• So ein langjährig Obdachloser ... ist kaum noch in der Lage, sich mit Behörden auseinanderzusetzen. Sie haben sich damit abgefunden, auf der Straße zu leben und sind damit rund um die Uhr beschäftigt.
    https://taz.de/Armut-in-Deutschland/!5051865

    Armut in Deutschland: Die Ärztin der Armen
    31.12.2013 von Gabriele Goettle

    Zu Besuch bei Jenny De la Torre Castro in Berlin-Mitte. Die Ärztin hat dort ein Gesundheitszentrum für Obdachlose aufgebaut.

    Dr. Jenny De la Torre   Bild: Gabriele Goettle

    Dieses Portrait der Berliner Obdachlosenärztin Jenny de la Torre erschien erstmals im Jahr 2013. Am 10. Juni 2025 ist sie nach schwerer Krankheit gestorben. Wir veröffentlichen den Text daher erneut.

    OFW ist das Verwaltungskürzel für „ohne festen Wohnsitz“. Die Zahl der Betroffenen ist nicht bestimmbar, sie steigt stetig, eine Obdachlosenstatistik gibt es nicht. Für 2013 wird von schätzungsweise 300.000 Wohnungs- und Obdachlosen deutschlandweit ausgegangen. In Berlin gibt es geschätzte 10.000 Wohnungs- und Obdachlose, ein Teil von ihnen lebt in extremer Armut auf der Straße, darunter zunehmend Armutsmigranten aus Osteuropa.

    In Berlin stehen in der kalten Jahreszeit jedoch nur knapp 500 von der Stadt finanzierte Notübernachtungsplätze zur Verfügung. Diese Nachtquartiere für Männer und Frauen bieten in der Regel Übernachtung auf dem Fußboden, auf eng nebeneinanderliegenden Isomatten. Sie sind regelmäßig überfüllt.

    Wer es nicht erträgt, in solchen Massenquartieren zu schlafen oder kein Unterkommen für die Nacht ergattern kann, dem bleiben nur die Kältebusse der karitativen Einrichtungen, aus denen Sozialarbeiter nachts Schlafsäcke, Decken, heißen Tee und Suppen an die Obdachlosen auf der Straße verteilen. Die Chance, durch den permanenten Stress des kräfteverzehrenden täglichen Existenzkampfes chronisch krank zu werden, sich Erfrierungen zuzuziehen oder Schlimmeres, die ist groß. Jeden Winter erfrieren in deutschen Städten Obdachlose, das gehört schon zur Normalität.

    In der Pflugstraße in Berlin-Mitte, einer kleinen Parallelstraße der Chausseestraße, steht ein schön gegliedertes dreigeschossiges Backsteinhaus, mit Hof, alten Bäumen und Garten im hinteren Teil des Grundstücks. In diesem ehemaligen Schulgebäude von 1890 befindet sich heute das privat betriebene Gesundheitszentrum für Obdachlose von Jenny De la Torre. Es bietet Wohnungs- und Obdachlosen montags bis freitags von 8 bis 15 Uhr kostenlose medizinische und darüber hinaus umfangreiche interdisziplinäre Hilfe an.

    „Es soll nicht kalt wirken“

    Jenny De la Torre Castro

    Dr. med. Jenny De la Torre Castro ist Obdachlosenärztin und Initiatorin des Gesundheitszentrums für Obdachlose in Berlin. 1960 Einschulung i. d. Antonio-Moreno-de-Caceres-Schule in Puquio, Peru. 1972 Abschluss d. Oberschule. 1973 Studium d. Medizin a. d. Universität San Luis Gonzaga de Ica. 1976 Delegierung z. Auslandsstudium i. d. DDR. 1977 Studium d. Medizin a. d. Karl-Marx-Universität Leipzig, Examen 1982. 1983–1990 Charité Berlin, Abteilung f. Kinderchirurgie. 1986 Geburt ihres Sohnes. 1989 Facharztausbildung z. Kinderchirurgin a. d. Charité Berlin, 1990 Promotion Dr. med. summa cum laude. 1990 Gastärztin a. Landeskrankenhaus Salzburg.

    Zwischenzeitliche Versuche, in die Heimat zurückzukehren u. dort als Armenärztin zu arbeiten, scheiterten an bürokratischen Hürden in Peru, was zum endgültigen Entschluss führte, in Deutschland zu bleiben. 1991 Beratungstätigkeit für „Schwangere und Mütter in Not“, Berlin. 1994–2003 Ärztin für Obdachlose in Berlin am Ostbahnhof. 1998 Lehrauftrag als Gastdozentin am Institut für Sozialmedizin, Epidemiologie und Gesundheitsökonomie (Fach Sozialmedizin) a. d. Charité Berlin.

    Sie erhielt für ihre Obdachlosenarbeit mehrere Preise u. Auszeichnungen, u. a.: 1997 Bundesverdienstkreuz; 1997 Ehrenbürgerschaft ihrer Geburtsstadt Nazca (Peru); 2002 Goldene Henne (mit diesem Preisgeld gründete sie 2002 d. „Jenny De la Torre-Stiftung“ zur medizinischen Versorgung Obdachloser). 2003 Kündigung aus Protest gegen eine Kürzung ihrer Stundenzahl i. d. Obdachlosenpraxis am Ostbahnhof. Planung zum Aufbau eines unabhängigen Gesundheitszentrums für Obdachlose. 2004 wurde das passende Haus gefunden und systematisch mit d. Aus- und Aufbau des Gesundheitszentrums begonnen. 2008 kauft ihre Stiftung das Haus und sichert so das Gesundheitszentrum auch für die Zukunft. 2011 erhielt sie den Charity Award, 2013 die Louise-Schroeder-Medaille. Jenny De la Torre wurde 1954 in Nazca in den Anden Perus geboren.

    Leser, die etwas spenden möchten: Jenny De la Torre-Stiftung, Berliner Sparkasse, Kontonummer: 6 600 003 764, BLZ: 100 500 00

    Jenny De la Torre ist keine reiche Erbin und sie ist auch keine besoldete Armenärztin. Sie hat sich in das unwägbare Abenteuer gestürzt, ihr Projekt mit Hilfe von Spenden und engagierten Helferinnen und Helfern eigenständig zu realisieren. Seit 7 Jahren mit Erfolg. Inzwischen verfügt sie über eine mehr als 20 Jahre umfassende Erfahrung als Armenärztin, ihre Obdachlosenarbeit hat in Deutschland Maßstäbe gesetzt.

    Vor 9 Jahren waren wir, Elisabeth Kmölniger und ich, schon einmal hier, auch um 8 Uhr morgens. Damals war alles noch in der Renovierungsphase.

    Frau Dr. De la Torre empfängt uns mit festem Händedruck, frisch und munter im weißen Kittel, ihre Augen glänzen unternehmungslustig. Sie zeigt uns kurz das Haus, öffnet die Türen zu den noch leeren Behandlungs- und Aufenthaltsräumen und freut sich über unser Lob der Möblierung und der zarten Wandfarben. „Die Möbel hat uns das Hotel Mariott gespendet und Farben für die Wände habe ich selbst ausgesucht, es sollte nichts kalt wirken hier“, sagt unsere Gastgeberin und führt uns in ihre Ordination. Wir möchten gerne wissen, wie sich das Gesundheitszentrum entwickelt hat seit der Eröffnung 2006.
    Unabhängigkeit bewahren

    „Wir hatten das Haus hier für 10 Jahre mit Nutzungsvertrag bekommen, ursprünglich, wir haben es gründlich renoviert mit Spenden- und Stiftungsgeldern und nach 4 Jahren hat die De la Torre-Stiftung dann das Haus unerwartet erwerben können, das hat sich glücklicherweise so ergeben. Es war sinnvoll gewesen, das Haus zu kaufen, weil da jetzt ganz viele Menschen was davon haben, nicht nur die Obdachlosen, auch die Mitarbeiter, die hier fest angestellt sind, und unsere ehrenamtlichen Kollegen, die bei uns im Haus was Sinnvolles machen wollen.

    Wir sind unabhängig, müssen nicht mehr befürchten, dass man uns raussetzt, die Mittel kürzt, die Stundenzahl halbiert oder die Stellen streicht. Das habe ich alles hinter mir! Wir haben alles aus eigenen Mitteln und Spenden bezahlt, weil wir keine Schulden machen wollten. Nie im Leben! Auch privat nicht, Schulden sind für mich ein rotes Tuch!

    Wir haben heute acht fest eingestellte Mitarbeiter, eine davon bin ich.“ Sie lächelt. „Ich bin genauso angestellt wie alle. Die anderen Ärzte allerdings, die sind alle ehrenamtlich. Also wir haben neben der Arztpraxis eine Zahnarztpraxis, denn es gibt enorme Zahnprobleme, eine Augenärztin haben wir – Augen ist auch sehr wichtig, weil ohne Brille die Leute teilweise nicht mehr lesen können. Dann gibt es Hautärzte, Orthopäden, eine Psychologin, die Sozialarbeiterin, vier Rechtsanwälte – zwei kommen regelmäßig her – und dann haben wir noch Frau Winter, die Friseuse, die einmal wöchentlich kommt, und zwei Gärtner kommen auch ehrenamtlich.

    Wir versuchen, unseren Besuchern so viel wie möglich anzubieten. Natürlich haben wir auch eine Suppenküche. Wir kochen aber nicht selbst, das Essen wird uns angeliefert von der Kiez-Küche hier in der Nähe, wir geben es nur aus. Einmal in der Woche kommt die ’Tafel’ und bringt Joghurt, Quark, frisches Obst, das wird hier in der Küche schön zurechtgemacht, also wir haben einen super Koch. Wir können viel bieten. Es gibt Tageszeitungen, Bücher und die Möglichkeit, Musik zu hören.

    Frauen brauchen Tampons

    Was wir nicht haben, ist eine öffentliche Waschmaschine, weil die Sachen, die hier ausgezogen werden, die können Sie echt nicht mehr waschen, die kann man nur noch entsorgen. Das zu waschen, zu desinfizieren, würde so viel an Zeit und Personal kosten – das geht einfach nicht. Wir haben eine sehr gut sortierte Kleiderkammer, da bekommt derjenige problemlos frische Wäsche und Kleidung, Schuhe, alles. Für die Frauen gibt es auch Tampons und Binden, Frauen brauchen so was.

    Mit den hygienischen Einrichtungen ist es so: Wir haben zwar Duschen für Männer und Frauen, aber die sind in erster Linie für Patienten, also für die, die krank sind. Das Problem ist nämlich, wenn jetzt 30 oder sogar 50 Leute kommen und die alle duschen wollen, dann geht das schon rein technisch nicht. Jeder braucht ungefähr eine Stunde, mit ausziehen, duschen, anziehen. Bei manchen muss man auch noch ein paarmal klopfen – ich kann’s ja verstehen, dass sie das heiße Wasser so lange wie möglich genießen möchten, aber oft herrscht Andrang und es gibt ein bisschen Radau draußen. Und es muss die Dusche von uns nach jedem, der sie benutzt hat, sorgfältig desinfiziert werden, damit der nächste sich keinen Fußpilz oder sonst was einfängt. Das muss 10 Minuten einwirken. Deshalb machen wir es so: Wenn keine Patienten da sind und es nicht zu viele sind, dann können die anderen natürlich auch duschen. Wenn Patienten da sind, dann nicht.

    Es ist ja ein Gesundheitszentrum. Schwerpunkt ist hier die Hilfe für Kranke. Aber wir sehen uns natürlich auch die anderen Probleme an, denn auch die müssen berücksichtigt werden. Und es sind ja nicht nur körperliche Krankheiten, mit denen die Patienten kommen, sondern auch seelische. Sie haben Süchte. Sie sind teilweise auch psychisch ziemlich krank. Und sie haben rechtliche Probleme, viele haben Schulden, haben soziale Probleme, Konflikte mit der Polizei, dem Ordnungsamt, Konflikte mit der Familie, oder gar keinen Kontakt mehr. Und das meine ich mit ’sozialen Krankheiten’, sie leiden an einer sozialen Krankheit.

    Wenn man das nicht berücksichtigt – also wenn man den Menschen nicht in seiner Gesamtheit wahrnimmt –, dann können wir ihm kaum helfen. Ich kann zwar immer wieder seine Wunden heilen, seine Krankheiten behandeln, die er von der Straße mitbringt, aber oberstes Ziel unserer Arbeit hier ist die Reintegration. Ich will, dass die Leute weg von der Straße kommen! Und da gehört eben alles dazu, medizinische Versorgung, Hygiene gehört dazu, Kleidung, Essen, soziale Beratung, juristische Beratung.

    Versicherung hat keiner

    Viele haben keinerlei Papiere mehr. Ein Ausweis ist ja das Erste. Aber ohne Fotos kein Ausweis, ohne Ausweis kein Hartz IV und nichts. Wir haben hier im Haus die Möglichkeit, Passfotos zu machen, ein ehemaliger Fotograf macht das ehrenamtlich. Und es gibt Stellen, wo sich Obdachlose pro forma polizeilich anmelden können. Wenn diese Hürde genommen ist, dann ist ein wichtiger Schritt gemacht. Darum geht es!

    Ich habe mich entschieden, diese Arbeit zu machen, denn man kann nicht warten, bis irgendwas geregelt wird. Die Leute sind ja da und sie brauchen diese Hilfe und sie brauchen sie jetzt! Im Winter wird es wieder ganz besonders hart für die Obdachlosen. Viele werden krank, laufen herum mit Fieber, schlafen nachts irgendwo draußen in der Kälte und dabei gehören sie doch ins Bett, um gesund zu werden. Eine Krankenversicherung hat keiner. Manchmal werden uns die Leute direkt von den Behörden geschickt, wenn zum Beispiel einer gerade seinen Antrag gestellt hat auf Arbeitslosengeld, aber bis das genehmigt ist, vergehen 5 bis 6 Wochen und so lange ist er nicht krankenversichert.

    Wir kümmern uns natürlich auch um die, aber darin sehe ich eigentlich nicht meine Aufgabe. Wenn ich mich jetzt ärgern würde, würde ich aber viel zu viel Energie nur dafür verbrauchen. Ich konzentriere mich lieber auf meine Patienten, auf den Menschen, den ich vor mir sehe. Und ich versuche, ihm auch ein bisschen Optimismus zu vermitteln, denn wenn ich immer nur herumschimpfen würde, über das, was alles schiefläuft draußen, dann baut ihn das auch nicht auf. Dann verkriecht er sich vielleicht noch mehr.

    Also hierher kommen Leute, die Probleme mit ihrer Gesundheit haben und viele andere Probleme, die sich ein Mensch, der das nicht kennt, gar nicht so richtig vorstellen kann. Wenn ein Patient zum ersten Mal kommt, dann wird er ganz normal aufgenommen. Es kommt zum Beispiel ein Herr Müller und sagt: ’Ich möchte hier eigentlich nur in die Kleiderkammer und ein bisschen Essen, ich bin obdachlos geworden vor ein paar Wochen und weiß nicht, was ich machen soll, man hat mir den Ausweis geklaut, außerdem habe ich keine Krankenversicherung und ich fühle mich schlecht, habe da und dort Schmerzen.’
    Flaschen sammeln

    Da müssen wir erst mal ganz am Anfang anfangen mit dem Herrn Müller, fragen, wann war er zum letzten Mal beim Arzt, wann und weshalb ist er obdachlos geworden, wo wird geschlafen, bei Bekannten, draußen oder in Obdachlosenunterkünften, wovon lebt er, Flaschen sammeln, betteln, Suppenküchen, was hat er gearbeitet vorher – manche haben Anspruch auf Hartz IV, haben aber nie einen Antrag gestellt –, welche Schulbildung hat er, ist oder war er verheiratet, gibt es Kinder? Wenn ich ein ungefähres Bild von diesem Menschen habe, dann können wir einen Plan machen, wie wir ihm auch sozial helfen können.

    Wenn Herr Müller aber seine Geschichte nicht erzählen möchte, lieber anonym bleiben will, dann kann er das natürlich. Er muss sich aber einen Namen ausdenken für meine Unterlagen, weil ich mein ärztliches Handeln ja aufschreiben muss, Sachen wie: Hat Penicillin bekommen usw. Eine Frau war da, die hat sich ’Regenbogen’ genannt, eine andere wollte gerne ’Mütze’ heißen. Ich sage, von mir aus, Hauptsache beim nächsten Kontakt wissen Sie es noch.
    Zeit und Geduld

    Die meisten geben aber Auskunft über sich. Wenn ich erfahre, der ist erst relativ kurz obdachlos, dann kann ich ihm ganz anders helfen als einem, der seit 15 Jahren auf der Straße lebt. So ein langjährig Obdachloser braucht viel Zeit und Geduld, er ist kaum noch in der Lage, sich mit Behörden auseinanderzusetzen. Sie haben sich damit abgefunden, auf der Straße zu leben und sind damit rund um die Uhr beschäftigt. Die Sozialanamnese ist für mich wichtig, denn nur so weiß ich, was jemand neben einer medizinischen Betreuung noch braucht.

    Bei der medizinischen Anamnese, da sind die wichtigsten Fragen: Hepatitis, HIV, Tuberkulose, Syphilis, das sind ja alles meldepflichtige Krankheiten.

    Einige Patienten sind drogenabhängig. Ich mache so eine Grunduntersuchung: Diabetes, Bluthochdruck, Sauerstoff und lasse mir schildern, was er für Beschwerden hat. Alles, was ich hier ambulant für ihn tun kann, wird dann gemacht. Zum Röntgen usw. schicke ich ihn zum Gesundheitsamt. Oft gibt es auch Probleme mit den Zähnen, dann schicke ich ihn in unsere Zahnarztpraxis, viele haben auch Schwierigkeiten mit dem Sehen, die können dann zu unserer Augenärztin gehen, die auch eine Brillensammlung hat aus Spenden. Wir bieten den Patienten auch noch das und das an: Wenn es Probleme mit der Justiz gibt, wir haben auch Rechtsanwälte – mancher hat ’ne Flasche oder Lebensmittel mitgehen lassen, viele haben Schulden, weil sie immer wieder beim Schwarzfahren erwischt wurden, und Angst haben vor der Haftanstalt.

    Wir haben eine Sozialarbeiterin, die ihnen hilft, die kann sofort die Seite ausdrucken – man kann ja jetzt fast alle Formulare aus dem Internet holen –, sofort ausfüllen und, zack, zum Amt damit. Technisch ist das gar kein Problem. Wenn einer total Angst hat, da alleine hinzugehen, dann geht sie mit. Aber wir überschütten die Leute natürlich nicht gleich mit Hilfe, um Gottes Willen, sie sollen auch mal zur Ruhe kommen. Ich sage, gehen Sie erst mal nach oben essen und in die Kleiderkammer, wenn Sie etwas brauchen. Ich habe täglich die Praxis offen von 8 bis 15 Uhr, und Frühstück gibt es täglich schon ab 8.30 Uhr, bis 14 Uhr ist die Küche offen.

    Ein Jahr Zeit

    Ich achte aber darauf, dass die Leute hier nicht endlos obdachlos rein-, obdachlos rausgehen. Da können sie genauso gut anderswo essen gehen. Wir sind ja in dem Sinne keine Suppenküche. Wir sind zum einen Gesundheitszentrum und wollen aber auch, dass die Leute nicht auf der Stelle treten, sondern ein bisschen weiterkommen. Wir haben so ein Kärtchen eingeführt, mit dem kann jemand einen ganzen Monat lang essen. Und nach einem Monat spreche ich mit ihm, frage, wie geht es Ihnen, waren Sie beim Amt, was hat sich ergeben, welche Probleme gibt es? Und dann bekommt er wieder sein Kärtchen von der Sozialarbeiterin.

    Wir lassen den Leuten Zeit. Ein ganzes Jahr. Dann sage ich: okay. Moment mal, brauchen Sie unsere Hilfe überhaupt noch? Ich sehe Sie doch jetzt seit einem Jahr. Sie sehen immer schlimmer aus. Ich habe den Eindruck, wir können Ihnen nicht wirklich helfen. Meistens überlegen sie es sich dann doch und unternehmen etwas, um weg von der Straße zu kommen. Wenn wir sehen, er kann es schaffen, dann machen wir diesen Druck und helfen nach allen Kräften. Aber wenn ich sehe, das wird nix, dann lassen wir die Leute, manche haben wir schon seit Jahren hier. Manche sind auch psychisch krank, da wäre Druck ganz falsch. Man muss das von Fall zu Fall klären.

    Meist sind es ja Männer, die hierher kommen. Voriges Jahr hatte ich 83 Prozent Männer und 17 Prozent Frauen hier, im Durchschnitt sind es immer so 80 zu 20 Prozent. Und altersmäßig? Also das geht von 15 bis 80 Jahre eigentlich, aber 90 Prozent sind zwischen 30 und Ende 50. Damals am Ostbahnhof hatte ich – laut meinen Karten – so um 4 Prozent Drogenabhängige, aber heute sind es wesentlich mehr. Die Zahl der Alkoholkranken ist natürlich höher, 60 bis 70 Prozent.

    Die meisten Patienten hier sind deutsche Staatsbürger, zunehmend kommen aber auch Osteuropäer, Rumänen vor allem und Polen. Manche sind komplett betrunken. Sie haben teilweise keine Papiere. Wer von ihnen krank wird, muss die Behandlung privat bezahlen, EU-Bürger aus Osteuropa haben bisher keinen Anspruch auf medizinische Versorgung. Die haben große Probleme, sie können auch nicht ins Obdachlosenheim, das geht nur mit Kostenübernahmeschein und den kriegen sie nicht. Es kamen auch mal Roma, die hatten zwar irgendwelche Unterkunft in Moabit, waren aber nicht versichert. Da ging’s um Zahnschmerzen. Aber es kommen auch Leute aus anderen Nationen, von Griechenland über Afrika bis zu Neuseeland.

    Armutskrankheiten

    Aber die meisten Patienten sind deutscher Herkunft und oft in einem schlechten Allgemeinzustand. Unsere Hautärzte sagen oft: ’Also hier sieht man Sachen, so was habe ich in meinem ganzen Berufsleben noch nicht gesehen. Wunden, Hauterkrankungen, Krätze, richtige Krätze, Parasiten, ja, Läuse, alles!’ Die Leute haben typische Armutskrankheiten, zum Beispiel die sogenannte Schleppe, das ist eine bakterielle Hautkrankheit mit Eiter- und Krustenbildung, oft am ganzen Körper bis zum Kopf. Da muss man erst mal vollkommen säubern, desinfizieren und behandeln. Und dann gibt es natürlich Magenprobleme, Geschwüre durch den ganzen Stress, die schlechte Ernährung, Schlaflosigkeit, denn sie können ja nirgendwo ruhig schlafen. Viele sind auch schon operiert worden.

    Es gibt Lungenerkrankungen – einer kam mal mit einer offenen Tuberkulose, ich konnte ihn sofort mit dem Krankentransport einweisen in die Klinik – chronische Bronchitis, Asthma. Und dann natürlich Erkrankungen durch Alkohol, Bauchspeicheldrüse, Leberzirrhose, klar! Einige fügen sich Selbstverletzungen zu, schneiden sich mit Rasierklingen, brennen sich mit Zigaretten, junge Mädchen, aber Jungs auch. Es gibt viele Anämien. Verletzungen durch Stürze. Es gibt unbehandelte Diabetiker, offene Beine und natürlich auch Erfrierungen in jedem Winter. Meistens sind es die Zehen. Einer hat seinen Vorfuß dadurch verloren. Alles Krankheiten, die direkt mit der schlechten Lebenssituation zu tun haben.

    Auch im HNO-Bereich gibt’s vieles: Mittelohrentzündungen, schwere Angina, damit kommen sie erst, wenn sie nicht mehr sprechen können. Augeninfektionen kommen oft vor. Viele haben Blasenerkrankungen von der Kälte, Inkontinenz, Durchfall, was ganz besonders schlimm ist, wenn man weder Zugang zu einer Toilette hat noch zu Wasser und frischen Sachen. Als ich damals anfing in der Praxis am Ostbahnhof, da habe ich so viele verwahrloste Menschen gesehen, wie noch nie zuvor in meinem Leben.

    Verwahrlost heißt: Es kommt ein Mensch, der schon von Weitem stinkt, er hat ewig die Hose nicht ausgezogen, die Socken sind angewachsen, die Maden kommen raus, es regnet Kopf- und Filzläuse, da muss der Pfleger erst mal eine Ganzkörperrasur machen, entlausen und alles aufweichen … also so was ist schon extrem! Jetzt sehe ich immer noch welche, aber nicht mehr so viele. Es gibt inzwischen vier Praxen in Berlin, das wirkt sich aus. Wir alle haben in Berlin schon was erreicht. Ein wenig jedenfalls.

    Spenden erwünscht

    Was hat sich geändert in den vergangenen Jahren? Es gibt sehr viele Menschen, die nicht obdachlos sind, aber sie haben keine Krankenversicherung, waren vielleicht mal selbstständig, zum Beispiel als Taxifahrer, und sind dann raus aus der privaten Kasse, weil sie die 600 Euro nicht mehr zahlen konnten und auch nicht die Hälfte für Bedürftige.“ (Rund 137.000 nicht krankenversicherte Personen gibt es laut Statistischem Bundesamt. Und 150.000 Privatversicherte können ihre Policen nicht mehr bezahlen und bleiben die Beiträge schuldig. Anm. G. G.) „Das geschieht seit 2009, seit es dieses Gesetz gibt zur Versicherungspflicht. Also hier bei uns gehören zu den Patienten jetzt auch so 20 Prozent etwa, die normal wohnen, aber nicht versichert sind. Eine Frau hat mich mal angerufen und gesagt, sie schläft mittlerweile in ihrem Kiosk, weil sie sich nur Miete oder Versicherung leisten kann. Auch kleine Rentner, die ihre Zusatzmedikamente oder Brille nicht bezahlen können.

    Überhaupt kommen zunehmend Patienten, da sage ich: Um Gottes Willen, was wollen denn diese Personen hier?! Ich mache das nun schon fast 20 Jahre, am Anfang kamen die klassischen Obdachlosen in meine Sprechstunde, arme Leute aus der unteren Schicht, inzwischen kommen heute auch Arme aus ehemals besseren Verhältnissen, die gebildet sind. Wir hatten schon einen Doktor der Pädagogik, einen Architekten, einen Anästhesisten, eine Krankenschwester …

    Was ich mir wünsche? Na ja, ich wünsche mir, dass wir weiterhin Spenden bekommen, damit es weitergehen kann. Von 2006 bis heute haben wir es geschafft. Und ich wünsche mir an erster Stelle natürlich, dass wir so viele Leute wie möglich von der Straße weg bekommen. Unsere Patienten hier, die träumen ja nicht von Palästen oder so. Die sehnen sich nach einem ganz einfachen, normalen Leben. Sie wollen nicht unter der Brücke im Park oder im Abrisshaus schlafen, und auch nicht mit mehreren anderen in einem Raum, wo der eine schnarcht, der andere im Schlaf redet oder nicht schlafen kann. Sie wollen ein Zimmer für sich allein, eine kleine Wohnung. Ich sage mir, es muss doch möglich sein, dass wir in einem so reichen Land die Leute von der Straße holen können?! Ich finde, dass das Problem lösbar ist.

    Mein Motiv? Wissen Sie, ich bin in Peru in den Anden aufgewachsen und als ich 13 Jahre alt war, zogen wir nach Ica, an die Küste. Dort habe ich zum ersten Mal in meinem Leben richtig arme Leute gesehen. Ich war schockiert. Ich habe mich immer sehr interessiert für dieses Problem, es hat mich empört! Und aus diesem Grund bin ich eigentlich Ärztin geworden. Ich mache das hier nicht, um karitativ tätig zu sein, zu missionieren oder zu erziehen. Ich möchte den Leuten in ihrer akuten Notlage medizinisch und auch mental helfen, und mir geht es darum, sie so zu stärken, dass sie ihr gutes Recht wahrnehmen können, als Bürger, die sie nach wie vor sind!“

    #Berlin #Armut #Obdachlosigkeit #Iatrokratie

  • Berlin-Treptow: Wie Restaurantgäste beim Pizzaessen einen Crack-Junkie bezwangen
    https://www.berliner-zeitung.de/mensch-metropole/berlin-treptow-wie-restaurantgaeste-beim-pizzaessen-einen-crack-jun

    Wie optimistisch. Die Kleinbürger von Kreuzkölln fallen über einen orientierungslosen Verzweifelten her. Da können die Kinder was von lernen. Bullerbü mit Faschoallüren.

    27.6.2024 von Ida Luise Krenzlin - Der Restaurantbetrieb war in Sachen Service schon aus dem Ruder gelaufen, als ein Crack-Junkie die Pizzeria im Dreiländereck aufmischte. Ein Lehrstück über Zusammenhalt.

    Die Sonne schien, die Kinder waren eingesammelt, der Sonntagabend noch nicht verplant. Da kam ein Anruf von Freunden, ob wir nicht irgendwo zusammen Pizza essen wollten. Na klar. Vielleicht war es schon der Fehler, dass wir, ich wohne in Kreuzberg, die Freunde in Neukölln, einen dritten Bezirk ausgewählt hatten: Treptow. Aber das Dreiländereck an der Lohmühlenbrücke ist nicht so weit weg.

    In der Pizzeria angekommen, offenbarte sich schnell das Berliner Gastro-Elend: Das erste Kind war satt, die Erwachsenen hatten noch nicht mal ihren Apéro. Unerfreulich, aber durchaus normal. Doch dann schlug das Leben zu und schenkte uns ein Lehrstück an Zusammenhalt und Großstadtkompetenz.
    Cazzo! Auch noch ein Crack-Junkie

    Das mittlere Kind kam an und machte uns auf einen Mann aufmerksam, der sich vor dem Restaurant auf dem Bordstein wälzte. Er hatte offensichtlich Schmerzen. Ich wollte hin und fragen, ob man etwas für ihn tun könnte, als mich eine Hand an der Schulter packte und davon abhielt: „Geh nicht hin.“ Der Mann am Boden stand auf und kam in den Garten. Fast alle Tische waren besetzt. Er fing an, um sich zu schlagen. Der italienische Oberkellner schickte die beiden Kellnerinnen vor. Sie sollten sich um den Crack-Junkie kümmern.

    Die Kinder bekamen Angst, waren aber gleichzeitig vom Geschehen fasziniert. Der erste Gast rief die Polizei. Wir brachten die Kinder ins Restaurant, die Pizza interessierte niemanden mehr. Mittlerweile bewaffneten sich einige Gäste mit Stühlen, die sie zur Abwehr vor sich hielten. Eine spontane Phalanx. Alle redeten beschwichtigend auf den Mann ein, der völlig außer Kontrolle war. Niemand wurde aggressiv. „Geh raus. Da kannste machen, was du willst. Hier nicht.“

    Die Polizei war weit und breit nicht zu sehen. Mittlerweile mussten bestimmt 20 Anrufe eingegangen sein. Der Oberkellner fluchte auf Italienisch vor sich hin: Nicht nur Gäste, auch noch ein Junkie auf einem Bad Trip. Cazzo.

    Mittlerweile hatten die Gäste den Randalierer auf die Straße gedrängt. Passanten wurden gewarnt: „Geh’ hier mal nicht lang.“ Die Kinder wollten raus und gucken. Ich hab sie gelassen. Ich dachte, dass es wichtig wäre für sie, zu sehen, dass auf die Polizei Verlass ist. Zugriff. Happy End. Keine bangen Träume.

    Aber die Polizei kam nicht. Das Ende weiß ich nur aus Kindermund: „Da kamen dann alle Gäste raus, so 20 Männer, und die haben ihn zu Boden gedrückt.“ Und die Polizei? Als die kam, war alles erledigt. Wir saßen noch eine Weile zusammen. Mein Fazit: Die Kinder haben was gelernt – keine Drogen, und auf Gruppen ist Verlass.

    #Berlin #Kreuzkölln #Kreuzberg #Neukölln #Treptow #Armut #Drogen #Lohmühlenbrücke #Gaststätte

  • Von Wülcknitzsche Familienhäuser
    https://de.m.wikipedia.org/wiki/Von_W%C3%BClcknitzsche_Familienh%C3%A4user

    Dieser Artikel beschreibt, wie die Bourgeois aus Angst vor Krankheit, getrieben von den Warnungen der Ärzte auf Besserung der Lebensverhältnisse des Proletariats drängten, damit nicht deren zu nah an Berlin gelegene Unterkünfte zur Brutstätte von alle bedrohenden Epidemien würden. Es war die Zeit, in der Edgar Allan Poe „Die Maske des roten Todes“ schrieb, eine Metapher für die Unmöglichkeit auch der Reichsten, ihrem Schicksal als Mensch zu entgehen.

    Ihren Höhepunkt fand die bürgerliche Hygienebewegung mit der Errichtung des wegweisenden Obdachlosenasyls in der Wiesenstraße, der „Penne“, unter Beteiligung des Arztes Rudolph Virchow.

    Peter Weiss nennt die Pfuhlstraße, die er irrtümlich im Wedding verortet, im dritten Band der Ästhetik des Widerstands als Lage der letzten Berliner Wohnung seines Erzählers vor der Emigration.

    Hans Fallada siedelt den Taxibetrieb seiner Protagonisten in Ein Mann will nach oben hier in einer Querstraße der Chausseestraße an.

    Die von Wülcknitzschen Familienhäuser in der Gartenstraße in Berlin-Mitte waren ein Komplex von Mietwohnungen, die in den Jahren 1820 bis 1824 von dem Baron von Wülcknitz in Ausnutzung der damaligen Wohnungsnot errichtet wurden. Sie waren ein Brennpunkt sozialen Elends und gelten als Vorläufer der Berliner Mietskasernen. 1881/82 wurden sie abgerissen und durch übliche Wohnhäuser ersetzt, die dort zum Teil noch stehen. Zahlreiche Veröffentlichungen prangerten seinerzeit die Missstände dort an.

    Lage

    Sie standen auf dem Gelände, auf dem heute die Häuser Gartenstraße 108 bis 115 stehen (damals die Häuser Gartenstraße 92, 92a, 92b), also auf der Fläche vor dem Hamburger Tor zwischen Torstraße und der Westseite der Gartenstraße bis fast hinauf zur heutigen Tieckstraße. Die Häuser wurden genannt Langes Haus, Querhaus, Schulhaus, Kleines Haus und Kaufmannshaus. Das größte von ihnen, das Lange Haus war 63 m lang, gut 18 m hoch und hatte in den unteren vier der sechs Stockwerke jeweils 30 einräumige Wohnungen. Es lag etwa dort, wo heute die Häuser 108 bis 111 stehen. Der Erbauer, mit vollem Namen Königlicher Kammerherr Heinrich Otto von Wülcknitz, stammte aus der Gegend von Bernau und hatte das Gelände von seinem Vater, dem Major Hans Heinrich von Wülcknitz am 16. Oktober 1815 geerbt. Zunächst hatte er darauf einen Holzplatz eingerichtet, wo er das in seinen ererbten Wäldern geschlagene Holz zum Verkauf lagerte. Er errichtete dort – etwa im Bereich des heutigen Hauses Nr. 113 – auch sein eigenes Wohnhaus. Die Qualität der Häuser und die Wohnverhältnisse waren schlecht. So wurde das Souterrain eines der fünf Häuser bereits vermietet, als man noch am ersten Obergeschoss arbeitete. Die Kellerdecke war noch so nass, dass das Wasser herab tropfte. Aufgrund einer Anzeige schritten die Behörden ein

    Beschreibung

    Bei den Wohnungen handelte es sich um eine Aneinanderreihung von gleichartigen Einzelräumen mit je zwei Fenstern, von sogenannten Stuben, die in der Regel 21 Quadratmeter groß waren. Aufgrund der hohen Mieten teilten sich auch mehrere Familien eine Stube. In den etwa 400 Stuben der Familienhäuser lebten – die Angaben hierzu schwanken – zwischen 2.200 und knapp 3.000 Personen. Somit standen jedem Bewohner im Durchschnitt etwa 2,2 m² Wohnfläche zur Verfügung. Da verschiedene Bewohner, namentlich Weber, hier auch ihren Beruf ausübten, war noch die Standfläche des Webstuhls abzuziehen. Zu einer solchen Menschenansammlung auf kleinstem Raum stellte der zuständige Armenarzt in einer Eingabe fest, „daß zu befürchten steht, daß eine bösartige Krankheit ausbricht“. Schließlich forderte eine 1828 vom Armenarzt ausgearbeitete Schrift, dass nur noch eine einzige Familie in einem Raum wohnen sollte. Die daraufhin ergangene Verordnung konnte aber infolge der Notlage vieler Bewohner nicht immer eingehalten werden: Noch im Jahre 1855 waren zwei Familien in einer Stube keine Seltenheit. Wer seine Miete nicht pünktlich zahlte, wurde unverzüglich ausgewiesen.

    Ein besonderes Problem waren die gemeinsamen Toiletten. Bereits 1825 hatte der zuständige Stadtrat bemängelt, dass die „Abtritte offenstehen und die Luft verpesten“. Laut einer polizeilichen Aufstellung von 1828 kam auf etwa 50 Bewohner eine Toilette. Erst 1841 wurde durch Anlage einer zweiten Toilette im Kaufmannshaus Abhilfe geschaffen. Die Abwässer der Familienhäuser flossen in offenen Rinnsteinen in eine Senkgrube beim „Langen Haus“. Erst Anfang der 1840er Jahre wurde im Zusammenhang mit dem Bau des Stettiner Bahnhofs, der eine gepflasterte Straßenverbindung über die Gartenstraße zur Stadt erforderlich machte, auch ein Abzugskanal für die Hausabwässer zur Panke gelegt.

    #Berlin #Mitte #Wedding #Gedundbrunnen #Oranienburger_Vorstadt #Geschichte #Feuerland #Hamburger_Tor #Torstraße #Wiesenstraße #Tieckstraße #Gartenstraße #Pfuhlstraße #Panke
    #Geschichte
    #Iatrokratie #Hygiene #Armut #Landflucht #Industrialisierung
    #Taxibetrieb

  • Nationalsozialismus: Vergessene Zwangsarbeiter
    https://taz.de/Nationalsozialismus/!5978208


    Das Lichtenberger Arbeitshaus in Rummelsburg, Die Lichtenberger Aktionswoche erinnert an die Opfer des Arbeitshauses Foto: dpa | Felix Zahn

    4.12.2023 von Peter Nowak - In der Lichtenberger Aktionswoche wird mit einem Gedenkspaziergang an die Opfer des Lichtenberger Arbeitshauses erinnert.

    BERLIN taz | Rund 30 Personen versammeln sich am sich am Sonntagnachmittag vor der Hauptstraße 8. Dort wartet bereits der Historiker Thomas Irmer, der über das Berliner Arbeitshaus geforscht hat, das dort seit 1879 für viele arme Menschen ein Ort des Schreckens war. Im Kaiserreich mussten die Menschen vor allem auf den Rieselfeldern schuften, die damals zur Reinigung der Abwässer angelegt wurden. Der Historiker zitiert aus zeitgenössischen Dokumenten, aus denen hervorgeht, dass es sich dabei um Zwangsarbeit handelte.

    In der NS-Zeit verschärfte sich die Situation für die In­sas­s*in­nen in jeder Hinsicht. „Jetzt mussten sie nicht mehr auf den Rieselfeldern, sondern in der Rüstungsindustrie schuften, die sich in Lichtenberg angesiedelt hatte“, erklärte Irmer. 1933 sorgten Razzien und Verhaftungswellen dafür, dass das Arbeitshaus bald überbelegt war. Arrestzellen für Homosexuelle und “psychisch Abwegige„, ein “Bewahrungshaus„ für “Asoziale„ und eine “Sonderabteilung„ für Juden wurden eingerichtet.

    Nach einem Erlass des Reichsinnenministeriums von 1937 wurden die Insassen aus Rummelsburg, soweit sie für den “Zwangs­arbeitsein­satz„ ungeeignet waren, in Konzentrationslager überführt, berichtet Irmer über die Intensivierung des Terrors im NS. Am 13. Januar 1941 wurden 30 jüdische In­sas­s*in­nen des Arbeitshauses in die Tötungsanstalt Bernberg gebracht und dort mit Gas ermordet. Unter ihnen war Auguste Löwenthal, die im Alter von 67 Jahren im Juni 1939 verhaftet wurde, weil ihr vorgeworfen wurde, als Prostituierte zu arbeiten. Über ihr Schicksal hat Irmer geforscht und die Frau so dem Vergessen entrissen. „Arme Menschen schreiben keine Geschichte und hinterlassen oft kaum Dokumente“, sagt Irmer.

    Für den 2007 gegründeten Arbeitskreis Marginalisierte Gestern und heute ein Grund, sich für das Gedenken der als asozial stigmatisierten In­sas­s*in­nen des Arbeitshauses einzusetzen. Seit 2015 informieren Tafeln über die Menschen, die zu den verschiedenen Zeiten dort verfolgt wurden. In der DDR dienten die Gebäude als Gefängnis. Dort waren auch Menschen inhaftiert, die bei Demonstrationen und Proteste in der letzten Phase der DDR festgenommen wurden.

    Der Gedenkspaziergang am Sonntag war Teil der Lichtenberger Aktionswochen gegen Sozialchauvinismus, die von einem Bündnis von Antifaschist*innen, der Berliner Obdachlosenhilfe und der Erwerbsloseninitiative Basta organisiert werden. Noch bis Mitte Dezember soll es an unterschiedlichen Orten Veranstaltungen geben, die sich mit der Abwertung von armen Menschen befassen. So soll am 8. Dezember ab 18 Uhr im Café Maggie in der Frankfurter Allee 205 über das Gedenken an die heutigen Opfern sozialchauvinistischer Gewalt diskutiert werden. Zwei davon gab es in Lichtenberg: 1993 wurde dort Kurt Schneider von Neonazis ermordet und 2016 Eugeniu Botnar von einem Warenhausdetektiv erschlagen.

    #Berlin #Lichtenberg #Rummelsburg #Hauptstraße
    #Armut #Nazis

  • Taxi-Mangel in Rom und Mailand
    https://www.taxi-times.com/taxi-mangel-in-rom-und-mailand

    In diesem Artikel verrennt sich der regelmäßig gut informierte Autor, wenn er der Auffassung folgt, dass für die Stadt Rom mit 2,75 Millionen Einwohnern 7.600Taxis nicht genug sind. Rechnen wir doch mal nach.

    Im Mai 1987 lebten in Westberlin 2.012.709 Menschen und einige zehntausend Besatzungssoldaten mit ihren Familien. Für sie alle gab es etwa 5000 Taxis. Alle waren zufrieden, und die Taxifahrer verdienten gut. Ihr Einkommen entsprach dem eines Industriefacharbeiters. Längere Wartezeiten gab es für Fahrgäste nur zu Weihnachten und Sylvester, wenn am Flughafen mehrere Maschinen gleichzeitig nach 22:00 Uhr landeten oder wenn Funkausstellung und Grüne Woche Feierabend machten.

    Für 403 Berliner gab es ein Taxis. Zum Vergleich: Rom bräuchte Rom 6800 Taxis für eine vergleichbare Verfügbarkeit. Es gibt aber 900 Taxis mehr, vermutlich auch einige Uber-Mietwagen, und damit eine klare Überversorgung. Das bedeutet, dass bereits heute römische Taxifahrer weniger verdienen, als sie benötigen, um ein ordentliches Leben ohne Angst vor Armut zu führen.

    Wer fordert, dass die Zahl der römischen Taxis angehoben werden soll, treibt die Kolleginnen und Kollegen der Italienischen Hauptstadt in die Armut.

    Mit einer guten Taxi-Versorgung von Einwohnern und Touristen hat das nichts zu tun. Es ist nicht erforderlich, dass jederzeit ein Taxi in zwei bis drei Minuten vor die Haustür bestellt werden kann. Fünf bis zehn Minuten Wartezeit sind auch vertretbar. Wer überpünktlich sein muss, kann einen Wagen vorbestellen.

    4. 9.2023 von Wim Faber - Taxifahrer in italienischen Großstädten verhindern nicht nur den Markteintritt von Uber, sondern auch die Erhöhung der Konzessionszahlen. Die Regierung will die Wählergruppe nicht verprellen.

    In den beiden größten Städten Italiens herrscht erheblicher Taximangel. Laut der New York Times gehen zahlreiche Beschwerden bei lokalen Behörden in Rom und Mailand ein. Die Lösung scheint einfach: mehr Genehmigungen. Doch die Taxifahrer sind entschieden dagegen. Anfang August gingen die Bilder viral: Fotos von riesigen Menschenschlangen, die in der Hitze am Taxistand des Bahnhofs Termini in Rom warteten. Reisende, die ein Taxi nehmen möchten, müssen sich oft auch am Mailänder Hauptbahnhof gedulden. Denn in beiden Städten, aber auch in Neapel, Bologna und weiteren Großstädten des Landes gibt es viel zu wenig Taxis.

    In der Hauptstadt Rom (2,75 Millionen Einwohner) gibt es 7.600 Taxikonzessionen. Zum Vergleich: In der spanischen Hauptstadt Madrid mit 3,3 Millionen Einwohnern gibt es doppelt so viele Taxis. In der internationalen Wirtschaftsmetropole Mailand (1,35 Millionen Einwohner) fahren nur 5.400 Taxis. Kolumnist Giuseppe „Beppe“ Severgnini schreibt in der Tageszeitung „Il Corriere della Sera“ (Abendkurier): „Das Defizit wird grotesk. Mühsames Warten am Telefon in Mailand, um ein Taxi zu bestellen. Besonders abends ist es ein Problem, ein Taxi zu finden. An regnerischen Abenden ist es eine Katastrophe.“ Und diese Abende sind gefährlich für einen streng regulierten Taxisektor. In Schweden und Irland führten regnerische Abende (und Politiker, die kein Taxi finden konnten) und ein großer Mangel an Taxis relativ schnell zu einer Liberalisierung des Taxisektors.

    Nicht nur die örtlichen Behörden, auch Verbraucherorganisationen bekommen viele Beschwerden. Die italienische Wettbewerbs- und Marktaufsichtsbehörde AGCM hat diesen Monat eine Untersuchung gegen die Taxibranche eingeleitet: Was ist dran an Beschwerden über lange Wartezeiten, nicht eingeschaltete Taxiuhren und Kunden, die bar bezahlen müssen, weil das Zahlungsterminal angeblich nicht funktioniert? Letzteres ist übrigens ein universelles Problem, das nicht nur in italienischen Städten auftritt. Manchmal haben z. B. die Londoner Kollegen eine Socke über das Terminal gezogen, weil es „nicht funktioniert“.

    Aufgrund der Aufregung – auch in den Medien – war die Regierung von Giorgia Meloni gezwungen, das Problem anzugehen, auch weil sich die Lage noch weiter zu verschlechtern droht, wenn im katholischen Jubiläumsjahr 2025 Millionen Gläubige nach Rom kommen. Darüber hinaus werden Mailand und der Dolomiten-Skiort Cortina d’Ampezzo die Olympischen Winterspiele 2026 ausrichten.

    Das äußerst Schwierige an dieser Regierung ist jedoch, dass die Taxifahrer treue Wähler der rechtsextremen Koalitionsparteien Fratelli d’Italia und Lega sind. Premierministerin Meloni will sie nicht zu hart treffen. Darüber hinaus sind die Fahrer in hermetisch geschlossenen Reihen stark. Sie werden durch selbstbewusste Gewerkschaften vertreten, die seit Jahren gegen jeden Versuch, den Sektor zu liberalisieren, wütend protestieren und streiken.

    Als ein Minister kürzlich vorschlug, Taxifahrern die Möglichkeit zu bieten, eine zweite Genehmigung zu kaufen, die sie dann ihren Familienmitgliedern zur Verfügung stellen können, legten die Gewerkschaften ihr Veto ein und die Idee verschwand. Die Taxifahrer wollen nicht, dass mehr Genehmigungen in Umlauf kommen, was dazu führen könnte, dass sie an Wert verlieren und die Tür für ausländische Konkurrenten öffnen. Der Markteintritt von Uber in Italien wurde von Taxifahrern bereits weitgehend erfolgreich verhindert.

    Mitte August hat die Regierung schließlich ein Dekret erlassen, die vorsieht, dass Großstädte die Zahl der Genehmigungen um bis zu 20 Prozent erhöhen und in Spitzenzeiten zusätzliche, befristete Genehmigungen erteilen können. Derzeitige Genehmigungsinhaber erhalten Vorrang. Aus bürokratischer Sicht wird es für Taxifahrer auch einfacher, ihr weißes Auto jemand anderem zu überlassen, sodass das Taxi mehr Stunden am Tag unterwegs sein kann.

    Linke Medien kritisieren den Erlass: Die Maßnahmen gingen nicht weit genug. Sie werfen der Meloni-Regierung vor, sich von der mächtigen Taxilobby schikanieren zu lassen. Auch die Taxigewerkschaften sind unzufrieden: Die Maßnahmen gingen zu weit. Sie drohen mit einem Streik im September, sollte das Dekret nicht geändert werden.

    Unterdessen geben die Taxifahrer weiterhin den städtischen Behörden die Schuld. So erklärte beispielsweise Lorenzo Bittarelli, Chef des größten italienischen Taxiverbandes und der mächtigen römischen Taxizentrale 3570, der 3.600 Taxifahrer angeschlossen sind, gegenüber den Medien: „In Rom gibt es zu wenige U-Bahnen und Busse, die fahren. Und nicht alle Stadtteile werden bedient. Das ist das Problem. Jetzt wird die ganze Schuld auf uns abgewälzt, aber wir werden nicht für die Ineffizienz anderer bezahlen.“

    Berlinstatistik aus
    https://de.wikipedia.org/wiki/West-Berlin#Einwohnerentwicklung

    #Taxi #Italien #Wirtschaft #Armut

  • Tachelesstellungnahme zum SGB XII- und SGB XIV-Anpassungsgesetz
    https://tacheles-sozialhilfe.de/aktuelles/archiv/tachelesstellungnahme-zum-sgb-xii-und-sgb-xiv-anpassungsgesetz.

    09.05.2023

    Im Rahmen einer „Verbändeanhörung“ wurde Tacheles aufgefordert eine Stellungnahme zum Entwurf eines Gesetzes zur Anpassung des Zwölften und des Vierzehnten Buches Sozialgesetzbuch und weiterer Gesetze im Gesetzgebungsverfahren abzugeben.

    Diese Aufforderung sind wir gerne nachgekommen und haben eine Stellungnahme erstellt.

    Aus der Einleitung:

    In der Gesetzesbegründung unter A. 1. wird ausgeführt, dass „nicht alle Änderungen des SGB II bei der Berücksichtigung von Einkommen auf das SGB XII übertragen [… wurden…]. Um den Gleichklang zwischen beiden Mindestsicherungssystemen zu wahren ist eine Übernahme der entsprechenden Änderungen im SGB II auch in das SGB XII erforderlich“.
    Aus unserer Sicht ist dieser Gleichklang zwischen den beiden Mindestsicherungssystemen, dem SGB II und SGB XII an sehr vielen Punkten zu vermissen. In einer Vielzahl von Regelungen gibt es Nachteile der SGB XII-Leistungsberechtigten gegenüber den Leistungsberechtigten nach dem SGB II.
    Um plakativ Beispiele zu nennen:

    Schonvermögen SGB II: 15.000 EUR SGB XII: 10.000 EUR
    Angemessenes Kfz SGB II: 15.000 EUR SGB XII: 10.000 EUR
    Geschontes selbstgenutztes Eigentum für ein und zwei Personen:
    SGB II: 130/140 qm SGB XII: 80/90 qm
    Freibetrag aus Erwerbseinkommen bei 100 EUR
    SGB II: 100 EUR SGB XII: 33,64 EUR
    Einkünfte in Geldeswert SGB II: anrechnungsfrei SGB XII: anzurechnen
    Zeitraum zur Antragsstellung einer Heizkostennachzahlung und Bevorratungskosten für Nichtleistungsbeziehende
    SGB II: drei Monate SGB XII: ein Monat

    Im Detail werden SGB XII-Leistungsbeziehende in einer Vielzahl von Regelungen gegenüber den Leistungsberechtigten nach dem SGB II benachteiligt. Diese Benachteiligung stellt eine unzulässige Diskriminierung aufgrund von Alter, Krankheit oder Aufenthaltsstatus dar. Diese Benachteiligung und Diskriminierung muss unverzüglich beendet werden!

    In diesem Zusammenhang möchten wir aber auch auf die verschärfte Diskriminierung im dritten Grundsicherungssystem für Geflüchtete hinweisen. Diese erhalten ebenfalls Mindestsicherungsleistungen nach dem AsylbLG, diese Leistungen sind in weiten Teilen eine einzige Benachteiligung gegenüber dem SGB II / SGB XII. Das gesamte AsylbLG stellt auf Diskriminierung aus migrationspolitischen Gründen ab. Aus unserer Sicht ist das AsylbLG endlich abzuschaffen und alle Leistungsberechtigten nach dem AsylbLG in ein einheitliches Mindestsicherungssystem zu überführen. Denn die Würde der Menschen hat unteilbar zu sein, vorliegend wird sie aber in den drei Mindestsicherungssystemen systematisch geteilt.

    Wir erlauben uns daher, unsere Stellungnahme in drei Teile aufzuteilen:

    1. Teil: Stellungnahme im Gesetzgebungsverfahren

    2. Teil: Notwendige Änderungen im SGB XII zur Anpassung an das SGB II

    3. Teil: Sonstige notwendige Änderungen, damit ein menschenwürdiges Leben mit Mindestsicherungsleistungen in Zeiten der Inflation möglich bleibt.

    Gesetzesentwurf v. 28.04.2023 https://tacheles-sozialhilfe.de/files/Aktuelles/2023/Entwurf-SGBXIISGBXIV-Laender-Verbaende.pdf
    Tachelesstellungnahme v. 9.5.2023 https://tacheles-sozialhilfe.de/files/Aktuelles/2023/Tacheles-Stellungnahme-zum-SGB-XII-SGB-XIV-AnpG.pdf

    #SGB-XII #Grundsicherung #politik #Armut

  • Das Programm „Soziale Stadt“ soll armen Kiezen helfen – wie ist die Bilanz?
    https://www.berliner-zeitung.de/mensch-metropole/das-programm-soziale-stadt-laeuft-in-einigen-gebieten-in-berlin-aus

    4.4.2023 von Thomas Kilian - Die Berliner Armutskieze sind um eine Hoffnung ärmer. Bei 32 Fördergebieten von je etwa 20.000 Menschen im Rahmen des Städtebauprogramms „Sozialer Zusammenhalt“ (bis 2020: „Soziale Stadt“) läuft schrittweise die Förderung aus.

    Die Mehrzahl von ihnen wird ab nächstem Jahr verstetigt, d.h., Gebiete wie der Soldiner Kiez in Mitte, die Flughafenstraße in Neukölln, der Mehringplatz in Kreuzberg, das westliche Falkenhagener Feld in Spandau und 15 weitere Gebiete werden ab 2024 zwei Jahre lang auf das Auslaufen der Förderung vorbereitet. Die restlichen Gebiete folgen in spätestens fünf bzw. 10 Jahren.

    Das Förderprogramm war gemeinsam von der Europäischen Union, der Bundesrepublik Deutschland und dem Land Berlin finanziert worden. Es flossen also zeitweise für jeden eigenen Euro zwei weitere nach Berlin, kurbelten dort die Wirtschaft an und ließen die Steuerquellen sprudeln. Insgesamt etwa 30 Millionen Euro im Jahr wurden bis 2020 zur Hälfte von der EU und zu einem Sechstel vom Bund getragen.

    Danach fiel der Zuschuss aus Europa weg und das Land Berlin übernahm zwei Drittel der Kosten, während der Bund ein Drittel beisteuerte. Lange ein gutes Geschäft für die Stadt, selbst wenn in den geförderten Projekten nicht immer alles rund lief. Nun hat nach der EU auch der Bund beschlossen, dass es nicht mehr weitergehen soll. Schließlich sollen solche Bundeszuschüsse laut Grundgesetz keinesfalls zur Dauerförderung gemacht werden.

    In der Berliner Bezirkspolitik fielen die Zuständigen aus allen Wolken, als sie Ende Februar durch Gerüchte aus der Senatsbehörde für Stadtentwicklung über diese Bundesentscheidung informiert wurden. Am 15. März bestätigte Dr. Sandra Obermeyer aus der Senatsbehörde auf einer Sondersitzung des Bezirksausschusses für „Soziale Stadt“ in Mitte die Abwicklung der Förderung, erläuterte den Beschluss des Bundes und die juristischen Hintergründe.

    Die zuständigen Bundespolitiker hatten an den Kommunalpolitikern vorbei entschieden. Scheinbar ist die Bezirkspolitik nicht sonderlich vernetzt. Den engagierten Bürgern in den sogenannten Quartiersmanagementgebieten, den Trägern der Vor-Ort-Büros, der Kommunalpolitik und dem Senat bleiben jetzt nur die Auswertung der Erfahrungen und die Rettung der besten Ideen für die Zeit nach „Soziale Stadt“.
    Die „Soziale Stadt“ weckte große Erwartungen

    Das Programm war 1999 mit großen Hoffnungen gestartet. Es hatte über die bei Städtebauprogrammen üblichen baulichen Maßnahmen wie Verkehrsberuhigungen und Ausbau von Nachbarschaftszentren hinaus zwei attraktive Ziele: Zum einen sollte die Bevölkerung ermächtigt werden, sich vermehrt selbst zu verwalten. Man sprach von Empowerment. Zum anderen wollte man das soziale Abrutschen von Gebieten mit geballter Armut verhindern. Damit weckte das Programm durchaus Erwartungen an Bürgermitbestimmung und Armutsbekämpfung, die es letztlich nicht erfüllen konnte.

    Manche Aktive aus den Kiezen klagen daher darüber, dass die betroffenen Kieze ja immer noch am unteren Ende der sozialen Leiter verblieben seien. Deshalb müsse das Programm bis zur Erfüllung seiner Ziele fortgesetzt werden. In den Kiezen ist es jedoch kaum gelungen, eine breitere Bevölkerung im Sinne des Programms zu aktivieren. Die Obrigkeit träumte nämlich vom „ganz normalen Bürger“, den es zur Selbstbestimmung zu führen gelte.

    Ein ehemaliger Quartiersmanager – wie viele seiner Zunft inzwischen vom halbprekären Sozialarbeiter mit Zeitvertrag zum Landesbeamten aufgestiegen – bekannte sich dazu, dass er mitunter exzentrische Kiezbewohner bremsen musste, um der schweigenden Mehrheit gerecht zu werden. Nur kannte er diese unbekannte Mehrheit vielleicht ebenso wenig wie die von ihm ausgebremsten Aktivisten. Aber er klopfte mit diesem Selbstverständnis eine Hierarchie zu seinen eigenen Gunsten fest. Wie das strukturkonservative Beamtentum wollte er nicht auf Augenhöhe mit der aktiven Minderheit inhaltlich verhandeln.

    Letztlich war der Einfall von „Soziale Stadt“ in die Kieze ein wohlmeinender Kolonialisierungsversuch im Auftrag eines bürgerlichen Establishments. Dieser Zivilisierungsansatz bekam erst dann etwas Entspanntes, als die imperiale Verwaltung ihren Schneid verlor, weil sie zunehmend einsah, dass ihre Rezepte nicht aufgehen. Die Forschung wusste schon seit den 1930er-Jahren einiges über funktionale Teilung von Aufgaben, verschiedene Kompetenzen und unterschiedliches Ansehen in benachteiligten Kiezen. Es ist „Soziale Stadt“ eben nicht immer gelungen, an diese geradezu dörfliche Oligarchie anzuknüpfen, weil viele professionelle Akteure diese gar nicht im Blick hatten.

    Wenn sie an vorstehenden Nägeln hängen blieben, schreckten sie eher zurück. Manchmal versuchten sie auch, den Stahl auf das allgemeine Maß zu kürzen. Bürgerorganisationen aus den Vereinigten Staaten, die an besagte Forschung anknüpfen, suchen hingegen systematisch nach potenziellen „Leadern“ und bilden sie aus. Das zentrale Partizipationsinstrument von „Soziale Stadt“, der sogenannte Quartiersrat zur Entwicklung und Vergabe von Projekten, hat ob seiner bürokratischen Funktion und seiner entsprechenden Arbeitsweise dagegen mehr Bürger verschreckt als aktiviert.

    Zumindest war es immer problematisch, seine ehrenamtlichen Mitglieder bei der Stange zu halten. „Soziale Stadt“ war ein teures und umständliches Programm. Mit einem Vor-Ort-Büro und der zuständigen Aufsicht in der Verwaltung beschäftigte jedes Gebiet an die fünf Menschen, größtenteils mit Bürokratie. Immer wieder sorgten Probleme mit Abrechnungen für Zoff. Das Gehalt dieser Menschen reichte an die in Projekten ausgegebenen Mittel heran, soweit man die Baumaßnahmen außen vor lässt.

    Umfang des Projektes war zu klein

    Die Projekte selbst hatten dabei einen Umfang, der von vornherein überhaupt keine effektive Armutsbekämpfung zuließ. Insgesamt wurden so weniger als fünf Euro pro Monat und Bewohner ausgegeben. Zwar gibt es in einigen Gebieten im Bereich des Stadtzentrums nun Aufwertungstendenzen, aber daran ist weder das Geld aus den Fördertöpfen schuld noch die angesiedelten, selbst mittellosen Künstler. Vielmehr treibt die Konkurrenz auf dem engen Wohnungsmarkt die benachteiligten Bevölkerungsteile an den Stadtrand, etwa nach Spandau oder Marzahn.

    Diese Randwanderung vollzieht sich aber nur langsam, weil angesichts der Wohnungsknappheit gerade die Ärmeren nur umziehen, wenn sie es nicht vermeiden können. Der Quartiersrat im Soldiner Kiez wollte auch etwas gegen die unzureichende Alphabetisierung an den drei Grundschulen im Gebiet unternehmen. Der Etat hätte aber höchstens für eine zusätzliche Lehrkraft für mindestens vier Dutzend Klassen genügt. Man muss dem Gremium eine gewisse Betriebsblindheit unterstellen, weil mit der Zeit eben die Ideen für sinnvolle Projekte ausgegangen waren.

    Kreativere Projekte waren eingegangen, als noch jeder Vorschläge einreichen durfte. Aber irgendwann waren die Behörden – auch bei anderen Projektvergaben in der Stadt – auf den Gedanken verfallen, dass die handverlesenen Bürgergremien die Projektideen nicht nur auswählen, sondern auch noch selbst entwickeln sollten. Die Obrigkeit wollte wohl verhindern, dass sich findige Profiteure selbst einen Auftrag stricken. Nur kam es dann immer häufiger vor, dass sich auf Ausschreibungen überhaupt kein Träger meldete, der sich den Vorstellungen des Vergabegremiums und den erheblichen bürokratischen Anforderungen des Programms gewachsen fühlte.

    Die Aufmerksamkeit von „Soziale Stadt“ in den Bezirken hat nicht zuletzt Gründe im kommunalen Haushalt. Die Bezirke bekommen jeder jährlich eine dreistellige Millionensumme vom Senat. Eigene Einkünfte haben sie nicht. Das allermeiste Geld geht für Pflichtausgaben drauf. Der Bezirk betreibt das Sozialamt, das Bauamt, das Straßen- und Gartenbauamt etc. Frei verfügbar sind vom Gesamtbetrag ein bis zwei Prozent. Nur mit diesem Geld können die Bezirkspolitiker über ihre Funktion als Amtsleiter hinaus Politik machen. Die bescheidene Million von „Soziale Stadt“ für jedes Gebiet ist daher für den Gestaltungswillen der Kommunalpolitiker und auch mancher Gremienfüchse aus der Bürgerschaft ein Segen, gerade wenn sie als Verwaltungschefs oder auch sonst für sich und andere keine befriedigende Figur abgeben.

    Nach dem Programm ist vor dem Programm

    Das Grundproblem für die projektgetriebene Kommunalpolitik gerät häufig aus dem Blick: Einerseits gewährt man den Bezirken und auch Kommunen sonstwo in Deutschland allerlei Projektmittel aus der Kasse von EU, Bund und Land, andererseits schnüren die spendablen Sugardaddys den Kommunen die Finanzen ab, indem sie Gemeinden und Bezirken keinen auskömmlichen Teil der Steuereinnahmen zuteilen. Der Zwang, sich dann der Förderprojekte zu bedienen, lenkt die Kommunen in Richtung der Wünsche der europäischen sowie der bundes- und landespolitischen Eliten.

    Der Stadtbaurat von Mitte, Ephraim Gothe, rechnete etwa auf der besagten Ausschusssitzung vor, dass die Programme zur Gewaltprävention aufgrund der Silvesterereignisse finanziell ziemlich genau das Geld erbrächten, das der Bezirk angesichts aktueller Sparzwänge in der Jugendarbeit hätte streichen müssen. Generell gilt: Nach dem Programm ist vor dem Programm. Denn die Probleme in den armen Kiezen bleiben.

    „Soziale Stadt“ hat für die Säue, die so durchs Dorf gejagt werden, ein langes Leben gehabt. Ein neues Programm hätte den Vorteil, dass es wieder eine gewisse Begeisterung wecken könnte. Wie es heißt, wohnt allem Anfang ein Zauber inne. Der Soziologe denkt an den Hawthorne-Effekt, nach jener Fabrik, wo allein die Anwesenheit der Beobachter die Produktivität steigerte. Nur kommen heute Herausforderungen aus anderer Richtung. So wird in Mitte und einigen anderen Bezirken im Augenblick ein Klimaplan ausgearbeitet, gefördert von einem Bundesprogramm. Zur Umsetzung wird es abermals Zuschüsse bedürfen.

    Die armen Kieze sind häufig vom Klimawandel besonders betroffen. Gleichzeitig werden Kiezblocks zur Verkehrsberuhigung auch von gerade ärmeren Kiezen installiert. Den aufmerksamen Bürgern bleibt also auf jeden Fall etwas zu tun. Es besteht nur die Gefahr, dass die Erfahrungen von „Soziale Stadt“ überhaupt nicht bei den neuen Projekten ankommen. Denn diese setzen andere Akzente. Empowerment ist erst einmal gar nicht mitgedacht, könnte aber als Querschnittsaufgabe gerade in der Kommunalpolitik geläutert fortgesetzt werden.

    Der Soziologe Thomas Kilian zog 1995 in den Soldiner Kiez. Seit 2004 engagiert er sich im Bürgerverein Soldiner Kiez e.V. Der Verein hat vom Städtebauförderungsprogramm „Soziale Stadt“ profitiert, aber manchmal auch unter dessen Schwächen gelitten.

    Das ist ein Beitrag, der im Rahmen unserer Open-Source-Initiative eingereicht wurde. Mit Open Source gibt der Berliner Verlag freien Autorinnen und Autoren sowie jedem Interessierten die Möglichkeit, Texte mit inhaltlicher Relevanz und professionellen Qualitätsstandards anzubieten. Ausgewählte Beiträge werden veröffentlicht und honoriert.

    #Europa #Berlin #Stadtentwicklung #Armut #Quartiersmsnagement

  • In Chicago, a Socialist Teacher Takes on the Entrenched Political Machine
    https://jacobin.com/2023/02/chicago-11th-ward-alderman-election-ambria-taylor-dsa

    Die Probleme der kleinen Leute sind überall die gleichen: Besser Schulen, bezahlbare Wohnungen, funktionierende öffentliche Einrichtungen und Transportmittel und die Beseitigung von Gewalt und Verbrechen. Der Süden von Chicago ist wie eine viel härtere Ausgabe der härtesten Ecken von Berlin Neukölln.

    In der Southside ist die Wahlkampagne einer Sozialistin Teil der Bewegung für einen gemeinsamen Kapf der Einwohner um eine Stadtverwaltung ohne die traditionelle Korruption und Vetternwirtschaft. Bis heute wird die Stadt wie der Erbhof einer Bügermeisterdynastie verwaltet. Damit soll jetzt Schluß sein.

    24.2.2023 by Caleb Horton - An interview with Ambria Taylor

    Chicago’s 11th Ward is the heart of the old “Chicago machine,” one of the largest, longest-running, and most powerful political forces in US history. For most of the twentieth century, the Chicago machine organized the political, economic, and social order of America’s second city. Patronage rewards like plum city jobs were awarded to lieutenants who could best turn out the vote for the Democratic Party, which in turn provided funds, connections, and gifts to the ruling Daley family and their inner circle.

    Mayor Richard J. Daley, often called “the last big city boss,” ruled Chicago from 1955 until his death in 1976. Daley spearheaded infrastructure and urban renewal projects that physically segregated white and black parts of the city with expressways and housing blocks and drove black displacement from desirable areas. He tangled with Martin Luther King Jr over school and housing desegregation, sicced the cops on antiwar protestors at the 1968 Democratic National Convention, and gave “shoot to kill” orders during the uprisings following King’s assassination.

    The Chicago machine’s glory days are past, but the legacy of the Daleys lives on. Relatives and friends of Mayor Daley still hold office throughout Chicago, and his nephew, Patrick Daley-Thompson, had a strong hold over City Council as the 11th Ward alderman until July 2022, when he was convicted of tax fraud and lying to federal bank regulators and forced to resign.

    Although the Daley family has lost direct control over the 11th Ward, their presence is still felt in the neighborhood of Bridgeport. While racial segregation is not explicitly enforced, the neighborhood still has a reputation among many older black residents as a “no-go zone,” and throughout the 2020 protests over the murder of George Floyd, white gangs roamed the streets with weapons questioning anyone who looked “out of place” — a callback to the racist mob violence perpetrated by the Hamburg Athletic Club, of which a teenage Daley was a member a whole century prior.

    So what is Ambria Taylor, a socialist public school teacher, doing running for office in the backyard of this entrenched political fiefdom? Jacobin contributor Caleb Horton sat down with Taylor to discuss why she chose to run at this time and in this place, and how she is building a movement that can overturn the power of one of the nation’s most notorious political dynasties.

    Taylor launched her campaign in October 2021, when Daley-Thompson was still in office. After a few months of campaigning, the 11th Ward began to undergo major changes. First Daley-Thompson was arrested and then convicted of fraud, and then the ten-year ward remap took place, removing parts of the old 11th Ward and adding parts of Chinatown and McKinley Park.

    In just a few short months, Taylor was facing a newly-appointed incumbent, a new map, and six other candidates for alderman. Taylor is the only progressive in the race.

    Caleb Horton

    Why did you decide to run for office?

    Ambria Taylor

    Growing up, I experienced poverty and homelessness in rural Illinois. I moved to Chicago when I was seventeen to escape that. I slept on my brother’s floor, shared an air mattress with my mom.

    Chicago saved my life in a lot of ways. Urban areas have public transportation, they have dense development where you can walk to get what you need, where you can get to a job without a car. Public goods help people survive.

    Experiencing all that defined me. It’s why I’m so committed to protecting public goods like affordable public transportation and affordable housing. It’s why I’m a socialist. It’s why I got my master’s degree and became a teacher.

    I had a chance to grow up and live a decent life thanks to the strong public goods and services available in Chicago, but unfortunately that’s all been under attack due to neoliberalism, the hollowing out of the public sphere, and the assaults on unions.

    That’s why I’m running. We deserve a city that works for everyone like it worked for me. We deserve a city that, in the richest country in the history of the world, provides for the people who live here and make it run. And here in Chicago we have been building the movement for the city we deserve through making the ward office a space for people who are marginalized to build power.

    Caleb Horton

    What do you want to do when you’re in office?

    Ambria Taylor

    In Chicago the local ward office has a lot of local power. The alderman is kind of like a mini-mayor of their district. They have power to make proposals for spending taxpayer money, and they each get a budget of discretionary funds of about $1.5 million annually for ward projects.

    Aldermen have influence in the committee that oversees Tax Increment Financing (TIF) districts. On TIFs, we gave $5 million in taxpayer money to Pepsi and $1.5 million to Vienna Beef.

    We shouldn’t be taking money away from our schools to fund giveaways to megacorporations, period. But if we’re going to have TIFs, residents should have democratic input into how those funds are spent. We have dozens of empty storefronts in what should be our commercial hubs — why not fund small businesses providing needed services and quality of life to residents?

    My dream is to, for one thing, involve the public in development decisions. But most of all, I want to ensure that money goes to things that benefit residents. Things they can see and experience, like cleaning alleys or tree trimming or sidewalk maintenance. In this ward, there’s a history of “the deal is made, and then they have a public meeting about it.” I want things to be the other way around.

    I’m excited for the potential of what we could do here if there’s a ward office that’s open and collaborative and is genuinely trying to do things that benefit the most vulnerable.

    Caleb Horton

    Could you talk a little bit about the ward’s political history, and why it has been such an “insiders’ club” of decision makers?

    Ambria Taylor

    We are on the Near South Side of Chicago. This ward now includes Bridgeport, Chinatown, and parts of a few neighborhoods called Canaryville, Armor Square, and McKinley Park.

    The Daley family is from this area. The home that’s been in the family for generations is here. The family has been powerful here for a really long time. They were also involved in various clubs and associations, like the Hamburg Athletic Club that took part in the racist white riots in 1919.

    The 11th Ward is well known for being an enclave of extremely aggressive anti-black racism. In the 1990s there was a young black boy who dared cross over here from Bronzeville to put air in his bicycle tires from a place that had free air, and he was put into a coma by teenage boys.

    One of those boys was well connected to the Mafia here. Potential witnesses for the trial who knew this boy and were present when it happened weren’t willing to come forward. This happened in the 1990s. Think about how old the fourteen-, fifteen-, sixteen-year-old boys would be now. Many people who are influential now were alive during that time and were wrapped up in that culture. This was considered a sundown town, and to some people still is.

    Things are changing rapidly. People move to the suburbs, new people move in, things change over time. There still is a vocal conservative contingent here, but this is also a place where Bernie Sanders won the Democratic primary two times. Because of where we stand at this moment amid all those contradictions, we have the chance to make monumental change.

    There’s always been dissatisfaction with the machine, but we’ve started to cohere that dissatisfaction and the latent progressive energy into an organized base. We’ve brought together a base of people around progressive issues that many have said couldn’t exist here. We’re proving them wrong and proving the narrative about this part of the city wrong.

    As socialists, narratives are often used against us. It’s that narrative of what’s possible. The “Oh, we love Bernie, but he could never win. . . .” We say that a better world is possible. And what we’re seeing on the doors is that people are very excited to see a democratic socialist on the ballot. As far as I know, I’m the only person in the city running for office who has “socialist” on their literature. That’s big whether or not we win.

    Caleb Horton

    In what ways is this a movement campaign?

    Ambria Taylor

    We launched this campaign very early. We launched in October 2021 with an election at the end of February 2023. We did this because we needed time to organize.

    We started by holding community meetings for months. We brought communities together to articulate their desires for the city — like for streets and sanitation, public safety, the environment — and made those our platform planks.

    We engaged people with what they want to see happen in the ward: “How do you want an alderman to be working toward making those things happen? Let’s talk about how the city council works. Let’s talk about how the ward office operates and what budget it has.”

    Our residents have an appetite to get into the nitty-gritty about what an alderman can actually do to make progress on the things they want to see in this community and for Chicago. They want to take ownership over their own affairs.

    This is what political education can look like in the context of an aldermanic race. The people ask questions, articulate their needs, and we try to put that through the lens of what we can do as an aldermanic office and as organized communities.

    One thing we’ve found impactful is coming together for creative events. For instance, we had a huge block party with the owner and staff of a business called Haus of Melanin. This is a black-owned beauty bar that was vandalized twice in the months after they started up. A hair salon for black people? You can see why that might piss racists off.

    So we stepped in and built a relationship with them. We threw this huge block party, bringing a bunch of people together to say, “We’re going to celebrate that there are going to be black people in this neighborhood. There are going to be black-owned businesses that cater to black people.” And a lot of people came out in this neighborhood to say, “We support this business, we love that it’s here, and nobody is going to scare our neighbors away.”

    The business owner had talked about leaving. She had stylists leave because of the vandalism that happened. Haus of Melanin might have been chased out if the community didn’t turn out to say that these racists don’t represent us and we’re not going to take it. All of that is what a movement campaign looks like.

    Caleb Horton

    This is the city’s first Asian-majority ward, and the current alderperson is the city’s first Chinese American alderperson. Some people have said that this is an office that should go to an Asian American or a Chinese American person — that you as a white person shouldn’t be running for this office. How do you respond to that?

    Ambria Taylor

    We do remaps based on the census every ten years or so, and there was a big push to remap the 11th Ward to include Chinatown. Before the remap, the 11th Ward was 40 percent Asian, mostly Chinese. I think the biggest thing this remap did is unite a center politically that is already mapped culturally.

    The incumbent I’m running against was appointed by an unpopular mayor and is backed by the Daley family. Her father worked for Mayor Richard M. Daley. Richard M. Daley and John Daley sent out a letter backing our current alderman.

    It’s really exciting for this Asian-majority ward to have the opportunity to elect a representative they trust will fight for their interests.

    My team has worked hard to do everything on the campaign the way we plan to run our ward office. We have made the campaign a space to build power for people who are marginalized. We have a huge campaign team that includes canvassers who speak Mandarin, Cantonese, and Taishanese. Just today we used all three languages while we were at the doors.

    We make sure that people who are multilingual are present at our community meetings. Also every single piece of lit we’ve printed has been translated into three languages: English, Simplified Chinese, and Spanish.

    This election is not just about the candidate as a representative, but about electing someone who is going to focus on issues that matter to the people of this ward. This is bigger than one person, and we have been able to build a lot of meaningful connections.

    For example, we’ve made deep connections with Chinese-language newspapers, and that relationship is going to go a long way. We’ve had Chinese-language newspapers commenting on union rallies I was going to, my Democratic Socialists of America (DSA) endorsement, and so on, and we want to continue to nurture that relationship.

    Caleb Horton

    How has your experience as a Chicago Public Schools teacher influenced your politics?

    Ambria Taylor

    Teaching in Chicago Public Schools was really hard. I kind of expected that, but you have to live it for it to truly sink in.

    After a year of student teaching, I started my first lead teaching position in the 2019–2020 year. A month and a half later, we went on strike for almost two weeks. We came back to the classroom, and just as I was trying to get back into the swing of things, COVID hit.

    I became a remote teacher of middle schoolers, and things were really difficult. We had to eventually juggle hybrid learning and lack of staff. I became the union delegate for our school and experienced horrible retaliation from my principal. But through that, I learned to organize people in my building around workplace issues even if they had different politics than me.

    I saw how the workplace can unite us — it gives you something to convene around, and it’s hard to have anything interfere with that because your reality is informing it all. Public education is in a lot of trouble, and I firsthand experienced these schools unraveling at the seams.

    The city allocates money to bullshit while lead paint flakes off the walls and our buildings fall apart. As teachers, we face the struggle of trying to get through the day while kids are being put in the auditorium a few classes at a time because there is not enough staff to supervise them.

    That influenced me because a huge part of my campaign as a socialist is to fight against neoliberalism, austerity, and private interests’ attempt to narrow what the public sector does by choking these various public services and then saying, “It doesn’t work!”

    What is happening with Chicago Public Schools is happening everywhere — at the Chicago Public Library, in our transit system. My dream is being part of a movement that will help save our public sector.

    Caleb Horton

    The Chicago political machine faced an unsuccessful challenger in the 11th Ward four years ago. What makes your campaign different?

    Ambria Taylor

    There have been other challengers to the machine politicians in the 11th Ward. Usually it’s a person who has a few volunteers, and they raise less than $5,000. We’ve been able to raise over $90,000, and we have had over a hundred people volunteer for us. That’s something that challengers haven’t been able to muster up, and understandably so — it’s not an easy thing to do.

    The people of the ward want to support this kind of effort, and despite their modest fundraising, we’ve seen previous small campaigns still give the machine a run for its money. We had a guy take Patrick Daley to a runoff election, and he raised less than $5,000. What that shows is that a strong campaign stands a chance, and we’ve made a strong effort here.

    Caleb Horton

    What are the biggest issues facing the 11th Ward?

    Ambria Taylor

    Environmental issues are huge here. Our air quality is eight to nine times worse than northern parts of the city. Our city is very segregated. The further north you get the whiter it gets, and you will notice that the South Side has way worse air quality and way more heavy — or “dirty” — industry that pollutes our air and our soil.

    We used to have a Department of Environment that ticketed polluters that were breaking the rules and causing toxic contamination. That department is gone now, and the ticketing has gone down. When ticketing does happen, it happens on the North Side.

    So there is a lot we can do here, like reestablishing the Department of Environment and working with the Illinois Environmental Protection Agency to make sure that the polluters in this area are being held to the standards they should be held to; also, when it comes to developments, saying, “No, I will not support new dirty industry coming to this region which is already severely overburdened.”

    Caleb Horton

    Public safety has come up a lot this election. What do you believe the 11th Ward could be doing about this?

    Ambria Taylor

    Public safety has become a major talking point this year. That’s not to say that everything is safe and everything is fine: we have carjackings, shootings, and assaults. People experiencing violence is unacceptable.

    However, a lot of people have given in to saying, “I’m the alderman and I love the police.” What that does is absolve our leadership of any responsibility. We’ve had police officers responding to forty thousand mental health calls a year. There’s been a big movement in Chicago to shift things like mental health and domestic violence calls to other city workers instead of the police.

    What we’ve seen is poverty and austerity are on the rise, and when you have high poverty, you have high crime. We need resources for young people, better social services, housing, and mental health care. A lot of people who we’ve canvassed agree that police are not enough and we need to address violence holistically.

    Caleb Horton

    What about affordable housing? Where do you stand on that?

    Ambria Taylor

    Here in the 11th Ward, there has been a push for affordable housing, but it’s really hit or miss as far as enforcement goes. Also, when it comes to affordability, we need to be stricter on how we define it. Right now, developments can say there are affordable units in a building even if they are not truly affordable and are just a little cheaper than other units in the building.

    We want affordable housing, and we want to hold developers’ feet to the fire as far as prices go. Having a resident-led ward gives us the opportunity to ask developers, “What do you plan to charge for the units?” and get them to commit to something truly affordable for people to live in.

    We must also expand public housing. Chicago has lots of money for it, yet we’re selling land that belongs to the housing authority off to private interests. That needs to stop. I’m interested in partnering with residents who live in public housing to make sure it improves and expands.

    I also support just cause for evictions and lifting the ban on rent control in Illinois. We have a ban on passing rent control — we can’t even introduce a bill on it. I very much support the effort to overturn that.

    Caleb Horton

    What are your plans for this progressive base that you’re building?

    Ambria Taylor

    From here on out, if I’m the next alderman, we will continue to organize through the ward office and institute participatory budgeting and resident-led zoning and development boards. We will make serious changes to how the ward office is engaging with the people who live here.

    And if we don’t win, we have movement institutions: we have the 11th Ward Independent Political Organization, we have DSA. We need to make sure we’re actually organizing people into groups where we can continue to grow what we’re doing. I’m really interested in where we are going to take this.
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    Filed Under
    #United_States #Politics #Cities #racism #democratic_socialists_of_america #Chicago_City_Council

    A Live Chat with Ambria Taylor, 11th Ward Alderperson Candidate!
    https://www.youtube.com/watch?v=P9VYjSzwN_Q

    6 Candidates Are Challenging Ald. Nicole Lee In 11th Ward Race
    https://blockclubchicago.org/2023/01/11/six-candidates-are-challenging-ald-nicole-lee-in-the-11th-ward

    Two teachers, a veteran police officer, a firefighter and an attorney are among the challengers looking to unseat Lee, who was appointed to the City Council seat in 2022.

    Ambria Taylor | Chicago News | WTTW
    https://news.wttw.com/elections/voters-guide/2023/Ambria-Taylor

    Chicago DSA Endorses Ambria Taylor and Warren Williams
    https://midwestsocialist.com/2023/01/11/chicago-dsa-endorses-ambria-taylor-and-warren-williams-post-petiti

    #USA #Chicago #southside #Rassismus #Armut #Gewalt #Korruption #Sicherheit #Politik #Organizing

  • Behördenchaos: Was man erlebt, wenn man das neue „Berlin Ticket S“ benötigt
    https://www.berliner-zeitung.de/open-source/soziales-armut-buergergeld-bvg-ersatzverfahren-fuer-ermaessigte-ein

    9.2.2023 von Michael Hellebrand - Der Berlin-Pass wurde abgeschafft. Unser Autor, selbst armutsbetroffen, kritisiert: Das Ersatzverfahren für ermäßigte Eintritte und Fahrkarten ist unzureichend.

    Ich schreibe diesen Text als armutsbetroffener Mann, stellvertretend für alle finanziell schwachen Menschen in Berlin. Einige von uns sind im Stadtbild deutlich sichtbar und können nicht mehr ignoriert werden. Dies sind die allerärmsten Menschen. Ohne Wohnung hausen sie im Freien und die Geflüchteten in Sammelunterkünften, manchmal auf 3 Quadratmetern pro Person. Die meisten von uns Armen sind jedoch unsichtbar. Es sind Arbeitslose, Minijobber, Aufstocker, Rentner oder BU-Rentner oder einfach nur arme oder kranke Menschen. Aber dieser Personenkreis hat meistens zumindest (noch) eine Wohnung und zusätzlich die Grundsicherung von circa 503 Euro pro Monat zum „Leben“.

    Mit diesen Zeilen möchte ich Sie darauf aufmerksam machen, dass auch in Berlin hinter jedem der circa 500.000 Bezieher von Bürgergeld mindestens ein Mensch steht. Ein Mensch mit Gefühlen und einer Restwürde. Eben diese Menschenwürde wird immer öfter in Abrede gestellt, offensichtlich weil wir angeblich nichts mehr leisten und als Konsumenten für den Überwachungskapitalismus uninteressant und nicht mehr zu gebrauchen sind. Unnütz, ausgesondert, lästig.

    Einschlägige Medien hetzen sogar pauschal gegen uns. Dort werden wir als Schmarotzer, Faulpelze, Tunichtgute oder Wirtschaftsflüchtlinge diffamiert. Natürlich möchte kaum jemand mit solchen Menschen zu tun haben oder gar selbst dazugehören. Die Angst, als arm stigmatisiert zu werden, scheint riesig zu sein. Wenn es doch so ist, wird es geleugnet, denn unnütz beziehungsweise auf staatliche Unterstützung angewiesen zu sein, gilt als der vielleicht größte Makel. Das brauche ich wohl niemandem erklären.

    Scheinbar instinktiv verhalten sich die meisten Menschen folgerichtig. Sie schämen sich, werden depressiv, bleiben zu Hause und isolieren sich. Dort sitzen sie viel zu oft und viel zu lange einen Winter lang alleine, oft mit unterdessen gedrosselter Heizung und ohne Licht vor dem Fernseher. Etwas anderes können sie sich ohnehin nicht leisten. Und ihr Winter ist lang. Oft für den Rest ihres Rentnerlebens.

    Um hin und wieder doch der Einsamkeit entfliehen zu können, gab es bis Ende 2022 den sogenannten Berlinpass. Damit konnte man sich bisher bei Veranstaltungen, im Theater oder im Schwimmbad ausweisen, um seinen Anspruch auf eine Ermäßigung geltend zu machen. Dieser Ausweis wurde nach der Vorlage eines entsprechenden Leistungsbescheides von den Bürgerämtern einfach und unbürokratisch ausgestellt. Während der Pandemie jedoch ausnahmslos schriftlich – ohne Publikumsverkehr. Bei der Umstellung auf das Bürgergeld wurde von der Verwaltungsbehörde diese temporäre Vorgehensweise offensichtlich als Vorlage genommen, um diesen lästigen Verwaltungsakt endgültig ganz loszuwerden.

    Mit Hand geklebte QR-Codes statt Berlinpass

    Die Umstellung auf das Bürgergeld steckt bis jetzt in einer „Übergangsphase“ fest, die alle Berechtigten ohne weitere Informationen lässt. Offensichtlich gab es einen viel zu kurzen Vorlauf, um den betroffenen Personenkreis zu informieren und die notwendigen Änderungen in der Verwaltung durchzuführen. Die Infos in den Medien müssen reichen. Auch die dort angekündigten, neuen „Berechtigungsnachweise“ der Bürgerämter sind bis heute nicht bei allen Berechtigten angekommen. Und wenn doch, dann funktionieren diese auf der entsprechenden Homepage der BVG oft nicht.

    Soll heißen: Viele Grundsicherungsberechtigte warten auf ein Schreiben, auf welchem von den Mitarbeitern des Amtes zuvor „händisch“, also per Hand, ein QR-Code aufgeklebt worden ist. Dieser individuelle Code soll zusammen mit den Daten des Personalausweises, des Leistungsbescheides der Leistungsbehörde und einem Foto auf der entsprechenden Internetseite der BVG eingescannt und hochgeladen werden. Wer dazu nicht in der Lage ist, ist schon mal raus, denn es ist derzeit der einzige Weg, um an eine VBB-Kundenkarte zu kommen. Ab dem 01.04.2023 soll es dann auch einen schriftlichen Papierweg geben, wenn es kein Aprilscherz ist. Stellt man den Antrag dann ab dem 1. April schriftlich, ist man bis zur Bearbeitung der BVG ganz ohne gültigen „Berechtigungsnachweis“.

    Die Bearbeitung der Online-Anträge seitens der BVG nimmt dann wiederum Zeit in Anspruch. Man wartet also und in dieser Zeit fragt man sich, was gerade die BVG zu so einer – vom Datenschutz wohl kaum gedeckten – Stellvertreter-Aufgabe berechtigt, warum sie dafür ausgewählt worden ist und warum sie diese so bereitwillig übernimmt. Als hätte die BVG nicht genug mit sich selbst zu tun.

    Die Berliner Bürgerämter sind bekanntermaßen durch den massiven Stellenabbau seit 2001 (arm, aber sexy) vollkommen überlastet. Haben sie vielleicht gegen diesen Verwaltungsakt rebelliert? Das könnte naheliegen. Nun müssen sie jedoch stattdessen eine Wahlwiederholung und die Handarbeit des QR-Codes stemmen. Und das dauert eben. Aus dem einfachen Ausstellen des bisherigen Nachweises ist ein datenschutzrechtlich bedenkliches, behördliches und vor allem vollkommen überflüssiges Wirrwarr mit einem großen Aufwand entstanden.

    Das Resultat: Wirrwarr mit großem Aufwand

    Aber dies ist nur ein weiteres sehr typisches Beispiel vom Durcheinander in der Berliner Verwaltung. Niemand möchte die Verantwortung tragen. Wer zerschlägt nur endlich den Gordischen Knoten in der Verwaltung, anstatt diese immer mehr zu verkomplizieren. Jetzt sollen sich die bedürftigen Bürger bei der BVG legitimieren und sensible Daten preisgeben? Ja, sitzen denn im Senat von Berlin und den Behörden keine Fachleute, die dieses datenrechtlich unhaltbare Dilemma im Vorfeld hätten erkennen sollen; ja hätten erkennen und stoppen müssen? Aber Bürokratie schafft sich selbst niemals ab, das ist Gesetz. Und so wächst das Krebsgeschwür Bürokratie weiter und immer weiter.

    Ein Telefonat mit den zuständigen Datenschützern in Moabit brachte mir die Erkenntnis, dass dort viele gut bezahlte Mitarbeiter sitzen und ohnmächtig auf die Antworten der verschiedenen beteiligten Behörden warten. Und dies teilweise bereits schon seit über einem halben Jahr. Der betreffende Mitarbeiter bestätigte meinen Eindruck von der Unrechtmäßigkeit der derzeitigen Einbindung der BVG in diesen Akt. „Immerhin haben wir erreicht, dass man alle Daten bis auf den Namen auf dem Personalausweis schwärzen darf“, teilte mir dieser Herr mit. Er erschien mir ziemlich hilflos und – zumindest in dieser Angelegenheit – sehr machtlos zu sein.

    Könnte es sein, dass dies genau das Grundproblem unserer Verwaltung darstellt? Zu viele Beteiligte und Unbeteiligte mit zu vielen unklaren Vorgaben und/oder zu wenigen Kompetenzen warten und warten. Warten in gut geheizten Büros. Auch ein Leben lang. Aber immerhin in einem festen, gut bezahlten, unbefristeten und unkündbaren Arbeitsverhältnis. In der heutigen Zeit der Jackpot.

    Ich mutmaße und wünsche mir als Betroffener, dass die Wiederkehr des alten Berlinpasses bevorsteht. Dies wäre wohl die einfachste Lösung. Aber wir sind in Berlin. Einfach? Doch nicht mit uns – den Unsichtbaren.

    Dieser Beitrag unterliegt der Creative Commons Lizenz (CC BY-NC-ND 4.0).

    #Berlin #Armut #Verkehr

  • Neel Doff, Keetje Tippel (Jours de famine et de détresse #1911)
    https://fr.m.wikisource.org/wiki/Jours_de_famine_et_de_d%C3%A9tresse/Texte_entier

    Amsterdam 1869 - 1871

    Über den Unterschied zwischen Mietkutschern, modernen Arbeitern, und Privatkutschern, abhängigen Domestiken

    La première fois qu’il monta sur le siège d’un fiacre, il fut honteux comme d’une déchéance, mais plus tard il en jugeait autrement, et disait que les cochers de fiacre étaient des ouvriers, tandis que les cochers de maître étaient des domestiques.

    Abeitsbedingungen: keine Schutzkleidung, aufgebrochene trockene Haut

    Ce bon fauteuil en paille, si père l’avait le soir pour se reposer, comme il y serait bien, appuyé contre le dossier, une chaufferette aux pieds pour sécher ses bas ! Car il souffre beaucoup, père, quand, par ce temps, il doit nettoyer les voitures en plein air : ses mains sont gonflées comme des pelotes, et de grandes crevasses le torturent la nuit, au point de l’empêcher de dormir.

    Abeitsbedingungen: Abhängigkeit von Trinkfeldern, Basislohn zahlt kaum Miete der Unterkunft

    Quel froid ! Quel froid ! On ne m’a pas laissé faire une seule course, aujourd’hui : j’ai dû, toute la journée, nettoyer des voitures à la rue, par cette température. Les cochons ! ils savent bien cependant que, quand je ne reçois pas de pourboires, nous sommes sans pain : ce n’est pas avec leurs trois florins par semaine que je puis entretenir un ménage de neuf enfants.

    Folgen des verfestigten Elends: Verlust der Empathie und aller sozialen Maßstäbe, Akzeptanz jeglicher Lebensbedingungen, Unfähigkeit zu Empöhrung oder Auflehnung

    Croyant que c’était la police, je m’étais jetée, terrifiée, contre le géant, ce qui le mit encore en joie. Il m’entoura de ses bras, et riant doucement, murmura :

    -- Allons, petite ! Allons, petite !

    Comme j’étais bien sur cette immense poitrine ! Pour la première fois de ma vie, je me sentis protégée. Tous les sbires de la ville n’auraient pu dénouer les bras qui m’enserraient : il leur aurait dit, amusé :

    -- Voyons, c’est une petite, une petite.

    Une fois dans la rue, je galopai vers ma mère. Nous achetâmes de pauvres vivres, et, dès le bas de l’escalier, nous criâmes aux enfants :

    -- Nous avons du pain ! nous avons du pain !

    Au bout de quelques jours, notre ménage marcha régulièrement, comme jamais il n’avait marché. Les enfants mangeaient aux heures, étaient lavés, allaient à l’école ; ma mère vaquait au ménage ; mon père ne buvait plus : il faisait le café et pelait les pommes de terre. Seule, je rageais et pleurais, accroupie sur le vieux canapé qui me servait de lit.

    La simplicité avec laquelle mes parents s’adaptaient à cette situation, me les faisait prendre en une aversion qui croissait chaque jour. Ils en étaient arrivés à oublier que moi, la plus jolie de la nichée, je me prostituais tous les soirs aux passants. Sans doute, il n’y avait d’autre moyen pour nous de ne pas mourir de faim, mais je me refusais à admettre que ce moyen fût accepté sans la révolte et les imprécations qui, nuit et jour, me secouaient.

    J’étais trop jeune pour comprendre que, chez eux, la misère avait achevé son œuvre, tandis que j’avais toute ma jeunesse et toute ma vigueur pour me cabrer devant le sort.

    #Kutscher #Armut #Arbeiterklasse

  • Trailerpark in Ost-Berlin: Wenn nur ein Container zum Wohnen bleibt
    https://www.berliner-zeitung.de/mensch-metropole/trailerpark-in-ost-berlin-wenn-nur-ein-container-zum-wohnen-bleibt-


    So schnell kanns gehen. Scheidung. Depression, schwuppdiwupp bist du obdachlos. Trailerparks in Berlin sind eine teure Notlösung.

    26.10.2022 von Jenni Roth - Jennifer Nakamura lebt auf 21 Quadratmetern in einem Container in Karlshorst. Und auch dieses Zuhause ist bedroht. Berlin und die Wohnungsnot – unsere Serie.

    Die Tage mit Sonne sind die besten. Dann sitzt Jennifer Nakamura, eine schmale Person mit einem rotblonden Zopf und feinen Gesichtszügen, mit einem Kaffee zwischen ihren Traumfängern auf der Dachterrasse und lauscht dem Rauschen der Blätter des großen Lindenbaums über ihr. So ein Baumhausgefühl, sagt sie. Und keine Nachbarn in der Nähe. „Ich bin hier so nah an der Natur. Ein so schöner Ort.“

    Nakamura, 38 Jahre alt, lebt in einem Doppelstockcontainer in Berlin. Über eine Metallrampe gelangt man auf ihre Terrasse. Ihre Unterkunft misst 21 Quadratmeter, hat ein kleines Fenster mit einer pinkfarbenen Gardine, und der Blick geht auf ungefähr 50 andere Container und Wohnwagen: Hier am Hönower Wiesenweg in Karlshorst steht einer von vielen Trailerparks der Hauptstadt. Siedlungen, wie man sie aus den USA etwa schon länger kennt, wo die Menschen dauerhaft in Wohnmobilen leben, weil sie keine bezahlbare Wohnung finden. In Städten wie San Francisco gehören sie schon fast zum Stadtbild. In Berlin stehen sie abseits, halb versteckt, und gelten als Symbol für Verarmung oder sogar Verslumung. Für nichts Gutes jedenfalls, findet die Frau, die vor dem Nachbargrundstück den Bürgersteig vor ihrem Haus fegt. Sie wohne seit 51 Jahren in dieser Straße, und noch nie sei hier so viel Polizei patrouilliert. „Überhaupt Polizei!“

    Naja, sagt Nakamura, es sei eben kein Familienkranz auf dem Gelände. Wenn sie erzählt, klingt sie kindlich, offen, als würde sie über jeden Satz staunen oder über die ganze Welt. Und sie hat ihre eigene. Natürlich gebe es schon auch mal Streit auf dem Gelände oder Geschrei. Aber das sei doch in den besten Familien so – da sei ja auch immer jemand, den man nicht leiden kann. Aber verstehen kann sie das Misstrauen von draußen schon: Als sie zum ersten Mal hier war, im Sommer, um das Gelände zu besichtigen, seien ihr auch als Erstes die Sperrmüllberge auf der Straße aufgefallen. Der mit Graffiti besprühte Wellblechzaun. Aber drinnen sei es überraschend sauber gewesen. Ein bisschen wie in einem Western habe sie sich gefühlt, mit dem holzverkleideten Wohnwagen, auf den man als Erstes zuläuft. Mit den Containern, teils zwei übereinander, links und rechts, mit dem steinigen, staubigen Boden.

    Manche Wohnwägen haben kleine Vorgärten, mit Kletterpflanzen, Kunstrasen oder Gartenzwergen. An der Wand eines Containers hängt eine Dartscheibe, vor einem anderen stehen zwischen Plastikstühlen leere Bierflaschen und Schnapsgläser. Auf Nakamuras Terrasse steht nur eine Puppenküche für ihre Kinder, und an der Wand kleben ein paar Sticker von den Vorgängern. Im Container stehen – das ist die Standardmöblierung – Bett, Schrank, Fernseher, Sideboard. Dazu hat Nakamura einen Herd mit zwei Platten gekauft und einen Reiskocher: „Sushireis schmeckt sonst einfach nicht.“ Und alles Japanische sei nun mal ihre große Leidenschaft. Außerdem musste das Bücherregal mit, für ihre Buddha-Figuren und die Fantasy-Romane.

    Vor allem aber hat Jennifer Nakamura einen kleinen Luxus, ein Minibad: ein abgetrennter Raum mit Tür, Toilette und Waschmaschine. Den hätte ihr Fast-Nachbar auch gern. „Die hygienischen Bedingungen sind schwierig“, sagt der Mitfünfziger, zeigt auf die Containerreihe mit den Gemeinschaftsbädern, wie man sie von Campingplätzen kennt. Um seinen Wohnwagen hat er einen kleinen Zaun gezogen – wegen des Hundes, sagt er, eine Mischung aus Bulldogge und Rottweiler. Er sei arbeitslos und aus seiner Wohnung habe er ausziehen müssen, sein Untermieter gleich mit. Der wohne jetzt im Wohnwagen nebenan. Seit zwei Jahren. Er klingt verbittert und gleichzeitig resigniert. Eine „richtige Wohnung“ hätte er gern. Aber wie die meisten anderen hier hat er auf dem Wohnungsmarkt keine guten Karten. „Viele von den Leuten hier waren schon im Knast. Oder Obdachlose. Naja, Leute, die nicht klarkommen.“ Stolze 550 Euro zahle er für seinen Wagen, 500 Euro zahlt eine andere Frau ein paar Container weiter.

    „Luxuspreise!“, sagt Kevin Hönicke. „Ich finde das dreckig, dass man arme Menschen so ausnützt, anstatt nach einer sozialen Lösung zu suchen.“ Der Lichtenberger Bezirksstadtrat sagt, er müsse den Trailerpark in Karlshorst unbedingt auflösen. Er und sein Amt streiten sich mit dem Eigentümer, der das Gelände an verschiedene Vereine und GmbHs vermietet. Die betrieben illegale Geschäfte auf Kosten der Steuerzahler, sagt Hönicke.

    Illegal, weil die Trailer auf einem Gewerbegrundstück stehen, auf dem eine Vermietung nie genehmigt worden und rechtlich auch gar nicht möglich sei, sagt Hönicke: „Diese Art und Weise des Wohnens ist in Berlin einfach nicht erlaubt“. Wohnen müsse in Berlin in festen Häusern „zu gesunden Wohnverhältnissen“ stattfinden. Und auf Kosten der Steuerzahler, weil das Jobcenter die Miete für die meisten Anwohner übernimmt. 500 Euro für durchschnittlich 20 Quadratmeter sind zwar ein Festpreis, es kommen keine Strom- oder Wasserkosten dazu. Aber hochgerechnet würde das etwa für eine 50-Quadratmeter-Wohnung 1200, 1300 Euro bedeuten. Ein hübscher Verdienst jedenfalls für die Vermieter.

    Jennifer Nakamura weiß gar nicht genau, wie hoch die Miete für ihren Container ist. Auch ihre Miete zahlt das Jobcenter, seit sie im vergangenen Herbst ihre Arbeit in einem Schmuckgeschäft kündigte wegen ihrer Depressionen. Deshalb ist sie auch seit knapp einem Jahr krankgeschrieben.

    Dabei wirkte ihr Leben nach außen fast makellos: schöne Wohnung, zwei entzückende Kinder mit einem Mann, den sie liebte – ein Japaner. Den hatte sie bei einem Japanisch-Stammtisch kennengelernt: „Ich wusste schon immer, dass ich einmal einen Japaner heiraten würde.“ Es war Liebe auf den ersten Blick, sagt sie. Nach einem Jahr heirateten sie. Und dann lief doch alles anders, als sie sich das erträumt hatte. Erst zog sie von Berlin nach Stuttgart, wo er lebte, und wo sie eigentlich nie hinwollte. Nach zwei Jahren überredete sie ihn, zurückzuziehen, und fing an, eine Wohnung zu suchen. Monatelang. Bis sie diese Anzeige für eine Traumwohnung mit vier Zimmern und Garten entdeckte. Sie schrieb eine Mail, in der sie alles offenlegte: Die Familie wolle zurück nach Berlin. Sie hätten kaum Geld und keinen Job, würden sich aber kümmern. Sie bekam die Wohnung. Und mit der Eigentümerin, die im Haus unten wohnte, eine Ersatzoma für die Kinder gleich mit dazu.

    Ihre Kinder sind unter der Woche nicht bei ihr. Umso wichtiger ist Jennifer Nakamura ihr Hund Lucy.

    Aber Jennifer Nakamura wurde nur noch unglücklicher. „So ein toller Ort im Grünen – und ich fühlte mich wie im goldenen Gefängnis.“ Sie beschreibt Einsamkeit, die sie in der Ehe gespürt habe. Als dann noch ihr Hund starb, sei etwas in ihr zusammengebrochen.

    Ihre Depressionen wurden lebensbedrohlich, Nakamura lieferte sich selbst in eine Klinik ein. Als die Therapeuten sie fragten, was Zuversicht in ihr Leben bringen könnte, sei ihr klar geworden, dass sie sich trennen musste, sagt sie. Dann war sie diejenige, die nach der Trennung aus der Wohnung ausziehen musste: Die Vermieterin wollte nicht, dass das Jobcenter die Miete finanzierte.

    Erst wollte sie zusammen mit den Kindern, drei und fünf Jahre alt, ausziehen. Drei, vier Monate lang, sagt Nakamura, habe sie nichts anderes gemacht, als abends bis zum Umkippen das Internet zu durchforsten. Dann starb ihre Großmutter, die für sie, die als Heimkind ohne Eltern aufgewachsen war, alles bedeutete. Trotzdem wachte sie nachts auf und scannte neue Angebote. Verschickte Hunderte Anfragen. Zweimal wurde sie eingeladen. Aber da stand sie dann in einer Traube von 40, 50 Menschen.

    Die junge Mutter schraubte ihre Ansprüche nach unten. Drei Zimmer, zwei Zimmer, ein Zimmer, WG-Zimmer. Auf Ebay Kleinanzeigen fand sie nicht viel – außer übergriffigen Angeboten: „Ich habe ein Zimmer für dich und helfe dir bei allem. Nur leider geht die Tür nicht zu.“ Oder: „Du hast so schöne rote Haare.“ Sie weitete ihre Suche aus, auf Facebook-Gruppen zu alternativem Wohnen und das Stichwort „Container“.

    Dann ging alles ganz schnell. Anschauen, unterschreiben, drei Wochen später einziehen, Ende August war das. Nakamura wusste sofort, das passt. Nicht zuletzt war da Klaus, der Sozialarbeiter: „Der hat immer ein offenes Ohr. Und er ist sehr seriös, ohne Hintergedanken“, sagt sie. Und auch ihr neuer Hund war willkommen: ein Rauhaardackelmix, zwei Jahre alt. Lucy könne hier ohne Leine laufen und mit den anderen Hunden spielen. Und von denen gibt es einige, dazu Katzen.

    Die Haustiere sind für Wolfgang Ziegler, dem das Grundstück gehört, ein Sinnbild für das „fehlende soziale Fingerspitzengefühl der Obrigkeiten“, die Haustiere in anderen Unterkünften oft nicht gestatten. Er wolle, dass die Bewohner hier frei leben können, sagt er. Deshalb habe er auch Obdachlose aus dem Camp in der Rummelsburger Bucht hergeholt. Das Camp, dass der Bezirk Lichtenberg unter Stadtrat Kevin Hönicke vergangenen Winter räumen ließ. „Der hat die Leute da in der Kälte rausgeprügelt und in Unterkünfte verfrachtet, wo sie nicht bleiben konnten“, sagt Ziegler. Zumindest nicht selbstbestimmt: In Obdachlosenheimen etwa gibt es feste Türschlosszeiten, Tiere, Alkohol oder Drogen sind verboten.

    Man trifft im Trailerpark in Karlshorst auch mittags schon mal Bewohner, die sich nur noch lallend unterhalten. „Ja und“, sagt Nakamura: „Leben und leben lassen“, das sei ihre Haltung. Die rund 90 Mitbewohner seien schon nach wenigen Monaten eine Art Ersatzfamilie geworden. Sie fühle sich angekommen. Auch wenn ihre Kinder sehr fehlten. An den Wochenenden, wenn sie bei ihr sind, könnten sie mit in dem schmalen Bett schlafen. Eine Dauerlösung sei das nicht. Außerdem kümmere sich ihr Ex-Mann, sie seien ein „super Team“, sagt Nakamura. Wenn ihre Kinder sie besuchen, ermahne sie sie nur, sich bei Gewaltwörtern lieber die Ohren zuzuhalten. Böswillig sei hier keiner, im Gegenteil. Sie hätten schon ein Fahrrad geschenkt bekommen und Walkie-Talkies. Einer der Bewohner, ein Punk, habe im Sommer aus einem Schlauchboot einen Pool gemacht. Und dann sei auch noch ein alter Bekannter aus ihrer Ausbildungszeit in Kladow nebenan eingezogen, der lasse sich auch gerade scheiden.

    Aber womöglich werden sie alle bald wieder umziehen müssen. SPD-Politiker Hönicke jedenfalls glaubt fest daran, dass es nicht mehr lange dauert, bis das Gericht seinem Nutzungsverbot zustimmt. Andererseits: Es gibt diverse vergleichbare Wohnprojekte in Berlin, die zwar nicht offiziell genehmigt, dafür aber geduldet werden. Mehr als zehn Jahre hätten sich weder Bezirk oder Bauamt an ihn gewandt, sagt Wolfgang Ziegler, der Eigentümer. Bis vor zwei Jahren, bis zu dem Zeitpunkt, als der Immobilienriese Bonava begann, direkt gegenüber mit der „Parkstadt Karlshorst“ ein gigantisches Wohnprojekt hochzuziehen: Mehr als 1000 Eigentums- und Mietwohnungen, mit eigener Kita, Schule und 1000 Quadratmetern Grünfläche.

    Neben Bonava hätten ihm noch andere Projektentwickler Kaufangebote gemacht, sagt Ziegler, bis zu 1,6 Million Euro hätten sie ihm geboten. Aber genauso wenig wie die Frau, die seit 51 Jahren auf dem Nachbargrundstück nebenan lebt, will er verkaufen – das sei weder zeit- noch berlingemäß. Ziegler sagt, er sei sicher, dass der Bezirk nur wegen der Neubauten gegen sein Grundstück kämpfe: „Bewohner in so einem Luxusviertel wollen natürlich nicht auf einen Trailerpark mit Leuten gucken, die es im Leben vielleicht nicht so gut getroffen haben.“ SPD-Politiker Hönicke hält dagegen: Man beanstande das Projekt, seit ein Kollege es zufällig bei der Wohnungssuche entdeckt habe. Und der Trailerpark sei nun mal illegal.

    Zwar hat Hönicke versprochen, die Bewohner im Fall einer Räumung notfalls in Hostels unterzubringen. Aber da will Jennifer Nakamura auf keinen Fall hin. Für sie wäre das Ende des Trailerparks ein harter Schlag. Aber egal wie, von einem Wunsch wird sie nicht abrücken: Berlin, sagt Nakamura, verlasse sie nie wieder.

    #Berlin #Lichtenberg #Karlshorst #Hönower_Wiesenweg #SPD #Wohnungsnot #Armut #Wohnen #Immobilien

  • Berliner lebt von 317 Euro
    https://www.berliner-zeitung.de/mensch-metropole/berliner-ex-koch-hat-317-euro-netto-ich-habe-manchmal-nur-4-euro-am

    Ein großer Teil der Berliner Fahreinnen und Fahrer von Taxis und Mietwagen lebt wie in diesem Artikel geschildert. Er zeigt beispielhaft, wie sehr Menschen aus allen im Gesetz gegen die Schwarzarbeit (SchwarzArbG) genannten Branchen von Armut und Altersarmut betroffen sind. Die ist für sie fast unvermeidbar, egal wie sehr sie sich anstrengen:

    1. im Baugewerbe,
    2. im Gaststätten- und Beherbergungsgewerbe,
    3. im Personenbeförderungsgewerbe,
    4. im Speditions-, Transport- und damit verbundenen Logistikgewerbe,
    5. im Schaustellergewerbe,
    6. bei Unternehmen der Forstwirtschaft,
    7. im Gebäudereinigungsgewerbe,
    8. bei Unternehmen, die sich am Auf- und Abbau von Messen und Ausstellungen beteiligen,
    9. in der Fleischwirtschaft,
    10. im Prostitutionsgewerbe,
    11. im Wach- und Sicherheitsgewerbe. ...

    ... müssen Beschäftigte nach § 2a Abs. 1 Nr. 1 bis 10 SchwarzArbG bei der Arbeit Personalausweis und Sozialversicherungsausweis mit sich führen. Damit kann leichter geprüft werden, ob sie bei der Sozialversicherung gemeldet und für sie Lohnsteuer gezahlt wird. Gegen Niedriglöhne und Altersarmut hilft das Gesetz jedoch nicht.

    Die einfachen abhängig Beschäftigten und kleinen Selbständigen dieser Branchen befinden sich in einer Zwickmühle. Entweder sie akzeptieren, dass ihnen ein großer Teil des Lohns unter der Hand ausgezahlt wird, und sie damit höhere Transferleistungen erhalten. Beide Einnahmequellen zusammen ermöglichen ein normales Leben oberhalb der Armutsgrenze. Oder sie sind ehrlich und leben auch während der Zeit ihrer Erwerbstätigkeit in Armut. Die Altersarmut ist ihnen in jedem Fall sicher.

    Unter diesen Umständen fällt die Entscheidung so gut wie immer für „das schnelle Geld“, was neben verschärfter Altersarmut weitere Probleme und Gefahren mit sich bringt.

    – Die Bosse locken ihre Arbeiterinnen und Arbeiter in eine Gaunergemeinschaft, in der Gehorsam und Loyalität rücksichtslos durchgesetzt werden.
    – An das Erstreiten besserer Entlohnung ist nicht zu denken.
    – Gewerkschaftliche Durchsetzung besserer Arbeitsbedingungen wird massiv erschwert.
    – Betriebrat? Fehlanzeige! Damit entfallen Mitsprache im Betrieb und Einigungsstellen bei Konflikten zwischen Boss und Belegschaft.
    – Der mächtige Boss verhandelt immer mit einzelnen schwachen, armen und machtlosen Angestellten.
    – Kein Kündigungsschutz, oft gibt es kein Kranken- und Urlaubsgeld.
    – Der Boss kann sich wie ein kleiner König aufführen, unmögliche Arbeitszeiten oder unbezahlte Arbeit anordnen.
    – Und nicht zuletzt gilt, „die Kleinen henkt man, die Großen läßt man laufen“, und wenns die doch mal erwischen sollte, greift „mitgefangen, mitgehangen“.

    Die innerbetrieblichen Beziehungen sind deshalb oft von rüde: „Chef, wenndu nicht zahlst, ich fahr das Auto gegen Baum.“

    Hier nun der Artikel über den frühverrenteten Koch. Ein tapferer Mann, dem wie den meisten seiner Schicksalsgenossinnen und -genossen nach Jahrzehnten harten Schuftens noch der bescheidendste Wohlstand verwehrt wird und immer noch glaubt, was man ihm eingebleut hat: „Hättest Du in die Sozialversicherung eingezahlt, würde es Dir jetzt nicht so gehen!“ Das ist eine Lüge, ein millionenfach gebrochenes Versprechen für Niedriglöhner, mit dem Menschen in lebenslange Ausbeutung gezwungen werden.

    20.8.2022 von Anne-Kattrin Palmer - Jeder hat seine Probleme, jeder schultert sie anders. Michael M. nickt, sagt: „Ja, das ist so. Ich wäre auch gerne gesund, aber Stress ist für mich Gift.“

    Der Berliner, den wir in einem Park treffen, ist 57 Jahre alt. Er ist groß und kräftig, hat kurze, halb graue Haare und trägt Jeans und ein Leinenhemd. „Ich habe immer auf mein Äußeres geachtet, man soll mir meine Situation nicht ansehen.“ Wir setzen uns auf eine Bank im Schatten mit Blick auf eine Kirche.

    Michael M. ist seit sechs Jahren erwerbsgemindert und musste seinen Beruf aufgeben. „Ich bin gelernter Koch und habe mein halbes Leben in der Gastronomie und Hotellerie verbracht.“ Er sei immer selbstständig unterwegs gewesen, erzählt er. „Ich bin durch ganz Deutschland gereist und oft in Restaurants eingesprungen, wenn Not am Mann war.“

    Als Caterer hat er auch gearbeitet, er belieferte Messen und Events. „Als ich den Beruf erlernt habe, in den 80ern, hieß es schon, dass Koch ein Mangelberuf ist. Das ist heute noch so, überall fehlen die Kräfte in der Gastronomie. Auch, weil es ein Knochenjob ist.“

    Er selbst musste mit 51 Jahren aufhören, sagt er. „Ich war aufgebraucht und ausgelaugt.“ Oft habe er sechs, sieben Tage die Woche gearbeitet, vom Morgen an bis Mitternacht. „Gastronomie ist ein hartes Geschäft. Und irgendwann hat mein Körper Signale geschickt, dass er es nicht mehr mitmacht.“

    Michael M. konnte plötzlich keinen Bus und keine Bahn mehr betreten, traute sich nicht mehr in Kaufhäuser. „Es waren Angstzustände, ausgelöst durch die Belastung.“
    Serie: Kassensturz – so viel bleibt den Berlinern zum Leben

    Lebensmittel sind teurer geworden, Heiz- und Energiekosten gestiegen. Der Winter wird hart, heißt es, die Prognosen sind düster. Wie können Berliner und Berlinerinnen das schultern?
    Wir treffen Angestellte, Rentner, Gastronomen und viele mehr, die uns offen darlegen, wie viel sie verdienen und was davon jetzt und künftig noch übrig bleibt. Alle, die uns einen Blick in die Haushaltskasse erlauben, bleiben auf Wunsch anonym.
    Wenn auch Sie uns Ihre Lage schildern wollen, können Sie uns gerne schreiben. Kontakt: leser-blz@berlinerverlag.com

    Damals riet ihm sein Arzt, die Notbremse zu ziehen und einen Rentenantrag zu stellen. „Ich habe seinen Rat befolgt, und ruckizucki hat man mich in Rente geschickt.“ Seitdem erhält er monatlich von der Deutschen Rentenversicherung 52,50 Euro. Er sagt: „Es ist so wenig, weil ich damals als dummer Mensch nicht eingezahlt habe. Daher beklage ich mich nicht und jammere nicht rum.“ Dafür habe er vorher gut verdient. „So zwischen 2500 und 5000 Euro im Monat“, sagt er, fügt hinzu: „Aber wenn es einem gesundheitlich schlecht geht, nutzt kein Geld der Welt.“

    Michael M. lebt heute von seiner Mini-Rente, die allerdings verrechnet wird, und von Grundsicherung. Monatlich erhält er 1066,23 Euro. So steht es auf dem Papier, überwiesen bekommt er 841,24 Euro. Abgezogen sind bereits 220,30 Euro für die Krankenkasse, inklusive Pflegeversicherung. Den Betrag überweist die Behörde direkt an die Kasse.

    Er kramt in seinen Unterlagen. „Der Rest steht mir persönlich zur Verfügung. Davon zahle ich aber auch Miete und Nebenkosten“, sagt er. Seine 70 Quadratmeter große Wohnung kostet 411,47 Euro monatlich, hinzu kommen derzeit Heizkosten in Höhe von 22 Euro und Strom mit 43 Euro. „Ich habe einen alten Mietvertrag. und der ist Gold wert.“
    Kassensturz: Berliner überlegt sich genau, wie er sein Geld einteilt

    Der Vermieter habe ihm allerdings schon angekündigt, dass er die Miete um 15 Prozent erhöhen muss. Auch die Heizkosten würden sich wahrscheinlich um das Vierfache erhöhen. „Das zahlt das Amt. Aber trotzdem werde ich weiter sparsam leben. Ich drehe meine Heizung selten auf. Im Winter kann ich auch mit einem dicken Pullover in einem Zimmer sitzen.“ Ansonsten zahle er noch 4,90 Euro Kontoführungsgebühren sowie 4,99 für seine Handy-Flatrate. Außerdem bezieht er Prepaid-Internet. „Das kostet mich 29,99 im Monat.“ Hinzu kommen Drogerieartikel, manchmal Medikamente, die Kosten für den Waschsalon.

    Michael M., der in Charlottenburg geboren ist, sagt: „Ich habe 317,32 Euro zum alltäglichen Leben übrig und haushalte damit wie ein Kaufmann. Darin bin ich geübt. Man muss sich sehr wohl überlegen, wie man sich das Geld einteilt.“ Er habe etwa zehn Euro am Tag, manchmal seien es aber auch nur sieben oder vier Euro. „Falls plötzliche Ausgaben anstehen.“
    Der Berliner durchforstet täglich alle Prospekte

    Lebensmittel sind ihm wichtig. „Das Essen muss gut sein, dann ist die Laune auch besser.“ Er lächelt und sagt als Mann vom Fach, welches System ihm hilft, über die Runden zu kommen: „Der Gewinn liegt im Einkauf. Ich studiere alle Prospekte, notiere mir Artikel, die mir gefallen.“ Täglich klappere er alle Supermärkte in seiner Umgebung ab, immer auf der Jagd nach Sonderangeboten.

    „Das tut mir gut. Ich komme raus und treffe Menschen.“ Heute gibt es zum Beispiel Schnitzel zum Mittagessen. „Bei einem Supermarkt gab es Schweinerücken im Angebot. Das Kilo 5,99 Euro. Ich habe mir ein halbes Kilo gegönnt. Daraus kann ich Schnitzel machen, Rouladen und mehr. Dann habe ich drei Tage zu essen.“ Er sei schließlich gelernter Koch. „Ein Bekannter von mir lebt nur von Essen aus Büchsen. Das könnte ich nicht.“

    Manchmal geht er zum Wochenmarkt in Charlottenburg, es ärgert ihn, dass dort die Currywurst inzwischen 3,20 Euro kostet. Er sagt: „Gut, die müssen bei den steigenden Energiepreisen auch reagieren. Doch mir tut jeder Euro mehr weh.“ Er sei aber clever, habe sich eine andere Bude gesucht. „Dort kostet die Wurst noch 2,20 Euro.“ In Siemensstadt habe er einen weiteren Imbiss entdeckt, bei dem die Wurst nur 1,80 Euro koste.

    An der Kirche auf dem Charlottenburger Wochenmarkt gibt es wöchentlich die Lebensmittel-Ausgabe der Tafel. „Das Angebot nehme ich nicht wahr. Ich fühle mich nicht arm.“ Das sei eine Kopf-Geschichte. „Jetzt, in dieser Situation, habe ich weniger Geld zur Verfügung, aber ich bin immer noch der, der ich war.“ Er zuckt mit den Schultern. „Was mich manchmal ärgert, ist, dass ich mir nichts spontan kaufen kann. Eine meiner zwei Hosen ist zerrissen. Ich kann nicht einfach losgehen und mir eine neue holen.“

    Am 15. Juli sind überraschend 200 Euro auf seinem Konto angekommen, der Zuschuss des Staates für die Krisenzeit, in der alles teurer wird. „Das Geld lege ich auf die hohe Kante.“ Sollte etwas passieren, habe er ein kleines Polster. „Bei mir gehen immer wieder Haushaltsgeräte kaputt. Das ist schon eine Frechheit, dass die heute nicht mehr so lange halten. Das war früher anders, meine Oma hatte ihren Staubsauger 40 Jahre lang.“ Jüngst haben sein Fernseher und sein Staubsauger den Geist aufgegeben. Er suchte bei Ebay nach einem neuen Modell, fand eines für 50 Euro. „Man muss erfinderisch sein, sonst steht man am Monatsende ohne Geld da. Den Preise für den Fernseher musste ich allerdings von meinem Tagessatz abziehen und konnte weniger einkaufen.“

    Damit habe er klarzukommen. Beim Amt für Soziales habe er auch schon mal ein Darlehen beantragt, wenn ihm etwas in seinem Haushalt in die Brüche gegangen war. „Ich musste einmal sieben Monate auf eine Antwort warten. Daher lass ich das einfach.“ Ansonsten komme er mit den Behörden gut klar. „Ich habe kaum Schwierigkeiten, man findet immer einen Weg.“

    Michael M. besitzt kein Auto, mit den Öffentlichen kann er bis heute wegen seiner Angstphobie nicht fahren. Er hat sich ein Fahrrad gekauft „Damit radele ich überall hin, ob es schneit oder stürmt, das spielt keine Rolle.“ Er fügt hinzu: „Sollte das kaputt gehen, habe ich ein richtiges Problem.“

    Jüngst hat er mal wieder eine politische Debatte verfolgt, wie so oft hat er sich geärgert. Es ging um die vermeintliche „Gratismentalität“ im Zusammenhang mit dem auslaufenden 9-Euro-Ticket, FDP-Chef Christian Lindner benutzte diesen Ausdruck. Michael M. hat sich darüber aufgeregt. „Ich vermisse den Respekt gegenüber Menschen, die eben nicht viel Geld haben.“

    Er lehnt sich zurück, sagt: „Ich habe immer wieder das Gefühl, dass Menschen, die auf staatliche Hilfe angewiesen sind, runtergemacht werden. Als seien sie Gauner und würden dem Staat extra auf der Tasche liegen. Natürlich gibt es solche und solche, aber das kann man doch nicht über einen Kamm scheren“, sagt er und fügt hinzu: „Viele wissen doch gar nicht, wie schwer es ist, über die Runden zu kommen. Manchmal frage ich mich, ob die Politiker noch sagen können, wie viel eigentlich ein Liter Milch kostet.“

    Stattdessen werde eine Politik betrieben, die Menschen sozial ausgrenze. „Die größte Ohrfeige war für mich am Jahresanfang die 3-Euro-Erhöhung der Grundsicherung pro Monat. Das hilft uns kaum. Schon in den Corona-Zeiten sind die Preise in den Supermärkten gestiegen.“ Grundsicherung und Hartz IV müssten doch den Lebensumständen angepasst werden, sagt er. Daher sei es auch richtig, dass die Sozialverbände dagegen klagen.

    Sein „Held“ sei derzeit der Präsident des Deutschen Instituts für Wirtschaftsforschung, Marcel Fratzscher. „Er nennt die Dinge beim Namen“, sagt er. Der Ökonom warnte jüngst vor einer „sozialen Polarisierung“. Die Politik habe die Pflicht, angesichts einer drohenden Gasknappheit für Versorgungssicherheit zu sorgen. „Die Situation ist bedrohlich“, mahnte Fratzscher. Weil die Preise explodiert seien. Laut Fratzscher haben die zwei bislang geschnürten Entlastungspakete nicht die Menschen „am unteren Ende gezielt entlastet“. Rentner und insbesondere Menschen, die Sozialleistungen wie Hartz IV erhielten, seien zu wenig unterstützt worden. Gerade sie hätten aber „keine Schutzmechanismen“, um längere Zeit mit hohen Preisen klarzukommen.

    Michael M. fühlt sich ernst genommen, wenn er so etwas hört. „Ärmere Menschen brauchen mindestens 680 Euro im Monat zum Leben. Das ist angesichts der steigenden Kosten angemessen. Es würde den betroffenen Menschen mehr Spielraum geben.“

    So sehen das auch die Sozialverbände, die nach der Bekanntgabe der Höhe der geplanten Gasumlage sich in dieser Woche wieder in Position gebracht haben und auf schnelle weitere Hilfen des Staates für ärmere Haushalte pochen.

    „Die Bundesregierung darf die Menschen mit kleinem Geldbeutel jetzt nicht allein lassen“, forderte etwa der Präsident des Sozialverbands Deutschland (SoVD), Adolf Bauer. Es brauche jetzt schnell „armutsfeste Regelsätze“ in der Grundsicherung sowie die Einführung der Kindergrundsicherung, sagte er der Funke-Mediengruppe. Er warnte davor, dass die Gasumlage in Höhe von 2,419 Cent die Teuerungsrate in Deutschland nochmals deutlich erhöhen werde: „Auf einen Familienhaushalt kommen zusätzlich zu den gestiegenen Gaspreisen durch die Gasumlage Mehrkosten von mehreren Hundert Euro zu.“ Der Chef des Paritätischen Wohlfahrtsverbands, Ulrich Schneider, twitterte, dass die Gasumlage die Gaspreise durch die Decke gehen lasse. Daher müsse es jetzt ein Entlastungspaket für Einkommensschwache geben und nicht erst im nächsten Jahr.

    Michael M. nickt. „Ich bin gespannt, was uns jetzt noch erwartet und wie wir die Krise stemmen.“ Alexander von Schönburg habe 2005 in seinem Buch „Die Kunst des stilvollen Verarmens“ beschrieben, wie man ohne Geld reich wird, sagt der Berliner. Und schon damals darauf aufmerksam gemacht, dass die fetten Jahre längst vorbei seien. „Er meinte, dass wir alle uns mehr einschränken müssen.“ Jetzt sei es wohl endgültig so weit.

    Manchmal frage ich mich, ob die Politiker noch wissen, wie viel eigentlich ein Liter Milch kostet.

    Was mich manchmal ärgert, ist, dass ich mir nichts spontan kaufen kann.

    Ich drehe meine Heizung selten auf. Im Winter kann ich auch mit einem dicken Pullover in einem Zimmer sitzen.

    Michael M. über die steigenden Heizkosten.

    * Alle Namen sind verändert, der Redaktion aber bekannt.

    #Berlin #Arbeit #Krankheit #Armut #Grundsicherung

  • Ich war armutsbetroffen und weiß: Armut macht krank, aggressiv und unglücklich
    https://www.berliner-zeitung.de/mensch-metropole/ich-war-armutsbetroffen-und-weiss-armut-macht-krank-aggressiv-und-u

    29.5.2022 von Houssam Hamade - Kennen Sie das? Immer wenn Sie das Postfach öffnen oder wenn es an der Tür klingelt, schlägt Ihr Herz schneller. Nicht, weil Sie verliebt sind und auf Nachricht von der geliebten Person hoffen, sondern weil Sie arm sind. Weil jeder Brief und jedes Klingeln neuen Ärger bedeuten kann: Das Jobcenter schreibt, dass mal wieder irgendetwas nicht stimmt mit dem Antrag auf Stütze oder auf Wohngeld. Der Vermieter kommt vorbei und will Ihnen sanft beibringen, dass seine Tochter nun die Wohnung übernehmen möchte und Sie nun leider so schnell wie möglich die Wohnung – ihr Zuhause – räumen sollen.

    In einer Stadt, wo es kaum noch anständige Wohnungen zu anständigen Preisen gibt. So fühlt es sich an, wenn man arm ist. Solche Geschichten erzählen derzeit auf Twitter Leute unter dem Hashtag #ichbinarmutsbetroffen. Sie erzählen, wie es ist, wenn man durch eine schwere Depression arbeitsunfähig und damit arm wird. Wenn die hohe Stromnachzahlung eine mittlere Katastrophe ist und jeder Versuch, Strom zu sparen, daran auch nichts Wesentliches ändert. Oder wie es ist, nach dem Tagesjob noch nachts arbeiten zu müssen, damit das Geld auch wirklich reicht.

    RTL-Fernsehsendungen schaffen ein falsches Bild von Armut

    Was allerdings auch immer wieder zu lesen ist: Andere Twitternutzer, die den Armutsbetroffenen erklären, sie sollten doch sparsamer sein, nicht so viel jammern, sich doch einfach mehr anstrengen. Überhaupt würden sich die Armutsbetroffenen doch nur wichtigmachen. Dabei ist Armut nichts, womit man prahlt. Im Gegenteil, man schämt sich ja. Darum ist der besagte Hashtag wichtig: Die Betroffenen bekommen so die Möglichkeit, ihr hartes Leben sichtbar zu machen.

    Bei vielen scheint das Bild davon, wie Arme sind und wie sie leben, immer noch geprägt zu sein von den Zerrbildern diverser Fernsehsendungen wie „Hartz und herzlich“, die seit 2016 auf RTL II ausgestrahlt wird. Dort sieht man Empfänger von staatlicher Hilfe auf ihren Sofas sitzen oder liegen, immer eine brennende Zigarette in der Hand, daneben ein überlaufender Aschenbecher und eine Flasche River-Cola und dazu noch ein paar Fläschchen Billigwodka. So schafft man sich ein Bild von armen Menschen, die arm sind, weil sie keine Selbstkontrolle haben und nicht arbeiten wollen.
    Menschen, die Geld haben, können im Leben neue Anläufe nehmen

    Arme gelten vielen als faul und egoistisch. Mit „vielen“ meine ich über die Hälfte der Bevölkerung, die laut der „Mitte-Studie“ 2018/2019 der Meinung sind, Langzeitarbeitslose machten sich „auf Kosten der Gesellschaft ein bequemes Leben“. Gegen Menschen, „die nicht arbeiten können“, habe natürlich niemand etwas, hört man immer wieder. Die dürften dann aber wirklich nicht arbeiten können. Kein Gliedmaß darf mehr dran sein, heißt das wohl.

    Das Schlimme an diesen Vorwürfen ist, dass man als arme Person sich diese Vorwürfe selbst macht. Wenn wir genau hinschauen, sind wir selten ausschließlich Opfer der Bedingungen. Solche Schicksale gibt es zwar auch. Aber die meisten von uns sind keine perfekten, unfassbar fleißigen und guten Menschen wie aus einer rührseligen Geschichte über fleißige Arbeiter, die immer alles richtig machen und trotzdem arm sind. Wir machen Fehler, wir haben Schwächen, so wie Menschen eben Fehler machen und Schwächen haben. Das ist zwar eine Binsenweisheit, sie ist dennoch wahr.

    Arm sein bedeutet eben auch das: Wir können uns diese Schwächen nicht leisten. Bei Menschen mit besseren Lebenschancen führen dieselben Schwächen nur dazu, dass man nicht jedes Ziel erreicht, das man sich gesetzt hat. Wer Geld oder Unterstützung durch eine halbwegs finanzstarke Familie hat, wird durch einen verlorenen Job, eine abgebrochene Ausbildung oder eine plötzliche Krankheit nicht sofort aus der Bahn geworfen, sondern kann einen neuen Anlauf nehmen.

    Langfristig macht dauernder Misserfolg etwas mit unserem Selbstbild

    Menschen ohne existenzbedrohende Probleme können nicht nur leichter mit Problemen und Krisen umgehen, umgekehrt ist es auch wahr, dass Armut nachweislich Dauerstress erzeugt. Armutsstress senkt mit der Zeit deutlich unsere Konzentration und unsere Leistungsfähigkeit. Ähnlich wie bei einem Rechner, bei dem im Hintergrund zu viele Programme laufen. Dadurch wird er überlastet und die laufenden Programme hängen und funktionieren nicht richtig.

    Das weisen der Harvard-Ökonom Sendhil Mullainathan und der Princeton-Psychologe Eldar Shafir in ihrem Buch „Knappheit“ nach. Langfristig macht dauernder Misserfolg etwas mit unserem Selbstbild. Wir wollen aufgeben, wir werden schwach in den Knien. Auch dazu gibt es Studien. Das sind universale Effekte auf die menschliche Psyche.

    Die Wirkung davon ist kaum zu unterschätzen. Es zieht massiv „Rechenleistung“, wenn Sie sich dauernd darüber sorgen, woher das Geld für die Miete kommt. Oder erst recht, wenn Sie durch die Armut gezwungen sind, sich in einem Job abzuquälen, den sie hassen und mit dem Sie nicht mal das Geld für ein ordentliches Leben verdienen. Es nimmt uns die Kraft, wenn wir mit unseren Schwächen hadern, mit unserem Selbstwertgefühl kämpfen. Statt Hoffnung haben wir Sorgen und Probleme, die uns erdrücken.

    Auf einmal gehöre ich zur Mittelschicht

    Ich kenne das aus eigener Erfahrung. Seit einiger Zeit habe ich nämlich endlich das hinter mir gelassen, was man halbherzig „relative Armut“ nennt. Ich war armutsbetroffen. Arm war ich, weil ich als Erwachsener spät das Abitur nachgemacht habe. Dann habe ich studiert und eine Weile gebraucht, um mich beruflich zu etablieren. So war ich mehrere Jahre lang einer dieser „Transferleistungsempfangenden“. Ich schäme mich immer noch dafür, obwohl ich eigentlich weiß, dass ich weder faul war noch sonst wie die Last der Armut verdient hatte.

    Inzwischen bin ich zwar immer noch nicht wohlhabend. Aber ich habe das Glück, endlich eine gute Wohnung und einen recht guten Job bekommen zu haben. Ein plötzlicher Wechsel meiner Klassenlage, könnte man sagen: auf einmal gehöre ich zur Mittelschicht. Ich lebe jetzt – ich kann es manchmal immer noch nicht glauben – in einer Wohnung, die ich bezahlen kann und die trotzdem keine Armenwohnung ist. Das heißt: Ich habe Platz, ich habe Licht, ich habe Ruhe. Und einen Job, den ich nicht unerträglich finde. Er bringt mir zumindest so viel Geld ein, dass meine innere Sorgenmachmaschine kaum noch zu hören ist.

    Arme suchen nicht den Ärger

    Ich kann mir sogar ab und zu eine neue, schöne Hose kaufen, und wenn ich spare, ist wundersamerweise ein Urlaub drin. Leute, die nie arm waren, wissen nicht, wie wichtig Urlaub ist, auch wenn man erwerbslos ist. Urlaub erfrischt und stärkt. Ohne Urlaub und mit Geldsorgen läuft man ständig auf Notstrom, man spürt ständig dieses kalte Kribbeln in den Knochen und ist gereizt.

    Dieser plötzliche Wechsel hat eine enorme Wirkung auf mich. Mein innerer Rechner ist nicht mehr ständig überlastet. Es ist, als hätte ich einen neuen Laptop, bei dem alles flutscht, nachdem ich mich jahrelang mit einem alten Schrotthaufen herumquälen musste. Ich bin fokussierter, habe genügend Energie, um das Leben auf die Reihe zu bekommen. Für diesen Text habe ich ein paar Stunden gebraucht und nicht eine Woche, wie früher. Ich spaziere durch meinen Kiez und habe den Eindruck, die Welt sei in Ordnung. „Den Menschen geht es doch gut!“, so mein Eindruck. Das liegt wohl daran, dass man eher wahrnimmt, was man selbst fühlt. Ich bin jetzt, durch die weggefallene Armut, sogar so zufrieden, dass ich neulich auf der Straße ein Streitgespräch mit einem rücksichtslosen Autofahrer ausgelassen habe. Es war mir einfach egal und ich habe ihm einen schönen Tag gewünscht, statt Stress zu suchen.

    Niemand müsste in Deutschland arm sein

    Ich behaupte nicht, dass die Ursache für jede charakterliche Schwäche immer in der Armut liegt. Selbstverständlich gibt es auch unter Armen Leute, die egoistisch sind und anderen ihre Arbeit aufhalsen. Aber wo gibt es solche Leute nicht? Ein weiterer Einwand wird oft angeführt: Da sei ja diese alleinerziehende Bekannte, die habe Kneipen geputzt und an der Kasse gestanden, während sie ihr Studium in Astrophysik mit summa cum laude abgeschlossen habe. Klar, solche Geschichten gibt es, aber es gibt auch Leute, die 100 Meter in unter zehn Sekunden sprinten. Das heißt nicht, dass jeder Mensch das können oder überhaupt erst versuchen sollte.

    Niemand müsste in Deutschland arm sein. Niemand sollte Angst vor dem Inhalt des Postfachs oder vor einer Stromrechnung haben müssen. Es würde der ganzen Gesellschaft besser gehen, wenn nicht Millionen von Menschen von Existenzängsten geplagt würden.

    Zum Autor

    Houssam Hamade wohnt in Berlin. Er ist ausgebildeter Sozialwissenschaftler und schreibt für eine Reihe von Medien. Er unterrichtet außerdem angehende pädagogische Fachkräfte zum Thema Inklusion.

    #Berlin #Armut

  • Generalplan Ost - Planungshorizont Krim - Zielrichtung Ukraine - Vo...
    https://diasp.eu/p/12936309

    Generalplan Ost - Planungshorizont Krim - Zielrichtung Ukraine - Vordenker der Vernichtung - Prof. Dr. Götz Aly über die Planer einer neuen Europäischen Ordnung (1941 - 1943) im Gespräch mit Alexander Kluge. | 16.06.2017 - 45 Min.

    https://www.youtube.com/watch?v=0ZbeI1xzs48

    #Überbevölkerung #Volk_ohne_Raum #Rassismus #Osteuropa #Rassengesetze #Ostkrieg #Armut #Umsiedlungsprojekte #Aussiedlung #Rationalisierung #Modernisierung

  • Von Armut bedroht. Mischke bereist erneut ganz Deutschland und besu...
    https://diasp.eu/p/11794676

    Von Armut bedroht. Mischke bereist erneut ganz Deutschland und besucht Menschen mit diversen Hintergründen – Geflüchtete, alleinerziehende Mütter, Schulabbrecher, Selbstständige etc. –, um mit ihnen über das Leben am Rande der #Armut zu reden. (piqd) https://www.prosieben.de/tv/prosieben-spezial/video/prosieben-spezial-von-armut-bedroht-ganze-folge

  • Trabantenstädte: „Das Geld reicht nicht“ | Telepolis
    https://www.heise.de/tp/features/Trabantenstaedte-Das-Geld-reicht-nicht-4705433.html

    In den Berliner Taxibetrieben und vor allem bei den weitghend unkontrollierbaren Mietwagenanbietern findet regelmäßig Schwarzarbeit statt. Die Folgen der COVID-19 / #Corona #Epidemie sind für die Betroffenen dramatisch. Ihre Einkünfte versiegen vollständig und werden durch kein Hilfsprogramm aufgefangen.

    Entwickelt sich auch in Berlin eine explosive soziale Notlage?

    Die Schlange vor der Essensausgabe in Clichy-sous-Bois sei am Mittwochvormittag vergangener Woche um 11 Uhr bereits 300 Meter lang gewesen. Es war die dritte Essensausgabe der Stiftung Abbé Pierre innerhalb von acht Tagen. Am ersten Tag kamen 190 Personen, am zweiten 490 und am dritten 750, berichtet die Reporterin von Le Monde.
    ...
    „Die Ausgangsbeschränkungen haben die Lage in den benachteiligten Wohngegenden beträchtlich erschwert.“ So lautet auch der Titel eines Aufrufs, der am selben Tag wie die Reportage erschienen ist. Darin warnen „Präventionsspezialisten“ aus dem sozialen Bereich davor, dass dem Staat und den Medien in ein paar Wochen „etwas um die Ohren fliegen könnte“, das sie bislang mit großer Gleichgültigkeit behandeln.
    ...
    Die Welt der „Quartiers populaires“ (Unterklassen-Wohnviertel) kommt kaum in der größeren französischen Medienöffentlichkeit vor. Sie wird zur Seite geschoben wie vor den Gelbwesten-Protesten die Welt der schlecht verdienenden Angestellten und Freiberufler aus der Peripherie.
    ...
    „Das Geld reicht nicht“, ist ein Kernsatz in der Le Monde-Reportage, wo ein paar Stimmen aus unterschiedlichen Quartiers populaires gesammelt werden. 150 Euro mehr im Monat plus 100 Euro pro Kind hat Macron in seiner Fernsehansprache am 13.März als außergewöhnliche Hilfe für Familien in finanziell-ärmlichen Verhältnissen versprochen.

    Doch sind diese Hilfen an administrative Bedingungen geknüpft, die viele Familien nicht erfüllen, so eine weitere Quintessenz aus Berichten zur Lage der Quartiers populaires zu Zeiten der Corona-Epidemie. Die Arbeitslosigkeit, ohnehin schon überdurchschnittlich hoch vor Ausbruch der Epidemie, hat sich durch die Schließung der Gastronomie, der Hotels und anderer Dienstleistungsbetriebe in einem Maße verschärft, für das es noch gar keine Zahlen gibt. Aber dass die Lage katastrophal ist, daran gibt es keinen Zweifel.

    Auf Ersparnisse dürften die wenigsten zurückgreifen können. Arbeiten im „informellen Bereich“, Schattenwirtschaft und Schwarzarbeit, sicherten bis zum Corona-Stopp das Überleben, tauchen aber in offiziellen Statistiken nicht auf.
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    „Kontakt zu 40 Prozent der Schüler verloren“
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    Die Schulpflicht hat auch dafür gesorgt, dass die Eltern wissen, wo sich die Kinder aufhalten. Das sei unter den gegenwärtigen Bedingungen anders. Eine Lehrerin aus dem Norden Paris wird damit zitiert, dass sie den Kontakt zu 40 Prozent ihrer Schüler verloren hat. Mit der Schließung der Schulen entfällt auch das Kantinenessen für die Schüler.

    #Berlin #Clichy_sous_Bois #covid-19 #Armut #Schwarzarbeit

  • Neukölln: Höchster Anteil an Armutsgefährdeten im Bezirk
    https://abendblatt-berlin.de/2020/03/06/neukoelln-hoechster-anteil-an-armutsgefaehrdeten-im-bezirk
    https://abendblatt-berlin.de/wp-content/uploads/2020/03/ONLINE-Neukölln-©imago-images-_Emmanuele-Contini.jpg

    Die Armutsgefährdungsquote in Berlin ist leicht angestiegen 
    In den letzten fünf Jahren ist das Armutsrisiko in Berlin leicht gestiegen. Das legte das Amt für Statistik Berlin-Brandenburg in seinem fünften Regionalen Sozialbericht 2019 offen. Unter den Bezirken weist Neukölln mit 27,4 Prozent den höchsten Anteil an armutsgefährdeten Einwohnern auf. Im Kontrast dazu steht Pankow mit 6,7 Prozent, gefolgt von Steglitz-Zehlendorf mit 11,1 Prozent und Treptow-Köpenick mit 11,3 Prozent.

    Jeder sechste Bürger betroffen
    Im Jahr 2018 war laut Bericht rund jede sechste Person in Berlin armutsgefährdet. Besonders betroffen waren junge Menschen ohne Schulabschluss und Lehre sowie Alleinerziehende und Bürger in Haushalten mit drei oder mehr Kindern. Die Situation Alleinerziehender habe sich trotz einer konjunkturellen Erholung am Arbeitsmarkt nicht gebessert. Als armutsgefährdet gelten diejenigen, die weniger als 60 Prozent des mittleren Pro-Kopf-Nettoeinkommens zur Verfügung haben. Für Berlin liegt die Armutsgefährdungsschwelle bei 1.004 Euro, die Armutsschwelle für einen Einpersonenhaushalt bei 837 Euro und die Schwelle für strenge Armut bei 669 Euro.

    #Berlin #Neukölln #Armut

  • Infotipp
    https://diasp.eu/p/10330165

    Infotipp

    „Die Banken handeln in Milisekunden, die Steuerbehörden brauchen Jahrzehnte“

    Cum-Ex: US-Bank plünderte deutsche Staatskassen

    Ein Beitrag von #Panorama über die Historie von #CumEx. Besonders brisant: Die illegalen Geschäfte wurden in den #USA bereits 2008 verboten - und die #Banker zogen einfach nach Europa weiter, insbesondere nach #Deutschland. Keine Kooperation der #Finanzbehörden, keine Warnung.

    Den informativen Beitrag findet ihr hier: https://daserste.ndr.de/panorama/archiv/2020/Cum-Ex-US-Bank-pluenderte-deutsche-Staatskassen,cumex198.html

    Mehr Infos zu den CumEx-Recherchen gibt es hier: https://www.otto-brenner-preis.de/dokumentation/2019/preistraeger/1-preis

    #Steuern #Banken #Finanzmärkte #Finanzen #Geld #Ungleichheit #Reichtum #Armut #Ungerechtigkeit #Raub #Diebstahl (...)

  • Berlin-Reinickendorf: 80-jähriger Fleischer erschlägt Wildschwein und zerlegt es - Polizei - Berlin - Tagesspiegel Mobil
    https://www.tagesspiegel.de/berlin/polizei-justiz/berlin-reinickendorf-80-jaehriger-fleischer-erschlaegt-wildschwein-und-zerlegt-es/23391048.html

    Nach den Rumänen kommen die Berliner. Selbstversorgung mit Fleisch oder leckeren Krebsen aus dem Tiergarten ist in Berlin verboten. Früher galt das Jagdprivileg für Adelige, heute muss man Grund und Boden, Jagdschein und registrierte Waffen besitzen, um sich selbst mit Fleisch versorgen zu dürfen.

    Dumm gelaufen für den pensionierten Berliner Schlachter, der sich endlich mal wieder die Tiefkühltruhe füllen wollte. Hätte auch klappen können ohne Denunzianten.

    06.11.2018, 10:08 Uhr Alexander Fröhlich

    Enthauptet, gehäutet, ausgenommen: Ein 80-jähriger Fleischer wollte Wildschwein essen, kann es sich aber nicht leisten. In Berlin-Tegel griff er selbst zur Axt.

    Die Berliner Polizei warnte ihre Twitter-Fans gleich vorab: „Wenn Sie nicht wissen möchten, was ein 80-jähriger Fleischer letzte Nacht auf einem Parkplatz in Reinickendorf mit einem Beil angestellt hat, klicken Sie bitte nicht hier.“ Auf zwei Fotos sind der abgetrennte Kopf eines Wildschweins, eine Axt und ein Wetzstahl zu sehen.

    Wer dann doch weiterklickt, bekommt eine ungewöhnliche Geschichte zu lesen. Sie handelt von einem Rentner, der sich gutes Fleisch vom Wildschwein nicht leisten kann und der sich im Tegeler Forst kurzerhand selbst bedient hat.

    Ein Zeuge hatte am Sonntagabend die Szenerie auf einem Discounter-Parkplatz an der Ecke Waidmannsluster Damm, Ecke Karolinenstraße beobachtet: Eine Frau und ein Pkw, dessen Scheinwerfer in den Wald am Tegeler Fließ leuchteten. Dem Zeugen kam das nicht ganz geheuer vor und er alarmierte die Polizei.

    Gegen 22.40 Uhr kam ein Funkstreifenwagen vorbei, die Beamten trafen eine 75 Jahre alte Frau. Sie sagte den Polizisten: „Ich warte auf meinen Mann, der gleich von der Arbeit kommt." Tatsächlich hatte ihr Mann zu tun: Die Beamten schauten sich weiter in dem angrenzenden Waldstück um und fanden eine Bache – enthauptet, gehäutet, teilweise ausgenommen.

    Verwertbare Eingeweide und einige größere Stücken Fleisch lagen schon in einer Kiste, die Schlachtutensilien gleich daneben. Der 80-Jährige versteckte sich derweil im Gebüsch, dann wurde er von den Polizisten entdeckt.

    Am Ende räumte der Mann seine Tat ein. Das Tier soll zutraulich gewesen sein, er habe es mit einem Beil erschlagen – um es fachmännisch zu schlachten und zu zerlegen. Leisten könne er sich das gute Wildschweinfleisch sonst nicht. Den Beamten zeigte er auch den abgetrennten Kopf der Bache. Die Polizei übergab die Kadaverteile an den herbeigerufenen Förster, die Schlachtwerkzeuge wurde beschlagnahmt.

    Nun wird gegen den pensionierten Fleischer wegen Jagdwilderei ermittelt. Noch nicht klar ist, ob der Mann sich zum ersten Mal selbst im Wald am Schwarzwild bedient hat. Das müsste nun im Zuge der weiteren Ermittlungen geklärt werden, sagte ein Sprecher der Polizei.

    Es ist nicht der erste Fall in Berlin, in dem Tiere einfach geschlachtet werden. In Mariendorf wurden Schafe des Kindergartens Global Village gestohlen. Auch der Neuköllner Streichelzoo war mehrfach betroffen. Dort hatten im Februar zwei wohnungslose Rumänen versucht, eine Angoraziege zu schlachten. Im Strafprozess wegen Diebstahls mit Waffen sowie der „Tötung eines Wirbeltiers ohne vernünftigen Grund“ erklärten die beiden Männer: „Wir töteten das Tier, weil wir Hunger hatten." Bereits im Januar war ein Schaf des Streichelzoos gestohlen und ausgeweidet worden.

    #Berlin #Reinickendorf #Waidmannsluster_Damm #Karolinenstraße #Armut #Hunger

  • Die Armen in #Deutschland - dem Tod so nah | Telepolis
    https://diasp.eu/p/8026888

    Die Armen in #Deutschland - dem Tod so nah | Telepolis

    Über den Umgang mit den Besitzlosen in unserer #Gesellschaft

    #Politik und Gesellschaft begegnen den Gestrauchelten oft voller Abscheu. Jeden Tag frisst sich die #Armut ein Stück weiter und tiefer in die Armen und Ärmsten, bis von ihrem #Menschsein nur noch ein Stück Elend übrig ist (Selber schuld: Arm, kränker und früher Tod). Und an diesem Stück #Elend ergötzen sich dann Teile der Gesellschaft. Sie schütteln und rütteln die Armen und setzen sie einer symbolischen #Gewalt aus, die in ihrer Brutalität der Gewalt des Straßenschlägers, der seinem wehrlosen Opfer noch an den Kopf tritt, kaum nachsteht. Seit vielen Jahren findet eine geradezu schizophrene Politik Anwendung, die, bei Lichte betrachtet, Armut zu bekämpfen versucht, indem sie Armut (...)

  • #unten – Wenn Armut sichtbar und zum Aufschrei wird
    https://diasp.eu/p/8020866

    #unten – Wenn Armut sichtbar und zum Aufschrei wird

    Unter dem Hashtag #unten erzählen Userinnen und User auf Twitter, wie es ist, in #Armut oder #Familien mit wenig #Geld aufzuwachsen. Und wie es sich anfühlt, ausgegrenzt bis verspottet zu werden. Armut ist ein gesellschaftliches Problem – doch es wird den einzelnen Betroffenen übergewälzt. Veronika Bohrn-Mena hat Geschichten gesammelt und beschreibt, was Armut in #Österreich mit Menschen anrichtet.

    Im November 2018 wurde auf Twitter ein neuer Hashtag geboren: #unten. Darunter sammeln sich abertausende Tweets, in denen #Menschen von ihren Erfahrungen und ihrem #Leben in Armut berichten. Sie schildern unzählige kleine Momente und Erinnerungen. Sie machen spürbar, wie prägend Armut und unser gesellschaftlicher Umgang damit sind. Armut macht etwas (...)