17.10.2025 von Christoph Jehle - Wer sich nur navigieren lässt, begreift die Welt nicht mehr und verliert das Gespür für Raum und Wirklichkeit. Kartenlesen bleibt eine Kulturtechnik der Erkenntnis.
Geografie beschäftigt sich sowohl mit den natürlichen Grundlagen, als auch mit dem, was der Mensch daraus gemacht hat.
Dabei kann man grundsätzlich Alles betrachten, was in der Fläche größer als ein Einzelgrab ist. Google Maps ist hingegen ein mehr oder weniger sinnvolles Navigationssystem, das weniger auf Erfahrung als auf online erreichbaren Daten aufbaut.
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Anders als das auf Mobilität hin optimierte Navigationssystem kann die Geografie einen kritischen Blick auf die dargestellten Realitäten bieten und ermöglicht die Kartierung von Themen, die in kommerziellen Diensten unterrepräsentiert sind, wie soziale Ungerechtigkeiten oder lokale Unsicherheiten.
Der größere Reichtum
Während Google Maps auf der globalen, oft anonymisierten Darstellung von Daten basiert, nutzt geografische Kartografie die Fähigkeit des Menschen, den Raum durch direkte Erfahrung, Wahrnehmung und kritische Analyse zu erschließen und so ein tieferes Verständnis für den lokalen Kontext zu entwickeln.
Wo Google Maps die Erde nur zweidimensional mit dem Ziel abbildet, den Betrachter möglichst schnell von A nach B zu bringen, enthalten Karten deutlich mehr Informationen, die heute jedoch immer weniger Menschen lesen können, da sie ihre Informationen lieber aus Wikipedia und YouTube beziehen.
Google entscheidet für den Betrachter anhand seiner Such-Historie, was ihm dargestellt wird und was nicht. Dabei ist den meisten Nutzern wohl gar nicht klar, was sie übersehen und was ihnen gar nicht angeboten wird.
Somit können sich die von Google gewählten Darstellungen entsprechend den Nutzern unterscheiden und stellen keine Voraussetzung für eine Sachdiskussion zwischen zwei Nutzern dar.
Karten zeigen für jeden Betrachter das Gleiche
Die Darstellung in Karten werden vom Ersteller der Karten bestimmt und bieten für jeden Betrachter die gleichen Voraussetzungen dafür, was er auf der Karte sehen kann. Er muss es dann nur interpretieren.
Bis vor wenigen Jahrzehnten konnte man Karteninterpretation noch studieren und anhand von Messtischblättern das Staatsexamen in Geographie erfolgreich meistern.
Messtischblätter sind die allgemein bekannten Topographischen Karten im Maßstab 1:25.000, die auf Grundlage einer unmittelbaren Aufnahme im Gelände mittels Messtisch und Kippregel erstellt wurden. Messtischblätter im Maßstab 1:25.000 werden auch als 4-cm-Karten bezeichnet, weil vier Zentimeter auf der Karte einem Kilometer in der Realität entsprechen.
Mittels Isohypsen – Linien, die Punkte mit gleicher Höhe verbinden und so als Höhenlinien auf topografischen Karten verwendet werden – wird auf topografischen Karten das Relief dargestellt, wobei der Abstand der Linien die Steilheit des Geländes anzeigt. Enge Linien bedeuten steiles Gelände, weite Linien flaches Gelände.
In Google Maps fehlen die Perspektiven und die geschichtlichen Zusammenhänge
Google Maps stellt als Instrument der aktuellen Navigation ein gutes Navigationsinstrument dar, was den Kompass weitgehend ersetzt hat. Es besitzt jedoch oft eine hegemoniale, konsumorientierte Sicht auf die Welt und blendet dabei soziale, wirtschaftliche und kulturelle Nischen und Fragestellungen aus, die dann aufwendig aus anderen Quellen beschafft werden müssen.
Google basiert stark auf durch Nutzer und andere Quellen generierten Daten, die zwar für die Navigation nützlich sind, aber soziale Realitäten wie Diskriminierung, Gentrifizierung oder Überwachung nicht abbilden. Da sich Google meist an der Suchhistorie des Nutzers orientiert, besteht das Risiko einer Blasenbildung.
Auch Karten zeigen nur einen Ausschnitt der Realität
Anhand von Karten und den darin dargestellten Höhenlinien lassen sich noch heute frühere Nutzungen darstellen, ohne dass dafür ein Begleittext benötigt würde. Ehemalige Bahntrassen und aufgelassene Fabriken, welche man noch anhand damit verbundener Schornsteine leicht identifizieren kann, erzählen viel mehr über die betrachtete Landschaft, als es Google je darstellen könnte.
In ihrer Generalisierung geben Karten oft nur einen bestimmten Ausschnitt der Realität wieder. So werden christliche Kirchen üblicherweise mit einem Kreuz-Symbol markiert, Moscheen oder Gebäude anderer Glaubenseinrichtungen jedoch häufig nicht, was als kartografisches Schweigen bezeichnet wird.
In der Auswahl der Symbole zeigt sich oftmals der kulturelle Hintergrund des Erstellers. Geographen können ein tieferes, kontextualisiertes Verständnis von Orten entwickeln, das über die bloße Navigation hinausgeht. Die Geographie kann in der Folge auch kritische Fragen stellen und verborgene Aspekte des Raumes beleuchten, die in einer standardisierten Karte nicht sichtbar sind.
Historische Karten haben bis heute Bedeutung
Welche Bedeutung auch historische Karten bis heute haben können, lässt sich beispielhaft am Beispiel von Amerika zeigen. Zu einem Zeitpunkt, als der Kontinent von den Europäern nur ansatzweise bekannt war, hat der Kartograf Martin Waldseemüller aus dem heute zu Schallstadt zählenden Ort Wolfenweiler während seiner Anstellung als Kartograph im Gymnasium Vosagense in St. Dié in Lothringen auf einer Karte den neuen Kontinent nach Amerigo Vespucci mit dem Namen „America“ bezeichnete.
Wie auf dieser Karte die Westküste Amerikas weitgehend korrekt wiedergegeben werden konnte, obwohl kein Europäer soweit vorgestoßen war, ist bis heute unbekannt.
Das letzte erhaltene Original der Waldseemüllerkarte wurde 2001 für zehn Millionen US-Dollar mit einer Sondergenehmigung der Bundesrepublik Deutschland und des Landes Baden-Württemberg in die USA verkauft.