• Revolution von oben
    https://www.jungewelt.de/artikel/439565.aufkl%C3%A4rer-und-bonapartist-revolution-von-oben.html

    25.11.2022 von Marc Püschel - »Demokratische Grundsätze in einer monarchischen Regierung: Dieses scheint mir die angemessene Form für den gegenwärtigen Zeitgeist. Die reine Demokratie müssen wir noch dem Jahre 2440 überlassen, wenn sie anders je für den Menschen gemacht ist.« Als der Hannoveraner Karl August von Hardenberg (#Hardenbergstraße, #Hardenbergplatz) dies 1807 niederschreibt, ist es eigentlich schon keine Provokation mehr. Von Napoleon lernen heißt siegen lernen, das wusste ganz Europa in diesen Tagen. Und doch war es nicht selbstverständlich, sich inmitten einer allgemeinen Reaktion gegen Frankreich nicht dessen militärisches oder diplomatisch-außenpolitisches, sondern gerade das innenpolitische Reformprogramm zum Vorbild zu nehmen. Es bedurfte eines außergewöhnlichen Staatsmannes, um dies in Preußen (#Preußenallee, #Preußenstraße) durchzuführen.
    Frühe Reformversuche

    Hardenberg wird 1750 in eine Adelsfamilie geboren, die traditionell im Dienste Hannovers stand. Sein Vater diente sich in der Armee des Kurfürsten Georg III. (der zugleich König Großbritanniens war) bis zum Generalfeldmarschall hoch. Für die damalige Zeit des aufgeklärten Absolutismus in der deutschen Kleinstaatenwelt ist Karl Augusts Lebenslauf geradezu typisch: 1766 immatrikuliert er sich zum Studium der Jurisprudenz in Göttingen, das allerdings mehr ein Vorwand ist, um sich über die Jahre einen breiten Bildungshorizont – von antiker Philologie, Musik, Philosophie bis hin zu Staatswissenschaft und Manufakturwesen – zu erwerben. Auf einer »Kavaliersreise« durch das Heilige Römische Reich im Jahr 1772 fällt ihm die Reformbedürftigkeit der Reichsinstitutionen ins Auge, und so nimmt es nicht Wunder, dass er, als er 1775 eine Stelle als Kammerrat in Hannover annimmt, sogleich den Dienstherren mit hochfliegenden Reformvorschlägen aufwartet. Doch seine Forderungen nach einer zentralstaatlichen Regierung und einer unabhängigen Beamtenschaft (die sich damals weitestgehend durch Entgelte, die Untertanen für Amtshandlungen zu bezahlen hatten, finanzierte) stoßen auf taube Ohren.

    Auch ein Herrscherwechsel bringt nicht die gewünschte Macht. Zwar erlangt Hardenberg in den 1780er Jahren eine einflussreiche Ministerstelle in Braunschweig (#Braunschweiger_Straße), doch als die Französische Revolution ausbricht und die deutschen Landesherren es mit der Angst zu tun bekommen, ist an größere Reformen nicht mehr zu denken. Ein glücklicher Zufall verschafft dem ambitionierten Hardenberg doch noch Einfluss: Preußen sucht 1790 einen leitenden Minister für die Markgrafschaften Ansbach (#Ansbacher_Straße)und Bayreuth (#Bayreuther_Straße) , die von einer Nebenlinie des Hauses Hohenzollern (#Hohenzollerndamm, #Hohenzollernplatz, #Hohenzollernstraße u.v.m.) regiert werden, aber formell unabhängig bleiben sollen, um keine außenpolitischen Querelen auszulösen. Friedrich Anton von Heynitz, preußischer Minister für Bergwerksangelegenheiten, schafft es, in Potsdam (#Potsdamer_Straße) seinen entfernten Verwandten Hardenberg für diesen Posten durchzusetzen. Plötzlich findet sich der Hannoveraner als »Vizekönig« in Franken (#Frankenallee) wieder, mit freier politischer Hand und nur dem preußischen König (#Königsallee u.v.m.) rechenschaftspflichtig. Sein Reformprogramm konnte er dennoch nicht ohne weiteres durchsetzen. Insbesondere mit dem fränkischen Adel, nach dessen Geschmack der Aufklärer Hardenberg nicht eben war, kam es zu heftigen Auseinandersetzungen, die letztlich ungelöst bleiben. Als 1797 in Preußen der neue König Friedrich Wilhelm III. (#Friedrich_Wilhelm_Platz) den Thron besteigt, zieht es den ehrgeizigen Hardenberg weiter nach Berlin (#Berliner_Straße, #Berliner_Allee). Frucht seiner Arbeit in Franken ist immerhin ein Kreis von loyalen und kompetenten Beamten, darunter Karl Sigmund Franz Freiherr vom Stein zum Altenstein, der später der wichtigste Förderer Hegels (#Hegelplatz) in Berlin werden wird.
    Zwischen den Fronten

    In Berlin angekommen, ist Hardenberg schnell mit der schwierigen außenpolitischen Lage Preußens konfrontiert. Von dem zögerlichen Friedrich Wilhelm III. regiert, schwebt das Land knappe zehn Jahre in einer prekären Neutralität, eingekeilt zwischen einem Jahr für Jahr mächtiger werdenden Frankreich und dem Block seiner Gegner Russland, Österreich und England (#Englische_Straße). Hardenberg, seit 1804 der für Außenpolitik zuständige leitende Kabinettsminister, steht zwar politisch Napoleon näher als alle anderen seiner Kollegen, ist aber hellsichtiger Realpolitiker genug, um die schließliche Übermacht von dessen Gegnern vorauszusehen. Noch während sein König Napoleon und Talleyrand den Schwarzen Adlerorden verleiht, streckt Hardenberg seine Fühler nach Russland aus und riskiert damit – der letztlich zustandegekommenen Defensivallianz Preußens mit Russland von 1804 zum Trotz – seine Karriere.

    Angesichts des militärischen Genies Napoleons erscheint Hardenberg zunächst als Verlierer der Geschichte. Nachdem Frankreich im Dezember 1805 bei Austerlitz die russisch-österreichische Armee besiegt hatte, schlägt das Pendel auch in Berlin nach Westen aus: Preußen wird mit dem »Pariser Vertrag« (#Pariser_Platz, #Pariser_Straße) vom 15. Februar 1806 faktisch Frankreichs Verbündeter und erhält dafür Hannover (#Hannoversche_Straße). In den Genuss, quasi seine Heimat mitzuregieren, kommt Hardenberg nicht. Napoleon, der genau weiß, wer sein wichtigster preußischer Gegenspieler ist, fordert seine Entlassung als »Feind Frankreichs«. Der politisch isolierte Hardenberg wird nach einem Rücktrittsgesuch beurlaubt, hält aber von seinem Landgut Tempelberg aus weiterhin den Kanal nach Russland offen – im Auftrag des preußischen Königs. Dessen außenpolitische Sprünge werden immer gewagter: Als er Mitte 1806 erfährt, dass Frankreich (#Französische_Straße) überlegt, mit England Frieden zu schließen und den Briten Hannover zurückzugeben, lässt er in einem fast schon irrationalen Akt die preußische Armee mobilisieren. Für Napoleon ist das politisch isolierte Preußen mehr lästig als ein ernsthaftes Problem. Nach den deutlichen Niederlagen von Jena (#Jenaer_Straße) und Auerstedt im Oktober 1806 besetzt er große Teile des norddeutschen Königreichs und macht es zu einem Satellitenstaat. Friedrich Wilhelm III. muss nach Ostpreußen fliehen, das nach der in einem Patt endenden Schlacht bei Eylau (#Eylauer_Straße) im Februar 1807 immerhin sicher ist. Hier, am äußersten östlichen Rand des Königreichs, eingeklemmt zwischen Frankreich und Russland, die im Juli 1807 auf Kosten des territorial stark geschrumpften Preußens den Frieden von Tilsit schließen, wird Friedrich Wilhelm III. klar, dass es politisch nicht mehr weitergehen kann wie bisher. Die »französische Partei« an seinem Hofe, die innenpolitisch alles beim Alten belassen will, ist schlagartig erledigt. Der »Russenfreund« Hardenberg, der französisch regieren will, ist dagegen plötzlich der Mann der Stunde.
    Der Berg zum Propheten

    Preußen macht sich in diesen Jahren an ein Reformprogramm, das außerhalb Frankreichs seinesgleichen sucht. Offiziell darf Hardenberg mit der Politik des Landes, das jetzt endgültig unter der Fuchtel Napoleons steht, nichts zu tun haben. Doch glücklicherweise hat er einen Verbündeten, der die Reformpolitik in seinem Sinne am Königshof im wahrsten Sinne des Wortes »durchboxt«.

    Heinrich Friedrich Karl vom und zum Stein, Spross eines reichsritterschaftlichen Geschlechts aus Nassau, hatte einen dem Hardenbergs verblüffend ähnlichen Lebenslauf. Wie dieser studierte er in Göttingen Jura, hörte Reichsrecht bei dem berühmten Johann Stephan Pütter, interessierte sich wie Hardenberg unter anderem für Montesquieu und die englisch-schottische Aufklärung und stieg – gleichfalls protegiert von Bergwerksminister Heynitz – in der preußischen Provinz rasch im Staatsdienst auf. In Westfalen wurde Stein zu einem »Fachmann für Frühindustrialisierung«¹ und war bis 1792 Leiter sämtlicher preußischer Bergämter im Westen, bevor er Anfang des neuen Jahrhunderts Minister im Generaldirektorium wurde, der obersten Verwaltungsbehörde Preußens. Wie Hardenberg war ihm jedoch die Staatsstruktur, der er diente, verhasst. Das Generaldirektorium selbst trug noch ein halb mittelalterliches Gepräge und bestand aus einer wüsten Mischung von sachlichen und territorialen Zuständigkeiten, die sich an allen Ecken und Enden überschnitten. Zum Kompetenzwirrwarr trat die Machtlosigkeit: Die eigentlichen Regenten waren die Handvoll Räte des königlichen Kabinetts, denen das Ohr des absoluten Monarchen gehörte; die Minister des Generaldirektoriums besaßen noch nicht einmal ein Vorspracherecht beim König. An eine effiziente, moderne Verwaltung war in diesem Unsystem nicht zu denken. Stein trat an, es zu stürzen.

    Den später oft gebrauchten Titel der »Stein-Hardenbergschen Reformen« trägt diese Umwälzung von oben jedoch zu Unrecht. Im positiven Sinne habe Stein, so urteilt der Historiker Eckart Kehr, gar nichts erreicht. Seine einzige selbständige Tätigkeit bestehe in einem »Verleumdungsfeldzug großen Stils«² gegen die Kabinettsräte, denen er von Amtsunfähigkeit über physische und moralische »Lähmungen« bis hin zur Teilnahme an angeblichen Orgien alles vorgeworfen habe, was man sich ausdenken konnte. Trotz des starken persönlichen Widerwillens, den der König gegen den Hitzkopf Stein hegt, wird dieser im Juli 1807 zum leitenden Staatsminister berufen. Nun ist die Bahn frei für eine umfassende Reformation von Staat und Gesellschaft, mit der Stein inhaltlich jedoch kaum etwas zu tun hat, denn alle neuen Gesetze liegen bereits mehr oder wenig ausformuliert vor – in den Schubladen der Schüler Immanuel Kants.

    Im stillen hatte sich in der entlegenen preußischen Provinz der Philosoph eine Schar örtlicher Beamter als Anhänger herangezogen, in deren Händen nun, ein denkwürdiger Zufall der Geschichte, nach der Flucht des Königs nach Königsberg die faktische Entscheidungsmacht über den neu zu schaffenden Staat liegt. Dieser Kreis war von Kants aufgeklärtem Ideal einer freien, sich selbst entfaltenden Individualität durchdrungen. Und gerade der obrigkeitstreue Einschlag, den Kants populäre Schriften hatten, machte seine Lehre prädestiniert für die Rezeption unter den Staatsdienern. Den Grundsätzen der Französischen Revolution war Kant nicht abgeneigt, doch könne Fortschritt ohne Chaos nur von oben erwartet werden. Der Staat, so fordert es Kant in »Der Streit der Fakultäten«, müsse »sich von Zeit zu Zeit auch selbst reformiere(n) und, statt Revolution Evolution versuchend, zum Besseren beständig fortschreite(n)«.

    Das war nun ganz nach dem Geschmack der Beamten, die Stein die gesellschaftlichen Reformen in die Feder diktierten. Hermann von Boyen (#Boyenallee), der die Heeresreform mit der allgemeinen Wehrpflicht konzipierte, hatte die Kriegsschule in Königsberg (#Königsberger_Straße) besucht und war durch die nebenbei besuchten Kant-Vorlesungen in den Bann der kritischen Philosophie geraten. Theodor von Schön, der das berühmte Oktoberedikt vorformulierte, war Sohn eines der besten Kant-Freunde. Der Königsberger Polizeidirektor Johann Gottfried Frey(#Freybrücke ?) , der die neue Städteordnung von 1808 schrieb, war Freund und Teilnehmer der legendären Tischgesellschaft des Philosophen. Auch Friedrich August von Staegemann und der ostpreußische Provinzialminister Friedrich Leopold von Schrötter, die beide das Oktoberedikt und die Finanzreformen maßgeblich beeinflussten, waren Kantianer. Wilhelm von Humboldt (#Humboldtstraße u.v.m.), Georg Niebuhr (#Niebuhrstraße ) und Stein (#Steinplatz, #Steinstraße) waren es durch ihre philosophische Lektüre ohnehin. Bedeutend war auch der Einfluss von Christian Jakob Kraus, der in Königsberg zunächst Kants (#Kantstraße) Vorlesungen besucht hatte, später dessen Kollege und entscheidend für die Rezeption der ökonomischen Theorien von Adam Smith in Deutschland wurde (der erwähnte Schrötter verpflichtete jeden Mitarbeiter des ostpreußischen Finanzdepartements, dessen Vorlesungen zu besuchen).

    Man kann das Außergewöhnliche dieser Situation gar nicht deutlich genug hervorheben. Mindestens ostelbisch war die altständisch-feudale Gesellschaftsordnung noch völlig intakt, ein freies Wirtschaftsbürgertum, das als revolutionäre Kraft oder auch nur als Opposition hätte fungieren können, gab es damals nicht. Um 1800 herum lebten noch 87 Prozent der preußischen Bevölkerung auf dem Land, und nur etwa eine halbe Millionen Menschen lebte in Städten mit mehr als 20.000 Einwohnern, die Mehrheit von ihnen einfache Bedienstete, Beamte oder Bildungsbürger.³ Dieser Gesellschaft wurde nun von einer kleinen Gruppe gebildeter Beamter – ökonomisch Smithianer, weltanschaulich-politisch Kantianer – eine bürgerliche Rechts- und Wirtschaftssphäre, wie sie sich in Frankreich revolutionär durchgesetzt hatte, von oben oktroyiert. So hatte ironischerweise der zurückgezogenste Philosoph der Neuzeit, quasi über die Bande seiner Schüler spielend, den wahrscheinlich größten Einfluss auf ein Staatswesen, den ein Philosoph seit der Antike je besessen hatte.

    An der Spitze aller Reformen standen das Oktoberedikt und die Reform der Staatsverwaltung. Ersteres sorgte nicht nur für die Befreiung der Bauern von Leibeigenschaft und Frondiensten, sondern schaffte in den ersten beiden Paragraphen auch die von Friedrich II. eingeführte strikte Trennung von adliger Landwirtschaft und bürgerlichem Gewerbe ab – was dafür sorgte, dass sich in Preußen im Laufe des 19. Jahrhunderts eine der englischen Gentry vergleichbare mächtige ländliche Unternehmerklasse herausbildete. Der Hardenberg-Intimus Schön sah in dem Oktoberedikt eine »Habeas-corpus-Akte der Freiheit« (der bürgerlichen Freiheit wohlgemerkt). Die Staatsverwaltung selbst wurde nun erstmals zentral organisiert, das undurchsichtige Kabinettswesen und das Generaldirektorium wurden durch eine einheitliche Regierung mit den in ihren Zuständigkeiten klar abgegrenzten Ministerien Inneres, Finanzen, Justiz, Außenpolitik und Heereswesen ersetzt.
    Mächtig wie Richelieu

    Hardenberg selbst, der in diesen Jahren ein zurückgezogenes Leben an der Ostsee führt, beeinflusst die Reformpolitik vor allem durch seine berühmte Denkschrift »Über die Reorganisation des Preußischen Staates, verfasst auf höchsten Befehl Seiner Majestät des Königs«, die er im September 1807 in Riga niederschreibt. Darin konstatiert er: »Der Wahn, dass man der Revolution am sichersten durch Festhalten am Alten und durch strenge Verfolgung der durch solche geltend gemachten Grundsätze entgegenstreben könne, hat besonders dazu beigetragen, die Revolution zu befördern und derselben eine stets wachsende Ausdehnung zu geben. Die Gewalt dieser Grundsätze ist so groß, sie sind so allgemein anerkannt und verbreitet, dass der Staat, der sie nicht annimmt, entweder seinem Untergange oder der erzwungenen Annahme derselben entgegensehen muss.«

    Auch beschreibt er hier bereits die Position eines leitenden Beamten, in dessen Hand alle Fäden der Verwaltung zusammenlaufen und dem alle anderen Staatsdiener loyal zuarbeiten müssen. Und in seiner »Braunsberger Denkschrift« tritt er 1808 bereits, »obwohl nach wie vor ohne Amt und aus Preußen verbannt, quasi als leitender Minister auf, der sich in Absprache mit seinem König seine Mannschaft zusammenstellte«⁴. Kaum gibt Napoleon im Mai 1810 seinen Widerstand gegen den Hannoveraner auf – er scheint nun die politische Verwandtschaft zu erkennen –, erhält Hardenberg am 4. Juni 1810 die neugeschaffene Stelle des Staatskanzlers, die er bis zu seinem Tode ausfüllen wird. Dank seines Monopols auf beratende Vorträge beim König wird Hardenberg der Unterordnung unter den König zum Trotz so mächtig, wie vor ihm als Staatsdiener wohl nur Kardinal Richelieu es gewesen ist.

    Mit Hardenberg erhalten die Reformen ein »französisches« Gesicht. »Wenige einsichtsvolle Männer müssen die Ausführung (der Reformen) leiten«, formuliert Hardenberg und versucht den Staatsaufbau napoleonisch-zentralistisch umzugestalten. Der wirtschaftliche und gesellschaftliche Liberalismus, den das Oktoberedikt mehr proklamiert hat, wird unter seiner Führung ab 1810 in einer rasanten Abfolge neuer Gesetze erst wirklich durchgesetzt. Mit dem Gewerbesteueredikt vom 28. Oktober 1810 und dem Gewerbepolizeigesetz vom 7. September 1811 wird die Gewerbefreiheit eingeführt. Die Regulierungs- und Landeskulturedikte vom September 1811 regeln die genaueren Abläufe der Agrarreform und die Umwandlung der Frondienste in einmalige Abschlagszahlungen. Zusätzlich bemüht man sich um eine einheitliche Besteuerung von Stadt und Land (Edikt über die Konsumtionssteuern und Finanzedikt vom 20./27. Oktober 1810). Allgemeine Wehrpflicht und städtische Selbstverwaltung helfen, die alte Ständeordnung zu sprengen, und nicht zuletzt Humboldts Bildungsreformen und das 1812 erlassene Emanzipationsedikt für die Juden, deren Gleichstellung ein besonderes Anliegen von Hardenberg war, weisen den Weg in eine bürgerliche Gesellschaft (#Bürgerstraße) freier und gleicher Staatsbürger. Doch die progressive Welle brach sich schließlich am ständischen Widerstand.
    Frondezeit

    Der Friede unter all den Reformern hatte ohnehin nur kurze Zeit gewährt. Bereits Steins Staatsdienst endete 1808 nach nur 14 Monaten, abgefangene Briefe entlarvten ihn als Konspirateur für einen Krieg gegen Frankreich, Napoleon machte Druck. Hardenberg konnte das nur recht sein, denn Stein hatte sich als Reformator ganz anderer Prägung erwiesen. Der Nassauer war immer Anhänger einer altständischen Gesellschaft geblieben. Ein neuer Staatsaufbau diente ihm in erster Linie der Destruktion des Absolutismus. Eine eigenständige Rolle des Beamtenapparats, wie es sich der Bonapartist Hardenberg wünschte, war ihm verhasst. Stein forderte statt dessen, die adligen Eigentümer an der staatlichen Verwaltung zu beteiligen. Die bestehenden Behörden sollten von ständischen Vertretern durchdrungen werden, wovon sich Stein eine schrittweise Selbstaufhebung der Behörden zugunsten des Adels versprach. Bereits die Preußische Städteordnung, die letzte unter Stein ausgearbeitete Reform, ging Hardenberg ob ihres Schwerpunkts auf dezentraler Selbstverwaltung zu weit (obwohl das neue, nur noch an einen Einkommensnachweis geknüpfte Bürgerrecht relativ fortschrittlich war).

    Als der ständische Hoffnungsträger Stein durch Hardenberg ersetzt ist, erhebt sich der adlige und bürgerlich-zünftige Widerstand mit aller Macht. Gefährlich wird diese ständische Renaissance in Person der 1810 rebellierenden Adligen Friedrich August Ludwig von der Marwitz und Graf Finck von Finckenstein (#Finckensteinallee) vor allem in Verbindung mit den romantischen Intellektuellen, die sich in Berlin sammeln. 1811 entsteht in Berlin die »Christlich-teutsche Tischgesellschaft«, an der unter anderem Adam Heinrich Müller, Achim von Arnim, Heinrich von Kleist (#Kleiststraße, #Kleistweg), Clemens Brentano (#Brentanostraße), Friedrich Carl von Savigny(#Savignyplatz) und Karl Friedrich Eichhorn (#Eichhornstraße) teilnahmen. Der gemeinsame Nenner, auf den ihre politische Abneigung zu bringen ist, heißt Hardenberg. Er regiert ihnen zu autoritär, zu aufgeklärt, zu französisch und zu judenfreundlich. Eine politische Zukunft hatte dieses antisemitisch-nationalistische Gebräu nicht. Die ständischen Opponenten um Marwitz wurden in Spandau inhaftiert, die Romantiker zerstreuten sich rasch.

    Wie stark der Adel trotz dieser Niederlage blieb, beweist jedoch das Gendarmerieedikt aus dem Jahre 1812. Dieses Gesetz war der Versuch einer völligen Neuordnung der Kreisverfassung. Der altpreußische Landrat, der immer dem lokalen Adel entstammen und damit dessen Interessenvertreter sein musste, wäre durch einen vom König ernannten Kreisdirektor ersetzt worden, die Gendarmerie zu einer gut ausgebauten und allein von der Zentralregierung befehligten Polizei geworden. Der preußische Behördenapparat hätte erstmals die Möglichkeit erhalten, Politik auch gegen den lokalen Adel durchzusetzen. Doch musste das Edikt nach zwei Jahren anhaltender Gegenwehr aufgegeben werden. Die preußische Provinz blieb fest in Junkerhand.

    Die größte Gefahr droht Hardenberg aus seinem eigenen Beamtenapparat. Seiner Stellung als fast schon allmächtiger Beamtenfürst zum Dank macht er sich schrittweise die meisten Bürokraten zum Feind. Sein bedeutendster Rivale wird Wilhelm von Humboldt. Seit Januar 1819 steht dieser, eigentlich im Innenministerium für Bildung zuständig, auch dem Ministerium für ständische Angelegenheiten vor und greift von dieser Position aus Hardenberg an. Er »sammelte von seinem ersten Tag im neuen Amt an alle um sich, die aus welchen Gründen auch immer gegen Hardenberg und seine Amtsführung zu mobilisieren waren«⁵. Der Konflikt eskaliert schließlich in der Verfassungsfrage, die Humboldt mit seiner »Denkschrift über ständische Verfassung« vom Oktober 1819 zu beeinflussen sucht. In der Forderung nach mitregierenden Ständekörperschaften weiß Humboldt sich mit Stein, der ihm für die Denkschrift zuarbeitet, einig. Hardenberg dagegen unternimmt alles, um eine nationale Repräsentation der Stände zu verhindern oder zumindest hinauszuzögern – in vollem Bewusstsein darüber, dass ein unweigerlich von Adel und Zunftbürgertum dominiertes preußisches Parlament sofort alle Reformen inklusive der Bauernbefreiung rückgängig machen würde. Gegen Humboldt bleibt er siegreich und kann im Dezember 1819 dessen Entlassung durchsetzen. Mit ihm verliert auch Stein den letzten politischen Einfluss in Preußen.

    Für Hardenberg ist es ein Pyrrhussieg. Mit den ausscheidenden liberalen Kräften fehlt ihm das Gegengewicht zu den konservativen Beamten um Karl Albert von Kamptz. 1821 kann der Polizeiminister Fürst Wittgenstein (#Wittgensteiner_Weg ) Hardenbergs Monopol auf beratende Vorträge beim König brechen, schrittweise wird der Staatskanzler in die politische Bedeutungslosigkeit gedrängt. Auch außenpolitisch fehlt ihm die Durchsetzungskraft, auf dem Wiener Kongress unterliegt er in den meisten seiner Gebietsforderungen Metternich. Am 26. November 1822 stirbt Hardenberg während einer Reise in Genua an einer Lungenentzündung. Sein Leichnam wird später nach Schloss Neuhardenberg im östlichen Brandenburg (#Brandenburgische Straße) verbracht, ein Herrensitz, den Friedrich Wilhelm III. dem 1814 zum Fürsten erhobenen Staatskanzler geschenkt hatte. Noch heute ist in der Schinkelkirche in Neuhardenberg in einem Glaskasten – Skurrilität preußischer Erinnerungskultur – Hardenbergs vertrocknetes Herz zu bestaunen.

    Anmerkungen

    1 Heinz Durchhardt: Freiherr vom Stein. Preußens Reformer und seine Zeit, München 2010, S. 22

    2 Eckart Kehr: Zur Genesis der preußischen Bürokratie und des Rechtsstaats. In: ders.: Der Primat der Innenpolitik, hg. v. Hans-Ulrich Wehler, 2., durchges. Aufl., Berlin 1970, S. 31–52, hier: S. 36

    3 Vgl. Sebastian Haffner: Preußen ohne Legende, 8. Aufl. Hamburg 1998, S. 207

    4 Lothar Gall: Hardenberg. Reformer und Staatsmann, München/Berlin 2016, S. 181

    5 Ders.: Wilhelm von Humboldt. Ein Preuße von Welt, Berlin 2011, S. 327

  • #Olivier_Roy: «Daech fait feu de tout bois»
    https://www.mediapart.fr/journal/international/250716/olivier-roy-daech-fait-feu-de-tout-bois

    Olivier Roy à Mediapart en 2014 Après la revendication par l’État islamique de l’attentat de #Nice puis de celui d’Ansbach, commis par des tueurs au profil psychologique lourd, assiste-t-on à une nouvelle métamorphose du djihadisme ? Entretien avec Olivier Roy, spécialiste de l’islam et du phénomène djihadiste.

    #International #Culture-Idées #Ansbach #Attentat #Daech #Etat_islamique #islam #radicalisation #terrorisme