• Investor-Staat- #Schiedsgerichte (Audio mit Sendungs-Skript) Wie in...
    https://diasp.eu/p/11653916

    Investor-Staat- #Schiedsgerichte (Audio mit Sendungs-Skript)

    Wie internationale Unternehmen nationales Recht aushebeln

    oAnth: Die Gültigkeit einer immensen Anzahl von Investitionsschutzabkommen umfasst generell alle Arten von Großprojekten und gibt weltweit Investoren das Recht zum Einklagen ihrer als Ertragsausfall kalkulierten Summen in privaten Investor-Staats-Schiedsgerichtsverfahren unter Ausschluss der Öffentlichkeit (Investor-Staat-Streitbeilegung, kurz #ISDS, s.u.), sollte es staatlicherseits zu einem wie auch immer begründeten Rückzug von den Vertragsvereinbarungen kommen. Dies geht einher mit horrenden Forderungen seitens eigens hierauf spezialisierter Anwaltsbüros und finanziell kaum zu schulternden Folgen für die staatlichen Vertragspartner - ein äußerst hörenswertes (...)

  • « Erst die #Fakten, dann die #Moral »
    https://diasp.eu/p/11652556

    „Erst die #Fakten, dann die #Moral

    Boris Palmer - eine Klasse für sich

    Was Bundespolitiker von Tübingens umstrittenem Bürgermeister Boris Palmer (Grüne) lernen können. Ein Kommentar. Stephan-Andreas Casdorff | 2020-09-15

    https://www.tagesspiegel.de/politik/political-animal-boris-palmer-eine-klasse-fuer-sich/26188884.html

    [...]

    Die einen verteidigen ihn als #Freigeist mit #Dickschädel, der quasi jeden zum #eigenständigen_Denken herausfordert. Unter ihnen Antje Vollmer, Grünen-Ikone, ehedem Bundestags- Vizepräsidentin, und Rezzo Schlauch, früher Fraktionschef im Bundestag und Fast-Bürgermeister in Stuttgart (wenn die SPD damals nicht strategisch so, #schwäbisch gesagt, #saudumm gewesen wäre).

    Die anderen – darunter fast die ganze heutige Bundesspitze – sehen ihn als intellektuelles Irrlicht; als (...)

  • Biosphere 2: Das Menschenexperiment unter Glas
    https://diasp.eu/p/11642797

    Biosphere 2: Das Menschenexperiment unter Glas

    https://1e9.community/t/biosphere-2-das-menschenexperiment-unter-glas/5186

    Vor fast 30 Jahren startete in der Wüste von #Arizona ein unvergleichliches Experiment. Acht Menschen ließen sich in einer überdachten Nachbildung verschiedener Biotope einsperren. Der Versuch sollte beweisen, dass es möglich ist, auf anderen Planeten eine neue Erde zu schaffen. Doch schon bald wurde die Luft knapp und das #Experiment zum Skandal. Denn hinter der Biosphere 2 standen nicht #Wissenschaftler, sondern eine #Theatergruppe. Und dann kam auch noch Trump-Berater #Steve_Bannon.

    Von Michael Förtsch

    Es sind Szenen wie aus einem #Science-Fiction-Film. Acht Menschen in futuristischen Overalls stehen aufgereiht vor einem riesigen Gebäude, das an ein (...)

    • ... einem riesigen Gebäude, das an ein überdimensioniertes Gewächshaus erinnert. Hinter den Glasscheiben lassen sich Schlingpflanzen, Palmen und andere exotische Gewächse erspähen. Während Medienvertreter mit Filmkameras und Fotoapparaten um die Leute in den Overalls herumschwirren, gehen diese durch eine enge Stahlluke ins Innere des Gebäudes. Sie winken noch einmal, um sich zu verabschieden, als ob sie eine lange Reise antreten würden. Dann schwingt hinter ihnen eine dicke Stahltür zu, die mit einem Ruck an einem Hebel verschlossen wird. Sie durchquere eine Luftschleuse. „Es ist ein unglaublicher Moment“, sagt ein Mann aus der Gruppe. „Die Zukunft beginnt hier.“

      Obwohl diese Bilder, die nur noch in VHS-Qualität zu finden sind, sehr an eine Hollywood-Filmproduktion erinnern, sind sie echt. Tatsächlich ließen sich Anfang der 1990er-Jahre acht Menschen auf ein wahnwitziges Experiment ein. In der Wüste von Arizona ließen sie sich in die Biosphere 2 einschließen, eine unter Glas und Stahl eingeschlossene Kunstwelt, die eine zweite Erde simulieren sollte – in Vorbereitung und der Hoffnung, irgendwann auf Raumschiffen und anderen Planeten Mini-Versionen unsere Heimatwelt aufbauen zu können. Jedoch verlief das Experiment alles andere als problemlos – und brachte die Probanden, ihre körperliche und ihre geistige Gesundheit an den Rand des Zusammenbruchs.

      Es ist ein unglaublicher Moment. Die Zukunft beginnt hier.

      Heute scheint das kuriose und einst weltweit mit Interesse verfolgte Projekt vergessen – oder höchstens als spektakulärer Fehlschlag in der kollektiven Erinnerung. „Ich hatte jedenfalls nichts davon gewusst – bis ich mit meiner Recherche anfing“, sagt Matt Wolf gegenüber 1E9, der mit Spaceship Earth eine umfangreiche Dokumentation über die Geschichte von Biosphere 2 gedreht hat. Tatsächlich wird erst in Rückschau klar, wie gewagt, sonderbar und zugleich auch wegweisend der Versuch war. Entsprungen ist die Idee nämlich keiner wissenschaftlichen Fachgruppe oder einer Universität, sondern etwas, das manche durchaus als Theatertruppe oder Sekte bezeichnen könnte.

      Es begann mit John

      Zwei Jahre reiste der Ingenieur, Metallurg und Harvard-Absolvent John Polk Allen Anfang der 1960er-Jahre durch die Welt. Er hatte eine durchaus erfolgreiche Karriere bei Forschungs- und Industrieunternehmen wie dem Battelle Institute, der Allegheny Ludlum Steel Corporation und der Development and Resources Corporation begonnen. Aber er gab sie auf, um stattdessen die Ursprünge und Lehren von Stammeskulturen in Nepal, Thailand, Singapur, Vietnam, den Philippinen und anderen Ecken der Welt zu studieren. Als er wieder in die USA zurückkehrte, wollte er nicht in sein altes Leben zurück, sondern sich Kunst, Kultur, dem Leben und der Erde verschreiben.

      Daher kaufte Allen 25 Kilometer südlich von Santa Fe in New Mexico ein billiges Stück Land, wo er fortan mit Gleichgesinnten alternative Kultur-, Gesellschafts- und Lebensformen erforschen wollte. Tatsächlich entstand auf dem trockenen Boden binnen weniger Jahre die sogenannte Synergia Ranch , ein wilder Mix aus Ökodorf und Gegenkultur -Kommune, der insbesondere durch die von Allen gegründete Gruppe namens Theatre of All Possibilities einiges Aufsehen erregte. Das Theatre of All Possibilities war, wie der Dokumentarfilmer Matt Wolf beschreibt, „zu Anfang wirklich eine Theater- und #Aktionskunst -Gruppe“.

      Die Truppe wurde von John Allen selbst geleitet, und zwar, je nachdem, wer über die Jahre befragt wurde, entweder mit sanfter Hand oder unbarmherziger Härte . Allen schrieb Stücke und erdachte Performances, die die Mitglieder aufführten und organisierte Vorträge von Wissenschaftlern, Philosophen und Denkern, denen alle beiwohnten. Aber nach und nach habe sich die Gruppe „in immer praktischere Unternehmungen verstrickt“, wie Wolf erzählt. Oder, wie Mark Nelson, einer von Allens Weggefährten in der Dokumentation sagt: „#Kunst? #Geschäft? #Ökologie? #Technologie? Wir wollten das alles tun!“

      In der Zeit zwischen den Vorstellungen machte die Truppe daher das öde Land der Synergia Ranch fruchtbar, konstruierte eine Halle nach Vorbild der Buckminster-Fuller-Kuppeln und ging dann nach Oakland, Kalifornien um ein Schiff zu konstruieren: die rund 25 Meter lange RV Heraclitus . Die wurde unter Leitung der zu dieser Zeit gerade einmal 19-jährigen Margret Augustine aus einem Holzrahmen, Ferrozement, Metallschrott und einem alten Dieselmotor gebaut. Keiner der Beteiligten hatte Erfahrung. Dennoch stach das Schiff 1975 in See. Mit ihr segelte das Theatre of All Possibilities, das zwischenzeitlich für seine Forschungsprojekte die seriöser klingende Stiftung Institute for Ecotechnics gegründet hatte, um die Welt – und startete allerorten allerlei Projekte.

      Die Mitglieder riefen eine Kunstgalerie in London ins Leben, errichteten ein Hotel in Kathmandu, betrieben eine Viehfarm in Australien, arbeiteten mit der Universität von Mumbai, pflanzten Bäumen und beackerten erfolgreich eine Farm in Puerto Rico. Sie beobachteten Wale in der Antarktis, sammelten Forschungsdaten über die Tiere im Amazonas und dokumentierten Korallenriffe in den Tropen. „Wir tourten um die Welt“, sagt Allen in der Dokumententation Spaceship Earth. „Wir waren überall.“

      […]

      #arts #théâtre #expérience #futurisme #hollywood #médias
      #confinement #isolement #science
      #biosphère #oxygène
      #autarcie #autosuffisance #utopie #dystopie

      #auf_deutsch

  • Sendung vom Mi, 1.7.2020 20:03 Uhr, SWR2 Musik, SWR2 (1h 56 min) ht...
    https://diasp.eu/p/11604954

    Sendung vom Mi, 1.7.2020 20:03 Uhr, SWR2 Musik, SWR2 (1h 56 min)

    https://www.swr.de/swr2/musik-klassik/swr2-schluesselwerke-100.html

    SWR2 Schlüsselwerke genial erklärt: #Violinkonzert D-Dur op. 61

    (1h 12 Min. äußerst hörenswerte Erläuterungen, daraufhin das gesamte Violinkonzert)

    Sendung vom Mi, 1.7.2020 20:03 Uhr, SWR2 #Musik, SWR2

    #Music #Musique #Beethoven

    • Schlüsselwerke genial erklärt : #Violinkonzert D-Dur op. 61

      Beethovens #Violinkonzert op. 61 gilt als geigerischer Prüfstein, und das, obwohl die Violinstimme vordergründig vor allem auf simplen Tonleitern und Dreiklängen beruht. Virtuosin Carolin Widmann spielte das Werk mit Anfang 20 auf Bitten von Yehudi Menuhin und beschäftigt sich seitdem immer wieder mit der Partitur.In Hörbeispielen historischer Aufnahmen von Bronislaw Huberman, Henryk Szeryng oder David Oistrach werden neuralgische Passagen von ihr unter verschiedenen Gesichtspunkten betrachtet.

      #explications sur l’#oeuvre et l’#interpretation 1h 12min.
      #auf_deutsch , après Carolin Widmann joue l’oeuvre entier.

    • L’ #aviation est responsable de 3,5 % du #réchauffement_climatique provoqué par l’homme, ont calculé les scientifiques avec une nouvelle approche. Concernant le #trafic_aérien, notamment les #traînées_de_condensation réchauffent le climat.

      https://www.heise.de/newsticker/meldung/Luftverkehr-Vor-allem-Kondensstreifen-erwaermen-das-Klima-4885648.html

      [...]

      Mit einer neuen ERF-Metrik haben die Forscher herausgefunden, dass der Einfluss der Kondensstreifen-Zirren den größten Beitrag des Luftverkehrs zur Klimawirkung beisteuert, erklärte Prof. Robert Sausen vom DLR-Institut für Physik der Atmosphäre in Oberpfaffenhofen. Kondensstreifen-Zirren reflektieren Sonnenstrahlen in den Weltraum und kühlen. Sie verringern aber auch die Wärmeabstrahlung der Erde und erwärmen das Klima. „Im globalen Mittel dominiert der erwärmende Effekt“, erläutert Prof. Sausen.

      Kondensstreifen sind Wassermoleküle, die sich an ausgestoßene Rußteilchen anlagern. Bei niedrigen Temperaturen in großer Höhe gefrieren sie sofort zu Eiskristallen, die dann zu Zirruswolken werden. Im Gegensatz zu den Auswirkungen der mit einigen Stunden vergleichsweise kurzlebigen Kondensstreifen-Zirren halte die Wirkung von CO2 auf das Klima über viele Jahrhunderte an. Dabei verteilt sich das Gas über die lange Zeit global weitgehend gleichmäßig.

      [...]

      #auf_deutsch

  • Fall Nawalny: „Putins Gift, Putins Anschlag“
    https://diasp.eu/p/11591824

    Fall Nawalny: „Putins Gift, Putins Anschlag“

    Die Berichterstattung zum Fall Nawalny ist extrem unseriös: Unschuldsvermutung? Logik? Gesunder Menschenverstand? All das erscheint überflüssig, wenn es um Meinungsmache gegen die russische Regierung geht. Die Berichte ergehen sich in abwegigen Spekulationen, sie sind teils gefährlich und kriegstreiberisch. Von Tobias Riegel.

    Zum Verständnis des Vorgangs um den russischen Politiker Alexej Nawalny muss immer wieder betont werden: Im Gegensatz zur Darstellung in westlichen Medien ist Nawalny in Russland politisch irrelevant. Die „Deutsche Welle“ ordnet die Chancen des nationalistisch orientierten Nawalny russlandweit „im niedrigen einstelligen Bereich“ ein. Die in den letzten Tagen in deutschen Medien massiv wiederholte Formulierung vom „wichtigsten (...)

  • [l] (https://blog.fefe.de/?ts=a1c38282) Liebe Leser, ich bin die Ta...
    https://diasp.eu/p/11516235

    [l] Liebe Leser, ich bin die Tage von Heise gefragt worden, ob ich nicht mal einen Kommentar über die Mozilla-Entlassungen und Rust schreiben will. Der ist jetzt online. Viel Spaß bei der Lektüre.

    Um mal den typischen Einwänden von Leuten, die den Artikel nicht gelesen haben, die Luft aus den Segeln zu nehmen: Mozilla ist inkompetent / hat zuvie Wasserkopf / besteht nur noch aus SJW.

    Ich empfehle daher, die Spenden mit Zweckbindung zu versehen. Nur für Arbeiten an den Zukunfttechnologien Rust, Servo und Webrender. Man könnte sogar zweckbinden auf das Mozilla-Office in Deutschland und vor der Zahlung der nächsten Rate Effektivitätskontrollen setzen, wenn man Angst hat, dass die das verprassen. Die Sorge würde ich mir aber eher nicht machen, denn was die bisher auf diesen Gebieten geleistet (...)

    • #pensée #liberté #Charlie_Hebdo #satire
      #terrorisme #procès
      #auf_deutsch

      https://www.heise.de/tp/features/Charlie-Hebdo-Wenn-man-die-Meinungsfreiheit-verteidigen-will-muss-man-aufhoere

      Das Satiremagazin veröffentlicht eine neue Mohammed-Karikatur zum Prozessbeginn über den islamistischen Terroranschlag von 2015 und sorgt sich über veränderte Einstellungen zur Meinungsfreiheit

      In Paris hat heute ein großer Prozess zum islamistischen Terror-Anschlag auf die Redaktion des Magazins Charlie Hebdo begonnen. Am 7. Januar 2015 töteten die Brüder Said und Chérif Kouachi 12 Personen, Mitglieder der Redaktion des Satire-Magazins, einen Techniker, einen Personenschützer und einen Mann, der sich ihnen bei ihrer Flucht auf der Straße in den Weg stellte. Als ein zentrales Motiv für die Bluttat in der Redaktion wurde Rache für Mohammed-Karikaturen genannt. Unter den Mordopfern befanden sich die Zeichner Cabu, Charb, Honoré, Tignous und Wolinski.

      Die beiden Täter wurden zwei Tage später von der Polizei gestellt und erschossen. Im Prozess, der als historisch bezeichnet, geht es um Hintergründe des Anschlags, der lange vorbereitet worden war. Der Prozess wird gegen Helfer des terroristischen Anschlags geführt. Es gibt 14 Hauptangeklagte, wobei drei nicht anwesend sind - sie gelten als tot oder verschollen in Syrien oder dem Irak.

      Ungefähr zweihundert zivile Parteien sind vertreten, etwa hundert Anwälte beteiligt. Die Anhörung wurde auf 49 Tage angelegt, wie Le Monde berichtet. Der Prozess werde in voller Länge gefilmt, was seine historische Bedeutung untermauere, so die Zeitung.
      Radikalisierung zurück in der Debatte

      Interessant ist aber auch seine aktuelle Bedeutung. Der Prozess holt das Problem des radikalen Islamismus wieder zurück in die Aufmerksamkeit, die von News bestimmt wird. Dort dominierte seit Monaten das Corona-Thema. Mit dem Prozessauftakt kommt eine Bedrohung wieder zur Sprache, die Frankreich lange Zeit in Atem hielt, der Anschlag auf Charlie Hebdo, der zeitgleich von einem anderen tödlichen Terrorakt auf einen koscheren Supermarkt und eine Polizistin begleitet wurde, war der Anfang einer Serie von monströsen Terroranschlägen im Nachbarland.

      Die Debatte, wie mit der auf brutale Weise bittere Realität gewordenen Gefahr der Radikalisierung umgegangen werden soll, beherrschte den politischen Betrieb und die Fragen zur Selbstverständigung der Republik. Die Debatte mag von der Corona-Krise überdeckt worden sein, totgelaufen ist sie nicht, weil in ihr auch die Meinungsfreiheit verhandelt wird.

      [...]

  • Benjamin Netanyahu – der „Magier“ kämpft um sein politisches Überleben
    https://diasp.eu/p/11580663

    Benjamin Netanyahu – der „Magier“ kämpft um sein politisches Überleben

    Anfang Juli bangte die Welt, ob die israelische Regierung ihre Ankündigungen wahrmachen und weite Teile des palästinensischen Westjordanlands annektieren würde – es blieb zunächst aus, zu groß wäre der globalpolitische Preis für Netanyahu gewesen. Bereits Ende Mai begann das Gerichtsverfahren gegen ihn wegen mehrerer Fälle von Korruption und Bestechung – der erste amtierende Ministerpräsident des Landes vor Gericht. Seit Monaten gibt es im Land heftige Proteste, die einzig den Rücktritt Netanyahus zum Ziel haben. Erneut liegen Neuwahlen in der Luft. Mitte August erklärten die Regierungen Israels und der Vereinigten Arabischen Emirate in einem historischen Schritt, sie würden vollständige diplomatische Beziehungen aufnehmen, womit (...)

    • lien propre :
      https://www.nachdenkseiten.de/?p=64301

      (...) sie würden vollständige diplomatische Beziehungen aufnehmen, womit jetzt drei arabische Länder Israel anerkennen. Was all diese Ereignisse verbindet, ist die Person Benjamin Netanyahu, auch „Magier“ genannt, der um sein politisches Überleben kämpft.

      Von Jakob Reimann.

      In den letzten Wochen und Monaten gab es eine regelrechte Flut wichtiger Nachrichten aus Israel. Fragmentiert und isoliert betrachtet sind sie schwer zu verstehen, doch hängen sie alle miteinander zusammen – denn sie haben bei genauem Hinsehen alle Ministerpräsident Benjamin Netanyahu im Zentrum. Ein Versuch des Aufdröselns und Neuzusammenfügens.

      Wegen Korruptionsvorwürfen auf der Anklagebank

      Seit Dezember 2016 ermittelt die israelische Polizei gegen Israels Ministerpräsidenten Benjamin Netanyahu in mehreren Fällen verschiedener Korruptionsdelikte. Selbst vor Staatsgründer David Ben-Gurion ist Netanyahu der am längsten amtierende Ministerpräsident des Landes und mit dem Prozessauftakt am 24. Mai dieses Jahres schrieb er erneut Geschichte: Nie zuvor saß ein amtierender Regierungschef Israels auf der Anklagebank. Netanyahu sprach von Anfang an von „haltlosen Anschuldigungen … Das ist ein Witz.“ Die zweite Anhörung begann Ende Juli, doch wird die eigentliche Beweisaufnahme coronabedingt erst im Januar aufgenommen. Von den ursprünglich fünf Ermittlungsverfahren wurden schlussendlich drei zur Anklage gebracht. Im ersten Fall sollen Netanyahu und seine Frau Sara für diverse politische Gefälligkeiten undeklariert Champagner, Zigarren und Schmuck im Wert von 198.100 US-Dollar vom Milliardär und Medienmogul Arnon Milchan angenommen haben. Im zweiten Fall soll Netanyahu dem Herausgeber Israels zweitgrößter – und Netanyahu-kritischer – Tageszeitung im Austausch für wohlwollende Berichterstattung angeboten haben, per Gesetzgebung Mozes‘ größtem Konkurrenzblatt, Israel Today, Schaden zuzufügen. Der dritte Vorwurf dreht sich wiederum um Angebote vorteilhafter Gesetzgebung für den Telekommunikations-Riesen Bezeq in der Größenordnung von mehreren hundert Millionen Dollar. Im Gegenzug soll Bezeq über seine beliebte Nachrichtenseite Walla für günstige Berichterstattung über die Netanyahu-Regierung gesorgt haben. Ein weiterer – und der schwerwiegendste – Fall umfasst einen Rüstungsdeal über drei U-Boote und vier Korvetten mit ThyssenKrupp. Die deutsche Rüstungsschmiede soll über Mittelsmänner Schmiergelder in Millionenhöhe an hochrangige israelische Militärs und Politiker ausgeschüttet haben, um den Zuschlag für den Milliardendeal zu erhalten. In dem Fall wird nicht gegen Netanyahu, sondern gegen sein Umfeld ermittelt.

      Seine diversen Ministerposten musste Netanyahu bereits aufgeben, doch darf er laut israelischer Verfassung auch unter Anklage weiterhin das Amt des Ministerpräsidenten bekleiden. Nicht zuletzt aufgrund dieser Gerichtsverfahren ist innenpolitisch Netanyahus Zukunft so ungewiss wie nie zuvor. Israel ist tief gespalten in das Pro- und Contra-Bibi-Lager, auch die drei Wahlen der letzten anderthalb Jahre drehten sich ausschließlich um seine Person. Und nun könnte er nach insgesamt fast 15 Jahren im Amt schon bald hinter Gittern sitzen. Netanyahu wird gerne der „Magier“ genannt, hat er es doch schon immer geschafft, mittels diverser Ablenkungsmanöver seinen Kopf aus jeder politischen Schlinge zu ziehen. Und so bangte die Welt Anfang Juli, ob Netanyahu in einem erneuten Manöver sein Wahlversprechen einlösen und weite Teile des palästinensischen Westjordanlandes annektieren würde, um mit einem offenen Völkerrechtsbruch die Öffentlichkeit im In- und Ausland von seinen persönlichen Vergehen abzulenken. Der Schritt blieb vorerst aus, doch ist er noch lange nicht vom Tisch. Ein genauerer Blick auf den Komplex der Annexion ist daher geboten.

      Die Annexion ist vom Tisch – vorerst

      Vor einigen Jahren fuhren wir im Westjordanland von Ramallah nach dem Feiern mit dem Auto zurück nach Nablus, wo wir wohnten. Auf der Landstraße hielten uns einige schwerbewaffnete israelische Soldaten an, die meisten kaum 20 Jahre alt. Mit Finger am Abzug ihres Sturmgewehrs wurden wir angebrüllt, das Auto zu verlassen. Wie Schwerverbrecher wurden wir am Straßenrand aufgereiht und standen für eine Stunde in der Kälte, während drei Soldaten jeden Winkel unseres klapprigen Autos filzten und ganze Autoteile demontierten. Wären der Deutsche und die Chilenin nicht dabei gewesen, so erzählten unsere drei palästinensischen Kumpels aus vielfacher Erfahrung, hätte sich die Prozedur auch gerne aufs Zwei- oder Dreifache der Zeit ausdehnen können.

      Oft kam ich in ähnliche Situationen, in denen israelische Soldaten in „Palästina“ Willkür an uns übten – ob nun in Area C, das unter dem Oslo-II-Abkommen von 1995 rund Dreiviertel des Westjordanlandes ausmacht und vollständig unter israelischer Kontrolle steht, in Area B, das gemischt kontrolliert wird, oder selbst in Area A, das weniger als ein Fünftel umfasst und formal unter Kontrolle der hochkorrupten Palästinensischen Autonomiebehörde um Präsident Mahmoud Abbas steht. Es kam in der internationalen Debatte der letzten Monate immer wieder zur Frage, was sich denn durch eine formale Annexion von Teilen des Westjordanlandes überhaupt für die Menschen am Boden ändern würde. Ob wir das Kind nun Oslo II, Okkupation oder eben Annexion nennen – wenn dir israelische Soldaten ihr Gewehr ins Gesicht halten, macht Semantik keinen großen Unterschied.

      In einem sehr lesenswerten Meinungsartikel in der taz beklagen drei junge Palästinenser „mit Befremden, wie losgelöst diese Debatte von unserer Realität ist. Wir sehen Annexion nicht als drohende Gefahr in der Zukunft, sondern als einen bereits seit Generationen andauernden Prozess, der das System definiert, in dem wir leben: völlige israelische Kontrolle vom Jordan bis zum Mittelmeer, wo Freiheit und Rechte an die Ethnizität eines Menschen gebunden sind.“

      Auch ein Freund von der israelischen kommunistischen Partei erklärte mir in einem Interview zur Recherche dieses Artikels, Annexion wäre „definitiv eine bedeutende Veränderung, doch gleichzeitig ein Teil eines fortwährenden Prozesses“. Und weiter: „Es wäre ein qualitativer Sprung, kein quantitativer.“ Damit meint er, dass eine Annexion zwar durchaus beträchtliche Folgen haben, Israel jedoch kein Stück Territorium dazugewinnen würde – auch heute schon ist die israelische Staatsgewalt in der Lage, in jedem Teil des Westjordanlandes nach Belieben zu agieren. Und in diesem „qualitativen Sprung“ liege die eigentliche „Gefahr“, nicht in territorialen Zuwächsen. Denn neben den 134 israelischen Siedlungen in der Area C, in denen anno 2020 463.353 Menschen leben, würde Netanyahus Annexion auch das Jordantal umfassen, das hauptsächlich für Ackerbau genutzt wird und gewissermaßen die Obst- und Gemüsekammer der Westbank darstellt. Im Jordantal lebten 2016 rund 65.000 Palästinenserinnen und Palästinenser. „Was passiert mit denen?”, fragt mein Freund von den israelischen Kommunisten: „Werden sie israelische Staatsbürger? Netanyahu hat das bereits abgelehnt. Müssen sie in palästinensisches Land umziehen? Wenn ja, werden sie also zu Binnenflüchtlingen.“ Eine Annexion hätte demnach das Potential für ein weiteres palästinensisches Flüchtlingsdrama.

      Ein weiteres Problem läge im Status der zwei Friedensabkommen, die Israel mit Ägypten (1979) und Jordanien (1994) geschlossen hat. Bereits im November 2019 erklärte Jordaniens König Abdullah, die israelisch-jordanischen Beziehungen befänden sich auf einem „historischen Tiefstand“ und dass die Beziehungen gar „pausiert“ seien. Als Begründung nannte Abdullah einerseits das innenpolitische Chaos, da Israel über ein Jahr keine arbeitsfähige Regierung hatte, und andererseits die artikulierten Annexionspläne. Eine tatsächliche Annexion könnte den historisch so wichtigen Frieden zwischen zwei ehemaligen Feinden derart in Gefahr bringen wie in den letzten 26 Jahren nicht.

      Eine formale Annexion von Teilen des Westjordanlands wäre also neben einem klaren Völkerrechtsbruch in erster Linie ein propagandistischer Akt, durch den sich zwar die Lage am Boden kaum ändern, der jedoch regional wie international die Narrative des Konflikts über den Haufen werfen und diplomatische Beziehungen in Gefahr bringen würde. Nach einer formalen Annexion müssten selbst die weltweit hartnäckigsten Geisterbeschwörer ihr Narrativ von der Forderung nach einer Zweistaatenlösung final begraben, da durch diese Formalisierung des Unrechts das, was seit zehn, zwanzig Jahren immer deutlicher hervortrat, nun schlussendlich auch offenbar würde: Die Zweistaatenlösung ist tot.

      In den letzten 16 Monaten gab es in Israel drei Wahlen, in denen jeweils einzig über die Personalie Netanyahu abgestimmt wurde. Inhaltlich sind sowohl Bibis rechter Likud als auch der Blau-Weiß-Block um Bibis einstigen Rivalen – und heutigen Co-Ministerpräsidenten – Benny Gantz derart fest im rechten Spektrum verankert, dass in den allermeisten Fragen keinerlei Unterscheidbarkeit existiert. Und jedes Mal war die Annexion ein zentrales Wahlversprechen Netanyahus, um so am rechtsextremen Rand und bei den Ultra-Orthodoxen auf Stimmenfang zu gehen – und jedes Mal ließ er sie nach der Wahl wieder fallen und zog so den Zorn seiner Basis auf sich. Am 1. Juli ließ er so auch die letzte selbstgesetzte Deadline verstreichen, ist der globalpolitische und diplomatische Preis einer Annexion doch einfach zu hoch.

      Netanyahu hatte nie ernsthaft vor, die Annexion durchzuziehen, galt sie dem Meisterstrategen seit jeher vielmehr als Wahlmanöver, als Schachzug, als Ablenkung. Doch da der Druck von rechtsaußen stetig ansteigt, musste der „Magier“ zur Beilegung der Affäre einen wahrhaft fetten Hasen aus seinem Hut ziehen. Und das gelang ihm am 13. August mit dem sogenannten Abraham-Abkommen.

      Israel und die Emirate schließen Frieden

      Der US-Kriegsfalke und größte Israel-Freund Henry Kissinger bemerkte einmal (das Wortspiel funktioniert im Deutschen nicht, daher hier im Original): „Israel has no foreign policy, only domestic politics.“ Jede außenpolitische Unternehmung der israelischen Regierung wird immer durch die innenpolitische Brille getroffen, insbesondere im Hinblick auf die nächsten Wahlen. Was gewiss auch für viele andere Staaten zutrifft, wird in Israel auf die Spitze getrieben. Wie erwähnt, ist die geschickt platzierte Annexionsandrohung ein klassisches Beispiel zur Ablenkung von innenpolitischen Skandalen – periodisch wiederkehrende Kriege gegen die Zivilbevölkerung in Gaza, Luftschläge in Syrien oder zum x-ten Male die haltlose Behauptung, der Iran stünde so kurz vor der Bombe, sind weitere Klassiker. Um das erneut gebrochene Versprechen, Anfang Juli Teile der Westbank zu annektieren, propagandistisch zu relativieren und in politisches Kapital umzumünzen, musste etwas wahrhaft Historisches her.

      Am 13. August verkündeten die Führungen von Israel und den Vereinigten Arabischen Emiraten „die vollständige Normalisierung in den Beziehungen“ beider Länder. Botschaften werden errichtet und die Kooperation auf einer Vielzahl von Gebieten angekündigt, von Wirtschaft, Kultur und Umwelt über Tourismus und Technologie bis hin zu Rüstung und Militär. Der Abraham-Abkommen genannte Friedensvertrag wurde vermittelt von der Trump-Administration sowie von den Regierungen in Ägypten, Bahrain und Oman und soll Anfang September feierlich in Washington unterzeichnet werden. Die #VAE sind damit nach Ägypten (1979) und Jordanien (1994) erst der dritte arabische Staat, der Israel anerkennt – das Abraham-Abkommen ist damit wahrlich historisch. In einem politisch-diplomatischen Vakuum sind dies zweifelsohne gute Nachrichten: Eine Welt mit einem Friedensvertrag mehr ist eine bessere Welt. Nur existiert dieses Vakuum nun einmal nicht, was die Nachricht trübt. Und der Grund ist klar: Palästina.

      Nach Jahrzehnten der – zumindest offiziell – vollständigen Negierung Israels, beschloss die Arabische Liga 2002 zusammen mit weiteren mehrheitlich muslimischen Ländern wie dem Iran die Arabische Friedensinitiative. Diese stellt die diplomatische Anerkennung Israels durch die insgesamt 57 Länder in Aussicht – im Gegenzug für die Errichtung eines palästinensischen Staates und den Rückzug Israels aus den 1967 okkupierten Palästinensergebieten Gaza, Westjordanland und Ostjerusalem. Das deutliche Signal des jüngsten emiratisch-israelischen Abkommens an die Palästinenserinnen und Palästinenser könnte demnach kaum vernichtender sein: Eine Anerkennung Israels durch eine so bedeutsame Regionalmacht wie die Emirate ist auch ohne jegliche Zugeständnisse der israelischen Regierung möglich. Palästinenserführer Mahmud Abbas sprach dann auch vom „Verrat … an der palästinensischen Sache“, andere Vertreter von einem „Stich in den Rücken“, wieder andere erklärten, die VAE gehörten nun zu einer „Gruppe von Verrätern, die auf dem Müllhaufen der Geschichte enden werden“. Wieder einmal ließ die Führung eines arabischen Staates die Palästinenser im Stich – schon seit geraumer Zeit sitzt die einzige Regierung eines mehrheitlich muslimischen Landes, die sich konsequent für die palästinensische Sache stark macht, in Teheran. Jahrzehnte lang war Palästina ein wichtiger Klebstoff der pan-arabischen Bewegung im Großraum Nahost, heute gibt es bis auf geheuchelte Lippenbekenntnisse rein gar nichts mehr.

      Allein der Ankündigung des Friedensabkommens folgten bereits erste Annäherungen, wie etwa erste Flüge der emiratischen Etihad Airlines zum Ben Gurion Airport in Tel Aviv, Zusammenarbeit in der Covid-19-Forschung beider Länder, sowie weitere Kooperationen in der Gesundheitsversorgung. Auch soll es bald zu ersten Studierendenaustauschen kommen. Nach der Annäherung mit den mittelgewichtigen Emiraten wird erwartet, dass in den nächsten Jahren weitere arabische Leichtgewichte folgen werden, allen voran Sudan, Oman und Bahrain, bis, so meine Prognose, in den nächsten 15–20 Jahren auch das sunnitische Schwergewicht nachziehen wird: Saudi-Arabien. Ohnehin gibt es mit all diesen Ländern seit geraumer Zeit im Verdeckten Kooperationen mit Israel, auf diversen Gebieten, doch vor allem in der geheimdienstlichen und der militärischen Arena.

      Vor allem mit den Emiraten bestehen seit langem enge Kontakte, ein besonders perfides Beispiel dieser Kooperation enthüllte im Februar 2019 die israelische Zeitung Haaretz. Da die Emirate für ihren Genozid im Jemen nicht länger ihre eigenen jungen Männer in den Frontkämpfen verheizen wollten, begannen sie rasch im großen Stil mit der Rekrutierung vor allem kolumbianischer Söldner, oft ehemalige Spezialeinheiten. Diese Kolumbianer wurden im Auftrag der Emirate von israelischen Militärs in einer eigens dafür errichteten Basis in der israelischen Negevwüste ausgebildet. Von dort wurden sie zum Töten in den Jemen geschickt. Vermittelt wurde dieser bizarre Deal übrigens vom palästinensischen Quadrupel-Agenten Mohammed Dahlan – jenem Mann also, der mutmaßlich Palästinenser-Ikone Jassir Arafat mit Polonium getötet hat. Manche Groteske kann einfach nur der Nahe Osten hervorbringen.

      Doch was musste die israelische Führung für das historische Friedensabkommen mit den Emiraten eigentlich bezahlen? Die kurze Antwort: nichts. Zwar erklärte #Netanyahu, Pläne zur #Annexion des Westjordanlands seien „temporär ausgesetzt“, doch hatte er wie gesagt ohnehin nicht vor, in absehbarer Zeit den Annexionsplan durchzuziehen. Und so konnte Netanyahu vollkommen gratis zum Status Quo vor seinem Annexions-Wortbruch am 1. Juli zurückkehren und hat zusätzlich ein historisches Abkommen im Gepäck. Der „Magier“ konnte, ohne politisches Kapital zu verspielen, mit diesem geschickten diplomatischen Manöver an drei Fronten gleichzeitig punkten: Seine Basis rechtsaußen hält er weiter bei der Stange, schließlich ist die Aussetzung der Annexion nur „temporär“. Vor den Moderaten konnte er sich als versierter Dealmaker präsentieren, der für Stabilität in Nahost sorgt. Und der internationalen Staatengemeinde konnte er ein historisches Friedensabkommen abliefern wie letztmals Friedensnobelpreisträger Jitzchak Rabin 1994. Einzig die Menschen in Palästina verlieren, doch die zählen bekanntlich nicht.

      Netanyahu kämpft um sein politisches Überleben

      Innenpolitisch hat Netanyahu das Abkommen mit den Emiraten also sehr geholfen und seine Position bei potentiellen Neuwahlen einmal mehr gestärkt. Dies wären die vierten Wahlen seit April 2019 – so absurd dies klingen mag, wird der Ruf nach Neuwahlen immer lauter. Seit über vier Monaten wird Israel von einer Protestwelle überrollt. Am 20. April demonstrierten Tausende auf dem Rabin Square in Tel Aviv gegen Bibi Netanyahu, auf der Hochzeit der Corona unter strengen Abstandsregelungen – die Bilder der auf Kreidelinien mit zwei Meter Abstand stehenden Protestierenden gingen als erfolgreiches Corona-Experiment um die Welt. Anfangs richteten sich die Proteste auch noch gegen Netanyahus einstigen Rivalen Benny Gantz. Dieser ist zu den letzten Wahlen Anfang März erneut als der Anti-Netanyahu angetreten, sein einziger Programmpunkt: „Ich bin nicht Bibi.“ Und nur dafür wurde er gewählt. Im April schließlich der Bruch mit einigen halbwegs integren Köpfen seines Blau-Weiß-Bündnisses und das Einknicken von Gantz vor Netanyahu – beide verkünden an jenem 20. April die Bildung einer Einheitsregierung. Mit Netanyahu als Ministerpräsident und Gantz als Vize, bis Oktober 2021, dann wollen beide die Rollen tauschen. Wer jedoch glaubt, dass der machtbesessene Netanyahu einfach so seinen Hut nehmen wird, ist mehr als naiv – der „Magier“ hat sich Zeit für sein nächstes Manöver erkauft, mehr nicht.

      Schnell richteten sich die Proteste auch gegen die geplante Annexion, gegen Netanyahus Korruption sowie das Corona-Management seiner Regierung. Mit über 110.000 bestätigten Corona-Infizierten ist das kleine Land besonders heftig von der Pandemie betroffen und hat in Relation zur Einwohnerzahl eine der höchsten Infektionsraten überhaupt. Die Polizei ging oft mit Gewalt gegen die Protestierenden vor, ebenso Rechtsaußen-Netanyahu-Unterstützer, die auch vor Anschlägen mit Sprengsätzen nicht zurückschreckten. Woche über Woche versammelten sich auch Tausende vor dem Amtssitz Netanyahus sowie vor seinem Privathaus und forderten lautstark seinen Rücktritt. Auch von dem historischen Abkommen mit den Emiraten ließen sich die Protestierenden nicht von ihrer Rücktrittsforderung abbringen, die Proteste halten weiter an.

      Die letzten Wochen und Monate verdeutlichen einmal mehr die oft unglaublichen politischen Dynamiken im winzigen Land am östlichen Mittelmeer. Als erster amtierender Ministerpräsident steht Netanyahu vor Gericht – wegen Korruption und Bestechung in mindestens drei Fällen. Nach drei Wahlen hat er es endlich geschafft, seinen „Kontrahenten“ Benny Gantz einzulullen und in eine Einheitsregierung zu locken. Ein ums andere Mal konnte Netanyahu die Annexions-Frage geschickt für sich ausspielen und brachte auf Kosten der Palästinenserinnen und Palästinenser mit dem israelisch-emiratischen Friedensabkommen etwas wahrhaft Historisches zustande. Dennoch steht seine Regierung auf tönernen Füßen, seit Monaten kommt es landesweit zu Protesten, die einzig und allein den Rücktritt Netanyahus einfordern: Der „Magier“ kämpft um sein politisches Überleben, seine Zukunft ist so ungewiss wie nie zuvor.

      #Israël #Palestine #EAU #UAE

      #auf_deutsch

  • Joseph Roth - Die Legende vom heiligen Trinker
    https://www.projekt-gutenberg.org/roth/erzaehlg/chap006.html

    1

    An einem Frühlingsabend des Jahres 1934 stieg ein Herr gesetzten Alters die steinernen Stufen hinunter, die von einer der Brücken über die Seine zu deren Ufern führen. Dort pflegen, wie fast aller Welt bekannt ist und was dennoch bei dieser Gelegenheit in das Gedächtnis der Menschen zurückgerufen zu werden verdient, die Obdachlosen von Paris zu schlafen, oder besser gesagt: zu lagern.

    Einer dieser Obdachlosen nun kam dem Herrn gesetzten Alters, der übrigens wohlgekleidet war und den Eindruck eines Reisenden machte, der die Sehenswürdigkeiten fremder Städte in Augenschein zu nehmen gesonnen war, von ungefähr entgegen. Dieser Obdachlose sah zwar genauso verwahrlost und erbarmungswürdig aus wie alle die anderen, mit denen er sein Leben teilte, aber er schien dem wohlgekleideten Herrn gesetzten Alters einer besonderen Aufmerksamkeit würdig; warum wissen wir nicht.

    Es war, wie gesagt, bereits Abend, und unter den Brücken, an den Ufern des Flusses, dunkelte es stärker als oben, auf dem Kai und auf den Brücken. Der obdachlose und sichtlich verwahrloste Mann schwankte ein wenig. Er schien den älteren wohlangezogenen Herrn nicht zu bemerken. Dieser aber, der gar nicht schwankte, sondern sicher und geradewegs seine Schritte dahinlenkte, hatte schon offenbar von weitem den Schwankenden bemerkt. Der Herr gesetzten Alters vertrat geradezu dem verwahrlosten Mann den Weg. Beide blieben sie einander gegenüber stehen.

    »Wohin gehen Sie, Bruder?« – fragte der ältere wohlgekleidete Herr.

    Der andere sah ihn einen Augenblick an, dann sagte er:

    »Ich wüßte nicht, daß ich einen Bruder hätte, und ich weiß nicht, wo mich der Weg hinführt.«

    »Ich werde versuchen, Ihnen den Weg zu zeigen« – sagte der Herr. »Aber Sie sollen mir nicht böse sein, wenn ich Sie um einen ungewöhnlichen Gefallen bitte.«

    »Ich bin zu jedem Dienst bereit« – antwortete der Verwahrloste.

    »Ich sehe zwar, daß Sie manche Fehler haben. Aber Gott schickt Sie mir in den Weg. Gewiß brauchen Sie Geld, nehmen Sie mir diesen Satz nicht übel! Ich habe zuviel. Wollen Sie mir aufrichtig sagen, wieviel Sie brauchen? Wenigstens für den Augenblick?«

    Der andere dachte ein paar Sekunden nach, dann sagte er: »Zwanzig Francs.«

    »Das ist gewiß zu wenig« – erwiderte der Herr. »Sie brauchen sicherlich zweihundert.«

    Der Verwahrloste trat einen Schritt zurück, und es sah aus, als ob er fallen sollte, aber er blieb dennoch aufrecht, wenn auch schwankend. Dann sagte er: »Gewiß sind mir zweihundert Francs lieber als zwanzig, aber ich bin ein Mann von Ehre. Sie scheinen mich zu verkennen. Ich kann das Geld, das Sie mir anbieten, nicht annehmen, und zwar aus folgenden Gründen: erstens, weil ich nicht die Freude habe, Sie zu kennen; zweitens, weil ich nicht weiß, wie und wann ich es Ihnen zurückgeben könnte; drittens, weil Sie auch nicht die Möglichkeit haben, mich zu mahnen. Denn ich habe keine Adresse. Ich wohne fast jeden Tag unter einer anderen Brücke dieses Flusses. Dennoch bin ich, wie ich schon einmal betont habe, ein Mann von Ehre, wenn auch ohne Adresse.«

    »Auch ich habe keine Adresse«, antwortete der Herr gesetzten Alters, »auch ich wohne jeden Tag unter einer anderen Brücke, und ich bitte Sie dennoch, die zweihundert Francs – eine lächerliche Summe übrigens für einen Mann wie Sie – freundlich anzunehmen. Was nun die Rückzahlung betrifft, so muß ich weiter ausholen, um Ihnen erklärlich zu machen, weshalb ich Ihnen etwa keine Bank angeben kann, wo Sie das Geld zurückgeben könnten. Ich bin nämlich ein Christ geworden, weil ich die Geschichte der kleinen heiligen Therese von Lisieux gelesen habe. Und nun verehre ich insbesondere jene kleine Statue der Heiligen, die sich in der Kapelle Ste Marie des Batignolles befindet und die Sie leicht sehen werden. Sobald Sie also die armseligen zweihundert Francs haben und Ihr Gewissen Sie zwingt, diese lächerliche Summe nicht schuldig zu bleiben, gehen Sie, bitte, in die Ste Marie des Batignolles und hinterlegen Sie dort zu Händen des Priesters, der die Messe gerade gelesen hat, dieses Geld. Wenn Sie es überhaupt jemandem schulden, so ist es die kleine heilige Therese. Aber vergessen Sie nicht: in der Ste Marie des Batignolles.«

    »Ich sehe« – sagte da der Verwahrloste – »daß Sie mich und meine Ehrenhaftigkeit vollkommen begriffen haben. Ich gebe Ihnen mein Wort, daß ich mein Wort halten werde. Aber ich kann nur sonntags in die Messe gehen.«

    »Bitte, sonntags«, sagte der ältere Herr. Er zog zweihundert Francs aus der Brieftasche, gab sie dem Schwankenden und sagte: »Ich danke Ihnen!«

    »Es war mir ein Vergnügen« – antwortete dieser und verschwand alsbald in der tiefen Dunkelheit.

    Denn es war inzwischen unten finster geworden, indes oben, auf den Brücken und an den Kais, sich die silbernen Laternen entzündeten, um die fröhliche Nacht von Paris zu verkünden.
    2

    Auch der wohlgekleidete Herr verschwand in der Finsternis. Ihm war in der Tat das Wunder der Bekehrung zuteil geworden. Und er hatte beschlossen, das Leben der Ärmsten zu führen. Und er wohnte deshalb unter der Brücke.

    Aber was den anderen betrifft, so war er ein Trinker, geradezu ein Säufer. Er hieß Andreas. Und er lebte von Zufällen, wie viele Trinker. Lange war es her, daß er zweihundert Francs besessen hatte. Und vielleicht deshalb, weil es so lange her war, zog er beim kümmerlichen Schein einer der seltenen Laternen unter einer der Brücken ein Stückchen Papier hervor und den Stumpf von einem Bleistift und schrieb sich die Adresse der kleinen heiligen Therese auf und die Summe von zweihundert Francs, die er ihr von dieser Stunde an schuldete. Er ging eine der Treppen hinauf, die von den Ufern der Seine zu den Kais hinaufführen. Dort, das wußte er, gab es ein Restaurant. Und er trat ein, und er aß und trank reichlich, und er gab viel Geld aus, und er nahm noch eine ganze Flasche mit, für die Nacht, die er unter der Brücke zu verbringen gedachte, wie gewöhnlich. Ja, er klaubte sich sogar noch eine Zeitung aus einem Papierkorb auf. Aber nicht, um in ihr zu lesen, sondern um sich mit ihr zuzudecken. Denn Zeitungen halten warm, das wissen alle Obdachlosen.
    3

    Am nächsten Morgen stand Andreas früher auf, als er gewohnt war, denn er hatte ungewöhnlich gut geschlafen. Er erinnerte sich nach langer Überlegung, daß er gestern ein Wunder erlebt hatte, ein Wunder. Und, da er in dieser letzten warmen Nacht, zugedeckt von der Zeitung, besonders gut geschlafen zu haben glaubte, wie seit langem nicht, beschloß er auch, sich zu waschen, was er seit vielen Monaten, nämlich in der kälteren Jahreszeit, nicht getan hatte. Bevor er aber seine Kleider ablegte, griff er noch einmal in die innere linke Rocktasche, wo, seiner Erinnerung nach, der greifbare Rest des Wunders sich befinden mußte. Nun suchte er eine besonders abgelegene Stelle an der Böschung der Seine, um sich zumindest Gesicht und Hals zu waschen. Da es ihm aber schien, daß überall Menschen, armselige Menschen seiner Art eben (verkommen, wie er sie auf einmal selbst im stillen nannte), seiner Waschung zusehen könnten, verzichtete er schließlich auf sein Vorhaben und begnügte sich damit, nur die Hände ins Wasser zu tauchen. Hierauf zog er sich den Rock wieder an, griff noch einmal nach dem Schein in der linken inneren Tasche und kam sich vollständig gesäubert und geradezu verwandelt vor. Er ging in den Tag hinein, in einen seiner Tage, die er seit undenklichen Zeiten zu vertun gewohnt war, entschlossen, sich auch heute in die gewohnte Rue des Quatre Vents zu begeben, wo sich das russisch-armenische Restaurant Tari-Bari befand und wo er das kärgliche Geld, das ihm der tägliche Zufall beschied, in billigen Getränken anlegte.

    Allein, an dem ersten Zeitungskiosk, an dem er vorbeikam, blieb er stehen, angezogen von den Illustrationen mancher Wochenschriften, aber auch plötzlich von der Neugier erfaßt, zu wissen, welcher Tag heute sei, welches Datum und welchen Namen dieser Tag trage. Er kaufte also eine Zeitung und sah, daß es ein Donnerstag war, und erinnerte sich plötzlich, daß er an einem Donnerstag geboren worden war, und ohne nach dem Datum zu sehen, beschloß er, diesen Donnerstag gerade für seinen Geburtstag zu halten. Und da er schon von einer kindlichen Feiertagsfreude ergriffen war, zögerte er auch nicht mehr einen Augenblick, sich guten, ja edlen Vorsätzen hinzugeben und nicht in das Tari-Bari einzutreten, sondern, die Zeitung in der Hand, in eine bessere Taverne, um dort einen Kaffee, allerdings mit Rum arrosiert, zu nehmen und ein Butterbrot zu essen.

    Er ging also, selbstbewußt, trotz seiner zerlumpten Kleidung, in ein bürgerliches Bistro, setzte sich an einen Tisch, er, der seit so langer Zeit nur an der Theke zu stehen gewohnt war, das heißt: an ihr zu lehnen. Er setzte sich also. Und da sich seinem Sitz gegenüber ein Spiegel befand, konnte er auch nicht umhin, sein Angesicht zu betrachten, und es war ihm, als machte er jetzt aufs neue mit sich selbst Bekanntschaft. Da erschrak er allerdings. Er wußte auch zugleich, weshalb er sich in den letzten Jahren vor Spiegeln so gefürchtet hatte. Denn es war nicht gut, die eigene Verkommenheit mit eigenen Augen zu sehen. Und solange man es nicht anschaun mußte, war es beinahe so, als hätte man entweder überhaupt kein Angesicht, oder noch das alte, das herstammte aus der Zeit vor der Verkommenheit.

    Jetzt aber erschrak er, wie gesagt, insbesondere, da er seine Physiognomie mit jenen der wohlanständigen Männer verglich, die in seiner Nachbarschaft saßen. Vor acht Tagen hatte er sich rasieren lassen, schlecht und recht, wie es eben ging, von einem seiner Schicksalsgenossen, die hie und da bereit waren, einen Bruder zu rasieren, gegen ein geringes Entgelt. Jetzt aber galt es, da man beschlossen hatte, ein neues Leben zu beginnen, sich wirklich, sich endgültig rasieren zu lassen. Er beschloß, in einen richtigen Friseurladen zu gehen, bevor er noch etwas bestellte.

    Gedacht, getan – und er ging in einen Friseurladen.

    Als er in die Taverne zurückkam, war der Platz, den er vorher eingenommen hatte, besetzt, und er konnte sich also nur von ferne im Spiegel sehen. Aber es reichte vollkommen, damit er erkenne, daß er verändert sei, verjüngt und verschönt. Ja, es war, als ginge von seinem Angesicht ein Glanz aus, der die Zerlumptheit der Kleider unbedeutend machte und die sichtlich zerschlissene Hemdbrust – und die rot-weiß gestreifte Krawatte, geschlungen um den Kragen mit rissigem Rand.

    Also setzte er sich, unser Andreas, und im Bewußtsein seiner Erneuerung bestellte er mit jener sicheren Stimme, die er dereinst besessen hatte und die ihm jetzt wieder, wie eine alte liebe Freundin, zurückgekommen schien, einen »café, arroseé rhum«. Diesen bekam er auch, und, wie er zu bemerken glaubte, mit allem gehörigen Respekt, wie er sonst von Kellnern ehrwürdigen Gästen gegenüber bezeugt wird. Dies schmeichelte unserm Andreas besonders, es erhöhte ihn auch, und es bestätigte ihm seine Annahme, daß er gerade heute Geburtstag habe.

    Ein Herr, der allein in der Nähe des Obdachlosen saß, betrachtete ihn längere Zeit, wandte sich um und sagte: »Wollen Sie Geld verdienen? Sie können bei mir arbeiten. Ich übersiedle nämlich morgen. Sie könnten meiner Frau und auch den Möbelpackern helfen. Mir scheint, Sie sind kräftig genug. Sie können doch? Sie wollen doch?«

    »Gewiß will ich«, antwortete Andreas.

    »Und was verlangen Sie«, fragte der Herr, »für eine Arbeit von zwei Tagen? Morgen und Samstag? Denn ich habe eine ziemlich große Wohnung, müssen Sie wissen, und ich beziehe eine noch größere. Und viele Möbel habe ich auch. Und ich selbst habe in meinem Geschäft zu tun.«

    »Bitte, ich bin dabei!« – sagte der Obdachlose.

    »Trinken Sie?« – fragte der Herr.

    Und er bestellte zwei Pernods, und sie stießen an, der Herr und der Andreas, und sie wurden miteinander auch über den Preis einig: er betrug zweihundert Francs.

    »Trinken wir noch einen?« – fragte der Herr, nachdem er den ersten Pernod geleert hatte.

    »Aber jetzt werde ich zahlen«, sagte der obdachlose Andreas. »Denn Sie kennen mich nicht: ich bin ein Ehrenmann. Ein ehrlicher Arbeiter. Sehen Sie meine Hände!« – Und er zeigte seine Hände her. – »Es sind schmutzige, schwielige, aber ehrliche Arbeiterhände.«

    »Das hab’ ich gern!« – sagte der Herr. Er hatte funkelnde Augen, ein rosa Kindergesicht und genau in der Mitte einen schwarzen kleinen Schnurrbart. Es war, im ganzen genommen, ein ziemlich freundlicher Mann, und Andreas gefiel er gut.

    Sie tranken also zusammen, und Andreas zahlte die zweite Runde. Und als sich der Herr mit dem Kindergesicht erhob, sah Andreas, daß er sehr dick war. Er zog seine Visitenkarte aus der Brieftasche und schrieb seine Adresse darauf. Und hierauf zog er noch einen Hundertfrancsschein aus der gleichen Brieftasche, überreichte beides dem Andreas und sagte dazu: »Damit Sie auch sicher morgen kommen! Morgen früh um acht! Vergessen Sie nicht! Und den Rest bekommen Sie! Und nach der Arbeit trinken wir wieder einen Apéritif zusammen. Auf Wiedersehn! lieber Freund!« – Damit ging der Herr, der dicke, mit dem Kindergesicht, und den Andreas verwunderte nichts mehr als dies, daß der dicke Mann die Adresse aus der gleichen Tasche gezogen hatte wie das Geld.

    Nun, da er Geld besaß und noch die Aussicht hatte, mehr zu verdienen, beschloß er, sich ebenfalls eine Brieftasche anzuschaffen. Zu diesem Zweck begab er sich auf die Suche nach einem Lederwaren-Laden. In dem ersten, der auf seinem Wege lag, stand eine junge Verkäuferin. Sie erschien ihm sehr hübsch, wie sie so hinter dem Ladentisch stand, in einem strengen schwarzen Kleid, ein weißes Lätzchen über der Brust, mit Löckchen am Kopf und einem schweren Goldreifen am rechten Handgelenk. Er nahm den Hut vor ihr ab und sagte heiter: »Ich suche eine Brieftasche.« Das Mädchen warf einen flüchtigen Blick auf seine schlechte Kleidung, aber es war nichts Böses in ihrem Blick, sondern sie hatte den Kunden nur einfach abschätzen wollen. Denn es befanden sich in ihrem Laden teure, mittelteure und ganz billige Brieftaschen. Um überflüssige Fragen zu ersparen, stieg sie sofort eine Leiter hinauf und holte eine Schachtel aus der höchsten Etagere. Dort lagerten nämlich die Brieftaschen, die manche Kunden zurückgebracht hatten, um sie gegen andere einzutauschen. Hierbei sah Andreas, daß dieses Mädchen sehr schöne Beine und sehr schlanke Halbschuhe hatte, und er erinnerte sich jener halbvergessenen Zeiten, in denen er selbst solche Waden gestreichelt, solche Füße geküßt hatte; aber der Gesichter erinnerte er sich nicht mehr, der Gesichter der Frauen; mit Ausnahme eines einzigen, nämlich jenes, für das er im Gefängnis gesessen hatte.

    Indessen stieg das Mädchen von der Leiter, öffnete die Schachtel, und er wählte eine der Brieftaschen, die zuoberst lagen, ohne sie näher anzusehen. Er zahlte und setzte den Hut wieder auf und lächelte dem Mädchen zu, und das Mädchen lächelte wieder. Zerstreut steckte er die neue Brieftasche ein, aber das Geld ließ er daneben liegen. Ohne Sinn erschien ihm plötzlich die Brieftasche. Hingegen beschäftigte er sich mit der Leiter, mit den Beinen, mit den Füßen des Mädchens. Deshalb ging er in die Richtung des Montmartre, jene Stätten zu suchen, an denen er früher Lust genossen hatte. In einem steilen und engen Gäßchen fand er auch die Taverne mit den Mädchen. Er setzte sich mit mehreren an einen Tisch, bezahlte eine Runde und wählte eines von den Mädchen, und zwar jenes, das ihm am nächsten saß. Hierauf ging er zu ihr. Und obwohl es erst Nachmittag war, schlief er bis in den grauenden Morgen – und weil die Wirte gutmütig waren, ließen sie ihn schlafen.

    Am nächsten Morgen, am Freitag also, ging er zu der Arbeit, zu dem dicken Herrn. Dort galt es, der Hausfrau beim Einpacken zu helfen, und obwohl die Möbelpacker bereits ihr Werk verrichteten, blieben für Andreas noch genug schwierige und weniger harte Hilfeleistungen übrig. Doch spürte er im Laufe des Tages die Kraft in seine Muskeln zurückkehren und freute sich der Arbeit. Denn bei der Arbeit war er aufgewachsen, ein Kohlenarbeiter, wie sein Vater, und noch ein wenig ein Bauer, wie sein Großvater. Hätte ihn nur die Frau des Hauses nicht so aufgeregt, die ihm sinnlose Befehle erteilte und ihn mit einem einzigen Atemzug hierhin und dorthin beorderte, so daß er nicht wußte, wo ihm der Kopf stand. Aber sie selbst war aufgeregt, er sah es ein. Es konnte auch ihr nicht leichtfallen, so mir nichts, dir nichts, zu übersiedeln, und vielleicht hatte sie auch Angst vor dem neuen Haus. Sie stand angezogen, im Mantel, mit Hut und Handschuhen, Täschchen und Regenschirm, obwohl sie doch hätte wissen müssen, daß sie noch einen Tag und eine Nacht und auch morgen noch im Hause verbleiben müsse. Von Zeit zu Zeit mußte sie sich die Lippen schminken, Andreas begriff es vortrefflich. Denn sie war eine Dame. Andreas arbeitete den ganzen Tag. Als er fertig war, sagte die Frau des Hauses zu ihm: »Kommen Sie morgen pünktlich, um sieben Uhr früh.« Sie zog ein Beutelchen aus ihrem Täschchen, Silbermünzen lagen darin. Sie suchte lange, ergriff ein Zehnfrancsstück, ließ es aber wieder ruhen, dann entschloß sie sich, fünf Francs hervorzuziehen. »Hier ein Trinkgeld!« – sagte sie. »Aber« – so fügte sie hinzu – »vertrinken Sie’s nicht ganz und seien Sie pünktlich morgen hier!«

    Andreas dankte, ging, vertrank das Trinkgeld, aber nicht mehr. Er verschlief diese Nacht in einem kleinen Hotel.

    Man weckte ihn um sechs Uhr morgens. Und er ging frisch an seine Arbeit.
    4

    So kam er am nächsten Morgen, früher noch als die Möbelpacker. Und wie am vorigen Tage stand die Frau des Hauses schon da, angekleidet, mit Hut und Handschuhen, als hätte sie sich gar nicht schlafen gelegt, und sagte zu ihm freundlich: »Ich sehe also, daß Sie gestern meiner Mahnung gefolgt sind und wirklich nicht alles Geld vertrunken haben.«

    Nun machte sich Andreas an die Arbeit. Und er begleitete noch die Frau in das neue Haus, in das sie übersiedelten, und wartete, bis der freundliche, dicke Mann kam, und der bezahlte ihm den versprochenen Lohn.

    »Ich lade Sie noch auf einen Trunk ein«, sagte der dicke Herr. »Kommen Sie mit.«

    Aber die Frau des Hauses verhinderte es, denn sie trat dazwischen und verstellte geradezu ihrem Mann den Weg und sagte: »Wir müssen gleich essen.« Also ging Andreas allein weg, trank allein und aß allein an diesem Abend und trat noch in zwei Tavernen ein, um an den Theken zu trinken. Er trank viel, aber er betrank sich nicht und gab acht, daß er nicht zuviel Geld ausgäbe, denn er wollte morgen, eingedenk seines Versprechens, in die Kapelle Ste Marie des Batignolles gehen, um wenigstens einen Teil seiner Schuld an die kleine heilige Therese abzustatten. Allerdings trank er gerade so viel, daß er nicht mehr mit einem ganz sicheren Auge und mit dem Instinkt, den nur die Armut verleiht, das allerbilligste Hotel jener Gegend finden konnte.

    Also fand er ein etwas teureres Hotel und auch hier zahlte er im voraus, weil er zerschlissene Kleider und kein Gepäck hatte. Aber er machte sich gar nichts daraus und schlief ruhig, ja, bis in den Tag hinein. Er erwachte durch das Dröhnen der Glocken einer nahen Kirche und wußte sofort, was heute für ein wichtiger Tag sei: ein Sonntag; und daß er zur kleinen heiligen Therese müsse, um ihr seine Schuld zurückzuzahlen. Flugs fuhr er nun in die Kleider und begab sich schnellen Schrittes zu dem Platz, wo sich die Kapelle befand. Er kam aber dennoch nicht rechtzeitig zur Zehn-Uhr-Messe an, die Leute strömten ihm gerade aus der Kirche entgegen. Er fragte, wann die nächste Messe beginne, und man sagte ihm, sie fände um zwölf Uhr statt. Er wurde ein wenig ratlos, wie er so vor dem Eingang der Kapelle stand. Er hatte noch eine Stunde Zeit, und diese wollte er keineswegs auf der Straße verbringen. Er sah sich also um, wo er am besten warten könne, und erblickte rechts schräg gegenüber der Kapelle ein Bistro, und dorthin ging er und beschloß, die Stunde, die ihm übrigblieb, abzuwarten.

    Mit der Sicherheit eines Menschen, der Geld in seiner Tasche weiß, bestellte er einen Pernod, und er trank ihn auch mit der Sicherheit eines Menschen, der schon viele in seinem Leben getrunken hatte. Er trank noch einen zweiten und einen dritten, und er schüttete immer weniger Wasser in sein Glas nach. Und als gar der vierte kam, wußte er nicht mehr, ob er zwei, fünf oder sechs Gläser getrunken hatte. Auch erinnerte er sich nicht mehr, weshalb er in dieses Café und an diesen Ort geraten sei. Er wußte lediglich noch, daß er hier einer Pflicht, einer Ehrenpflicht, zu gehorchen hatte, und er zahlte, erhob sich, ging, immerhin noch sicheren Schrittes, zur Tür hinaus, erblickte die Kapelle schräg links gegenüber und wußte sofort wiederum, wo, warum und wozu er sich hier befinde. Eben wollte er den ersten Schritt in die Richtung der Kapelle lenken, als er plötzlich seinen Namen rufen hörte. »Andreas!« – rief eine Stimme, eine Frauenstimme. Sie kam aus verschütteten Zeiten. Er hielt inne und wandte den Kopf nach rechts, woher die Stimme gekommen war. Und er erkannte sofort das Gesicht, dessentwegen er im Gefängnis gesessen war. Es war Karoline.

    Karoline! Zwar trug sie Hut und Kleider, die er nie an ihr gekannt hatte, aber es war doch ihr Gesicht, und also zögerte er nicht, ihr in die Arme zu fallen, die sie im Nu ausgebreitet hatte. »Welch eine Begegnung«, sagte sie. Und es war wahrhaftig ihre Stimme, die Stimme der Karoline. »Bist du allein?« – fragte sie.

    »Ja«, sagte er, »ich bin allein.«

    »Komm, wir wollen uns aussprechen«, sagte sie.

    »Aber, aber«, erwiderte er, »ich bin verabredet.«

    »Mit einem Frauenzimmer?« – fragte sie.

    »Ja«, – sagte er furchtsam.

    »Mit wem?«

    »Mit der kleinen Therese« – antwortete er.

    »Sie hat nichts zu bedeuten« – sagte Karoline.

    In diesem Augenblick fuhr ein Taxi vorbei, und Karoline hielt es mit ihrem Regenschirm auf. Und schon sagte sie eine Adresse dem Chauffeur, und ehe sich es noch Andreas versehen hatte, saß er drinnen im Wagen neben Karoline, und schon rollten sie, schon rasten sie dahin, wie es Andreas schien, durch teils bekannte, teils unbekannte Straßen, weiß Gott, in welche Gefilde!

    Jetzt kamen sie in eine Gegend außerhalb der Stadt; lichtgrün, vorfrühlingsgrün war die Landschaft, in der sie hielten, das heißt der Garten, hinter dessen spärlichen Bäumen sich ein verschwiegenes Restaurant verbarg.

    Karoline stieg zuerst aus; mit dem Sturmesschritt, den er an ihr gewohnt war, stieg sie zuerst aus, über seine Knie hinweg. Sie zahlte, und er folgte ihr. Und sie gingen ins Restaurant und saßen nebeneinander auf einer Banquette aus grünem Plüsch, wie einst in jungen Zeiten, vor dem Kriminal. Sie bestellte das Essen, wie immer, und sie sah ihn an, und er wagte nicht, sie anzusehen.

    »Wo bist du die ganze Zeit gewesen?« – fragte sie.

    »Überall, nirgends« – sagte er. »Ich arbeite erst seit zwei Tagen wieder. Die ganze Zeit, seitdem wir uns nicht wiedergesehn haben, habe ich getrunken, und ich habe unter den Brücken geschlafen, wie alle unsereins, und du hast wahrscheinlich ein besseres Leben geführt. – Mit Männern«, fügte er nach einiger Zeit hinzu.

    »Und du?« fragte sie. »Mittendrin, wo du versoffen bist und ohne Arbeit und wo du unter den Brücken schläfst, hast du noch Zeit und Gelegenheit, eine Therese kennenzulernen. Und wenn ich nicht gekommen wäre, zufällig, wärest du wirklich zu ihr hingegangen.«

    Er antwortete nicht, er schwieg, bis sie beide das Fleisch gegessen hatten und der Käse kam und das Obst. Und wie er den letzten Schluck Wein aus seinem Glase getrunken hatte, überfiel ihn aufs neue jener plötzliche Schrecken, den er vor langen Jahren, während der Zeit seines Zusammenlebens mit Karoline, so oft gefühlt hatte. Und er wollte ihr wieder einmal entfliehen, und er rief: »Kellner, zahlen!« Sie aber fuhr ihm dazwischen: »Das ist meine Sache, Kellner!« Der Kellner, es war ein gereifter Mann mit erfahrenen Augen, sagte: »Der Herr hat zuerst gerufen.« Andreas war es also auch, der zahlte. Bei dieser Gelegenheit hatte er das ganze Geld aus der linken inneren Rocktasche hervorgeholt, und nachdem er gezahlt hatte, sah er mit einigem, allerdings durch Weingenuß gemildertem Schrecken, daß er nicht mehr die ganze Summe besaß, die er der kleinen Heiligen schuldete. »Aber es geschehen«, sagte er sich im stillen, »mir heutzutage so viele Wunder hintereinander, daß ich wohl sicherlich die nächste Woche noch das schuldige Geld aufbringen und zurückzahlen werde.«

    »Du bist also ein reicher Mann«, sagte Karoline auf der Straße. »Von dieser kleinen Therese läßt du dich wohl aushalten.«

    Er erwiderte nichts, und also war sie dessen sicher, daß sie recht hatte. Sie verlangte, ins Kino geführt zu werden. Und er ging mit ihr ins Kino. Nach langer Zeit sah er wieder ein Filmstück. Aber es war schon so lange her, daß er eines gesehen hatte, daß er dieses kaum mehr verstand und an der Schulter der Karoline einschlief. Hierauf gingen sie in ein Tanzlokal, wo man Ziehharmonika spielte, und es war schon so lange her, seitdem er zuletzt getanzt hatte, daß er gar nicht mehr recht tanzen konnte, als er es mit Karoline versuchte. Also nahmen sie ihm andere Tänzer weg, sie war immer noch recht frisch und begehrenswert. Er saß allein am Tisch und trank wieder Pernod, und es war ihm wie in alten Zeiten, wo Karoline auch mit anderen getanzt und er allein am Tisch getrunken hatte. Infolgedessen holte er sie auch plötzlich und gewaltsam aus den Armen eines Tänzers weg und sagte: »Wir gehen nach Hause!« Faßte sie am Nacken und ließ sie nicht mehr los, zahlte und ging mit ihr nach Hause. Sie wohnte in der Nähe.

    Und so war alles wie in alten Zeiten, in den Zeiten vor dem Kriminal.
    5

    Sehr früh am Morgen erwachte er. Karoline schlief noch. Ein einzelner Vogel zwitscherte vor dem offenen Fenster. Eine Zeitlang blieb er mit offenen Augen liegen und nicht länger als ein paar Minuten. In diesen wenigen Minuten dachte er nach. Es kam ihm vor, daß ihm seit langer Zeit nicht so viel Merkwürdiges passiert sei wie in dieser einzigen Woche. Auf einmal wandte er sein Gesicht um und sah Karoline zu seiner Rechten. Was er gestern bei der Begegnung mit ihr nicht gesehen hatte, bemerkte er jetzt: sie war alt geworden: blaß, aufgedunsen und schwer atmend schlief sie den Morgenschlaf alternder Frauen. Er erkannte den Wandel der Zeiten, die an ihm selbst vorbeigegangen waren. Und er erkannte auch den Wandel seiner selbst, und er beschloß, sofort aufzustehen, ohne Karoline zu wecken, und ebenso zufällig, oder besser gesagt, schicksalshaft wegzugehen, so wie sie beide, Karoline und er, gestern zusammengekommen waren. Verstohlen zog er sich an und ging davon, in einen neuen Tag hinein, in einen seiner gewohnten neuen Tage.

    Das heißt, eigentlich in einen seiner ungewohnten. Denn als er in die linke Brusttasche griff, wo er das erst seit einiger Zeit erworbene oder gefundene Geld aufzuheben gewohnt war, bemerkte er, daß ihm nur noch mehr ein Schein von fünfzig Francs verblieben war und ein paar kleine Münzen dazu. Und er, der schon seit langen Jahren nicht gewußt hatte, was Geld bedeute, und auf dessen Bedeutung er keineswegs mehr achtgegeben hatte, erschrak nunmehr, so wie einer zu erschrecken pflegt, der gewohnt ist, immer Geld in der Tasche zu haben, und auf einmal in die Verlegenheit gerät, sehr wenig noch in ihr zu finden. Auf einmal schien es ihm, inmitten der morgengrauen, verlassenen Gasse, daß er, der seit unzähligen Monaten Geldlose, plötzlich arm geworden sei, weil er nicht mehr so viele Scheine in der Tasche verspürte, wie er sie in den letzten Tagen besessen hatte. Und es kam ihm vor, daß die Zeit seiner Geldlosigkeit sehr, sehr weit hinter ihm zurück läge, und daß er eigentlich den Betrag, welcher den ihm gebührenden Lebensstandard aufrechterhalten sollte, übermütiger sowie auch leichtfertiger Weise für Karoline ausgegeben hatte.

    Er war also böse auf Karoline. Und auf einmal begann er, der niemals auf Geldbesitz Wert gelegt hatte, den Wert des Geldes zu schätzen. Auf einmal fand er, daß der Besitz eines Fünfzig-Francs-Scheines lächerlich sei für einen Mann von solchem Wert und daß er überhaupt, um auch nur über den Wert seiner Persönlichkeit sich selber klarzuwerden, es unbedingt nötig habe, über sich selbst in Ruhe bei einem Glas Pernod nachzudenken.

    Nun suchte er sich unter den nächstliegenden Gaststätten eine aus, die ihm am gefälligsten schien, setzte sich dorthin und bestellte einen Pernod. Während er ihn trank, erinnerte er sich daran, daß er eigentlich ohne Aufenthaltserlaubnis in Paris lebte, und er sah seine Papiere nach. Und hierauf fand er, daß er eigentlich ausgewiesen sei, denn er war als Kohlenarbeiter nach Frankreich gekommen, und er stammte aus Olschowice, aus dem polnischen Schlesien.
    6

    Hierauf, während er seine halbzerfetzten Papiere vor sich auf dem Tisch ausbreitete, erinnerte er sich daran, daß er eines Tages, vor vielen Jahren, hierher gekommen war, weil man in der Zeitung kundgemacht hatte, daß man in Frankreich Kohlenarbeiter suche. Und er hatte sich sein Lebtag nach einem fernen Lande gesehnt. Und er hatte in den Gruben von Quebecque gearbeitet und er war einquartiert gewesen bei seinen Landsleuten, dem Ehepaar Schebiec. Und er liebte die Frau, und da der Mann sie eines Tages zu Tode schlagen wollte, schlug er, Andreas, den Mann tot. Dann saß er zwei Jahre im Kriminal.

    Diese Frau war eben Karoline.

    Und dieses alles dachte Andreas im Betrachten seiner bereits ungültig gewordenen Papiere. Und hierauf bestellte er noch einen Pernod, denn er war ganz unglücklich.

    Als er sich endlich erhob, verspürte er zwar eine Art von Hunger, aber nur jenen, von dem lediglich Trinker befallen werden können. Es ist dies nämlich eine besondere Art von Begehrlichkeit (nicht nach Nahrung), die lediglich ein paar Augenblicke dauert und sofort gestillt wird, sobald derjenige, der sie verspürt, sich ein bestimmtes Getränk vorstellt, das ihm in diesem bestimmten Moment zu behagen scheint.

    Lange schon hatte Andreas vergessen, wie er mit Vatersnamen hieß. Jetzt aber, nachdem er soeben seine ungültigen Papiere noch einmal gesehen hatte, erinnerte er sich daran, daß er Kartak hieße: Andreas Kartak. Und es war ihm, als entdeckte er sich selbst erst seit langen Jahren wieder.

    Immerhin grollte er einigermaßen dem Schicksal, das ihm nicht wieder, wie das letztemal, einen dicken, schnurrbärtigen, kindergesichtigen Mann in dieses Caféhaus geschickt hatte, der es ihm möglich gemacht hätte, neues Geld zu verdienen. Denn an nichts gewöhnen sich die Menschen so leicht wie an Wunder, wenn sie ihnen ein-, zwei-, dreimal widerfahren sind. Ja! Die Natur der Menschen ist derart, daß sie sogar böse werden, wenn ihnen nicht unaufhörlich all jenes zuteil wird, was ihnen ein zufälliges und vorübergehendes Geschick versprochen zu haben scheint. So sind die Menschen – – und was wollten wir anderes von Andreas erwarten? Den Rest des Tages verbrachte er also in verschiedenen anderen Tavernen, und er gab sich bereits damit zufrieden, daß die Zeit der Wunder, die er erlebt hatte, vorbei sei; endgültig vorbei sei, und seine alte Zeit nun wieder begonnen habe. Und zu jenem langsamen Untergang entschlossen, zu dem Trinker immer bereit sind – Nüchterne werden das nie erfahren! –, begab sich Andreas wieder an die Ufer der Seine, unter die Brücken.

    Er schlief dort, halb bei Tag und halb bei Nacht, so wie er es gewohnt gewesen war seit einem Jahr, hier und dort eine Flasche Schnaps ausleihend bei dem und jenem seiner Schicksalsgenossen – – bis zur Nacht des Donnerstags auf Freitag.

    In jener Nacht nämlich träumte ihm, daß die kleine Therese in der Gestalt eines blondgelockten Mädchens zu ihm käme und ihm sagte: »Warum bist du letzten Sonntag nicht bei mir gewesen?« Und die kleine Heilige sah genauso aus, wie er sich vor vielen Jahren seine eigene Tochter vorgestellt hatte. Und er hatte gar keine Tochter! Und im Traum sagte er zu der kleinen Therese: »Wie sprichst du zu mir? Hast du vergessen, daß ich dein Vater bin?« Die Kleine antwortete: »Verzeih, Vater, aber tu mir den Gefallen und komm morgen, Sonntag, zu mir in die Ste Marie des Batignolles.«

    Nach dieser Nacht, in der er diesen Traum geträumt hatte, erhob er sich erfrischt und wie vor einer Woche, als ihm noch die Wunder geschehen waren, so als nähme er den Traum für ein wahres Wunder. Noch einmal wollte er sich am Flusse waschen. Aber bevor er seinen Rock zu diesem Zweck ablegte, griff er in die linke Brusttasche, in der vagen Hoffnung, es könnte sich dort noch irgend etwas Geld vorfinden, von dem er vielleicht gar nichts gewußt hätte. Er griff in die linke innere Brusttasche seines Rockes, und seine Hand fand dort zwar keinen Geldschein, wohl aber jene lederne Brieftasche, die er vor ein paar Tagen gekauft hatte. Diese zog er hervor. Es war eine äußerst billige, bereits verbrauchte, umgetauschte, wie nicht anders zu erwarten. Spaltleder. Rindsleder. Er betrachtete sie, weil er sich nicht mehr erinnerte, daß, wo und wann er sie gekauft hatte. Wie kommt das zu mir? fragte er sich. Schließlich öffnete er das Ding und sah, daß es zwei Fächer hatte. Neugierig sah er in beide hinein, und in einem von ihnen war ein Geldschein. Und er zog ihn hervor, es war ein Tausend-Francs-Schein.

    Hierauf steckte er die tausend Francs in die Hosentasche und ging an das Ufer der Seine, und ohne sich um seine Unheilsgenossen zu kümmern, wusch er sich Gesicht und den Hals sogar, und dies beinahe fröhlich. Hierauf zog er sich den Rock wieder an und ging in den Tag hinein, und er begann den Tag damit, daß er in ein Tabac eintrat, um Zigaretten zu kaufen.

    Nun hatte er zwar Kleingeld genug, um die Zigaretten bezahlen zu können, aber er wußte nicht, bei welcher Gelegenheit er den Tausend-Francs-Schein, den er so wunderbarerweise in der Brieftasche gefunden hatte, wechseln könnte. Denn soviel Welterfahrung besaß er schon, daß er ahnte, es bestünde in den Augen der Welt, das heißt, in den Augen der maßgebenden Welt, ein bedeutender Gegensatz zwischen seiner Kleidung, seinem Aussehen und einem Schein von tausend Francs. Immerhin beschloß er, mutig, wie er durch das erneuerte Wunder geworden war, die Banknote zu zeigen. Allerdings, den Rest der Klugheit noch gebrauchend, der ihm verblieben war, um dem Herrn an der Kasse des Tabacs zu sagen: »Bitte, wenn Sie tausend Francs nicht wechseln können, gebe ich Ihnen auch Kleingeld. Ich möchte sie aber gerne gewechselt haben.«

    Zum Erstaunen Andreas’ sagte der Herr vom Tabac: »Im Gegenteil! Ich brauche einen Tausend-Francs-Schein, Sie kommen mir sehr gelegen.« Und der Besitzer wechselte den Tausend-Francs-Schein. Hierauf blieb Andreas ein wenig an der Theke stehen und trank drei Gläser Weißwein; gewissermaßen aus Dankbarkeit gegenüber dem Schicksal.
    7

    Indes er so an der Theke stand, fiel ihm eine eingerahmte Zeichnung auf, die hinter dem breiten Rücken des Wirtes an der Wand hing, und diese Zeichnung erinnerte ihn an einen alten Schulkameraden aus Olschowice. Er fragte den Wirt:

    »Wer ist das? Den kenne ich, glaube ich.« Darauf brachen sowohl der Wirt, als auch sämtliche Gäste, die an der Theke standen, in ein ungeheures Gelächter aus. Und sie riefen alle: »Wie, er kennt ihn nicht!«

    Denn es war in der Tat der große Fußballspieler Kanjak, schlesischer Abkunft, allen normalen Menschen wohlbekannt. Aber woher sollten ihn Alkoholiker, die unter den Seine-Brücken schliefen, kennen, und wie, zum Beispiel, unser Andreas? Da er sich aber schämte, und insbesondere deshalb, weil er soeben einen Tausend-Francs-Schein gewechselt hatte, sagte Andreas: »Oh, natürlich kenne ich ihn, und es ist sogar mein Freund. Aber die Zeichnung schien mir mißraten.« Hierauf, und damit man ihn nicht weiter fragte, zahlte er schnell und ging.

    Jetzt verspürte er Hunger. Er suchte also das nächste Gasthaus auf und aß und trank einen roten Wein und nach dem Käse einen Kaffee und beschloß, den Nachmittag in einem Kino zu verbringen. Er wußte nur noch nicht, in welchem. Er begab sich also im Bewußtsein dessen, daß er im Augenblick so viel Geld besäße, wie jeder der wohlhabenden Männer, die ihm auf der Straße entgegenkommen mochten, auf die großen Boulevards. Zwischen der Oper und dem Boulevard des Capucines suchte er nach einem Film, der ihm wohl gefallen möchte, und schließlich fand er einen. Das Plakat, das diesen Film ankündigte, stellte nämlich einen Mann dar, der in einem fernen Abenteuer offenbar unterzugehen gedachte. Er schlich, wie das Plakat vorgab, durch eine erbarmungslose, sonnverbrannte Wüste. In dieses Kino trat nun Andreas ein. Er sah den Film vom Mann, der durch die sonnverbrannte Wüste geht. Und schon war Andreas im Begriffe, den Helden des Films sympathisch und ihn sich selbst verwandt zu fühlen, als plötzlich das Kinostück eine unerwartet glückliche Wendung nahm und der Mann in der Wüste von einer vorbeiziehenden, wissenschaftlichen Karawane gerettet und in den Schoß der europäischen Zivilisation zurückgeführt wurde. Hierauf verlor Andreas jede Sympathie für den Helden des Films. Und schon war er im Begriff, sich zu erheben, als auf der Leinwand das Bild jenes Schulkameraden erschien, dessen Zeichnung er vor einer Weile, an der Theke stehend, hinter dem Rücken des Wirtes der Taverne gesehen hatte. Es war der große Fußballspieler Kanjak. Hierauf erinnerte sich Andreas, daß er einmal, vor zwanzig Jahren, mit Kanjak zusammen in der gleichen Schulbank gesessen hatte, und er beschloß, sich morgen sofort zu erkundigen, ob sein alter Schulkollege sich in Paris aufhielte.

    Denn er hatte, unser Andreas, nicht weniger als neunhundertachtzig Francs in der Tasche.

    Und dies ist nicht wenig.
    8

    Bevor er aber das Kino verließ, fiel es ihm ein, daß er es gar nicht nötig hätte, bis morgen früh auf die Adresse seines Freundes und Schulkameraden zu warten; insbesondere in Anbetracht der ziemlich hohen Summe, die er in der Tasche liegen hatte.

    Er war jetzt, in Anbetracht des Geldes, das ihm verblieb, so mutig geworden, daß er beschloß, sich an der Kasse nach der Adresse seines Freundes zu erkundigen, des berühmten Fußballspielers Kanjak. Er hatte gedacht, man müßte zu diesem Zweck den Direktor des Kinos persönlich fragen. Aber nein! Wer war in ganz Paris so bekannt wie der Fußballspieler Kanjak? Der Türsteher schon kannte seine Adresse. Er wohnte in einem Hotel an den Champs Elysées. Der Türsteher sagte ihm auch den Namen des Hotels; und sofort begab sich unser Andreas auf den Weg dorthin.

    Es war ein vornehmes, kleines und stilles Hotel, gerade eines jener Hotels, in denen Fußballspieler und Boxer, die Elite unserer Zeit, zu wohnen pflegen. Andreas kam sich in der Vorhalle etwas fremd vor, und auch den Angestellten des Hotels kam er etwas fremd vor. Immerhin sagten sie, der berühmte Fußballspieler Kanjak sei zu Hause und bereit, jeden Moment in die Vorhalle zu kommen.

    Nach ein paar Minuten kam er auch herunter, und sie erkannten sich beide sofort. Und sie tauschten im Stehen noch alte Schulerinnerungen aus, und hierauf gingen sie zusammen essen, und es herrschte große Fröhlichkeit zwischen beiden. Sie gingen zusammen essen, und es ergab sich also infolgedessen, daß der berühmte Fußballspieler seinen verkommenen Freund folgendes fragte:

    »Warum schaust du so verkommen aus, was trägst du überhaupt für Lumpen an deinem Leib?«

    »Es wäre schrecklich« – antwortete Andreas – »wenn ich erzählen wollte, wie das alles gekommen ist. Und es würde auch die Freude an unserem glücklichen Zusammentreffen bedeutsam stören. Laß uns darüber lieber kein Wort verlieren. Reden wir von was Heiterem.«

    »Ich habe viele Anzüge« – sagte der berühmte Fußballspieler Kanjak. »Und es wird mir eine Freude sein, dir den einen oder den anderen davon abzugeben. Du hast neben mir in der Schulbank gesessen, und du hast mich abschreiben lassen. Was bedeutet schon ein Anzug für mich! Wo soll ich ihn dir hinschicken?« »Das kannst du nicht«, erwiderte Andreas – »und zwar einfach deshalb, weil ich keine Adresse habe. Ich wohne nämlich seit einiger Zeit unter den Brücken an der Seine.«

    »So werde ich dir also« – sagte der Fußballspieler Kanjak – »ein Zimmer mieten, einfach zu dem Zweck, dir einen Anzug schenken zu können. Komm!«

    Nachdem sie gegessen hatten, gingen sie hin, und der Fußballspieler Kanjak mietete ein Zimmer, und dieses kostete fünfundzwanzig Francs pro Tag und war gelegen in der Nähe der großartigen Kirche von Paris, die unter dem Namen »Madeleine« bekannt ist.
    9

    Das Zimmer war im fünften Stock gelegen, und Andreas und der Fußballspieler mußten den Lift benützen. Andreas besaß selbstverständlich kein Gepäck. Aber weder der Portier noch der Liftboy noch sonst irgendeiner von dem Personal des Hotels verwunderte sich darüber. Denn es war einfach ein Wunder, und innerhalb des Wunders gibt es nichts Verwunderliches. Als sie beide im Zimmer oben standen, sagte der Fußballspieler Kanjak zu seinem Schulbankgenossen Andreas: »Du brauchst wahrscheinlich eine Seife.«

    »Unsereins« – erwiderte Andreas – »kann auch ohne Seife leben. Ich gedenke hier acht Tage ohne Seife zu wohnen, und ich werde mich trotzdem waschen. Ich möchte aber, daß wir uns zur Ehre dieses Zimmers sofort etwas zum Trinken bestellen.«

    Und der Fußballspieler bestellte ein Flasche Kognak. Diese tranken sie bis zur Neige. Hierauf verließen sie das Zimmer und nahmen ein Taxi und fuhren auf den Montmartre, und zwar in jenes Café, wo die Mädchen saßen und wo Andreas erst ein paar Tage vorher gewesen war. Nachdem sie dort zwei Stunden gesessen und Erinnerungen aus der Schulzeit ausgetauscht hatten, führte der Fußballspieler Andreas nach Hause, das heißt, in das Hotelzimmer, das er ihm gemietet hatte, und sagte zu ihm: »Jetzt ist es spät. Ich lasse dich allein. Ich schicke dir morgen zwei Anzüge. Und – brauchst du Geld?«

    »Nein« – sagte Andreas – »ich habe neunhundertachtzig Francs, und das ist nicht wenig. Geh nach Hause!«

    »Ich komme in zwei oder drei Tagen« – sagte der Freund, der Fußballspieler.
    10

    Das Hotelzimmer, in dem Andreas nunmehr wohnte, hatte die Nummer: neunundachtzig. Sobald Andreas sich allein in diesem Zimmer befand, setzte er sich in den bequemen Lehnstuhl, der mit rosa Rips überzogen war, und begann, sich umzusehn. Er sah zuerst die rotseidene Tapete, unterbrochen von zartgoldenen Papageienköpfen, an den Wänden drei elfenbeinerne Knöpfe, rechts an der Türleiste und in der Nähe des Bettes den Nachttisch und die Lampe darüber mit dunkelgrünem Schirm und ferner eine Tür mit einem weißen Knauf, hinter der sich etwas Geheimnisvolles, jedenfalls für Andreas Geheimnisvolles zu verbergen schien. Ferner gab es in der Nähe des Bettes ein schwarzes Telephon, dermaßen angebracht, daß auch ein im Bett Liegender das Hörrohr ganz leicht mit der rechten Hand erfassen kann.

    Andreas, nachdem er lange das Zimmer betrachtet hatte und darauf bedacht gewesen war, sich auch mit ihm vertraut zu machen, wurde plötzlich neugierig. Denn die Tür mit dem weißen Knauf irritierte ihn, und trotz seiner Angst und obwohl er der Hotelzimmer ungewohnt war, erhob er sich und beschloß nachzusehen, wohin die Tür führe. Er hatte gedacht, sie sei selbstverständlich geschlossen. Aber wie groß war sein Erstaunen, als sie sich freiwillig, beinahe zuvorkommend, öffnete!

    Er sah nunmehr, daß es ein Badezimmer war, mit glänzenden Kacheln und mit einer Badewanne, schimmernd und weiß, und mit einer Toilette, und kurz und gut, das, was man in seinen Kreisen eine Bedürfnisanstalt hätte nennen können.

    In diesem Augenblick auch verspürte er das Bedürfnis, sich zu waschen, und er ließ heißes und kaltes Wasser aus den beiden Hähnen in die Wanne rinnen. Und wie er sich auszog, um in sie hineinzusteigen, bedauerte er auch, daß er keine Hemden habe, denn wie er sich das Hemd auszog, sah er, daß es sehr schmutzig war, und von vornherein schon hatte er Angst vor dem Augenblick, in dem er wieder aus dem Bad gestiegen und dieses Hemd anziehen müßte.

    Er stieg in das Bad, er wußte wohl, daß es eine lange Zeit her war, seitdem er sich gewaschen hatte. Er badete geradezu mit Wollust, erhob sich, zog sich wieder an und wußte nun nicht mehr, was er mit sich anfangen sollte.

    Mehr aus Ratlosigkeit als aus Neugier öffnete er die Tür des Zimmers, trat in den Korridor und erblickte hier eine junge Frau, die aus ihrem Zimmer gerade herauskam, wie er eben selbst. Sie war schön und jung, wie ihm schien. Ja, sie erinnerte ihn an die Verkäuferin in dem Laden, wo er die Brieftasche erstanden hatte, und ein bißchen auch an Karoline, und infolgedessen verneigte er sich leicht vor ihr und grüßte sie, und da sie ihm antwortete, mit einem Kopfnicken, faßte er sich ein Herz und sagte ihr geradewegs: »Sie sind schön.«

    »Auch Sie gefallen mir« – antwortete sie – »einen Augenblick! Vielleicht sehen wir uns morgen.« – Und sie ging dahin im Dunkel des Korridors. Er aber, liebebedürftig, wie er plötzlich geworden war, sah nach der Nummer ihrer Tür, hinter der sie wohnte.

    Und es war die Nummer: siebenundachtzig. Diese merkte er sich in seinem Herzen.
    11

    Er kehrte wieder in sein Zimmer zurück, wartete, lauschte und war schon entschlossen, nicht erst den Morgen abzuwarten, um mit dem schönen Mädchen zusammenzukommen. Denn, obwohl er durch die fast ununterbrochene Reihe der Wunder in den letzten Tagen bereits überzeugt war, daß sich die Gnade auf ihn niedergelassen hatte, glaubte er doch gerade deswegen, zu einer Art Übermut berechtigt zu sein, und er nahm an, daß er gewissermaßen aus Höflichkeit der Gnade noch zuvorkommen müßte, ohne sie im geringsten zu kränken. Wie er nun also die leisen Schritte des Mädchens von Nummer siebenundachtzig zu vernehmen glaubte, öffnete er vorsichtig die Tür seines Zimmers einen Spalt breit und sah, daß sie es wirklich war, die in ihr Zimmer zurückkehrte. Was er aber freilich infolge seiner langjährigen Unerfahrenheit nicht bemerkte, war der nicht geringzuschätzende Umstand, daß auch das schöne Mädchen sein Spähen bemerkt hatte. Infolgedessen machte sie, wie sie es Beruf und Gewohnheit gelehrt hatten, hastig und hurtig eine scheinbare Ordnung in ihrem Zimmer und löschte die Deckenlampe aus und legte sich aufs Bett und nahm beim Schein der Nachttischlampe ein Buch in die Hand und las darin; aber es war ein Buch, das sie bereits längst gelesen hatte.

    Eine Weile später klopfte es auch zage an ihrer Tür, wie sie es auch erwartet hatte, und Andreas trat ein. Er blieb an der Schwelle stehen, obwohl er bereits die Gewißheit hatte, daß er im nächsten Augenblick die Einladung bekommen würde, näherzutreten. Denn das hübsche Mädchen rührte sich nicht aus ihrer Stellung, sie legte nicht einmal das Buch aus der Hand, sie fragte nur: »Und was wünschen Sie?«

    Andreas, sicher geworden durch Bad, Seife, Lehnstuhl, Tapete, Papageienköpfe und Anzug, erwiderte: »Ich kann nicht bis morgen warten, Gnädige.« Das Mädchen schwieg.

    Andreas trat näher an sie heran, fragte sie, was sie lese, und sagte aufrichtig: »Ich interessiere mich nicht für Bücher.«

    »Ich bin nur vorübergehend hier« – sagte das Mädchen auf dem Bett – »ich bleibe nur bis Sonntag hier. Am Montag muß ich nämlich in Cannes wieder auftreten.«

    »Als was?« – fragte Andreas.

    »Ich tanze im Kasino. Ich heiße Gabby. Haben Sie den Namen noch nie gehört?«

    »Gewiß, ich kenne ihn aus den Zeitungen« – log Andreas – und er wollte hinzufügen: »mit denen ich mich zudecke.« Aber er vermied es.

    Er setzte sich an den Rand des Bettes, und das schöne Mädchen hatte nichts dagegen. Sie legte sogar das Buch aus der Hand, und Andreas blieb bis zum Morgen in Zimmer siebenundachtzig.
    12

    Am Samstagmorgen erwachte er mit dem festen Entschluß, sich von dem schönen Mädchen bis zu ihrer Abreise nicht mehr zu trennen. Ja, in ihm blühte sogar der zarte Gedanke an eine Reise mit der jungen Frau nach Cannes, denn er war, wie alle armen Menschen, geneigt, kleine Summen, die er in der Tasche hatte (und insbesondere die trinkenden armen Menschen neigen dazu), für große zu halten. Er zählte also am Morgen seine neunhundertachtzig Francs noch einmal nach. Und da sie in einer Brieftasche lagen, und da diese Brieftasche in einem neuen Anzug steckte, hielt er die Summe um das Zehnfache vergrößert. Infolgedessen war er auch keineswegs erregt, als eine Stunde später, nachdem er es verlassen hatte, das schöne Mädchen bei ihm eintrat, ohne anzuklopfen, und da sie ihn fragte, wie sie beide den Samstag zu verbringen hätten, vor ihrer Abreise nach Cannes, sagte er aufs Geratewohl: »Fontainebleau.« Irgendwo, halb im Traum, hatte er es vielleicht gehört. Er wußte jedenfalls nicht mehr, warum und wieso ihm dieser Ortsname auf die Zunge gekommen war.

    Sie mieteten also ein Taxi, und sie fuhren nach Fontainebleau, und dort erwies es sich, daß das schöne Mädchen ein gutes Restaurant kannte, in dem man gute Speisen speisen und guten Trank trinken konnte. Und auch den Kellner kannte sie, und sie nannte ihn beim Vornamen. Und wenn unser Andreas eifersüchtig von Natur gewesen wäre, so hätte er wohl auch böse werden können. Aber er war nicht eifersüchtig, und also wurde er auch nicht böse. Sie verbrachten eine Zeitlang beim Essen und Trinken und fuhren hierauf, noch einmal im Taxi, zurück nach Paris, und auf einmal lag der strahlende Abend von Paris vor ihnen, und sie wußten nichts mit ihm anzufangen, eben wie Menschen nicht wissen, die nicht zueinander gehören und die nur zufällig zueinander gestoßen sind. Die Nacht breitete sich vor ihnen aus wie eine allzu lichte Wüste.

    Und sie wußten nicht mehr, was miteinander anzufangen, nachdem sie leichtfertigerweise das wesentliche Erlebnis vergeudet hatten, das Mann und Frau gegeben ist. Also beschlossen sie, was den Menschen unserer Zeit vorbehalten bleibt, sobald sie nicht wissen, was anzufangen, ins Kino zu gehen. Und sie saßen da, und es war keine Finsternis, nicht einmal ein Dunkel, und knapp konnte man es noch ein Halbdunkel nennen. Und sie drückten einander die Hände, das Mädchen und unser Freund Andreas. Aber sein Händedruck war gleichgültig, und er litt selber darunter. Er selbst. Hierauf, als die Pause kam, beschloß er, mit dem schönen Mädchen in die Halle zu gehen und zu trinken, und sie gingen auch beide hin, und sie tranken. Und das Kino interessierte ihn keineswegs mehr. Sie gingen in einer ziemlichen Beklommenheit ins Hotel.

    Am nächsten Morgen, es war Sonntag, erwachte Andreas in dem Bewußtsein seiner Pflicht, daß er das Geld zurückzahlen müsse. Er erhob sich schneller als am letzten Tag und so schnell, daß das schöne Mädchen aus dem Schlaf aufschrak und ihn fragte: »Warum so schnell, Andreas?«

    »Ich muß eine Schuld bezahlen«, sagte Andreas.

    »Wie? Heute am Sonntag?« – fragte das schöne Mädchen.

    »Ja, heute am Sonntag« – erwiderte Andreas.

    »Ist es eine Frau oder ein Mann, dem du Geld schuldig bist?«

    »Eine Frau« – sagte Andreas zögernd.

    »Wie heißt sie?«

    »Therese.«

    Daraufhin sprang das schöne Mädchen aus dem Bett, ballte die Fäuste und schlug sie auch beide Andreas ins Gesicht.

    Und daraufhin floh er aus dem Zimmer, und er verließ das Hotel. Und ohne sich weiter umzusehn, ging er in die Richtung der Ste Marie des Batignolles, in dem sicheren Bewußtsein, daß er heute endlich der kleinen Therese die zweihundert Francs zurückzahlen könnte.
    13

    Nun wollte es die Vorsehung – oder wie weniger gläubige Menschen sagen würden: der Zufall –, daß Andreas wieder einmal knapp nach der Zehn-Uhr-Messe ankam. Und es war selbstverständlich, daß er in der Nähe der Kirche das Bistro erblickte, in dem er zuletzt getrunken hatte, und dort trat er auch wieder ein.

    Er bestellte also zu trinken. Aber vorsichtig, wie er war und wie es alle Armen dieser Welt sind, selbst wenn sie Wunder über Wunder erlebt haben, sah er zuerst nach, ob er wirklich auch Geld genug besäße, und er zog seine Brieftasche heraus. Und da sah er, daß von seinen neunhundertachtzig Francs kaum noch mehr etwas übrig war.

    Es blieben ihm nämlich nur zweihundertfünfzig. Er dachte nach und erkannte, daß ihm das schöne Mädchen im Hotel das Geld genommen hatte. Aber unser Andreas machte sich gar nichts daraus. Er sagte sich, daß er für jede Lust zu zahlen habe, und er hatte Lust genossen, und er hatte also auch zu bezahlen.

    Er wollte hier abwarten, so lange bis die Glocken läuteten, die Glocken der nahen Kapelle, um zur Messe zu gehen und um dort endlich die Schuld der kleinen Heiligen abzustatten. Inzwischen wollte er trinken, und er bestellte zu trinken. Er trank. Die Glocken, die zur Messe riefen, begannen zu dröhnen, und er rief: »Zahlen, Kellner!«, zahlte, erhob sich, ging hinaus und stieß knapp vor der Tür mit einem sehr großen, breitschultrigen Mann zusammen. Den nannte er sofort: »Woitech.« Und dieser rief zu gleicher Zeit: »Andreas!« Sie sanken einander in die Arme, denn sie waren beide zusammen Kohlenarbeiter gewesen in Quebecque, zusammen beide in einer Grube.

    »Wenn du mich hier erwarten willst« – sagte Andreas – »zwanzig Minuten nur, so lange, wie die Messe dauert, nicht einen Moment länger!«

    »Grad nicht« – sagte Woitech. – »Seit wann gehst du überhaupt in die Messe? Ich kann die Pfaffen nicht leiden und noch weniger die Leute, die zu den Pfaffen gehn.«

    »Aber ich gehe zur kleinen Therese« – sagte Andreas – »ich bin ihr Geld schuldig.«

    »Meinst du die kleine heilige Therese?« – fragte Woitech.

    »Ja, die meine ich« – erwiderte Andreas.

    »Wieviel schuldest du ihr?« – fragte Woitech.

    »Zweihundert Francs!« – sagte Andreas.

    »Dann begleite ich dich!« – sagte Woitech.

    Die Glocken dröhnten immer noch. Sie gingen in die Kirche, und wie sie drinnen standen und die Messe gerade begonnen hatte, sagte Woitech mit flüsternder Stimme: »Gib mir sofort hundert Francs! Ich erinnere mich eben, daß mich drüben einer erwartet, ich komme sonst ins Kriminal!«

    Unverzüglich gab ihm Andreas die ganzen zwei Hundert-Francs-Scheine, die er noch besaß und sagte: »Ich komme sofort nach.«

    Und wie er nun einsah, daß er kein Geld mehr hatte, um es der Therese zurückzuzahlen, hielt er es auch für sinnlos, noch länger der Messe beizuwohnen. Nur aus Anstand wartete er noch fünf Minuten und ging dann hinüber, in das Bistro, wo Woitech auf ihn wartete.

    Von nun ab blieben sie Kumpane, denn das versprachen sie einander gegenseitig.

    Freilich hatte Woitech keinen Freund gehabt, dem er Geld schuldig gewesen wäre. Den einen Hundert-Francs-Schein, den ihm Andreas geborgt hatte, verbarg er sorgfältig im Taschentuch und machte einen Knoten darum. Für die andern hundert Francs lud er Andreas ein, zu trinken und noch einmal zu trinken, und noch einmal zu trinken, und in der Nacht gingen sie in jenes Haus, wo die gefälligen Mädchen saßen, und dort blieben sie auch alle beide drei Tage, und als sie wieder herauskamen, war es Dienstag und Woitech trennte sich von Andreas mit den Worten: »Sonntag sehen wir uns wieder, um dieselbe Zeit und an der gleichen Stelle und am selben Ort.«

    »Servus!« – sagte Andreas.

    »Servus!« – sagte Woitech und verschwand.
    14

    Es war ein regnerischer Dienstagnachmittag, und es regnete so dicht, daß Woitech im nächsten Augenblick tatsächlich verschwunden war. Jedenfalls schien es Andreas also.

    Es schien ihm, daß sein Freund verlorengegangen war im Regen, genauso, wie er ihn zufällig getroffen hatte, und da er kein Geld mehr in der Tasche besaß, ausgenommen fünfunddreißig Francs, und verwöhnt vom Schicksal, wie er sich glaubte, und der Wunder sicher, die ihm gewiß noch geschehen würden, beschloß er, wie alle Armen und des Trunkes Gewohnten es tun, sich wieder dem Gott anzuvertrauen, dem einzigen, an den er glaubte. Also ging er zur Seine und die gewohnte Treppe hinunter, die zu der Heimatstätte der Obdachlosen führt.

    Hier stieß er auf einen Mann, der eben im Begriffe war, die Treppe hinaufzusteigen, und der ihm sehr bekannt vorkam. Infolgedessen grüßte Andreas ihn höflich. Es war ein etwas älterer, gepflegt aussehender Herr, der stehenblieb, Andreas genau betrachtete und schließlich fragte: »Brauchen Sie Geld, lieber Herr?«

    An der Stimme erkannte Andreas, daß es jener Herr war, den er drei Wochen vorher getroffen hatte. Also sagte er: »Ich erinnere mich wohl, daß ich Ihnen noch Geld schuldig bin, ich sollte es der heiligen Therese zurückbringen. Aber es ist allerhand dazwischengekommen, wissen Sie. Und ich bin schon das drittemal daran verhindert gewesen, das Geld zurückzugeben.«

    »Sie irren sich« – sagte der ältere, wohlangezogene Herr – »ich habe nicht die Ehre, Sie zu kennen. Sie verwechseln mich offenbar, aber es scheint mir, daß Sie in einer Verlegenheit sind. Und, was die heilige Therese betrifft, von der Sie eben gesprochen haben, bin ich ihr dermaßen menschlich verbunden, daß ich selbstverständlich bereit bin, Ihnen das Geld vorzustrecken, das Sie ihr schuldig sind. Wieviel macht es denn?«

    »Zweihundert Francs« – erwiderte Andreas – »aber verzeihen Sie, Sie kennen mich ja nicht! Ich bin ein Ehrenmann, und Sie können mich kaum mahnen. Ich habe nämlich wohl meine Ehre, aber keine Adresse. Ich schlafe unter einer dieser Brücken.«

    »Oh, das macht nichts!« – sagte der Herr – »Auch ich pflege da zu schlafen. Und Sie erweisen mir geradezu einen Gefallen, für den ich nicht genug dankbar sein kann, wenn Sie mir das Geld abnehmen. Denn auch ich bin der kleinen Therese so viel schuldig!«

    »Dann« – sagte Andreas – »allerdings, stehe ich zu Ihrer Verfügung.«

    Er nahm das Geld, wartete eine Weile, bis der Herr die Stufen hinaufgeschritten war, und ging dann selber die gleichen Stufen hinauf und geradewegs in die Rue des Quatre Vents in sein altes Restaurant, in das russisch-armenische Tari-Bari, und dort blieb er bis zum Samstagabend. Und da erinnerte er sich, daß morgen Sonntag sei und daß er in die Kapelle Ste Marie des Batignolles zu gehen habe.
    15

    Im Tari-Bari waren viele Leute, denn manche schliefen dort, die kein Obdach hatten, tagelang, nächtelang, des Tags hinter der Theke und des Nachts auf den Banquetten. Andreas erhob sich am Sonntag sehr früh, nicht sosehr wegen der Messe, die er zu versäumen gefürchtet hätte, wie aus Angst vor dem Wirt, der ihn mahnen würde, Trank und Speise und Quartier für so viele Tage zu bezahlen.

    Er irrte sich aber, denn der Wirt war bereits viel früher aufgestanden als er. Denn der Wirt kannte ihn schon seit langem und wußte, daß unser Andreas dazu neigte, jede Gelegenheit wahrzunehmen, um Zahlungen auszuweichen. Infolgedessen mußte unser Andreas bezahlen, von Dienstag bis Sonntag, reichlich Speise und Getränke und viel mehr noch, als er gegessen und getrunken hatte. Denn der Wirt vom Tari-Bari wußte zu unterscheiden, welche von seinen Kunden rechnen konnten und welche nicht. Aber unser Andreas gehörte zu jenen, die nicht rechnen konnten, wie viele Trinker. Andreas zahlte also einen großen Teil des Geldes, das er bei sich hatte, und begab sich dennoch in die Richtung der Kapelle Ste Marie des Batignolles. Aber er wußte wohl schon, daß er nicht mehr genügend Geld hatte, um der heiligen Therese alles zurückzuzahlen. Und er dachte ebenso an seinen Freund Woitech, mit dem er sich verabredet hatte, genau in dem gleichen Maße, wie an seine kleine Gläubigerin.

    Nun also kam er in der Nähe der Kapelle an, und es war wieder leider nach der Zehn-Uhr-Messe, und noch einmal strömten ihm die Menschen entgegen, und wie er so gewohnt den Weg zum Bistro einschlug, hörte er hinter sich rufen, und plötzlich fühlte er eine derbe Hand auf seiner Schulter. Und wie er sich umwandte, war es ein Polizist.

    Unser Andreas, der, wie wir wissen, keine Papiere hatte, wie so viele seinesgleichen, erschrak und griff schon in die Tasche, einfach um sich den Anschein zu geben, er hätte etwelche Papiere, die richtig seien. Der Polizist aber sagte: »Ich weiß schon, was Sie suchen. In der Tasche suchen Sie es vergeblich! Ihre Brieftasche haben Sie eben verloren. Hier ist sie, und« – so fügte er noch scherzhaft hinzu – »das kommt davon, wenn man Sonntag am frühen Vormittag schon so viele Apéritifs getrunken hat! ...«

    Andreas ergriff schnell die Brieftasche, hatte kaum Gelassenheit genug, den Hut zu lüften, und ging stracks ins Bistro hinüber.

    Dort fand er den Woitech bereits vor und erkannte ihn nicht auf den ersten Blick, sondern erst nach einer längeren Weile. Dann aber begrüßte ihn unser Andreas um so herzlicher. Und sie konnten gar nicht aufhören, beide einander wechselseitig einzuladen, und Woitech, höflich, wie die meisten Menschen es sind, stand von der Banquette auf und bot Andreas den Ehrenplatz an und ging, so schwankend er auch war, um den Tisch herum, setzte sich gegenüber auf einen Stuhl und redete Höflichkeiten. Sie tranken lediglich Pernod.

    »Mir ist wieder etwas Merkwürdiges geschehen«, sagte Andreas. »Wie ich da zu unserem Rendezvous herübergehen will, faßt mich ein Polizist an der Schulter und sagt: ›Sie haben Ihre Brieftasche verloren.‹ Und gibt mir eine, die mir gar nicht gehört, und ich stecke sie ein, und jetzt will ich nachschauen, was es eigentlich ist.«

    Und damit zieht er die Brieftasche heraus und sieht nach, und es liegen darin mancherlei Papiere, die ihn nicht das geringste angehen, und er sieht auch Geld darin und zählt die Scheine, und es sind genau zweihundert Francs. Und da sagt Andreas: »Siehst du! Das ist ein Zeichen Gottes. Jetzt gehe ich hinüber und zahle endlich mein Geld!«

    »Dazu«, antwortete Woitech, »hast du ja Zeit, bis die Messe zu Ende ist. Wozu brauchst du denn die Messe? Während der Messe kannst du nichts zurückzahlen. Nach der Messe gehst du in die Sakristei, und inzwischen trinken wir!«

    »Natürlich, wie du willst«, antwortete Andreas.

    In diesem Augenblick tat sich die Tür auf, und während Andreas ein unheimliches Herzweh verspürte und eine große Schwäche im Kopf, sah er, daß ein junges Mädchen hereinkam und sich genau ihm gegenüber auf die Banquette setzte. Sie war sehr jung, so jung, wie er noch nie ein Mädchen gesehen zu haben glaubte, und sie war ganz himmelblau angezogen. Sie war nämlich blau, wie nur der Himmel blau sein kann, an manchen Tagen, und auch nur an gesegneten. So schwankte er also hinüber, verbeugte sich und sagte zu dem jungen Kind: »Was machen Sie hier?«

    »Ich warte auf meine Eltern, die eben aus der Messe kommen; die wollen mich hier abholen. Jeden vierten Sonntag«, sagte sie und war ganz verschüchtert vor dem älteren Mann, der sie so plötzlich angesprochen hatte. Sie fürchtete sich ein wenig vor ihm.

    Andreas fragte darauf: »Wie heißen Sie?«

    »Therese« – sagte sie.

    »Ah«, rief Andreas darauf, »das ist reizend! Ich habe nicht gedacht, daß eine so große, eine so kleine Heilige, eine so große und so kleine Gläubigerin mir die Ehre erweist, mich aufzusuchen, nachdem ich so lange nicht zu ihr gekommen war.«

    »Ich verstehe nicht, was Sie reden« – sagte das kleine Fräulein ziemlich verwirrt.

    »Das ist nur Ihre Feinheit«, erwiderte hier Andreas. »Das ist nur Ihre Feinheit, aber ich weiß sie zu schätzen. Ich bin Ihnen seit langem zweihundert Francs schuldig, und ich bin nicht mehr dazu gekommen, sie Ihnen zurückzugeben, heiliges Fräulein!«

    »Sie sind mir kein Geld schuldig, aber ich habe welches im Täschchen, hier, nehmen Sie und gehen Sie. Denn meine Eltern kommen bald.«

    Und somit gab sie ihm einen Hundert-Francs-Schein aus ihrem Täschchen.

    All dies sah Woitech im Spiegel, und er schwankte auf aus seinem Sessel und bestellte zwei Pernods und wollte eben unseren Andreas an die Theke schleppen, damit er mittrinke. Aber, wie Andreas sich eben anschickt, an die Theke zu treten, fällt er um wie ein Sack, und alle Menschen im Bistro erschrecken und Woitech auch. Und am meisten das Mädchen, das Therese heißt. Und man schleppt ihn, weil in der Nähe kein Arzt und keine Apotheke ist, in die Kapelle, und zwar in die Sakristei, weil Priester doch etwas von Sterben und Tod verstehen, wie die ungläubigen Kellner trotzdem glaubten; und das Fräulein, das Therese heißt, kann nicht umhin und geht mit.

    Man bringt also unsern armen Andreas in die Sakristei, und er kann leider nichts mehr reden, er macht nur eine Bewegung, als wollte er in die linke innere Rocktasche greifen, wo das Geld, das er der kleinen Gläubigerin schuldig ist, liegt, und er sagt: »Fräulein Therese!« – und tut seinen letzten Seufzer und stirbt.

    Gebe Gott uns allen, uns Trinkern, einen so leichten und so schönen Tod!

    #littérature #auf_Deutsch #alcoolisme #religion

  • Werke von Joseph Roth
    https://www.projekt-gutenberg.org/autoren/namen/roth.html

    Epub-Generstor
    http://www.epub2go.eu

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    Werke im Projekt Gutenberg-DE

    Romane:

    Beichte eines Mörders
    Das falsche Gewicht
    Das Spinnennetz
    Die hundert Tage
    Der stumme Prophet
    Die Flucht ohne Ende
    Die Geschichte von der 1002. Nacht
    Die Kapuzinergruft
    Die Rebellion
    Hiob
    Hotel Savoy
    Panoptikum
    Radetzkymarsch
    Rechts und Links
    Tarabas
    Zipper und sein Vater

    Erzählungen:

    Die Legende vom heiligen Trinker und andere Erzählungen
    Die Büste des Kaisers
    Triumph der Schönheit

    Journalistisches:

    Reise in Rußland
    Reportagen
    Reportagen aus Wien und Frankreich

    #Literatur #auf_Deutsch

  • 08.06.2020 - SRF Kultur Georg Wilhelm Friedrich Hegel – Was vom Phi...
    https://diasp.eu/p/11559316

    08.06.2020 - SRF Kultur

    Georg Wilhelm Friedrich Hegel – Was vom Philosophen bleibt | SRF Kultur

    https://youtu.be/SXidEQGvvsg

    Die Weltgeschichte ist ein von Widersprüchen vorangetriebener Fortschrittsprozess. Das Ziel: Die Verwirklichung von Vernunft und Freiheit. So sah es der deutsche Philosoph Georg Wilhelm Friedrich #Hegel . Fragt sich nur: Ist die Gesellschaft schon da? Was bleibt von Hegel, 250 Jahre nach seiner Geburt? Wie würde er die Gegenwart in Gedanken fassen? Konkret: Wie stünde er zum Lockdown während der Corona-Pandemie?

    Hegel war kein Freund von Einschränkungen, sagt die Philosophin und Hegel-Expertin Dina Emundts. Es gäbe aber noch einen zweiten Punkt bei Hegel, nämlich dass diese individuellen Freiheiten letztlich nur realisiert werden können, und auch letztlich nur (...)

    • (...) und auch letztlich nur Bestand haben, wenn sie eingebettet sind in ein System oder in einen Staat, der das Allgemeinwohl im Blick hat. Also der Zweck des Staates sei auch das Allgemeinwohl und dieses zu bewahren, weil das eine Bedingung für den Erhalt der individuellen Freiheit sei. Aus diesem Grund hätte Hegel die Einschränkungen während der Corona-Pandemie vermutlich gutgeheissen.

      250 Jahre nach der Geburt des deutschen Philosophen fragt Yves Bossart die Hegel-Expertin Dina Emundts zudem: Wer war dieser Hegel? Was wollte er? Und wozu braucht man ihn heute noch?

      Sternstunde Philosophie vom 8.6.2020

      #philosophie #idéalisme_allemand #auf_deutsch (1h)

  • #hartz4 17.08.2020 • Anna Mayr im Interview über Arbeitslosigkeit u...
    https://diasp.eu/p/11536144

    #hartz4

    17.08.2020 • Anna Mayr im Interview über Arbeitslosigkeit und ihr Buch „Die Elenden“

    https://www.jetzt.de/kultur/anna-mayr-im-interview-ueber-arbeitslosigkeit-und-ihr-buch-die-elenden

    „Wenn man sich nur über seinen Job identifiziert, sind Menschen ohne Job nichts“

    Mit ihrem Buch „Die Elenden“ will Autorin Anna Mayr den Blick auf Arbeitslose verändern. Im Interview erzählt sie über ihr Aufwachsen mit Hartz IV und was sich ändern muss.

  • US-Blockade -Google löscht Kuba
    https://www.jungewelt.de/artikel/384780.us-blockade-google-l%C3%B6scht-kuba.html

    22.8.2020 Volker Hermsdorf - US-Techkonzern schaltet Kommunikationskanäle Havannas ab. Unliebsame Inhalte sollen weltweit zensiert werden

    Während die US-Agentur USAID Millionen Dollar für neue internationale Medienkampagnen zur Destabilisierung Kubas ausgibt, zensiert Washington zugleich unbequeme Informationen von der Insel. Der US-Technologiekonzern Google LLC hat am Donnerstag (Ortszeit) die Youtube-Konten mehrerer kubanischer Medien geschlossen. Unter Berufung auf die US-Blockade hat das Unternehmen alle aktuellen und archivierten Inhalte des Zentralorgans der Kommunistischen Partei Kubas, Granma, des weltweit ausstrahlenden Fernsehsenders Cubavisión Internacional sowie der Informationssendung »Mesa Redonda« gelöscht. Dadurch wurde auch der Zugriff auf das Trackingtool Google Analytics und die cloudbasierte Plattform Google Play verhindert, berichtete das Onlineportal Cubadebate.

    Der Konzern begründete seine Maßnahme in einer Notiz mit der bereits seit 60 Jahren gegen die Insel verhängten Wirtschafts-, Handels- und Finanzblockade. Google unterliege den US-Exportgesetzen und die Regierung in Washington betrachte es als Export, wenn Software oder Inhalte von kubanischen Servern außerhalb dieses Landes heruntergeladen werden können. Nach US-Gesetzen sei auch die Übertragung von Google-Play-Anwendungen in Länder, gegen die Sanktionen verhängt wurden, verboten. Infolgedessen blockiere Google Downloads in diesen Ländern. »Damit ist klar, dass die US-Blockade, die sich auf alle Bereiche in Kuba erstreckt, auch als Rechtfertigung dafür dient, unliebsame Inhalte zu zensieren«, kritisierte Cubadebate.

    Die Granma bezeichnete die Kontosperrungen als »Aggression gegen wichtige kubanische Kommunikationskanäle«. Am selben Tag informierte der staatliche Fernsehsender Venezolana de Televisión (VTV) in Caracas darüber, dass Google auch drei VTV-Konten auf Youtube gelöscht hat, darunter jenes, auf dem alle VTV-Programme gezeigt werden. Der Sender verwies auf den zeitlichen Zusammenhang mit dem Vorgehen gegen kubanische Medien und erklärte seine Solidarität mit den von Washington zensierten Kollegen auf der Insel.

    Es ist nicht das erste Mal, dass US-Konzerne kubanische Medien behindern. 2019 blockierte Twitter die Konten von Cubadebate, der Zeitung Juventud Rebelde, des kommunistischen Jugendverbandes »Unión de Jóvenes Comunistas« und der Sendung »Mesa Redonda«. Google hatte bereits 2011 den später wieder eingerichteten Cubadebate-Kanal auf Youtube abgeschaltet. Zugleich finanziert Washington zunehmend »unabhängige Journalisten«. Kurz vor dem jüngsten Angriff hatte die dem US-Außenministerium unterstehende Agentur für Internationale Entwicklung (USAID) drei Millionen US-Dollar für »NGO und Journalisten« zur Verfügung gestellt, die über »die Ausbeutung kubanischer Beschäftigter und Ärzte« berichten.

    Propaganda und Zensur sind zwei Seiten derselben Medaille. Granma wies darauf hin, dass ihr gelöschter Kanal unter anderem Hintergrundinformationen über Maßnahmen zur Eindämmung der Covid-19-Pandemie in Kuba enthalten habe. Cubadebate äußerte den Verdacht, dass der Öffentlichkeit Erfolge Kubas im Kampf gegen die Pandemie vorenthalten werden sollen. So sei der über mehr als 19.000 Abonnenten verfügende Kanal der beliebten Fernsehsendung »Mesa Redonda« genau an dem Tag gesperrt worden, als ein Programm über den Beginn klinischer Studien eines in Kuba entwickelten Impfstoffkandidaten mit dem Namen »Soberana« ausgestrahlt wurde.

    #Cuba #USA #internet #Google #impérialisme

  • Un livre conseillé par une personne rencontrée lors du voyage dans les Appenins (amie d’ami·es)... et dont j’ai beaucoup aimé la vision sur l’#allaitement

    Il mio bambino non mi mangia - #Carlos_González

    La madre si prepara a dare da mangiare a suo figlio mentre lo distrae con un giocattolo. Lei prende un cucchiaio e lui, subito, predispone il suo piano strategico contro l’eccesso di cibo: la prima linea di difesa consiste nel chiudere la bocca e girare la testa. La madre preoccupata insiste con il cucchiaio. Il bambino si ritira allora nella seconda trincea: apre la bocca e lascia che gli mettano qualsiasi cosa, però non la inghiotte. I liquidi e i passati gocciolano spettacolarmente attraverso la fessura della sua bocca e la carne si trasforma in un’immensa palla.

    Questa situazione, più caratteristica di un campo di battaglia che di un’attività quotidiana, illustra con umorismo la tesi centrale di questo libro: l’inappetenza è un problema di equilibrio tra quello che un bambino mangia e quello che sua madre si aspetta che mangi. Mai obbligarlo. Non promettere regali, non dare stimolanti dell’appetito, né castighi. Il bambino conosce molto bene ciò di cui ha bisogno.

    Il pediatra Carlos González, responsabile della rubrica sull’allattamento materno della rivista Ser Padres, sdrammatizza il problema e, indicando regole chiare di comportamento, tranquillizza quelle madri che vivono il momento dell’allattamento e dello svezzamento come una questione personale, con angustia e sensi di colpa.

    Le mamme impareranno a riconoscere:

    – l’importanza dell’allattamento al seno;

    – quello che non bisogna fare all’ora dei pasti;

    – i luoghi comuni e i falsi miti legati allo svezzamento…

    e soprattutto a rispettare le preferenze e le necessità del loro bambino.

    https://www.bonomieditore.it/home-collana-educazione-pre-e-perinatale-ora-lo-so/il-mio-bambino-non-mi-mangia
    #maternité #livre #parentalité #éducation #alimentation #enfants #enfance #bébés

  • Kultur als politische Ideologie - Essay - Perlentaucher
    https://www.perlentaucher.de/essay/kultur-als-politische-ideologie.html

    26.10.2010 von Jens-Martin Eriksen , Frederik Stjernfelt - Der Kulturalismus der heutigen Linken speist sich stark aus anti-imperialistischen Diskursen. Aber wer so denkt, spielt nicht nur einer reaktionären Haltung im Islam, sondern auch einer Politik des „Teile und Herrsche“ in die Hände.

    I. Kulturalismus

    Die Kontroverse über den Multikulturalismus hat die politischen Frontverläufe verändert. Die Linke verteidigt den Respekt vor Minderheitskulturen, während die Rechte als Hüterin der Nationalkultur auftritt. Doch diese beiden Positionen bilden lediglich zwei Spielarten einer kulturalistischen Ideologie.

    Kulturalismus nennen wir die Vorstellung, dass Individuen von ihrer Kultur determiniert sind, dass diese Kultur eine abgeschlossene, organische Ganzheit bildet und das Individuum nicht in der Lage ist, seine oder ihre Kultur zu verlassen, sich vielmehr nur innerhalb dieser verwirklichen kann. Zudem behauptet der Kulturalismus, Kulturen hätten Anspruch auf besondere Rechte und Schutzmaßnahmen - auch wenn sie selbst die Rechte des Einzelnen verletzen.

    Der heutige Kulturalismus, der aus Kultur eine politische Ideologie macht, floriert bei der Linken wie bei der Rechten. Am bekanntesten ist der linke Multikulturalismus, den es in einer radikalen, antidemokratischen Variante gibt und in einer gemäßigten Variante, die ihn mit (sozial-) liberalen Vorstellungen in Einklang bringen möchte.

    Allerdings gibt es den Multikulturalismus auch bei der extremen Rechten, zum Beispiel in Form der französischen Konzepte des Ethnopluralismus. Danach haben alle Kulturen ein Recht auf Autonomie, solange sie jeweils innerhalb ihrer eigenen Territorien bleiben. Dieser rechte Ansatz führt zu dem politischen Schluss, dass Einwanderer es hinnehmen müssten, voll und ganz assimiliert zu werden, angefangen bei ihrer Religion bis hinunter zu ihrer Küche, wenn nicht, müssten sie in ihre ursprünglichen Heimatländer zurückkehren (was voraussetzt, dass es diese gibt).

    Der Kulturalismus teilt eine Reihe von Denkmustern mit dem Nationalismus. Tatsächlich ist der Nationalismus, für den eine einzige Kultur das Fundament des Staates bildet, in Wirklichkeit eine Unterart des Kulturalismus. Es überrascht daher nicht, dass die gegenwärtige Renaissance des Nationalismus in Europa in hohem Maße auf kulturalistischen Vorstellungen gründet. Das eindringlichste Beispiel auf lokaler Ebene ist die Dänische Volkspartei, die nationalistisches Gedankengut aus dem neunzehnten und frühen zwanzigsten Jahrhundert wiederbelebt, wozu auch ihre radikal antiaufklärerische Position zu zählen ist. Seit dem Streit um die Mohammed-Karikaturen hält es diese Partei aus strategischen Gründen für nötig, sich den Verteidigern der Redefreiheit gegen islamistische Machenschaften anzuschließen. Unabhängig von den Beweggründen für diese Kehrtwende muss festgehalten werden, dass sie nur möglich war, weil die Partei die Redefreiheit als „dänischen Wert“ in Anspruch nimmt - als ob sie eine hausgemachte Erfindung wäre. Offensichtlich handelt es sich um eine kulturalistische Geschichtsfälschung: Die Redefreiheit ist keine dänische Schöpfung. Sie hat ihren Ursprung in den Aufklärungsbewegungen verschiedener Länder; die Redefreiheit ist für Dänemark ein Import erster Güte. Liberale und demokratische Kräfte mussten sie unter großen Mühen und Kosten, in Auseinandersetzung mit dem dänischen Absolutismus und der dänischen Staatskirche erkämpfen, bis dieses Recht schließlich in der Juniverfassung von 1849, der ersten demokratischen Verfassung Dänemarks, festgeschrieben wurde.

    Ein drängendes Problem in Dänemark - wie auch in der internationalen Politik - besteht also darin, dass der Kulturalismus auf beiden Seiten des politischen Spektrums vertreten wird. Von der Linken hören wir kulturalistische Schlachtrufe nach Anerkennung der modernitätsfeindlichsten und unappetitlichsten kulturellen Praktiken; die Rechte propagiert das Dänentum und fordert die Neubelebung des modernitätsfeindlichsten und ungenießbarsten dänischen Nationalismus. Diese beiden Spielarten des Kulturalismus sind natürliche Feinde füreinander, und doch beruhen sie auf dem selben brüchigen Gedankengerüst. Ein Jahrhundert lang betrachteten der französische und der deutsche Nationalismus einander als Hauptfeinde, während beide sich doch ganz selbstverständlich auf dasselbe geistige Erbe beriefen. Der eine Kulturalismus ist automatisch der Feind des anderen, weil die Kulturalismen nun einmal zwangsläufig Partikularismen sind, weil jeder mit seinem erwählten Volk einhergeht - und nicht alle Völker gleichermaßen erwählt sein können.

    Dieser schrille Wechselgesang von Partikularismen, bei dem das Erstarken des linken Kulturalismus der kulturalistischen Rechten weitere Wähler in die Arme treibt und umgekehrt, sollte jedoch niemanden zu dem Schluss verführen, die wesentliche Konfliktlinie der heutigen Politik verlaufe zwischen den Kulturalismen der Linken und der Rechten. Im Gegenteil, der eigentliche Konflikt besteht zwischen Aufklärung und Kulturalismus - zwischen der Demokratie, dem politischem Liberalismus, den Rechten des Individuums, dem Universalismus und der Aufklärung auf der einen Seite und der unaufgeklärten Bewahrung von Kultur, Tradition und Authentizität sowie dem konservativen Glauben, das Individuum sei schicksalhaft an eine bestimmte Kultur gebunden, auf der anderen Seite.

    Somit gibt es zwei Arten, den Islam zu kritisieren, die nicht miteinander verwechselt werden dürfen. Die eine kritisiert den Islam als solchen, weil er eine fremde Religion ist, unvereinbar mit dänischen Werten und dänischen Traditionen. Es ist die Kritik des einen Kulturalismus an der Stimme eines anderen; Jesus Christus gegen Mohammed. Eine mythische Gestalt im schicksalhaften Streit mit einer anderen. Die andere Kritik hingegen greift den Islamismus an, nicht weil er undänisch, sondern weil er eine totalitäre Ideologie ist, die mit den verschiedenen Totalitarismen aus der europäischen Zwischenkriegszeit verwandt ist. Hier geht es um die tief ansetzende Kritik an einer politischen Bewegung, die sich gegen die offene Gesellschaft und wesentliche demokratische Prinzipien richtet. Diese Kritik richtet sich nicht gegen den Islam als solchen, sie zielt vielmehr auf ideologische, politische und gesellschaftliche Hindernisse, die es dem Einzelnen verwerfen, seine Rechte in Anspruch zu nehmen. Ob diese Hindernisse nun auf kulturellen, politischen, religiösen oder anderen Dogmen beruhen, ist letztendlich belanglos.

    Es gibt kaum eine wichtigere Aufgabe in der heutigen Politik und politischen Philosophie, als sich mit größter Aufmerksamkeit der universellen Aufklärung zu widmen und sich mit aller Kraft gegen die vorherrschenden rechten und linken Formen des Kulturalismus und die Versklavung des Individuums innerhalb seiner jeweiligen „Kultur“ zu wenden.

    Ein Blick auf die Kritik der Linken am Kulturalismus der Rechten bietet einen Anhaltspunkt dafür, wie weit die Linke von ihren Anfängen in der Aufklärung abgekommen ist. Es zeigt sich überdies, wie wenig die Linke im Grunde über ihre politischen Gegner in jenem Kampf weiß, der sich nun seit einigen Jahrzehnten abspielt. Die Debatte über Kultur hat inzwischen die Debatte über unterschiedliche politische Utopien ersetzt.

    Sehen wir uns näher an, welche Aufgabe der linke Kulturalismus bewältigen muss, und wie blind die beiden Kulturalismen für ihre wechselseitige Ähnlichkeit sind. In Dänemark fällt auf, dass die Linke seit ihrer Niederlage bei den Parlamentswahlen 2001 nicht in der Lage war, ihren vermeintlichen Gegner, die Dänischen Volkspartei, zu analysieren. Offenbar sind viele Linke etliche Jahre nach ihrer Niederlage immer noch nicht fähig, einen Schritt weiterzugehen. Sie glauben immer noch, es habe an dem gelegen, was sie einzig und allein der Rechten zuschreiben: sie sei „rassistisch“, und auch die Wähler, welche die Rechte erfolgreich mobilisieren konnte, seien entweder „rassistisch“ oder würden unter anderen psychischen Defekten wie der „Islamophobie“ leiden. An die Stelle der politischen Analyse ist sozusagen eine ziemlich grobschlächtige sozialpsychologische Diagnostik getreten.

    Der syrische Philosoph Aziz Al-Azmeh zeigt in seinem Buch „Die Islamisierung des Islam“, dass sich der Differenzialismus, ein erweiterter Begriff für Rassismus, im Lauf der Zeit „de-rassifiziert“ hat. „Rasse“ wird nicht mehr als gültige Form der Identifizierung empfunden. Was bleibt, ist der Kulturalismus. Die Dänische Volkspartei muss als eine kulturalistische Partei begriffen werden, in deren Einstellungen der moderne Differenzialismus zur Geltung kommt. Keine wichtige politische Bewegung in Dänemark oder anderswo in Europa gründet ihr politisches Programm noch auf den Rassismus. Keine Elite vertritt mehr eine derartige Position, nur noch radikale Verlierer ohne politische Bedeutung.

    Weshalb jedoch ist die Linke nicht in der Lage, den Kulturalismus bei ihrem politischen Gegner zu diagnostizieren und sich offensiv mit den Positionen auseinanderzusetzen, die die Dänische Volkspartei tatsächlich vertritt? Offenbar deshalb, weil sie die gleiche Auffassung von Kultur vertritt wie ihre spiegelbildlichen Gegner: Sie selbst ist kulturalistisch. Damit sind natürlich ihrer Fähigkeit Grenzen gesetzt, die Position des Gegners zu analysieren.

    Beide Kulturalismen bekunden Respekt für kulturelle Differenzen und wollen kulturelle Identitäten schützen. Rechte und linke Kulturalisten sprechen sich nur unter verschiedenen Deckmänteln für solche Schutzvorkehrungen aus. Die linken Kulturalisten behaupten, dass unterschiedliche Kulturen in der Lage sein sollten, auf demselben Territorium oder im selben Staat zu koexistieren, wo dann, ob offiziell oder inoffiziell, individuell verschiedene Rechtsprechungen zur Anwendung kommen sollen - je nach der kulturellen Gruppe, in die der Einzelne hineingeboren wurde. Die rechten Kulturalisten verfechten die gleiche Position, was die Bewahrung der kulturellen Identität angeht, allerdings soll jede Kultur auf ihrem eigenen Territorium verbleiben, jede Kultur in ihrem eigenen Land.

    Eine schwerwiegende Auswirkung dieser beiden erstarkten Formen des Kulturalismus auf die heutige Politik wird häufig übersehen: Gesellschaftliche Gruppen, die sich früher auf Basis gemeinsamer „Interessen“ organisiert haben, tun dies nun in wachsendem Maße auf der Basis von „Kultur“. Die politische Konsequenz ist natürlich die Zersplitterung dieser Gruppen.

    Der britische Philosoph Brian Barry schrieb dazu: „Die wuchernden Sonderinteressen, für die der Multikulturalismus ein Nährboden ist, führen ? zu einer Politik des ’Teile und Herrsche’, die nur jenen zugute kommen kann, die am meisten vom Status quo profitieren. Es gibt keine bessere Möglichkeit, den Albtraum einer einheitlichen politischen Bewegung durch die wirtschaftlich Benachteiligten zu verhindern, die in gemeinsamen Forderungen münden könnte, als verschiedene Gruppen von Benachteiligten gegeneinander aufzubringen. Den Blick abzulenken von gemeinsamen Benachteiligungen wie Arbeitslosigkeit, Armut, schlechte Unterkünfte und unzulängliche öffentliche Dienstleistungen ist langfristig natürlich eine anti-egalitäre Strategie. Alles, was die Partikularität der jeweiligen Probleme einer Gruppe betont und damit die Konzentration auf die Probleme, die sie mit anderen teilen, verhindert, ist aus dieser Sicht willkommen.“

    Wenn unterprivilegierte Gruppen dazu gebracht werden können, sich vermehrt um ihre Religion, Kultur und Identität zu sorgen, werden sie sich aufsplittern, ihre Aufmerksamkeit wird von den konkreten politischen Problemen weggelenkt. Die gegenwärtige Konstellation der dänischen Politik, in der viele benachteiligte Dänen die kulturalistische Rechte unterstützen, Einwanderer und Multikulturalisten hingegen die Linke, ist ein schlagendes Beispiel für dieses Phänomen. Hier liegt vermutlich eine der wichtigsten strukturellen Ursachen für die tiefgehende Krise der Sozialdemokratischen Partei, deren Kernwähler sich inzwischen nach ihren kulturellen Bindungen gruppieren und nicht nach ihren gemeinsamen Interessen. Es stellt sich die Frage, wie lange die Sozialdemokraten und die restlichen Linken noch vorhaben, sich von der Illusion des Kulturalismus leiten zu lassen.

    Die schrittweise Einbindung der Linken in das rigorose Konzept von Kultur sowohl in Dänemark als auch international, ist eine der wichtigsten, bislang kaum erhellten politischen Entwicklungen der letzten dreißig Jahre. Der Kulturalismus in seiner politischen und linken Erscheinungsform ist keineswegs ein neues Phänomen. Er betrat erstmals 1947 die Weltbühne, als amerikanische Anthropologen versuchten, die Menschenrechtscharta der Vereinten Nationen zu desavouieren. Sie weigerten sich zu akzeptieren, dass es möglich sei, universelle Menschenrechte zu postulieren. Ihr Argument: Damit würden einzelne Kulturen unterdrückt. Damals jedoch war die westliche Linke - ob in ihrer kommunistischen, sozialdemokratischen oder sozialliberalen Variante - so stark international orientiert, dass der Kulturalismus noch unter der Oberfläche gehalten werden konnte.

    Inzwischen ist durch den Niedergang des Marxismus und seiner Rolle als Bezugsrahmen für linke Parteien in den achtziger und neunziger Jahren ein Vakuum entstanden. In der Folge haben sich die letztendlich konservativen Ideen des Kulturalismus klammheimlich auf diesem Feld breit gemacht. Überraschenderweise hat sich dieser Wandel vollzogen, ohne dass es zu einem Schlagabtausch kam - obwohl der Kulturalismus dem Marxismus in vieler Hinsicht diametral entgegensteht. Während der Marxismus behauptet, dass die Kultur als ein Überbau auf sozioökonomischen Gesetzmäßigkeiten beruht, verkündet der Kulturalismus, dass die Wirtschaft einer Gesellschaft von ihrer Kultur und den Wertesystem dieser Kultur abhängt oder gar, dass die Ökonomie ununterscheidbar von allen anderen kulturellen Merkmalen der jeweiligen Gesellschaft ist.

    Aus dieser Sicht ist der Kulturalismus eine Art anthropologische Gegenrevolution, die den Marxismus auf den Kopf stellt. Wenn man sich die Argumentation der Linken in den sechziger und siebziger Jahren vor Augen hält, stellt man fest, dass in jener Zeit vor allem die Ökonomie, der Klassenkampf, die Produktionsmittel, soziale Verhältnisse, politische Systeme und Ressourcen von entscheidender Bedeutung waren. Der Ausdruck „Kultur“ wurde nur selten oder am Rande gebraucht. Heute trifft das Gegenteil zu. Die Kultur beansprucht weit mehr Aufmerksamkeit als die Wirtschaft und die Gesellschaft. Und doch gab es nie eine große Konfrontation, in deren Verlauf das eine Modell durch das andere ersetzt worden wäre, wie es in einer gewöhnlichen politischen Debatte zu erwarten gewesen wäre. Die Parteien haben sich nicht zornig darüber gestritten, welche Rolle der Wirtschaft oder der Kultur letztendlich zukommt. Der Wechsel der Gegensätze vollzog sich als sanfter Wandel, fast von einem Tag auf den anderen, häufig ohne dass die Persönlichkeiten, die diese beiden Haltungen verkörpern, erkannten, was sich abspielte.

    Vielleicht liegt dies daran, dass der Marxismus und der Kulturalismus ein noch einfacheres und tiefer liegendes Denkmuster miteinander teilen: über das Verhältnis einer unterdrückten Gruppe zu einer herrschenden Mehrheit. So ist es möglich, dass man sich politisch auf die Seite der Unterdrückten stellt, gemäß der linken Parole aus den siebziger Jahren: „Ein unterdrücktes Volk hat immer Recht.“ Dies wurde ganz wörtlich verstanden, mit Folgen, die weit darüber hinausgingen, dass ein unterdrücktes Volk das Recht habe, von seiner Unterdrückung befreit zu werden. Es hatte nun Recht auch mit all seinen kulturellen Dogmen, ohne Rücksicht darauf, ob diese Dogmen gerecht oder richtig waren. Entscheident war, dass sie zur Kultur eines unterdrückten Volkes gehörten. Ein Argument vollkommen ad hominem. So war es möglich, die Arbeiterklasse durch die „unterdrückte Kultur“ zu ersetzen, selbst wenn dies zur Folge hatte, dass die Emanzipation nun durch einen strikten Kulturalismus ersetzt wurde, der überholte und vormoderne Normen vertritt - was eine vollkommene Verkehrung sowohl der Philosophie als auch der Werte darstellt, für die die Linke einst gestanden hat.

    In ihrem Buch „La tentation obscurantiste“ formuliert die französische Journalistin Caroline Fourest eine interessante Hypothese zum Erstarken des von uns so genannten linken Kulturalismus. Sie stellt fest, dass die beiden wichtigsten prototypischen Bezugspunkte der europäischen Linken während und nach dem Zweiten Weltkrieg zum einen der antitotalitäre Kampf und zum anderen die Entkolonialisierung und der Antiimperalismus waren. Lange Zeit konnten beide konfliktlos nebeneinander existieren; nach dem beachtlichen Erstarken des Islamismus in den islamischen Ländern und in den muslimischen Einwanderergruppen fand sich die Linke jedoch in der Frage gespalten, welches der beiden wesentlichen Kampffelder das wichtigere sei. Wer den antitotalitären Kampf für entscheidend hielt, wandte sich eher gegen den Islamismus als einer neuen Erscheinungsform des Totalitarismus aus der Zwischenkriegszeit. Wer jedoch den antiimperialistischen Kampf wichtiger fand, tendierte dazu, den Islamismus als legitime Herausforderung des westlichen Imperialismus zu unterstützen - zunächst in dessen kolonialistischer Phase und dann in seiner globalisierten Version. Damit war die Linke natürlich offen für den Kulturalismus.

    Der strikt multikulturellen Linken stellt sich somit ein doppeltes Problem: Kultur bedeutet zugleich zu wenig und zu viel. Einerseits ist sie sehr wichtig, insofern sie dem Einzelnen eine Identität bietet und damit das Recht auf politische Fürsorge und Schutz - eine Art von Konservatismus, der dem kulturalistischen Begriff der Kultur innewohnt. Andererseits hat die Linke historisch immer behauptet, die Kultur sei belanglos, da ökonomische und soziale Bedingungen die entscheidenden Bestimmungsfaktoren seien. Zugleich jedoch steckt diese marxistische Doktrin hinter der multikulturalistischen Vorstellung, dass alle Kulturen, wie antidemokratisch und antiliberal sie auch sein mögen, ohne weiteres in derselben Gesellschaft koexistieren können. Dieser Zwiespalt sorgt im rigorosen linken Multikulturalismus für ständige Verwirrung. Kultur soll einerseits unveränderliche Quelle tiefsitzender Identität sein und andererseits reines Oberflächenphänomen, das auf bestimmenden ökonomischen Faktoren beruht. Aber es kann unmöglich beides zutreffen.

    II. Islamophobie

    Immer häufiger stößt man auf den Begriff „Islamophobie“. Er wird eingesetzt, um jede Kritik am Islamismus und an jenen Aspekten des Islams zu stigmatisieren, die mit Demokratie, Menschenrechten und Rechtsstaatlichkeit in Konflikt stehen. Die rigorose kulturalistische Auffassung von Kultur ist der Schlüssel für die Probleme, die man sich mit diesem Begriff einhandelt. Ursprünglich hat ihn die islamische Weltorganisation OIC in ihrem Kampf gegen die Menschenrechte - genauer: gegen die Redefreiheit - ins Spiel brachte. Die Kampagne gegen die Mohammed-Karikaturen, die in der dänischen Zeitung Jyllands-Posten veröffentlicht wurden, und die darauf folgende Krise waren ein Teil dieses Kampfes. Das Wort „Islamophobie“ wird zunehmend von islamischen Organisationen und strikten Multikulturalisten eingesetzt, um Kritik an islamischen Bewegungen in die Schranken zu weisen. Sowohl stichhaltige als auch unbegründete Kritik an verschiedenen Erscheinungsformen des Islam wird mit dem Argument beiseite gewischt, hier handele es sich um „Islamophobie“ - Kritik landet in einem Topf mit Rassismus, Antisemitismus oder Homophobie.

    Auf diesem Weg fand der Begriff Eingang bei der Linken, für die er eine Spielart von „Fremdenfeindlichkeit“ ist. Das Wort drückt mit seiner medizinischen Endung „-phobie“ auch semantisch eine negative Eigenschaft aus - es bringt eine kritische Analyse in Zusammenhang mit einer klinischen Krankheit. Allerdings besteht das entscheidende Problem mit dem Wort „Islamophobie“ darin, dass es im Unterschied zu anderen Wörtern, die ähnlich konstruiert sind, eine ganze Reihe von Auffassungen bezeichnet. Rassismus, Homophobie usw. sind Wörter, die eine unverhältnismäßige Reaktion auf Eigenschaften zum Ausdruck bringen, die ein Individuum hat - Hautfarbe, sexuelle Orientierung usw.

    Aber der Islam ist keine Rasse. Er besteht aus einem Konglomerat an Glaubensvorstellungen wie andere Glaubenssysteme auch, wie Christentum, Kommunismus, Liberalismus, Konservatismus, Nationalsozialismus, Hinduismus und viele andere sehr unterschiedliche Lehren religiösen, politischen oder philosophischen Charakters. Daran ändert die Tatsache nichts, dass bestimmte Muslime, darunter Islamisten, vehement davon überzeugt sind, ihr Glaubenssystem habe einen besonderen Rang und sei über Diskussionen, Entwicklungsprozesse und Reformen erhaben. Zwei in Dänemark geläufige Redensarten lauten, die Demokratie beruhe auf dem Grundsatz, dass man „gemäß seiner Meinung Partei ergreift“, aber auch, dass man „die eine Meinung vertritt, bis man eben eine andere übernimmt“.

    Philosophien laden zu offener und beständiger Kritik ein - und wenn man absolut überzeugt ist von seiner Position, hat man natürlich das Recht, diesen wahren Glauben in unveränderter Form aufrecht zu erhalten. Aber man kann nicht andere dazu zwingen, sich diese Position zu eigen zu machen, indem man von ihnen verlangt, auf Kritik zu verzichten. Und genau das ist es, was mit dem Wort „Islamophobie“ versucht wird. Mit ihrer unkritischen Übernahme des Begriffs, der eine gezielt manipulative und disziplinierende Wirkung hat, hat sich die Linke in den Dienst des Islamismus gestellt. Sie hat überdies ihre eigene Reflexionsfähigkeit gelähmt. Jede Kritik am Kulturalismus wird abgewehrt und als Islamophobie verurteilt. Und als islamophob wird die Kritik politisch exkommuniziert.

    Es ist ein rigoroser Kulturbegriff, der dem Ausdruck Islamophobie den Weg bereitet hat - als ob es so etwas wie einen Homo islamicus gäbe. Dies steht im Einklang mit jenen Praktiken innerhalb des Islam, die darauf abzielen, aus der muslimischen Religion eine Art Schicksal werden zu lassen, das unbedingt verlangt, dass männliche Partner in gemischten Ehen zum Islam konvertieren, während die Aufklärung über andere Optionen verhindert wird, und das vor allem im Verbot der Apostasie zur Geltung kommt. (Die Apostasie wird immer bestraft, entweder durch Geldbuße, „Umerziehung“, Beschlagnahme des Eigentums und Zwangsscheidung vom Ehepartner, durch den sogenannten „bürgerlichen Tod“ oder aber den realen Tod.) Aus diesem Grund hinterlässt „Islamophobie“ einen besonders schlechten Geschmack im Mund. Das Wort verwandelt Religion in Rasse.

    Der intellektuelle Islamismus hat es geschafft, in internationale Gremien, in die politische Linke und liberale Gruppen einzudringen, eben deshalb, weil er eine breite Akzeptanz für das kulturelle Argument gewinnen konnte. Erreicht hat er dies mit Hilfe des gängigen anthropologischen Kulturbegriffs, des Kulturalismus. Dies ist um so schädlicher für die demokratische Debatte, als nun Dogmen entpolitisiert werden, die im Kern politisch sind und daher der Kritik ausgesetzt sind - ebenso wie dem Spott.
     
    Politische Meinungen sind naturgemäß einseitig: Liberalismus, Konservatismus, Sozialliberalismus, Sozialdemokratie, Sozialismus etc. konkurrieren allesamt miteinander - während sie allerdings in der Regel auf tieferer Ebene übereinstimmen, da sie sich alle gegen den Faschismus, den Kommunismus, den Islamismus und andere totalitäre „Ismen“ wenden. Wenn jedoch das Dogmengebäude einer politischen Bewegung als „Kultur“ definiert wird, gibt es die Neigung, sie sofort in Frieden zu lassen und nicht mehr als partikularen, parteilichen und Diskussionen herausfordernden Standpunkt unter anderen zu betrachten. Diesem Denken zufolge sind Kulturen an und für sich organische, irreduzible Ganzheiten. Daher haben sie nicht nur ein Existenzrecht und ein Recht auf Respekt - wie auch auf Gewährung von Privilegien -, sie haben überdies einen Schutzanspruch und das Recht, unverändert fortexistieren zu dürfen. Deutlich wurde dies im Fall der Karikaturen im Jyllands-Posten, dem vorgeworfen wurde, eine Kultur zu beleidigen.

    Im ersten Abschnitt dieses Buchs haben wir Islamisten im multikulturellen Malaysia gefragt, warum sie der Auffassung sind, es sei unangebracht, Menschen, die andere Meinungen haben, zu kritisieren, zu verspotten oder zu beleidigen, und wie man sich stattdessen verhalten könnte im Umgang mit einem Thema, das Jyllands-Posten ansprechen wollte. Ein Studiendirektor an einer islamischen Universität erklärte, es sei zunächst nötig, mit jener Partei in einen Dialog zu treten, die man kritisieren wolle, bevor irgendetwas in Druck gehe. Im fraglichen Fall hätte Jyllands-Posten beispielsweise den Islamisk Trossamfund ("Islamische Religionsgemeinschaft" - ein dänischer Ableger der Muslimbrüderschaft) kontaktieren und um Erlaubnis bitten sollen.

    Dies hätte beträchtliche Folgen für die demokratische Auseinandersetzung: Wenn dieser Ansatz systematisch befolgt würde, verschwände jeglicher Meinungsaustausch aus der Öffentlichkeit, er könnte nur noch in geschlossenen Gremien stattfinden, der Mediation zwischen den Parteien würde absoluter Vorrang zukommen. Wenn Kulturen derartig geschützt würden, wäre dies das Ende einer freimütigen öffentlichen Diskussion und der freien Debatte unter Bürgern.

    Folgte man diesem Gedanken, hätte dies natürlich dramatische Auswirkungen auf die Funktionsweise von Demokratie. Jyllands-Posten hat mit seinen Karikaturen merkwürdige politische Ideen aufs Korn genommen, wie man die Religion in den Dienst von Politik stellen kann, etwa mit Kurt Westergaards berühmter Zeichnung des Propheten mit einer Bombe im Turban. Doch die Islamisten haben versucht, Jyllands-Posten ins Unrecht zu setzen, indem sie die Zeitung der Islamophobie bezichtigten.

    In allen Spielarten, ob in seiner reformistischen, revolutionären oder terroristischen Variante, ist sich der Islamismus darin einig, dass die Gesellschaft nach den Grundsätzen der Sharia zu organisieren sei. Wenn dies nun unter „Kultur“ firmiert, wird es möglich, jede Kritik von außen als „Islamophobie“ oder „Rassismus“ abzuweisen, da die Kritiker eine „Kultur“ angeblich nicht „respektieren“ würden. Der Nationalsozialismus hat etwas ähnliches versucht, als er sich als die Fortsetzung einer uralten germanischen Kultur inszenierte; allerdings waren die Kritiker in jener Zeit gewitzter als heute und in der Lage, die Rhetorik zu durchschauen.

    Nun sind wir heute Zeugen, auf welche Weise islamische Bewegungen wie Deobandismus, Wahhabismus, Salafismus und die Muslimbrüderschaft (die direkt vom italienischen Faschismus und dem französischen Faschisten Alexis Carrel beeinflusst ist) vom „kulturellen“ Argument geschützt werden: Es handele sich nämlich gar nicht um politischen Programme, sondern um „Kulturen“, die als solche nicht kritisiert werden könnten. Doch sobald Kulturen in der politischen Arena auftreten, müssen sie sich per definitionem ebenso der Diskussion und Kritik stellen wie alle anderen Vereinigungen, Gruppen, Parteien und Bewegungen, die politische Forderungen stellen. Hier haben weder Priester, Imame noch sonstige Kleriker - jedweden Glaubens - auch nur eine Unze mehr Recht auf Respekt als jedes andere Individuum, nur weil sie sich bei ihren politischen Forderungen einer religiösen Rhetorik bedienen.

    #islamophobie #culturalisme #culture #auf_deutsch

  • Die Erfindung der Islamophobie - Essay - Perlentaucher
    https://www.perlentaucher.de/essay/die-erfindung-der-islamophobie.html

    13.12.2010 von Pascal Bruckner - Kritik an Religion ist nicht Rassismus. Der Begriff will einschüchtern. Vor allem aber will er all jene Muslime zum Schweigen bringen, die den Koran in Frage stellen und die Gleichheit der Geschlechter fordern.

    Ende der siebziger Jahre haben iranische Fundamentalisten den Begriff der Islamophobie erfunden, den sie sich von der „Xenophobie“ abgepaust haben. Sein Ziel ist, den Islam zu etwas Unantastbarem zu erklären. Wer diese neu gesetzte Grenze überschreitet, gilt als Rassist. Dieser einer totalitären Propaganda würdige Begriff lässt absichtlich offen, ob er auf eine Religion zielt, ein Glaubenssystem, oder auf die Gläubigen aller Herren Länder, die ihr angehören.

    Aber ein Bekenntnis lässt sich so wenig mit einer Rasse gleichsetzen wie eine säkulare Ideologie. Zum Islam bekennen sich wie zum Christentum Menschen aus Arabien, Afrika, Asien oder Europa, so wie Menschen aller Länder Marxisten, Liberale, Anarchisten waren oder sind. Bis zum Beweis des Gegenteils hat jedermann in einer Demokratie das Recht, Religionen als rückständiges Lügenwerk zu betrachten und sie nicht zu lieben. Man mag es legitim oder absurd finden, dass manche dem Islam - so wie einst dem Katholizismus - misstrauen und seinen aggressiven Proselytismus und totalen Wahrheitsanspruch ablehnen - aber es ist kein Ausdruck von Rassismus.

    Spricht man von „Liberalophobie“ oder „Sozialistophobie“, wenn jemand gegen die Verteilung von Reichtümern oder die Herrschaft des Marktes eintritt? Oder sollten wir den 1791 von der Revolution abgeschafften Straftatbestand der Blasphemie wieder einführen, wie es Jahr für Jahr von der „Organisation der Islamischen Konferenz“ sowie dem französischen Politiker Jean-Marc Roubaud gefordert wird, der schlechthin jeden bestrafen will, „der die religiösen Gefühle einer Gemeinschaft oder eines Staates herabsetzt“? Offene Gesellschaften setzen auf die friedliche Koexistenz der großen Glaubenssysteme und des Rechts auf freie Meinungsäußerung. Die Freiheit der Religion ist gewährleistet, die Freiheit der Kritik an Religion ebenfalls. Die Franzosen, abgeschreckt von Jahrhunderten kirchlicher Herrschaft, wünschen Diskretion in Glaubensfragen. Getrennte Rechte für diese oder jene Gemeinschaft zu verlangen, die Infragestellung von Dogmen zu begrenzen, wäre ein Rückschritt ins Ancien Regime.

    Der Begriff der Islamophobie hat mehrere Funktionen: Er leugnet die Realität einer islamistischen Offensive in Europa, um sie besser zu rechtfertigen. Er attackiert den Laizismus, indem er ihn mit einem Fundamentalismus gleichsetzt. Vor allem aber will er all jene Muslime zum Schweigen bringen, die den Koran in Frage stellen und die Gleichheit der Geschlechter fordern, die das Recht einklagen, einer Religion abzuschwören, und die ihren Glauben friedlich und nicht unter dem Diktat von Bärtigen und Doktrinären leben wollen. Also stigmatisiert man junge Mädchen, die den Schleier ablehnen, also geißelt man jene Französinnen, Deutschen oder Engländer maghrebinischer, türkischer, afrikanischer, algerischer Herkunft, die das Recht auf religiöse Indifferenz einfordern, das Recht, nicht an Gott zu glauben, das Recht im Ramadan zu essen. Man zeigt mit den Fingern auf jene Renegaten, liefert sie dem Zorn ihrer Gemeinschaft aus, um jede Hoffnung auf einen Wandel bei den Anhängern des Propheten zu unterdrücken.

    Auf weltweiter Ebene wird ein neues Meinungsdelikt konstruiert, das stark an das Vorgehen der Sowjetunion gegen „Feinde des Volkes“ erinnert. Und unsere Medien und Politiker geben ihren Segen. Hat nicht der französischer Präsident selbst, dem wahrlich kein Lapsus zu schade ist, die Islamophobie mit dem Antisemitismus verglichen? Ein tragischer Irrtum. Rassismus attackiert Menschen für das, was sie sind: schwarz, arabisch, jüdisch, weiß. Der kritische Geist dagegen zersetzt offenbarte Wahrheiten und unterwirft die Schriften einer Exegese und Anverwandlung. Dies in eins zu setzen heißt, die religiöse Frage von der intellektuellen auf die juristische Ebene zu verschieben. Jeder Einwand, jeder Witz wird zur Straftat.

    Schändungen von Gräbern oder religiösen Einrichtungen sind selbstverständlich eine Sache für die Gerichte. In Frankreich betreffen sie in erster Linie christliche Friedhöfe oder Kirchen. Überhaupt sollte man in Erinnerungen rufen, dass das Christentum heute unter allen monotheistischen Religionen diejenige ist, die am stärksten der Verfolgung ausgesetzt ist - vor allem in islamischen Ländern wie Algerien, dem Irak, Pakistan, der Türkei oder Ägypten. Es ist leichter, Muslim in London, New York oder Paris zu sein als Protestant oder Katholik im Nahen Osten oder Nordafrika. Aber der Begriff der „Christianophobie“ funktioniert nicht - und das ist gut so. Es gibt Wörter, die Sprache verderben, ihren Sinn verdunkeln. „Islamophobie“ gehört zu jenen Begriffen, die wir dringend aus unserem Vokabular streichen sollten.

    Pascal Bruckner

    Aus dem Französischen von Thierry Chervel

    #religion #politique #islamophobie #auf_deutsch

  • Günter Gaus im Gespräch mit Willy Brandt (1964)
    https://diasp.eu/p/11399349

    Günter Gaus im Gespräch mit Willy Brandt (1964)

    Auf dieses Gespräch möchte ich aufmerksam machen. Vielleicht haben Sie am Wochenende Zeit, sich dieses Zeitdokument mal anzusehen: Sendung “Zur Person” vom 30.09.1964. Die Sendung ist ein gutes Beispiel und ein Beleg für die frühere Qualität des Öffentlich-rechtlichen Rundfunks. So gesehen ist der Hinweis darauf auch ein erster Kommentar zum Artikel von Norbert Schneider vom 23.7. Integration und Vielfalt. Öffentlich-rechtliches Fernsehen im digitalen Zeitalter. Von Norbert Schneider.

    https://www.youtube-nocookie.com/embed/cZT-fbJZ5dw

  • Allemagne : de nouveaux foyers de contamination mis au jour
    https://www.francetvinfo.fr/sante/maladie/coronavirus/allemagne-de-nouveaux-foyers-de-contamination-mis-au-jour_4013205.html

    Un nouveau foyer de contamination de Covid-19 a été découvert, mercredi 17 juin, dans un abattoir en Allemagne. En duplex sur place, le journaliste François Beaudonnet évoque "une contamination très virulente à Gütersloh, un gigantesque abattoir du nord-ouest du pays, qui produit à lui seul 20% de la viande de toute l’Allemagne". "Il a dû être fermé en urgence après que 660 ouvriers ont été testés positifs. Les écoles qui se trouvent aux alentours de l’abattoir ont été fermées jusqu’à septembre”, ajoute-t-il.

    • hier soir à 19h, on en était à 730. Et, surprise !…
      ce sont des Bulgares et des Roumains.

      Les héritiers, à 50/50, en profitent pour régler leurs comptes

      Corona in Gütersloh : Tönnies-Lüge ! Kantinen-Video zeigt extreme Zustände - und entstand viel später | Welt
      https://www.merkur.de/welt/corona-toennies-guetersloh-deutschland-weissenfels-fleisch-zahlen-video-rheda

      Update, 12.35 Uhr: Robert Tönnies, Mitinhaber und Sohn des verstorbenen Gründers Bernd Tönnies, hat den Rücktritt seines Onkels Clemens Tönnies gefordert. In einem Brief wirft Robert Tönnies der Geschäftsleitung und dem Beirat des Konzerns vor, unverantwortlich gehandelt und das Unternehmen sowie die Bevölkerung gefährdet zu haben.

      Beide Parteien halten je 50 Prozent an dem Unternehmen und streiten seit Jahren um die Führung und Strategie des Konzerns. Robert Tönnies wirft der Geschäftsleitung und dem kontrollierenden Beirat vor, seit 2017 geltende Unternehmensleitsätze zur Abschaffung von Werkverträgen nicht umzusetzen. Seine Hinweise und Vorstöße seien stets abgeblockt worden, heißt es in dem Brief.

      Dass gerade in Schlachtbetrieben die Infektionszahlen weit überdurchschnittlich hoch sind, ist ganz sicher auch dem System der Werkverträge geschuldet; es zwingt viele Arbeiterinnen und Arbeiter in unzumutbare Wohnverhältnisse, die mit einem hohen Ansteckungsrisiko verbunden sind und nur wenig Schutzmöglichkeiten bieten, wenn einmal eine Infektion auftritt“, schreibt Robert Tönnies.

      Update, 17.18 Uhr: Armin Laschet, CDU-Ministerpräsident von Nordrhein-Westfalen, hat mit einer Aussage zum Corona-Massenausbruch beim Unternehmen Tönnies einen Eklat provoziert.

      Auf die Frage, was der Corona-Ausbruch bei Tönnies über die Lockerungen aussage, antwortete er am Mittwoch: „Das sagt darüber überhaupt nichts aus, weil Rumänen und Bulgaren da eingereist sind und da der Virus herkommt. Das wird überall passieren.“ Zudem verwies Laschet auf die Unterbringung und Arbeitsbedingungen in Betrieben.

    • Mehr als 1.300 Infizierte in deutscher Tönnies-Fleischfabrik bekannt | 2020-06-21

      https://www.derstandard.at/story/2000118216326/toennies-mitarbeiter-womoeglich-vor-quarantaene-heimgereist

      Eine Reihe von Mitarbeitern – viele stammen aus Rumänien und Polen – dürfte inzwischen in die Heimat zurückgekehrt sein, um die sich abzeichnende Quarantäne zu vermeiden

      Die Zahl der Corona-Infizierten in der Tönnies-Fleischfabrik in Rheda-Wiedenbrück ist auf 1.331 gestiegen. Die Reihentestungen auf dem Gelände der Firma sind am Samstag abgeschlossen worden. Insgesamt sollen 6.139 Tests durchgeführt worden sein, 5.899 Befunde lägen bereits vor.

      In den vier Krankenhäusern im Landkreis Gütersloh werden derzeit 21 Covid-19-Patienten stationär behandelt. Davon liegen sechs Personen auf der Intensivstation, zwei von ihnen müssen beatmet werden. Fünf der sechs sind nach Angaben des Kreises Tönnies-Beschäftigte.

      Lockdown möglich

      Der nordrhein-westfälische Ministerpräsident Armin Laschet schließt einen Lockdown für die Region Gütersloh weiter nicht aus, nachdem das Corona-Virus dort in einem Schlachthof der Firma Tönnies ausgebrochen ist. Noch sei das Virus-Geschehen lokalisierbar, betont Laschet. „Wir haben explodierende Zahlen, die eng mit der Fleischindustrie verbunden sind“, sagt er. Die Mitarbeiter müssten nun in Quarantäne bleiben. Gesundheitsminister Karl-Josef Laumann mahnte erneut verschärfte Regeln für die Fleischindustrie an, um den Arbeitsschutz zu verbessern.

      Der Kreis Gütersloh hat unterdessen Hinweise, dass Beschäftigte vor der Quarantäne für sämtliche Tönnies-Mitarbeiter abgereist sind. „Wir haben vermehrte Mobilität wahrgenommen“, beruft sich eine Kreissprecherin auf Informationen von Bürgerinnen und Bürgern. „Eine Handhabe, das zu unterbinden, hatten wir zu der Zeit nicht.“

      Insgesamt 6.500 Mitarbeiter aus 87 Nationen

      Am Standort Rheda-Wiedenbrück, dem größten Schlachtereibetrieb Deutschlands, sind nach Unternehmensangaben rund 6.500 Menschen tätig. Rund die Hälfte aller Beschäftigten in der gesamten Tönnies-Unternehmensgruppe arbeiten nach Angaben eines Sprechers über Subunternehmen für Tönnies. Insgesamt seien Menschen aus 87 Nationen für Tönnies tätig. Die mit Abstand größten Gruppen kämen aus Rumänien und Polen. Rund ein Drittel der Beschäftigten mit ausländischer Nationalität lebe mit ihren Familien in Deutschland.

      Nach Angaben der Kreissprecherin hat der Leiter des Krisenstabs, Thomas Kuhlbusch, im Zusammenhang mit den Abreisen bereits Kontakt zu den Botschaften der Herkunftsländer aufgenommen und sie darüber informiert. Einige Botschaften hätten sich auch selbst gemeldet.

      Mehrere Mehrfamilienhäuser unter Quarantäne

      Ein wichtiges Thema bleibt die Einhaltung der Quarantäne durch die infizierten Mitarbeiter. Nach positiven Corona-Tests bei zahlreichen Tönnies-Mitarbeitern hatte die Stadt Verl (sie liegt ebenfalls im Landkreis Gütersloh) am Samstag in einem Stadtteil eine Quarantänezone eingerichtet. Mehrere Mehrfamilienhäuser, in denen Werkvertragsarbeiter der Firma Tönnies untergebracht sind, wurden unter Quarantäne gestellt. Der gesamte Bereich wurde mit Bauzäunen abgeriegelt. In den betroffenen Häusern leben in drei Straßenzügen insgesamt knapp 670 Menschen.

      [...]

      "R"-Faktor über 2

      Der Virus-Reproduktionsfaktor „R“ in Deutschland ist nach Angaben des Robert-Koch-Instituts weiter deutlich über den kritischen Wert angestiegen. Der „4-Tage-R“ werde nun auf 2,88 geschätzt, der „7-Tage-R“ auf 2,03, teilte das Institut am Sonntagabend in seinem täglichen Lagebericht mit. Das sei vor allem auf lokal begrenzte Ausbrüche unter anderem auf einem Schlachthof in Gütersloh zurückzuführen.

      Ziel ist ein Wert von unter 1, weil damit die Zahl der Infizierten rechnerisch sinkt. Das ist auch mit Blick auf die Frage wichtig, ob Lockerungen ausgeweitet oder wieder zurückgenommen werden müssten. (red, Reuters, 21.6.2020)

    • Das Tönnies-Desaster | 2020-06-20
      https://www.sueddeutsche.de/politik/toennies-coronavirus-schlachthof-1.4942588

      [...]

      Der Krisenstab, das ist zumindest die Version von Kuhlbusch, bat die Werksleitung um eine komplette Liste. Sie kam wohl am Freitag um die Mittagszeit. Doch es fehlte ein Drittel. Was folgte, war „gutes Zureden“, das aber zu nichts führte. „Irgendwann sagt man so: Feierabend“, poltert Kuhlbusch. Man habe sich die nötigen Befugnisse gesichert, den Werkschutz mitgenommen und sei in die Verwaltung eingedrungen. Um 1.30 Uhr in der Nacht fanden Kuhlbuschs Mitarbeiter in den vorhandenen Unterlagen schließlich die gesuchten Adressen.

      Ein seltsamer Vorgang. Warum fehlten die Adressen? Waren sie nicht zu finden, oder wollte man sie nicht hergeben? Handelte es sich bei den Betroffenen überhaupt um festangestellte Mitarbeiter, oder nicht vielmehr um jene mobilen Fleischhauer-Truppen, die an mehreren Orten in Nordrhein-Westfalen gleichzeitig arbeiten und eher verstreut wohnen?

      Allerdings könnte der ostentative Zorn der Behörden auch dazu dienen, eigene Versäumnisse zu übertünchen. Schließlich ist seit Langem bekannt, welch zweifelhafte Umstände in Deutschlands großen Schlachthöfen herrschen: Arbeiter, überwiegend aus Rumänien und Polen, die von Subsubunternehmen beschäftigt werden, Billigstlöhne erhalten und in Massenunterkünften hausen.

      [...]

      ... die fehlenden Adressen. Von den Mitarbeitern seien sie vorhanden gewesen und übermittelt worden. Von allen anderen, also jenen, die bei externen „Dienstleistern“ beschäftigt sind, habe man sie nicht speichern dürfen. Aus Datenschutzgründen. So stehe es auch in den „Werksverträgen“.

      Die Dienstleister gaben die Daten also nicht her. Man habe mit dem Katastrophenstab zusammengesessen, in einer „sehr produktiven Zusammenkunft“ am Abend, man habe „sachlich“ gesprochen und laufend „Updates“ geliefert. Es fehlten aber noch immer Daten. Tönnies bat dann offenbar um eine Verordnung, um Druck auf die Subunternehmer auszuüben. Diese habe erst am Samstagmorgen vorgelegen, danach habe man die restlichen Adressen übermittelt.

      [...]

      perdre du temps, ou gangner du temps ... ?

      C’est pas mal bizarre ... le comportement des deux parties donne l’impression d’une tactique délibérée de retardement, dans laquelle les autorités se laissent tromper ou jouent le jeu avec complicité.

    • System #Tönnies und die NRW-Schlafwandler

      https://www.heise.de/tp/features/System-Toennies-und-die-NRW-Schlafwandler-4790290.html

      [...]

      Es ist kaum zu glauben, wenn man liest, wie Gereon Schulze Althoff, Leiter des Pandemiestabs bei Tönnies, jetzt die niedrigen Temperaturen in der Produktion und die Heimreisen der Beschäftigten an den langen Wochenenden zu Pfingsten und Fronleichnam als „mögliche Faktoren“ für die Ausbreitung des Coronavirus anführte. Von Verantwortung keine Spur; die Temperaturen im Fleischbetrieb sind schuld und, wie dumm, die langen Wochenenden. Schlecht gelaufen.
      „… weil Rumänen und Bulgaren da eingereist sind“

      NRW-Ministerpräsident Armin Laschet (CDU), zu Tönnies und den akuten Lockerungen befragt, gibt den Bescheidwisser: „Das sagt (…) überhaupt nichts aus, weil Rumänen und Bulgaren da eingereist sind und da der Virus herkommt. (...) Das hat nichts mit Lockerungen zu tun, sondern mit der Unterbringung von Menschen in Unterkünften und Arbeitsbedingungen in Betrieben.“ Das Beispiel zeige, „wie schnell“ sich ein Virus verbreite, „wenn Abstände nicht eingehalten werden, wenn Unterkünfte nicht in Ordnung sind (…).“

      Eine Aneinanderreihung von Lappalien, angereichert mit Ressentiments. Das „Beispiel“ zeigt neben christdemokratischen Defiziten, was das Menschenbild und hier vor allem Osteuropa angeht, vor allem eines: Dass hier alle geschlafen haben, die etwas hätten tun können; an vorderster Front die Bescheidwisser in Staatsuniform. Jetzt haben wir den Salat: Über 1000 vermeidbare Fälle.

      „Das Vertrauen, das wir in die Firma Tönnies setzen, ist gleich null. Das muss ich so deutlich sagen“, sagte der Leiter des Krisenstabes, zugleich Fachbereichsleiter Gesundheit beim Kreis Gütersloh, Thomas Kuhlbusch, am Samstag. Kuhlbusch berichtet, dass Tönnies bis Freitag Listen der Beschäftigten geliefert habe, in denen 30 Prozent der Adressen gefehlt hätten. Bei Anfragen habe die Firma „immer zögerlich reagiert“.
      Ein Versagens-Muster

      NRW macht gerade vor, wie es nicht geht! Die Gefährdungslage schöngeredet, Preparedness vergessen, Untätigkeit und Krisenmanagementfehler sorgen für aufflammenden Corona-Stress, vor allem aber bleibt hier der Bevölkerungsschutz auf der Strecke. Die amtliche Aufgabenerfüllung und das auf der Strecke gebliebene Gesundheits- und Ordnungsrecht offenbaren hier peinliche und vermeidbare Versäumnisse und Fahrlässigkeiten. Zu den Hausaufgaben hätte auch eine dringend notwendige, wirklich konsequente Einbeziehung privatwirtschaftlicher Unternehmen in die Krisenbewältigung gehört; auch die erfolgt erneut zu spät.

      Richtigerweise hätte man in der zur Verfügung stehenden Zeit entsprechende Regelungen erarbeiten können und müssen. Nach den Vorfällen bei Westfleisch gingen Wochen ins Land. Das heißt: Die Wissensquellen waren vorhanden. Am schlimmsten trifft es aber mal wieder die ohnehin Gelackmeierten. Ja genau, „die Osteuropäer“. Der neue Corona-Hotspot in Deutschland, die Tönnies-Fleischproduktion in Rheda-Wiedenbrück, ist eine Schande. Mit allem, was der Schlamassel hier an Verdruss zutage fördert. ||

      #irresponsabilité #enfumage #enchevêtrement_des_interêts #morgue #inhumanité #NRW (Rhénanie-du-Nord-Westphalie)

  • Welt der Physik: Warum erfolgt Stromübertragung bei hohen Spannungen?
    https://www.weltderphysik.de/gebiet/technik/energie/strom/hochspannung

    Physik Libre
    https://physikbuch.schule/electrical-resistance-and-conductance.html

    11.6 Elektrischer Strom und Leitfähigkeit

    Leitungsquerschnitt berechnen - Online Rechner und Formeln - ElectronicBase
    https://electronicbase.net/de/leitungsquerschnitt-berechnen

    Elektrische Leistung – Wikipedia
    https://de.wikipedia.org/wiki/Elektrische_Leistung

    Zusammenhang mit anderen Größen

    Bei Gleichstrom

    ist die tatsächliche elektrische Leistung P {\displaystyle P} P das Produkt der elektrischen Spannung U {\displaystyle U} U und der elektrischen Stromstärke I {\displaystyle I} I

    P = U ⋅ I {\displaystyle P=U\cdot I} P=U\cdot I

    Verhält sich der Verbraucher als ohmscher Widerstand R {\displaystyle R} R, lässt sich die Leistung durch Anwendung des ohmschen Gesetzes U = R ⋅ I {\displaystyle U=R\cdot I} {\displaystyle U=R\cdot I} ausdrücken durch

    P = I 2 ⋅ R bzw. P = U 2 R {\displaystyle P=I^{2}\cdot R\quad {\text{bzw.}}\quad P={\frac {U^{2}}{R}}} P=I^{2}\cdot R\quad {\text{bzw.}}\quad P={\frac {U^{2}}{R}}
    Bei Wechselstrom

    sind die Größen Spannung und Stromstärke von der Zeit t {\displaystyle t} t abhängige Größen u {\displaystyle u} u und i {\displaystyle i} i. Hier sind mehrere Leistungsbegriffe zu unterscheiden:

    Augenblickswert p {\displaystyle p} p der Leistung oder auch Momentanleistung

    p = u ⋅ i {\displaystyle p=u\cdot i} p=u\cdot i

    Wirkleistung P {\displaystyle P} P, die tatsächlich umgesetzte Energie pro Zeitspanne. Sie wird in Watt (Einheitenzeichen W) angegeben.
    Scheinleistung S {\displaystyle S} S, auch als Anschlusswert oder Anschlussleistung bezeichnet. Sie wird in Voltampere (Einheitenzeichen VA) angegeben.
    Blindleistung Q {\displaystyle Q} Q, eine im Regelfall unerwünschte und nicht nutzbare Energie pro Zeit. Sie wird in Var (Einheitenzeichen var) angegeben.

    Stromwärmegesetz – Wikipedia
    https://de.wikipedia.org/wiki/Stromw%C3%A4rmegesetz

    Das Stromwärmegesetz (auch Erstes Joulesches Gesetz nach James Prescott Joule oder Joule-Lenz-Gesetz nach Joule und Emil Lenz) besagt, dass ein elektrischer Strom in einem elektrischen Leiter die Wärmeenergie Q W {\displaystyle Q_{\mathrm {W} }} Q_{\mathrm {W} } erzeugt durch fortwährende Umformung von elektrischer Energie E e l {\displaystyle E_{\mathrm {el} }} E_{\mathrm {el} }, die dem Leiter entnommen wird

    Q W = E e l = P ⋅ t {\displaystyle Q_{\mathrm {W} }=E_{\mathrm {el} }=P\cdot t} Q_{\mathrm {W} }=E_{\mathrm {el} }=P\cdot t

    mit der elektrischen Leistung P {\displaystyle P} P und der Dauer t {\displaystyle t} t,– oder bei veränderlicher Leistung

    Q W = E e l = ∫ 0 t P d τ {\displaystyle Q_{\mathrm {W} }=E_{\mathrm {el} }=\int _{0}^{t}P\mathrm {d} \tau }

    Thermische Leistung in Physik | Schülerlexikon | Lernhelfer
    https://www.lernhelfer.de/schuelerlexikon/physik/artikel/thermische-leistung

    Die thermische Leistung gibt an, wie viel Wärme in jeder Sekunde von einer Wärmequelle abgegeben wird.
    Formelzeichen: P
    Einheit: ein Watt (1 W)

    Benannt ist die Einheit der Leistung nach dem schottischen Techniker JAMES WATT (1736-1819).

    #physique #enseignement #auf_deutsch

  • DER MUNDSCHUTZ vonTHOMAS GSELLA
    https://www.stern.de/kultur/humor/thomas-gsella--lustige-tier-gedichte-6690506.html

    Morgen müssen Mundschutz tragen
    Kinder, Greise, Frau und Mann.
    Wenig gibt es zu beklagen,
    Weil man viel gewinnen kann:

    Niemand muss mehr Zähne putzen,
    Denn die Zähne sieht man nicht.
    Auch der Bankraub weiß vom Nutzen
    Allgemeiner Maskenpflicht.

    In der Nacht fällt keine Spinne
    Von der Decke in den Mund.
    Und das Reden schärft die Sinne,
    Doch auch Schweigen ist gesund.

    #covid-19 #poésie #auf_deutsch

  • Ein Generalstab für den Green New Deal | Jacobin Magazin
    https://jacobin.de/artikel/generalstab-fuer-den-green-new-deal

    6.4.2020, von Jane McAlevey, Übersetzung von Linus Westheuser - Im Kampf für einen Green New Deal und gegen den Klimawandel muss die Gewerkschaftsbewegung eine zentrale Rolle spielen. Erfolgreiche Arbeitskämpfe zeigen, wie das möglich ist – in kurzer Zeit und von der Basis her organisiert.

    Die derzeitige Welle von Schülerinnen-Protesten und -Streiks verschafft der Forderung nach echter Klimagerechtigkeit willkommenen Auftrieb. Die Mainstream-Medien und sozialen Netzwerke sind voll von Bildern junger Leute wie der Schwedin Greta Thunberg, die auf die Plätze der Welt drängen, Bremser in der Politik zur Rede stellen und sich offensiv mit den Mächtigen anlegen. Schon immer brachte die Jugend zwei essenzielle Dinge in soziale Bewegungen ein: ihren klaren moralischen Kompass und eine einzigartige, aufwühlende Energie. Ihre Vision ist mutig, ihr Vorgehen kompromisslos. Doch die kohlenstoffbasierte Wirtschaft zurückzudrängen und schließlich zu beseitigen, den Planeten zu retten und zugleich eine Zukunft zu ermöglichen, die jungen Menschen die Art von Arbeit verschafft, die sie gerne machen – all das erfordert mehr Macht und eine ernsthafte Strategie.

    In den USA dreht sich die Debatte zur Klimakrise hauptsächlich um das Gesetzesvorhaben zu einem Green New Deal, das die Abgeordneten Alexandria Ocasio-Cortez und Ed Markey im Februar 2019 vorlegten. Die Kommentare dazu changierten zwischen faszinierten Beschreibungen eines großen Wurfs und skeptischen bis ablehnenden Stimmen – auch vonseiten potenzieller Unterstützerinnen und Unterstützer: »Weder umsetzbar noch realistisch« lautete das Urteil des größten Gewerkschaftsverbands der USA, der AFL-CIO vergleichbar mit dem deutschen DGB. Im Hintergrund der Debatten tobte eine nicht enden wollende Serie von extremen Stürmen, wie sie die Klimaforscherinnen seit den 80er-Jahren vorhergesagt hatten. Sogenannte Bomben-Zyklone verwüsteten den Mittleren Westen, massive Regenfälle trafen Kalifornien nach einer verheerenden Waldbrandsaison und der Süden hatte mit Tornados zu kämpfen, die die Ernte zerstörten. Die mangelnde Vorbereitung auf diese Krise kostet Menschenleben.

    Angesichts dessen ist es natürlich ärgerlich, wenn die AFL-CIO sich weigert, das Ausmaß der Krise einzusehen. Doch wollen wir im Kampf für einen Green New Deal unsere ganze Kraft in die Waagschale werfen, brauchen wir mehr als mutige Visionen. Es reicht nicht aus, dass die Linke sich der Alternative zwischen Jobs und der Umwelt widersetzt. Wir müssen erst noch beweisen, dass bei unseren rhetorischen Bekenntnissen am Ende auch wirklich grüne Jobs herausspringen.

    Wenn wir gewinnen wollen, sollten wir auf Nato Green zu hören – einen Organizer der Dienstleistungsgewerkschaft SEIU. Er erklärte kürzlich in einem Artikel, wie lokale Gewerkschaftssektionen Verhandlungen über Klimagerechtigkeit führen können und sollen: »Jede erfahrene Gewerkschafterin liebt es, während Vertragsverhandlungen zu mobilisieren: Die harte Deadline dieser Kämpfe, die Androhung von Streiks nach Ablauf der Friedenspflicht – all das fokussiert die Aufmerksamkeit der Leute. Die Klimaforschung hat uns eine neue Deadline gegeben, und damit eine neue Gelegenheit, zu zeigen, dass wir der Herausforderung gewachsen sind. Wir haben zwölf Jahre.«

    Green hat recht: Gewerkschafts-Organizerinnen lieben Kämpfe mit klaren Fristen. Betrachten wir also die zwölf Jahre, die der Weltklimarat IPCC in seinem letzten Report skizziert hat, als Fristende: Was ist ein glaubwürdiger Plan, bis 2030 zu gewinnen?

    Leute, die es ernst damit meinen, aus schwierigen Kämpfen siegreich hervorzugehen – und womöglich ist keiner schwieriger, als der gegen die fossile Energiewirtschaft – beginnen das Planen mit einer umfassenden Analyse der Machtstruktur sowie mit dem Aufbau eines Generalstabs. Der martialische Begriff ist bewusst gewählt, denn tatsächlich befinden wir uns in einem Krieg; einem, den bislang die Öl-Milliardäre und ihre Lobby gewinnen. Unsere Seite sollte sich an kriegerische Metaphern gewöhnen, denn die höflichen, ordnungsgemäßen Demonstrationen, mit denen wir es bisher versucht haben, haben uns der Rettung des Planeten und einer gerechten Wirtschaftsform nicht näher gebracht – auch wenn wir das nicht gerne hören. Ein Generalstab ist ein physischer Ort, an dem Leute mit der notwendigen Erfahrung und inneren Festigkeit gemeinsam brainstormen, planen und diskutieren, welche nächsten Schritte nötig sind, um zu gewinnen. Die Planung beginnt beim Zustand der Welt, wie sie jetzt ist – also bei der Herausforderung, einen völlig wüsten Haufen von Leuten und Organisationen zusammenzubringen, die nur allzu oft durch Methoden des ›Teile und Herrsche‹ gegeneinander ausgespielt werden und sich nur allzu selten auf das Gemeinsame konzentrieren, das weit über das nackte Überleben hinausgeht.

    In den USA muss sich der Klima-Generalstab zunächst damit auseinandersetzen, dass wir jetzt mit Gerichten gestraft sind, die für weitere dreißig bis vierzig Jahre gegen den Planeten und die Arbeiterinnen entscheiden werden. Wir sind uns noch gar nicht der Tragweite der Urteile bewusst, die die gestärkte rechte Mehrheit im Supreme Court in den nächsten Jahren fällen und kippen wird.

    Der Verlust des Gleichgewichts im obersten Gericht macht eine veränderte Strategie nötig. In den letzten vierzig Jahren haben Umweltorganisationen hauptsächlich auf Lobbyarbeit, punktuelle Mobilisierung und juristische Strategien gesetzt, statt sich der schwierigeren Arbeit zu widmen, eine Massenbewegung aufzubauen. Das Ergebnis ist eine grüne Bewegung, die kaum eine populäre Basis hat, leicht als elitär diffamiert werden kann und der so die nötige Macht fehlt um zu gewinnen.

    Glücklicherweise gibt es eine Strategie, die auch in Zeiten feindseliger Gerichte Erfolge vorweisen kann: Organizing. Echtes Organizing. Es mag erstmal zu langwierig wirken, für eine Auseinandersetzung, die wir in der allernächsten Zukunft für uns werden entscheiden müssen. Doch tatsächlich zeigen jüngste Erfolge, dass es möglich ist, in kürzerer als der für den Green New Deal anvisierten Zeit ernstzunehmende Macht von unten zu organisieren.

    Beispiele waren die bahnbrechenden Arbeitskämpfe von Lehrerinnen in Chicago, West Virginia und Los Angeles. In allen drei Fällen verwandelten kluge, progressive und motivierte Arbeiterinnen ihre totgesagten, kraftlosen Organisationen in wahre Gewerkschaften, die imstande waren, lange und harte Auseinandersetzungen mit starken Gegnern zu führen – und zu gewinnen.

    In West Virginia brauchte es weniger als ein Jahr, um eine republikanische, ultra-rechte und tief mit der Öl- und Kohle-Lobby verbundene Landesregierung zu bezwingen, obwohl diese über die Kontrolle in beiden legislativen Kammern verfügte. Kompromisslose und umfassende Streiks können das erreichen. Viele Lehrerinnen waren Töchter und Söhne von Minenarbeiterinnen, die sich auf die Tradition der großen Minenstreiks beriefen.

    In Chicago und Los Angeles waren die Lehrerinnen mit der anderen Machtstruktur konfrontiert, die anzugehen in Klimafragen unerlässlich ist: dem Wall Street-Flügel innerhalb der Demokratischen Partei. Es brauchte vier Jahre, um nutzlose und untätige, von oben organisierte Organisationen zu übernehmen und in produktive Basis-Organisationen zu verwandeln. Die sich organisierenden Arbeiterinnen hatten Fristen vor Augen und hielten sie ein. Generalstabsmäßige Planung und eine Rückkehr zu den Grundlagen des Organizing waren der Schlüssel.

    Machtstrukturanalysen und Planungsdiskussionen im Generalstabsformat sollen herausstellen, was nicht funktioniert (Kämpfe vor Gericht und große Demos) und was sehr wohl funktioniert (kraftvolle Streiks mit hundertprozentiger Beteiligung der Belegschaften und aktiver Unterstützung lokaler Communities). Gibt es Beispiele aus der Welt der Klimapolitik, die zeigen, wie es aussieht, erfolgreich zu sein? Ein wichtiges Beispiel ist ein jüngeres Vorhaben in New York, das 2014 seinen Anfang nahm, als eine Reihe von Gewerkschaften sich zusammensetzten, um die Klimakrise mit der gebotenen Ernsthaftigkeit anzugehen.

    Vincent Alvarez, Präsident der landesweit größten Lokalsektion der AFL-CIO in New York, erinnert sich: »Wir waren frustriert von dem Gerede und der Untätigkeit in Washington und beschlossen, vor Ort etwas auf die Beine zu stellen, um der Doppelkrise von Klima und Ungleichheit entgegenzutreten. Es ging uns darum, ein Programm zu entwickeln, das es erlauben würde, messbare Schritte in Richtung eines nachhaltigeren Klimas zu machen und zugleich die Krise der Ungleichheit anzugehen.«

    Alvarez erklärt, dass es Sinn ergibt, die 10 Prozent konflikthaften Themen (wie das Fracking oder den Pipeline-Bau) zunächst beiseite zu lassen und sich auf die 90 Prozent zu konzentrieren, in denen sich Umweltbewegte und Gewerkschafterinnen völlig einig sind: Infrastruktur, öffentlicher Nahverkehr, Energiewende – um nur drei zu nennen. Bevor sich Umweltaktivistinnen den ersteren 10 Prozent zuwenden – was sie früher oder später natürlich sollten – müssen sie durch konkretes Handeln bewiesen haben, dass sie dabei helfen können, in diesen drei Sektoren gute, gewerkschaftlich organisierte Arbeitsplätze zu schaffen. Wenn es uns nicht gelingt, ›schlüsselfertige‹ Alternativen zur Arbeit im Pipelinebau aufzuzeigen, geben wir der Lobby für fossile Brennstoffe eine astreine Gelegenheit, Zwietracht zu säen.

    Lara Skinner, Leiterin des Worker Institute an der Cornell-Universität, das die New Yorker Klima-Jobinitative begleitete, berichtet, dass die Einrichtung einer rein gewerkschaftlichen Arbeitsgruppe zum Thema Klima ein zentraler Fortschritt war. Wie viele Gewerkschafterinnen, denen Klimafragen am Herzen liegen, verbrachte Skinner Jahre damit, sich den Kopf darüber zu zerbrechen, wie man Öko-Aktivistinnen und Gewerkschafterinnen zusammenbringen könnte. Der Kampf gegen den Bau der Keystone XL Pipeline in den späten Obama-Jahren machte große Schlagzeilen, zerstörte aber zugleich die Ansätze von Organisierungsarbeit des behutsam wachsenden Bündnisses von Grünen und Blaumännern.

    Die Kraftstoff-Lobby stürzte sich dankbar auf die Keystone Proteste und trieb das Thema wie einen Keil zwischen Arbeiterinnen und Umweltaktivistinnen, die ihnen vermeintlich ihre Jobs wegnehmen wollten. Die Umweltschützerinnen tappten voll in die Falle, indem sie sich auf Auseinandersetzungen darüber einließen, wie viele Jobs tatsächlich abzubauen seien: nämlich weniger als von der Industrie behauptet. Doch das war überhaupt nicht der Punkt.

    Nach einer massiven Rezession, die die Ersparnisse, Rücklagen und Rentenversicherungen der Arbeiterinnenklasse gebeutelt hinterlassen, ihre Häuser entwertet den Neubau zum Erliegen gebracht hatte, waren hochwertige, gewerkschaftlich geschützte Jobs eine Seltenheit. Darüber zu diskutieren, wie viele Arbeiterinnen genau diese eben geschaffenen Jobs wieder verlieren sollten, spielte den Bossen in die Karten: Für die Aktivistinnen schienen Arbeitsplätze ein akzeptabler Kollateralschaden zu sein. Statt die Schicksale krisengeschüttelter Arbeiterinnen in Erbsenzählerei zu verwandeln, hätte die Umweltbewegung auf konkrete Infrastrukturprojekte in der Region des Pipeline-Baus verweisen und so ›schlüsselfertige‹ Arbeitsplätze als echte Alternative präsentieren sollen.

    Doch während sich hier Fenster schlossen, öffneten sich andere. Nur Monate nach dem Keystone-Zerwürfnis erreichte der schwere Hurrikan Sandy den Bundesstaat New York. Lara Skinner erinnert sich: »Sandy hat den Gewerkschaftsmitgliedern in New York bewusst gemacht, wie ernst die Lage wirklich ist. Der Sturm Irene hatte gerade zuvor erst den Norden des Staates getroffen – und wir bemerkten alle, wie planlos und unvorbereitet wir waren.« Der Sturm eröffnete die Gelegenheit für eine Wiederaufnahme der Diskussion, die von Skinner und ihrem Team nun als gewerkschaftsinterner Runder Tisch zur Klimakrise organisiert wurde.

    Umweltaktivistinnen bekennen sich zwar rhetorisch zu grünen Jobs, doch in der Praxis fehlt ihnen die Einsicht, dass sie sich aktiv für die Schaffung guter, gewerkschaftlich organisierter Arbeitsplätze einsetzen müssen, um wirksam mit Gewerkschaften zusammenarbeiten zu können. Im Zuge des Sandy-Schocks formierte sich 2014 eine Runde aus Mitgliedern der New Yorker Gewerkschaften, die die Diskussion und Selbstbildung rund um den Klimawandel zum Gegenstand hatte. Arbeitsgruppen wurden mit Mitgliedern von Gewerkschaften zentraler betroffener Sektoren besetzt: Energie, Transportwesen, Infrastruktur und Bau sowie öffentlicher Dienst. Sie luden Klimawissenschaftlerinnen zu regelmäßigen Treffen ein, um sich einen besseren Einblick zu verschaffen.

    Teil des Selbstbildungsprogramms war auch der Besuch einer New Yorker Delegation bei dänischen Gewerkschaften im Sommer 2018. Alvarez berichtet: »Es war wirklich wichtig, über die bloße Diskussion hinauszukommen, gewerkschaftlich organisierte dänische Arbeiterinnen in ihren Produktionsstätten zu treffen und aus erster Hand zu erfahren, wie sie den Übergang zur Windenergie erlebt und mitgetragen haben.«

    In nur drei Jahren produzierte die Arbeitsgruppe unter Ko-Autorschaft von Skinner einen wegweisenden Abschlussbericht: »Reversing Inequality, Combatting Climate Change: A Climate Jobs Program for New York State«. Der Bericht – umfassend, klug und getragen von allen maßgeblichen Gewerkschaften – sollte als Inspiration und Ansatzpunkt für andere Bundesstaaten wie auch für die Bundesebene dienen. Schnell gelang den Gewerkschaften auch die Umsetzung in die Praxis: In Antwort auf die machtvolle Forderung der Gewerkschaften wurde beschlossen, dass New York bis 2035 die Hälfte seines gesamten Energiebedarfs von nachhaltigen Offshore-Windprojekten beziehen werde.

    Der ausgehandelte Vertrag im Wert von 50 Milliarden Dollar enthält außerdem eine gewerkschaftliche Jobgarantie bekannt als Project Labor Agreement oder PLA. Und das ist erst der Anfang für das Bündnis von Arbeit und Ökologie. Kein anderer Bundesstaat hat ein vergleichbares Programm zur Halbierung seiner Abhängigkeit von fossilen Energien in so kurzer Zeit. Der Grund war, so Skinner, »dass die Gewerkschaften sich informiert und den riesigen Maßstab erkannt haben, in dem wir bei grünen Jobs denken müssen.« Die Pläne für diese grünen Jobs müssen von denen gemacht werden, die auch die Arbeit machen.

    Der Generalstab, den wir für den Green New Deal brauchen, muss es den New Yorker Gewerkschaften gleichtun: selbständig die Initiative ergreifen, das Thema mit größtem Ernst behandeln, sich bilden. Und Wissen und Macht dazu verwenden, einen glaubwürdigen Plan zu entwickeln, mit dem man gewinnen kann. Was sie nicht getan hatten, war herumzusitzen und sich zu beschweren oder auf die Einladung zu irgendeinem halbherzigen Policy-Dialog zu warten, bei dem alle nur aneinander vorbeireden und nichts zustande bringen, während der Gegner Keile in unsere Allianzen treibt. Der New Yorker Deal gelang, weil Gewerkschaften die Macht hatten, Subventionen (also Steuergelder) so zu kanalisieren, dass ihr Gebrauch zugleich den Ansprüchen der Klimaforschung bei der Emissionsreduktion und den Arbeits- und Lohnstandards der Gewerkschaften genügen würde, für die ihre Mitglieder zu kämpfen bereit und in der Lage sind. Beide sind unerlässlich, um die Wirtschaft in dem Tempo und in dem Ausmaß umzubauen, das der Lage angemessen ist.

    Wie bezahlen wir das ganze? Christian Parenti bemerkte neulich, dass US-Konzerne derzeit 4,8 Billionen Dollar Cash horten – ein Fünftel der 22,1 Billiarden ihres Finanzvermögens. Dieses Geld könnte genutzt werden, um eine robuste grüne Wirtschaft nach gewerkschaftlichen Standards aufzubauen; eine, die es den Arbeiterinnen der Zukunft erlaubt, ein würdevolles Lebensniveau aufrechtzuerhalten und die ein für alle Mal die Frontstellung von Jobs gegen Umwelt beendet.

    Doch um an dieses Geld heranzukommen, bedarf es echter Macht und echten Know-Hows, wie es die New Yorker Gewerkschaften und die einiger anderer Staaten haben. Um diese gewerkschaftliche Macht wiederaufzurichten, müssen Umweltaktivistinnen an der Seite der Gewerkschafterinnen kämpfen. Wirklich kämpfen vor allem, statt bloß über grüne Jobs zu reden. Das bedeutet, sich aktiv in Kämpfe um das Streikrecht einzumischen und die Arbeiterinnen mit den eigenen Ressourcen zu unterstützen.

    Diese Art von Organizing und die politische Macht, die von ihr ausgeht, wird notwendig sein, um die höhere Besteuerung von Reichen wirklich durchsetzen zu können und auf Bundesebene weg von der fossilen Energie und hin zu einer nachhaltigen Wirtschaft für Mensch und Natur zu kommen. Ebenso wird es notwendig sein, die Umweltbewegung neu auszurichten, indem wir uns von der gescheiterten Strategie verabschieden, die sich nur auf Gerichtsverfahren stütze. Wir müssen uns stattdessen darauf konzentrieren, eine Massenbewegung und damit Macht aufzubauen.

    Ein ernstgemeinter Green New Deal benötigt auch den Wiederaufbau eines robusten öffentlichen Sektors. So ein öffentlicher Sektor verspricht eine Zukunft voll guter Jobs für Frauen und People of Color. Doch die Angriffe der Rechten auf die Gewerkschaften und die Reste öffentlicher Errungenschaften werden nicht aufhören. Es ist noch nicht zu spät für umweltbewegte Menschen, zu Verbündeten der Arbeiterinnen und ihrer Gewerkschaften zu werden – aber die Zeit läuft. Gute Gewerkschaften sind ideale Organisationen, um unter schwierigen Bedingungen und mit strengen Fristen zu kämpfen. Es ist Zeit für den Generalstab 2030!

    #écologie #organizing #auf_deutsch