30 ans à Berlin en dix minutes de lecture. Comme le temps passe vite. Voici un texte d’une qualité rare. Pas de chance, l’histoire n’est pas "à suivre".
11.10.2024 von Eva Sichelschmidt - Ohne die Begegnung mit dem Dramatiker Heiner Müller hätte unsere Autorin wohl nie 1997 ein Geschäft für Whisky und Zigarren eröffnet. Kunden und Konsum haben sich gravierend verändert.
In einem analog funktionierenden Land, in einer Stadt, die es schon lange nicht mehr gibt, galt der Handel mit Whisky in Kombination mit Zigarren noch als Clou. Die Idee entstand im Hochsommer 1997 auf einem Kinderspielplatz im Prenzlauer Berg. Ich war zu der Zeit arbeitslos, orientierungslos und hatte mir zur Gestaltung meiner beruflichen Zukunft einen Personal Computer zugelegt.
Seitdem der gewaltige Turm mit dem schreibtischübergreifenden Bildschirm mein Wohnzimmer dominierte, hielt ich mich tagsüber lieber in der Küche und nachts am liebsten im E-Werk auf. Die Babysitterin meiner Tochter hatte ich an diesem Tag im Morgengrauen abgelöst. Ausgeschlafen und bester Stimmung verlangte die Zweijährige zum Frühstück nach „Brezelbrötchen“, den Laugenbrezeln, die wir immer in einer Bäckerei am Kollwitzplatz kauften.
Der Buggy wurde mit Sandspielzeug beladen und los gings, auf High Heels, im Paillettenkleid. Gegenüber der Stehbäckerei gab es einen frisch überarbeiteten Kinderspielplatz. Die rostigen Schaukeln und aufregend gefährlichen DDR-Klettergerüste waren soeben den BRD-Architektenfantasien von behüteter Kindheit gewichen. Die Kleinen schubsten sich nun vom Mast eines turmhohen Piratenschiffs, oder langweilten sich auf einer stillstehenden Holzeisenbahn herum.
Für erholungsbedürftige Mütter wie mich gab es Bänke im Baumstammdesign, breit genug, um ein Schläfchen darauf zu halten. Als ich wach wurde, stand die Sonne bereits senkrecht über uns und meine Tochter hatte im Sandkasten Bekanntschaft mit einem hübschen kleinen Mädchen und ihrer auffallend attraktiven Mutter gemacht. Die zwei formten am laufenden Band Sandkuchen, die mein Töchterchen mit weit ausholenden Schritten, ein Feldwebel in Miniaturformat, platt trat.
Es war Liebe auf den ersten Blick. Auf den ersten sepiabraunen Blick durch meine Puck-die-Stubenfliege-große Sonnenbrille. Die Mutter, Perlenohrringe, aristokratisch verlotterte Barbourjacke, lud uns in einen vegetarischen Imbiss zum Mittagessen ein. Dort setzten unsere Töchter das Spiel aus dem Sandkasten fort und matschten vierhändig in einem Brokkoli-Auflauf herum. Unsere neuen Freundinnen waren herzerwärmend anarchiebegabt. Zum Abschied zückte die Mutter ihren Montblanc-Füller und kalligrafierte den Ort und Zeitpunkt des bevorstehenden Kindergeburtstags ihrer Tochter auf die Rückseite des Stanniolpapiers einer Zigarettenpackung. Eine Woche später stand ich vor einem Loft in Kreuzberg.
Heiner Müller kippte einen großen Schluck Whisky in den Instantkaffee
Bei Müller oder Meier klingeln, war mir aufgetragen worden, die breite Metalltür des Lofts stand jedoch weit offen. Am Ende des hallenartigen Raumes wiegte sich ein sehr weißes, kleines Mädchen, weißes Hemd, weiße Haut, weißes Haar auf einem Sofa mit ehemals weißem Überwurf zu der Titelmusik von „König der Löwen“ in den Hüften.
Nach einer Weile öffnete sich die Tür zu einem angrenzenden Raum und ein kleiner Mann mit zurückgekämmtem Haar, breiter Stirn und schwarzer Brille erschien, leise vor sich hin hüstelnd. Eine dicke Zigarre zwischen den Fingern, winkte er uns freundlich zu. Irgendwoher kannte ich ihn, und auch er schien mich zu kennen, denn in den Instantkaffee, den er mir anbot, kippte er, ohne lange nachzufragen, einen großen Schluck J&B-Whisky. Von einer Geburtstagsfeier wusste er nichts, das sollte aber nichts heißen.
Es dämmerte schon, als unsere neuen Freundinnen aufkreuzten. Anstelle einer Geburtstagstorte gab es trockene Algenblätter und statt noch mehr Kindern lauter whiskytrinkende und zigarrerauchende Nachtgestalten aus der Theaterszene oder auch nur aus der nächsten Kneipe.
Der Dramatiker Heiner Müller im Jahr 1991, natürlich mit Zigarre Rolf Zöllner/imagoOhne die unverhoffte Begegnung mit dem Dramatiker Heiner Müller hätte ich wohl nie mit meiner Sandkastenbekanntschaft gemeinsam ein Geschäft für Whisky und Zigarren eröffnet, damals das erste seiner Art in Berlin.
Denn kurz darauf mieteten wir für 600 Mark im Monat die abgerockten Räume des ehemaligen Heimatmuseums Mitte. Von Heiner Müller wussten wir lediglich, dass Tullamore Dew wie Katzenpisse schmeckte. Alles weitere Wissen um unser zukünftiges Warensortiment rauchten und tranken wir uns an. Schließlich bestellten wir ein paar Kisten schottischen Single Malt, den wir am liebsten mochten, die Sorte mit einem Geschmack nach Mullbinden, Asbest und Zahnarztbesuch, setzten uns in unserem Schaufenster vor ein Schachbrett und rauchten werbewirksam jeder eine Zigarre. Verirrte sich ein Kunde in unser Geschäft, spielten wir Kaufmannsladen – was darf’s denn Schönes sein? Als Kasse diente uns eine leere Zigarrenkiste.
Im wilden Osten herrschte damals Goldgräberstimmung. Bald schon sorgte die New Economy für Umsätze, denn deren Gründer, so munkelte man, würden sich die Cohiba mit Geldscheinen anzünden. Als die Blase platzte, ahnten wir noch nicht, dass niemand, der in Berlin-Mitte Handel betrieb, vom Kunsthandel einmal abgesehen, auf eine Goldader stoßen würde.
Berlin-Mitte, das hatte einmal den Ruf eines Clubs, für den man sich den Einlass mühsam erarbeiten musste, wenn man mitmischen, angesagte Künstler sehen und selbst gesehen werden wollte. Dabei bewegte man sich oft in recht schnell wechselnden Kulissen. Aus dem Obst-und-Gemüse-HO war über Nacht eine Kneipe geworden. Wo bis eben noch eine Metzgerei in halbleeren Schaufenstern ihre Schweinehaxen feilbot, führte ein Künstler jetzt seine Performance auf. Die Werkstatt, in der jahrzehntelang alte Regenschirme neu bezogen wurden, war plötzlich ein angesagter SM-Club, in dem sich Menschen aus Ost und West unter Lichtblitzen nackt auszogen.
Geld war nicht das Wichtigste, die Hauptsache war der Spaß. Es ging um ungewöhnliche Begegnungen, es ging darum, Leute kennenzulernen, Kontakte zu machen. Und eines Tages etablierte sich sogar einen Stammtisch der Handeltreibenden, in einem Restaurant, das seiner alten Bestimmung gemäß immer noch Modellhut hieß. Der Laden war zu DDR-Zeiten ein seriöses Hutgeschäft gewesen.
Blick in das „Whisky & Cigars“ Eva SichelschmidtGeschäft in „Berlins Montmartre“ muss man sich das leisten können
Da ahnten wir noch nicht, dass Jahre später auch die meisten unserer Ladenschilder nur noch als romantische Reminiszenzen taugen würden. Der Investor, der Anfang der Zweitausenderjahre das Haus kaufte, in dem sich mein Laden befand, wollte die Miete um ein Zehnfaches erhöhen.
„Wer in Berlins Montmartre ein Geschäft betreiben will, muss sich das leisten können“, meinte er leutselig. Als ihm mein Hund, eine Kreuzberger Promenadenmischung, seine polierten Reitstiefel beschnupperte, raunte der Mann wie Graf Dracula mit einem rollenden R: „Err rriecht, dass ich grrade von der Jagd komme.“
Und schon kurz darauf war Berlin-Mitte aller Lebenssaft ausgesaugt.
Der berühmte Abenteuerspielplatz für Spinner und Idealisten war da bereits voller Baukräne, die beim Errichten der Neubauten halfen, von denen einige heute längst wieder abgerissen sind. Aber im Hintergrund der stadträumlichen Umgestaltung, die damals immer noch einen Schwerpunkt auf den stationären Einzelhandel legte, vollzog sich bereits die große digitale Revolution, unsichtbar und lautlos für alle Beteiligten, und doch spürbar, dann auch für uns.
Die Stammkunden verabschiedeten sich aus Berlin. In ihre Wohnungen zogen nun Städtereisende ein, die meisten nur tageweise, Passagiere der Billigflieger mit ihren Rollköfferchen, auf der Suche nach dem von der Reise-App diktierten Airbnb, einer der Unterkünfte, die es nun in den Hauptstädten Europas anzusteuern galt. Menschen, die mit dem Handy vor der Nase umhergingen und staunend die Gehwege und Fahrstraßen von Mitte bevölkerten. Wenn sich die Ladentür öffnete, war es nun häufig nur der Paketzusteller, der ein Amazon-Paket für die Nachbarn abgab.
Da wir nicht aufgeben wollten, spielten wir das neue Spiel mit und rüsteten auf. Zunächst ging es darum, das Warensortiment zu erweitern, dann richteten wir uns auf, erfanden allerlei Events und Tastingabende zu den unterschiedlichsten Themen und legten uns schließlich auch einen Webshop zu. Die reinste Sisyphus-Nummer, egal was wir taten, wie wir uns auch bemühten, es diente am Ende doch immer nur dazu, uns an dem begehrten Standort zu halten, einfach wirtschaftlich zu überleben, während die Arbeit zunahm und ebenso die Kosten.
Meine Sandkastenbekanntschaft war im Übrigen bereits zwei Jahre nach der Geschäftsgründung ausgestiegen. Sie hatte eine neue Freundin gefunden, eine ehemalige Popsängerin, die den Handel mit Alkohol und Nikotin als verwerflich geißelte. Damals habe ich noch gelacht, Bubbletea-Shops für Kinderkram gehalten und Shisha-Bars für reine Orient-Folklore.
Ich erinnere mich noch, wie ich einmal für ein paar Monate in New England wohnte und den Müttern auf dem Elternabend meiner Kinder erzählte, was ich da in Berlin treibe – Handel mit Whisky und Zigarren. Allgemeines Entsetzen! Genauso gut hätte ich beichten können, für Geld nackt auf dem Tisch zu tanzen. Amerika, wir wissen es, war seiner Zeit schon immer voraus. Rausch und Klarheit, die Formel ist heute neu besetzt, die Auslagen der Kulturkaufhäuser sind übervoll von Entsagungsbüchern.
„Schau mal, Whisky und Zigarren, das wäre was doch für Onkel Dieter“, sagen Passanten. Aber immer seltener kommt man dann zur Tür herein, um etwas für Onkel Dieter zu kaufen. Eva SichelschmidtDoch die Tradition des Handwerks in Kombination mit Genuss erlebt schon lange wieder eine Renaissance. Überall wird Craft Beer gebraut, die junge weinbegleitete Spitzengastronomie war nie so innovativ wie heute, und die Jugend brennt Gin-Sorten und kreiert Berliner Whisky. Passanten, die an meinem Geschäft vorübergehen, höre ich häufig sagen: „Schau mal, Whisky und Zigarren, das wäre doch was für Onkel Dieter.“ Der Name des Onkels, des Verwandten, Freundes mag variieren, gleich bleibt sich jedoch, dass man, um dem Onkel ein Geschenk zu machen, immer seltener zur Tür hereintritt.
So viel ist sicher, im Einzelhandel herrscht die postcoronale Tristesse. Die Pandemie scheint unser stets ungeduldiges Konsumverhalten endgültig auf klick and buy reduziert zu haben. Mit Fremden zu reden, Wünsche zu schildern, Entscheidungen im Gespräch mit der Verkäuferin, dem Verkäufer zu treffen, das Einkaufen in einem Geschäft, das Beratung und Service anbietet, erfordert auch natürlich vom Kunden einen Willen zur Präsenz. Aber wer will sie noch, die Präsenz?
Babylon Berlin ist eine historische Lüge, und Emily aus Bottrop findet kein Paris
Blaise Pascal hatte nicht gerechnet mit der Erfindung des World Wide Web. Selbst von dem Menschen, der ruhig in seinem Zimmer verharrt, kann inzwischen jede Menge Unglück ausgehen. Nie hat sich die Menschheit einsamer gefühlt als heute. Reisende aller Länder fallen in den Klagechor über die Gleichförmigkeit der Innenstädte der Metropolen ein, gleichzeitig werden hochoriginelle Kulissen für Instagram-Accounts gesucht.
Babylon Berlin ist eine historische Lüge, und auch Emily aus Bottrop findet kein Paris vor, das dem der jüngsten Netflix-Serie entspricht. Längst wird auch in unserem Ladengeschäft mehr fotografiert als gekauft. Macht nichts, würde ich gern großzügig sagen, dann sind wir eben ein Museum geworden – doch nun ist es so weit, auch uns geht die Puste aus. Dabei haben wir noch Glück mit der Miete, die immer noch moderat ist, während die großen Ketten um uns herum aufgrund völlig überzogener Mietforderungen ihre Zelte abbrechen und kommen und gehen.
Auch die besten Restaurants im Osten der Stadt damals in dieser Gegend, der Schwarze Rabe oder besagter Modellhut, hielten sich nur über kurze Zeit. Mit dem Untergang des Münzclubs hob das Clubsterben an. West-Berliner Veteranen trauern schon lange um traditionelle Orte, die das Leben einstmals lebenswert machten – um die Buchhandlung Kiepert, die Metzgerei Opitz, den Einkauf von Käse bei „Fuchs und Rabe“ und zuletzt über die Schließung des Restaurants Florian und die des Einstein-Stammhauses. Keine dieser messingpolierten Institutionen wird je wiederkommen.
Fußgänger vor dem Café Schwarzer Rabe im Jahr 2007 Manja Elsässer/imago_Turn and face the strange, ch-ch-changes, , summe ich mit David Bowie vor mich hin.
Unlängst erzählte mir ein Professor, von zwanzig 20-jährigen Studierenden der Germanistik hätte die Hälfte den Namen Heiner Müller noch nie gehört.
Ich schaue mich um in meinem Geschäft und denke an die Schriftstellerlegende Alan Sillitoe, den einsamen Langstreckenläufer. Bei einer Lesung in unserem Laden holte er ein Morsegerät aus seiner Aktentasche hervor und was er morste, war die reinste Literatur. Ich denke an Abende mit Katja Lange-Müller, Max Goldt, Martin Mosebach, Monika Rink und vielen anderen, an die Partys, Tastings und die geselligen Runden. Vielleicht sind wir hoffnungslos romantisch, aber von gestern sind wir nicht.
Ich kann mir nicht vorstellen, dass die KI unser soziales Miteinander vollends entbehrlich macht, und dass der Mensch der Zukunft all seine Bedürfnisse nur virtuell befriedigen wird. Befriedigen, allein das Wort macht mir schon Angst, ich hasse es. Sich befriedigen lassen …
Wenn es aber doch so kommt, dann will ich mir ein Beispiel an dem Sex-Kaufhaus in Charlottenburg nehmen, deren Betreiber den Passanten auf der Straße ein Lächeln ins Gesicht zauberte, indem er bei der Geschäftsaufgabe ein Banner quer über die Ladenfront spannte: „War ’ne geile Zeit mit euch.“
Eva Sichelschmidt ist Schriftstellerin, zuletzt erschien von ihr der Roman „Transimaus“ im Rowohlt-Verlag. Seit 1997 ist sie Inhaberin des Berliner Einzelhandelsgeschäfts „Whisky & Cigars“.