diesen Anschauungen Sympathie entgegengebracht.«
Die erheblichen Unterschiede zwischen Sozialliberalen und »Staatssozialisten« offenbarten sich in ihren Auffassungen über Pläne für die Fabrikinspektion, die Einführung von Mindestlöhnen, einer Sozialversicherung und progressiven Einkommenssteuer, für öffentliche Beschäftigungsprogramme, Verstaatlichungen und den Rechtsschutz für gewerkschaftliche Lohnverhandlungen und Tarifverträge. Am heftigsten tobte der Konflikt über die Besteuerung der großen Einkommen, Verstaatlichungen und die Stärkung von Gewerkschaftsrechten. Dabei nahmen die Sozialkonservativen in all diesen Fragen die »sozialistischere« Position ein, was Rodbertus im Brief an Meyer zu der Aussage führte: »Wie kann man Sie aber die äusserste Rechte in der socialen Frage nennen? Sie repräsentiren ja die äusserste Linke.«
Auch Brentano bestätigt in seinen Erinnerungen, dass man sich im VfS über die Differenzen bewusst war: »Wagner (…) stimmte in dem, was er wollte, weder mit meiner Auffassung noch mit der von Schmoller und Gneist überein (…). (E)r wollte die soziale Reform prinzipiell und in allen ihren Teilen aufrollen (…). Die Zeit sollte nun bald zeigen, welche Auffassung berufen sei, dem Verein das Gepräge zu geben (…). Auf dem Kongress von 1875 erschien nun Rudolf Meyer allein, um einen von ihm und von Rodbertus unterzeichneten Antrag zu stellen, dem Reichskanzler das Ersuchen auszusprechen, der deutschen Industrie sowie den bei derselben beteiligten Unternehmern und Arbeitern sowohl nach außen wie nach innen den Schutz zu gewähren bzw. zu verschaffen, welcher in Anerkennung des Wertes der Arbeit und der eigengearteten Stellung der deutschen Industrie als das alleinige Mittel erscheint, unsere in Frage gestellte Konkurrenzfähigkeit auf dem Weltmarkt und den sozialen Frieden auf dem heimischen Markt wiederzugewinnen. Meyer wünschte, dass sein Antrag an einem dritten Kongresstage verhandelt werde, um bis dahin soviel Sukkurs heranzuziehen, dass der Antrag angenommen worden wäre. Mit seiner Annahme wäre der Verein (…) Wagener ausgeliefert gewesen. Um dies zu verhindern, habe ich (…) auf Grund (…) unserer Geschäftsordnung, dass jeder Antrag drei Wochen vor der Versammlung bekannt zu geben sei, beantragt, Meyers Antrag als unzulässig abzuweisen. So geschah es. Meyer stampfte vor Wut und verließ zornig den Saal.« Kein Wunder, dass Meyer Brentano fortan als Erzfeind bezeichnete.
Die »Staatssozialisten« blieben mit ihren Forderungen nach »Nationalisierung der wichtigsten Dienstleistungsindustrien, insbesondere derjenigen, welche bereits unter beinahe monopolistischen Bedingungen arbeiteten wie z. B. auf den Gebieten der Transport- und Kommunikationsmittel, des Bank- und Versicherungswesens, der Kraftwerke und öffentlichen Versorgungsbetriebe« letztlich isoliert.
So konsequent nun aber Wagner wirtschaftlich war, so eng verknüpft blieb sein Staatssozialismus mit der »Staatsräson«. Er pries den »preußischen Kameralismus« und redete dem Machtstaat das Wort. Dazu gehörte die Propagierung des Kolonialismus. Die Demokratie lehnte er ab. So oder so: Wagner und die Sozialkonservativen unterlagen. Nicht lange danach verließ Wagner den Verein.
Im »Nationalen« unterschied sich Wagner kaum von Schmoller. Während dem Liberalen Brentano die Nachahmung des englischen Liberalismus vorschwebte, der Arbeiterforderungen über die Gewerkvereine in die liberale Partei integriert hatte, wollte Schmoller die Gesellschaft durch Sozialreformen einen, als Voraussetzung für eine Machtstaatpolitik nach außen.
Meyer wiederum ging nach der Niederlage im VfS auch mehr und mehr zum Reichskanzler auf Distanz, als sich abzeichnete, dass dieser in Richtung Schutzzoll, Sozialistengesetz und (Kolonial-)Imperialismus gehen würde, womit sich die Hoffnung auf den »staatssozialistischen« Cäsaren zerschlagen hatte. 1877 warf er Bismarck in »Politische Gründer und die Corruption in Deutschland« persönliche Vorteilsnahme vor. Mit Wagner entzweite er sich später in der Frage der Agrarzölle und des Kolonialismus. In »Die Ursachen der amerikanischen Concurrenz« (1883) attackierte er ihn auch in einem Atemzug mit den »Kathedersocialisten, welche (…) noch immer glauben, Fürst Bismarck sei ein socialer Reformator«. Wagners national-sozial-imperialistischen Kurs wollte er nicht mittragen: Er wende sich »mit Abscheu von jenem Chauvinismus ab, der von der Tribüne des Parlaments einer Großmacht (…) mit jener Macht und Größe prahlt, welche wir 1866 und 1870 zwei Nachbarn gegenüber bewiesen haben.«
Das Elend der Neoklassik
Der Richtungsstreit von einst kennzeichnet den VfS heute nicht mehr. Dabei gäbe es für Kontroversen ausreichend Grund. Insofern als Ergebnis des Siegs der neoliberalen Konterrevolution jedoch der Druck von unten fehlt, ist er dieser Tage ein homogen dem Wirtschaftsliberalismus und der Neoklassik verschriebener Zusammenschluss. Man könnte auch von einer Versammlung der Kathederneoliberalen sprechen, und insofern wäre der Name »Verein gegen Socialpolitik« passender. Zu den Vorsitzenden gehörten in jüngerer Zeit der Marktdoktrinär Hans Werner Sinn und die aktuelle Vorsitzende der »Wirtschaftsweisen« der Bundesregierung, Monika Schnitzer, die sich u. a. für die Rente mit 70 und viele weitere »alternativlose« Sozialkürzungsmaßnahmen stark macht.
In jedem Fall hat sich der VfS von seinem Gründungskonsens zum Scheitern wirtschaftsliberaler Politik weit entfernt. Streit findet heute in getrennten Organisationen statt. Im Nachgang der globalen Finanzkrise, die das Elend und den Autismus der Neoklassik und ihrer Annahmen zu »homo oeconomicus«, Gleichgewichtstheorem usw. offenbarte, entwickelte sich der Widerstand heterodoxer Ökonomen. 2012 gipfelte er in einer Gegenkonferenz. Die Kritiker forderten »Theorienvielfalt statt geistiger Monokultur«, »Methodenvielfalt statt angewandter Mathematik« und »Selbstreflexion statt unhinterfragter, normativer Annahmen«. Konsultationen, die eine Erweiterung des Spektrums ergeben sollten, scheiterten.
Die angesichts der heutigen Systemkrise anstehende Erneuerung des wirtschaftstheoretischen Denkens dürfte sich jenseits des VfS vollziehen. Vielleicht trifft sich die alternative politische Ökonomie irgendwann noch einmal in Eisenach. Von dort kam ja auch nicht das schlechteste Programm der sozialistischen Arbeiterbewegung, das im Bürgertum für ein solches Fracksausen sorgte, dass der VfS überhaupt entstehen konnte.