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    Die Russische Bourgeoisie : Kompradoren oder Monopolkapitalisten ?
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    Comprendre les mobiles et la stratégie russe dans la guerre en Ukraine n’est pas possible sans avoir analysé les relations de classe en Russie. Cet article est une introduction dans le sujet.

    On n’est pas forcément d’accord avec son « analyse » qui est marquée par quelques idées reçues et arguments peu concluants. Pourtant il contient des informations et pensées intéressantes qu’on ne trouve nulle part ailleurs.

    Si ces communistes abandonnaient les dogmes et priviligiaient la méthode scientifique ils feraient augmenter leurs chances de pouvoir contribuer activement à la construction de la société communisre qu’ils souhaitent tant.

    Vertiefungsgruppe 2 von Martin Hilbig

    Redaktioneller Hinweis: Dieser Text ist im Rahmen unserer Auseinandersetzung mit dem Krieg in der Ukraine und der Imperialismusdiskussion entstanden. Wir haben 2022 beschlossen, uns kollektiv der Einschätzung des Charakter und der Vorgeschichte des Krieges zu widmen. Hierfür wurden verschiedene Arbeitsgruppen gebildet, die sich u.a. mit den Interessen und der Politik des westlichen imperialistischen Block, mit Russlands Entwicklung sowie mit den Erkenntnissen der sozialistischen Arbeiterbewegung zum Imperialismus und der Bedeutung der Nationalen Frage beschäftigen. Veröffentlicht wurden in diesem Rahmen bereits Beiträge zur Kriegsvorbereitung der NATO, zur Unterwerfung der Ukraine, zu Deutschlands Rolle im Ukraine-Krieg, zur Entwicklung der Volksrepubliken, zur Entwicklung des russischen Kapitalismus, zum Verhältnis von Nationaler Selbstbestimmung und sozialistischer Revolution und zur Imperialismusschrift Lenins. Rückmeldungen können gerne per Mail an uns (redaktion@kommunistische-organisation.de) oder direkt an den Autor (kontakt@spectrumofcommunism.de) geschickt werden.
    1. Einleitung

    In der Debatte um den Charakter des Krieges in der Ukraine prallen innerhalb der kommunistischen Bewegung zwei konträre Positionen aufeinander. Die eine besagt, dass der Imperialismus als Epoche den ganzen Erdball umfasst. Die besitzenden Klassen der einzelnen Länder seien lediglich mehr oder weniger siegreich eingebunden. Es sei daher unlauter, von antiimperialistischen Staaten zu sprechen, sondern allenfalls von antiimperialistischen Bewegungen, die sich gegen die herrschenden Klassen der jeweiligen Länder richteten. Dagegen stehen Auffassungen, welche eine solche Ansicht als Äquidistanz verwerfen. Eine qualitative Gleichsetzung der führenden imperialistischen Zentren mit den Ländern des globalen Südens verwische die strukturelle Ausbeutung und Abhängigkeitsverhältnisse, die unhintergehbare Grenzen für jede revolutionäre Bewegung aufstellten. Eine solche Position mahnt zur konkreten Analyse der jeweiligen Kapitalistenklassen und zu einer Charakterisierung, aus der eine konkrete politische Haltung überhaupt erwachsen kann.

    Eine Analyse der russischen Bourgeoisie1 setzt wie jede solche konkrete Charakteristik im Begriff ihres Gegenstandes bereits eine Einheit von Einheit und Differenz. Der Begriff der Bourgeoisie behauptet eine Einheit mit einer in jedem kapitalistischen Land vorhandenen und herrschenden Klasse, die mittels des Besitzes der Produktionsmittel anderen Klassen ihren Willen aufdrücken kann. Die Bestimmung des Russischen setzt wiederum die Differenz und ihre Besonderheit. Es macht nur Sinn, von einer explizit russischen Bourgeoisie auszugehen, wenn ihre soziale Formation sich strukturell von der anderer Länder unterscheidet. Bürgerlichen Wissenschaftler*innen fielen hier zuerst das historische Erbe oder besondere kulturelle Mentalitäten ein. Sie erklären aber nicht, warum sich ausgerechnet diese Mentalitäten durchgesetzt haben, oder warum ausgerechnet Peter I. als Vorbild genommen wird und kein Rurikidenzar oder Michael I.. Die Erklärung hierfür muss in den konkreten ökonomischen, sozialen und politischen Bedingungen Russlands gefunden werden und diese Besonderheiten müssen wiederum aus den gesellschaftlichen Entwicklungsgesetzen, wie sie von Marx und Engels gefunden wurden, ableitbar sein.

    Die russische Bourgeoisie hat auf der einen Seite ein absolutes Handlungsimperativ im Kampf um die höchstmögliche Ausbeutung der Arbeiter*innen und in der größtmöglichen Monopolisierung des Profits und der (Boden)renten. Auf der anderen Seite besitzen einzelne Kapitalistenfraktionen innerhalb dieser ökonomischen Gesetze Freiheitsgrade, um ihre Imperative bestmöglich umzusetzen. Um ein so determiniertes Akkumulationsregime dauerhaft verfestigen zu können, bedarf die Bourgeoisie der Institution des Staates. Der Staat schreibt in seiner Verfassung nicht nur die für den Kapitalismus notwendige doppelte Freiheit der Arbeiter*innen und die Rechtssicherheit des Besitzes fest, sondern erlässt einen institutionellen Rahmen, welcher Klassen- und Klassenfraktionskämpfe in einer Art und Weise organisiert, dass sie ein gesetztes Akkumulationsregime nicht gefährden bzw. dessen Änderung ohne Gefährdung der hegemonialen Stellungen der führenden Kapitalisten strukturieren. Revolutionen und Zeitenwenden, die rein bürgerlich verbleiben, ersetzen dann nur ein Akkumulationsregime durch ein anderes. Jedes Akkumulationsregime wiederum geht eigene Verhältnisse zu anderen Staaten und dem Weltmarkt ein.

    Aus dieser Betrachtung leitet sich das Wesen der Streitfrage der Internationalen Kommunistischen Bewegung ab, ob die russische Bourgeoisie bzw. ihre herrschenden, das gesamte Akkumulationsregime bestimmenden Fraktionen als Monopolbourgeoisie oder als Kompradorenbourgeoisie typologisiert werden können. Die Monopolbourgeoisie hat die fortgeschrittensten Produktionsmittel soweit zentralisiert, dass sie mit Finanzkapital und Staat verschmelzen und auf einem freien Weltmarkt ihre Konkurrenten durch Produktivitätsvorteile niederzuringen versuchen. Die Kompradorenbourgeoisie profitiert gegenteilig nicht von der Freiheit des Handels, sondern von einer politischen Kanalisierung des Handels, von der diese einen Handelsprofit generiert. Beide Typologien sind also durch eine ganz gegensätzliche Stellung zum Weltmarkt geprägt.

    Die Aufgabe der folgenden wissenschaftlichen Untersuchung ist es nun, ausgehend von den politischen Erscheinungsformen, wie sie empirisch vorliegen und aus der Summe der einzelnen Daten und historischen Ereignisse hervorgehen, das Akkumulationsregime als Ensemble der ökonomischen Tendenzen und Gegentendenzen der kapitalistischen Gesetzlichkeiten zu identifizieren. Nur wenn das Zusammenspiel der ökonomischen Gesetze, ihre Tendenzen und die Anleitung in historischen Erscheinungsformen verstanden sind, kann eine auf den gesellschaftlichen Gesetzen basierende Charakterisierung der kapitalistischen Dynamik Russlands und damit eine bedingte wissenschaftliche Prognose abgegeben werden. Modelle oder Typologien helfen uns dabei, die Mannigfaltigkeit der Erscheinung systematisch abzuklopfen, auch wenn die feststellbare Realität nie im Modell aufgehen kann (was in der Definition eines Modells an sich begründet liegt). Daher verfolgt die vorliegende Arbeit ein zweischrittiges Verfahren, indem sie zuerst begriffliche Klarheit über die Modelle Kompradorenbourgeoisie und Monopolkapitalismus2 herstellt und dann plausibilitätsgeleitet die russische Bourgeoisie in ihrem historischen Verlauf und in ihrer aktuellen Ausprägung hin auf diese Modelle hin untersucht.
    2. Begriffe
    2.1. Kompradoren

    Der Begriff der Kompradorenbourgeoisie hat im Laufe der letzten 100 Jahre sehr vielfältige Deutungen erfahren. Eine Definition dieser Klasse kann also nur sinnstiftend aus ihrer historischen Genese entwickelt werden, um den Vorzug der einen Bestimmung gegenüber einer anderen bewerten zu können.

    Infobox: Methodik der Klassenanalyse
    Der historische Materialismus geht davon aus, dass die Produktion der Lebensgrundlagen einer Gesellschaft, die Verteilung ihrer Produkte und die Macht über die Reproduktion die wesentlichen Triebfedern der Ausbildung der Klassen darstellen. Karl Marx ging in den drei Bänden des Kapitals in der Darstellung von der abstrakten Ebene der Produktion über die vermittelnde Ebene der Zirkulation zur konkreten Ebene der gesamtgesellschaftlichen Reproduktion des Kapitals über. Auf jeder dieser Ebenen erhalten die Klassen, in unserem Falle die Bourgeoisie, neue analytische Bestimmungen hinzu. Essentiell ist, dass ein konkreter Kapitalist (z.B. Khodorkowski oder Abramowitsch) je nach Darstellungsebene unterschiedliche und sogar widersprüchliche Stellungen einnehmen kann (Einheit von Einheit und Differenz, Widerspruch zwischen Wesen und Erscheinung). Allen Kapitalisten ist gemein, dass sie auf der Ebene der Produktion an der größtmöglichen Ausbeutung des Proletariats interessiert sind, unabhängig davon, wie sie auf konkreteren Formen erscheinen mögen. Auf der Ebene der gesamtgesellschaftlichen Reproduktion des Kapitals lässt sich die Bourgeoisie zum Beispiel an Hand der Revenue differenzieren. Während die produktiven Kapitalisten ihren Profit aus dem Mehrwert der Arbeitskraft ziehen, erhalten andere Teile der Bourgeoisie ihren Anteil an diesem Gesamtprofit. Wie hoch die jeweiligen Anteile sind, bestimmt sich zum einen durch die Kräfteverhältnisse der Fraktionen innerhalb der Bourgeoisie und zum anderen über die allgemeine Durchschnittsprofitrate. Darüber hinaus gab es auch andere wichtige Unterteilungen der Bourgeoisie. Rosa Luxemburg beispielsweise führte die Widersprüche zwischen Produktionsgüter- und Konsumgüterbourgeoisie im Rahmen der Marxschen Reproduktionsschemata zur Herleitung der imperialistischen Tendenzen des Kapitalismus zu Grunde. Auch die Beziehung zwischen produktiven und unproduktiven Kapitalisten ist in den letzten Jahrzehnten in die Diskussion gekommen. Grundlegend ist hier, dass die Steigerung der Arbeitsintensität und der sektorielle Mangel an Arbeitskraft dazu führen, dass die Arbeiter*innen immer weniger konkrete Arbeit der Reproduktion selbst übernehmen und diesen kommodifizieren müssen. Der reproduktive Sektor wächst und verschlingt einen immer größeren Anteil am produktiven Profit/Arbeitslohn. Eher in der bürgerlichen Ökonomie waren die Unterscheidungen zwischen einzelnen Erwerbszweigen, zwischen materieller und immaterieller Produktion oder zwischen Lenin unterteilte die Bourgeosie in mittlere und Großbourgeoisie, wobei die mittlere Bourgeoisie reaktionärer sei als die Großbourgeoisie.

    Die historische Klasse der Kompradoren, die ihren Höhepunkt im China des 19. Jahrhunderts hatte, war eine Übergangsklasse, die aus der alten Beamtenaristokratie entwachsen war und zwischen dem kapitalistischen Weltmarkt und der feudalen bis semifeudalen Welt Chinas vermittelte. Bis zum Vertrag von Nanking waren sie eingebettet in das konfuzianisch geprägte Cohong-System, in welchem das Handelsmonopol bei den Beamten und dem Adel lag. In der Gesellschaftshierarchie besetzten die Kaufleute die unterste Stufe unter den ehrbaren Professionen. Als die Monarchie Anfang des 19. Jahrhunderts unter dem Einfluss der sich weltweit bahnbrechenden ursprünglichen Akkumulation zunehmend an der Geldware Interesse fand, stellte sie eine Schicht der Handelsleute durch Beamtenposten oder Statusaufwertung in ihre Dienste (vgl. Hao 1970). Diese sollten den Warenhandel mit den europäischen frühkapitalistischen Mächten organisieren. Westliche Händler konnten nicht unmittelbar in China investieren oder Waren kaufen. Die Feudalstruktur, Sprachschwierigkeiten, das Fehlen eines funktionsfähigen Bankensystems und die Unkenntnis über politische Strukturen und Produktionsprozesse stellten unüberwindbare Hürden dar. Die Kompradoren waren das Bindeglied zwischen den europäischen Märkten und dem chinesischen Manufakturwesen, indem sie Waren beschafften, Gelder verwalteten, Erlaubnisse einholten, Kontakte verschafften und ihre Anteile sicherten. Vom reinen Personalverwalter bis zum fast eigenständigen Investor konnte die Rolle sehr vielgestaltig sein. Der Vertrag von Nanking (1842) als erster der Ungleichen Verträge führte zur Unabhängigkeit der Rolle der Kompradoren von der Staatsbürokratie. Formell öffnete der Vertrag den chinesischen Markt für europäisches Kapital bei damals einmalig niedrigen 5% Importzöllen. Rein praktisch jedoch dauerte es Jahrzehnte, bis die gesellschaftlichen Strukturen sich dergestalt gewandelt hatten, dass der Kapitalverkehr tatsächlich ohne Vermittlung der Kompradoren stattfinden konnte. Daher beschäftigte jeder westliche Unternehmer mindestens einen Komprador, der die traditionellen Hürden bewältigte. Dabei war neben den eher bescheidenen formellen Einkommen ein Squeeze aus Rentenbeteiligung, Zinsgeschäften, Unterschlagung und eigenem Unternehmertum die eigentliche Reichtumsquelle dieser Klasse.

    Soziologisch waren die Kompradoren als andere als einheitlich. Während die kantonesischen Kompradoren eher traditionell orientiert waren und sich in die konfuzianische Gesellschaftslehre einzugliedern versuchten, orientierten sich beispielsweise die Kompradoren Shanghais an Europa und studierten an westlichen Universitäten wie Yale. Allen gemeinsam war trotz der weitreichenden Unterschiede die Vermittlungsrolle zwischen dem Weltmarkt und dem chinesischen Binnenmarkt. Innerhalb der chinesischen Gesellschaft traten sie den wenigen Proletariern als fungierender Teil der Ausbeuterklasse gegenüber, die Masse der Bauern hatte zu ihnen jedoch zunächst kein Verhältnis. Es waren eher die Vertreter des alten Systems, welche in den Kompradoren die Wegbereiter des Untergangs des Kaisertums erblickten.

    Mit dem Vertrag von Nanking begann aber gleichfalls der Abstieg der Kompradoren. Natürlich hatten die westlichen Unternehmer keinesfalls ein Interesse daran, ewig die Extrarenten der Kompradoren von ihren Profiten abziehen zu müssen. Ständige Handelsvertretungen entstanden. Ein Bankenwesen, welches den Ansprüchen des Kapitals genügte, entwickelte sich. Und nicht zuletzt der Erste Weltkrieg trocknete die Kompradoren aus, als Investitionen in die Rüstung das Interesse Osthandel ablösten. Einige der Kompradoren wurden selbst „nationale“ Kapitalisten und wurden Parteigänger eines modernen bürgerlichen Staats. Ein anderer Teil nutzte seinen Reichtum und die bestehenden Kontakte, um informelle Herrscher einzelner Regionen zu werden, welche eigenständigen Handel mit den Kolonialmächten betrieben. Als Warlords bekämpften sie sowohl die bürgerlichen Nationalisten als auch die Kommunisten, weshalb diese in den ehemaligen Kompradoren einen gemeinsamen Feind erblickten. Was also Mao oder die Komintern in ihren Debatten als Kompradoren bezeichneten, war nicht eine ausgeprägte Klasse, sondern eines von mehreren Zerfallsprodukten einer Übergangsklasse, deren einst progressiver Charakter durch die schnelle Umwälzung der chinesischen Gesellschaft zwischen 1842 und 1912 in radikale Reaktion umschlug. In diesem Sinne hatte Mao vollkommen Recht, dass die Kompradoren gemeinsam mit den Grundbesitzern die reaktionärste und rückwärtsgewandteste Klasse der chinesischen Gesellschaft darstellten (Mao 1926). Ihr gesamte Existenz hing von der Monopolisierung des Handels mit den imperialistischen Ländern ab; ein Monopol, dass erst durch den Vertrag von Nanking und später durch die chinesische Nationalbewegung in Frage gestellt wurde. Die gewaltsame Aufrechterhaltung dieses Monopols entgegen den Ansprüchen eines modernen Nationalstaats stellte eine objektive Schranke der Produktivkraftentwicklung in China dar. Politisch legitimierte die Existenz der Kompradoren eine nationale Strategie der KPCh, die eine Zusammenarbeit mit den Guomindang einschloss.

    Nun sind die Kompradoren zwar historisch konkret ein chinesisches Phänomen des 19. und 20. Jahrhunderts. Da der Begriff in den Debatten der Komintern jedoch zeitgleich mit der aufkommenden antiimperialistischen Strategie Einzug fand, wurde er recht schnell auf die Charakterisierung von Fraktionen der Bourgeoisie in anderen Ländern angewandt.3 Obwohl er nie allgemein definiert worden ist, ist das Überdauern des Begriffs in der Bewegung Beweis dafür, dass er ein real wahrnehmbares Element kolonialer, halbkolonialer und postkolonialer Akkumulationsregime abzubilden scheint.4 Es macht jedoch keinen Sinn, jeden Strang in der Debatte nachzuvollziehen, sondern es bleibt zu schauen, welche Elemente des Begriffs als Allgemeines überlebt haben. Die systematischste Definition stammt vom französischen Marxisten Nicos Poulantzas (1975).5 Seine zentralen Charakteristika sind die Vermittlerrolle zwischen nationalem und Weltmarkt, sowie die daraus folgende politische, ökonomische und kulturelle Subordination unter die imperialistischen Nationen auf Grund einer fehlenden eigenen Akkumulationsgrundlage (siehe Abbildung 2). Keine eigene Grundlage für die Akkumulation zu besitzen, bedeutet hier, dass sich der Komprador auch nicht um den Absatz auf dem einheimischen Markt sorgen muss. Während die „nationale Bourgeoisie“ entweder das Proletariat weitgehend befähigen muss, produzierte Konsumgüter auch kaufen zu können oder auf die eigene Fähigkeit, Produktionsmittel in Erwartung zukünftiger Profite zu erwerben, angewiesen ist – was die Produktion entwickelt -, kann sich der Komprador auf Grund seiner Vermittlerrolle auf die Kaufkraft des Auslands verlassen. Ohne die Abhängigkeit von einheimischer Nachfrage und im Bestreben, die Exportpreise zur Steigerung der Konkurrenzfähigkeit zu minimieren, ist diese Klasse am interessiertesten an der Überausbeutung6 des Proletariats (vgl. Frank 1974, 1978).

    Wenn der Begriff der Kompradoren in kommunistischen und postkolonialen Diskursen einen so beträchtlichen Raum einnahm, kann man ihn nicht einfach beiseite schieben. Man muss das begriffliche Substrat des Begriffs herausarbeiten und untersuchen, ob sich dieses auf Fraktionen der heutigen Bourgeoisie anwenden lässt (siehe Abbildung 1). Mit der Anwendbarkeit entscheidet sich auch die Frage, ob es sich bei den Kompradoren um eine Klasse, eine Fraktion oder eine Erscheinung handelt.

    Auf der Ebene der Produktion treten die Kompradoren den Proletariern als Teil der Bourgeoisie entgegen. Auf der Ebene der Zirkulation kann zwar ein Teil der Kompradoren Handelsprofite erzielen; diese sind aber nicht das Charakteristikum dieser historischen Formation. Die Herausbildung einer Kompradorenstellung ist im Gegensatz zur Monopolbourgeoisie keine Folge der freien Konkurrenz, sondern politischer, historischer oder ideologischer Natur. Ihre Revenue auf der Ebene der Reproduktion des Gesamtkapitals ist die der Rente; genauer der Monopolrente anstatt des Monopolprofits. Als Rentiersklasse weisen rentierstypische Revenueformen auf eine Kompradorenbourgeoisie hin, insbesondere hohe Dividenden7. Sie entziehen dem nationalen Markt somit Kapital zu Erweiterung der Produktion und behindern so die Akkumulation. In der jüngeren Theorietradition wird sie besonders in den extraktiven Sektoren gesehen, da sich der Boden samt Bodenschätzen sehr leicht monopolisieren lässt und Primärgüter häufig die einzigen auf dem Weltmarkt nachgefragten Waren der kapitalistischen Peripherie sind.

    Politisch wirksam kann die Kompradorenbourgeoisie werden, wenn ihre Renten so hoch sind, dass sie eine innere Akkumulation eines Landes behindern. Dann tritt sie in Widerspruch zur nationalen/ inneren Bourgeoisie. Dieser Widerspruch kann durch hohe nationale Reinvestitionen der Kompradoren in den nationalen Markt geglättet werden. Die Kompradorenbourgeoisie erhält ihre Rente ja immerhin aus der globalen Wertschöpfung und ist daher an der größtmöglichen Ausbeutung des eigenen Landes interessiert (vgl. Artner 2023, S.8). bzw. resultiert ihre Rente aus den Extraprofiten über den ungleichen Tausch.
    Begriffsgenese
    Kompradorenmodell

    Indikatoren für das Vorherrschen einer Kompradorenbourgeoisie/-klasse wären hohe Dividenden, eine geringe Rekapitalisierung der Gewinne, der vorrangige Export von Primärgütern oder die Dominanz von Downstream-Exporten/ hohe Distanz zur Fertigware in den globalen Wertschöpfungsketten.
    2.2. Abgrenzung zur Monopolbourgeoisie

    Unabhängig davon, ob man dem dargestellten begrifflichen Substrat zustimmt oder es verwirft, werden die Kompradoren in der Praxis in erster Linie negativ bestimmt. Insbesondere in der Diskussion um den imperialistischen Charakter von Staaten kommt es weniger darauf an, den kompradorischen Charakter der dominanten Fraktionen der Bourgeoisie nachzuweisen als eher den nichtmonopolistischen Charakter der führenden Kapitalfraktionen in der Definition Lenins.

    Dem Modell des Monopolkapitalismus liegt die Annahme zu Grunde, dass Produktivität nicht frei skalierbar ist. Nur hinreichend große Unternehmen könnten die neuesten Produktionsmethoden umsetzen und damit gemäß dem Marxschen Preisbildungsmechanismus Surplusprofite generieren, welche die Fortsetzung und Festigung der Monopolstellung erlauben (vgl. Hilferding 1955 [1923], S.263ff.). Um diese Unternehmensgrößen zu erreichen, genügen Einzelkapitale nicht. Aktiengesellschaften gründen sich. Finanz- und Industriekapital verschmelzen. Die Surplusprofite bilden die Grundlage des national nicht mehr anlegbaren Kapitals, das exportiert werden muss, um realisiert werden zu können (siehe Abbildung 4). Damit kommt es zum politischen Kampf um Ressourcen, Marktzugänge und Monopolerhalt zwischen den imperialistischen Nationen, der sich militärisch erstmals im Ersten Weltkrieg und seinen Vorgängerkriegen entlud. Die Surplusprofitgewinnung reproduziert sich dabei auf dem Weltmarkt durch die Unterschiede in der technologischen Entwicklung zwischen den Kapitalistenverbänden der einzelnen Staaten, die zu einer direkten Umverteilung des produzierten Werts über den Weltmarkthandel führen (vgl. Carchedi & Roberts 2021, S.12ff.). Jeder Kapitalistenverband bedient sich dabei ideologischer Rechtfertigungen für eine Verschiebung der Monopolmacht zu seinen Gunsten bzw. zur Verteidigung vor der imperialistischen Umverteilung. Da die Monopole mehrerer Nationen Kapital exportieren, kommt es zur gegenseitigen Durchdringung der Kapitale und das Verschmelzen zum transnationalen Kapital, was eine direkte Zuordnung von nationalen und Kapitalinteressen unterläuft und eine gegenläufige Tendenz zur Verschmelzung des Monopolkapitals und des Staates bildet8.

    Begriffsgenese Monopolbourgeoisie

    Modell Monopolbourgeoisie

    Ein Indikator für die Dominanz des Monopolkapitals wäre eine signifikant höhere organische Zusammensetzung9 oder Produktivität in einem kleinen Teil führender Unternehmen. Zu beachten ist hierbei, dass in der Rohstoffextraktion keine eigentlichen Industrieprofite erzielt werden, sondern (hauptsächlich) Grundrenten, deren Höhe sich an der Durchschnittsprofitrate orientiert. Eine hohe organische Zusammensetzung in diesem Bereich weist also nicht im klassischen Sinne auf eine monopolkapitalistische Bourgeoisie hin. Weiterhin wären eine upstreamende Stellung in den globalen Wertschöpfungsketten, hohe Reinvestitionsraten und ein hoher Anteil von Banken an den Anteilseignern kennzeichnend.
    3. Die historische Genese der russischen Bourgeoisie

    Zur Genese der russischen Bourgeoisie sind sechs Prozesse von Bedeutung. Die Entstehung erster bedeutender Vermögensunterschiede im Rahmen der Reformen unter Gorbachev, die Überführung des sozialistischen Eigentums in kapitalistisches über das Voucher-System, die Privatisierungswelle durch das Loans-for-Shares-Programm, die Formierung der Bourgeoisie durch staatlichen Druck von oben in der ersten Amtszeit Putins in Folge der Wirtschaftskrise 1998, die Verstaatlichungswelle ab 2003 und die Neuausrichtung in Folge der Sanktionen seit 2014. Alle diese Prozesse hatten Auswirkungen auf die Gruppe der Bourgeoisie, die landläufig als Oligarchen gekennzeichnet werden.

    Die Oligarchen waren der Teil der Bourgeoisie, dem es gelang, die Unterschiede zwischen russischen und Weltmarktpreisen im Handel auszunutzen (vgl. Clarke 2007, S.58). Durch den – häufig illegalen – Erwerb von Lizenzen und Handelsrechten mit dem Weltkapital konnten diese Konkurrenten ausstechen und ganze Produktionszweige monopolisieren. Diese Fraktion entstammt dabei drei großen Quellen: der Partei-Nomenklatura, ehemaligen Schwarzmarkthändlern und den ehemaligen Fabrikdirektoren. Ruslan Dzarasov differenziert in Anlehnung an David Lane auch in die administrative Klasse und die Intelligentsia als Träger der sowjetischen Reformen (Dzarasov 2011, S.473).

    Die ehemaligen Komsomolzen akkumulierten dadurch Kapital, dass die Jugendorganisation der KPdSU als eine der ersten Organisationen selbstfinanzierte Geschäfte betreiben durften. Durch Arbeitseinsätze gewonnene Einblicke in die Fabriken nutzten umtriebige Junggenossen, um Bewertungsunterschiede zwischen konvertiblen Rubeln und inkonvertiblen Rubeln zu erkennen und auszunutzen. Sie knüpften politische Kontakte zur Legalisierung dieser Grauzonenaktivität und während des Zusammenbruchs der KPdSU waren sie die Gruppe, die über diese Kontakte Zugriff auf ihr Dollarvermögen bekam, welches bis heute als verschollen gilt.

    Die ehemaligen Fabrikdirektoren waren während der Sowjetzeit an den GOSPLAN gebunden, konnten aber durch diverse Mechanismen bereits in die eigene Tasche wirtschaften. Als die Verbindlichkeit des GOSPLAN gelockert wurde und die Direktoren mehr Eigenständigkeit bekamen, konnten sie diese Mechanismen ausbauen. Insbesondere im Rohstoffsektor, in dem bereits zu Sowjetzeiten Devisen zu erwirtschaften waren, versuchten die Fabrikdirektoren und die verbundenen Ministerialbeamten, die Konzerne in den eigenen Händen zu behalten. Das wohl eindrücklichste Beispiel ist Gazprom, bei dem sich das Gasministerium einfach die Form eines Konzerns gegeben hat, jedoch verstaatlichtes Land, Personal und gesellschaftliche Verpflichtungen aus der UdSSR übernahm (Rosner 2006, S.12f.).10

    Die dritte Gruppe bis heute reicher Oligarchen entstammte dem Schwarzmarkthandel. Während ihre Tätigkeit bis zur Gorbachev-Zeit gänzlich illegal war und viele in den 80er Jahren hohe Haftstrafen verbüßten, bot die Erlaubnis zur Bildung von Kooperativen ihnen die Möglichkeit, ihre Geschäfte zu legalisieren. Dieser Teil der Bourgeoisie entstammt dem Handelskapital, das einzelne Marktimbalancen nutzte, um massive Handelsprofite zu erzielen und mit diesen dann in die Produktion einzusteigen. Insbesondere im Textil- (Jeans), Medien- und Elektronikmarkt war dieses Phänomen verbreitet. Zu ihnen zählen Smolensky, Gusinsky, Fridman oder Ivanishvili.

    Fast alle russischen Oligarchen lassen sich auf eine dieser drei Gruppen zurückführen. Daneben gibt es noch ausländische Aktienanteile, die aber kaum am operativen Geschäft beteiligt sind, sowie kapitalistische Firmenneugründungen nach dem Zusammenbruch der Sowjetunion und bis heute bestehende Kooperativen, die sich formal in Besitz der Mitarbeiter*innen befinden. Diese Geschäfte sind jedoch alle zu klein, um maßgeblichen Einfluss auf die nationale Politik auszuüben und das Präsidialsystem der Russischen Föderation hat die Herausbildung einer politischen Sammlungsbewegung des Kleinkapitals verhindert. Der wesentliche Punkt, warum die Herkunft der Großbourgeoisie analytisch so bedeutsam ist, ist die Tatsache, dass sie nicht auf Grund der überlegenen Wettbewerbsfähigkeit ihre Bedeutung gewonnen haben, sondern durch die private Aneignung des während der Sowjetunion gesellschaftlich akkumulierten Reichtums, durch die Monopolisierung strategischer Handelspositionen und die Verflechtung von Beamten und Kapitalisten (vgl. Khanin 2013). Ihrer Position fehlt, was die Monopole im marxistisch-leninistischen Sinne in ihrer Genese hervorgebracht haben. Der wesentliche Unterschied der historischen Genese der Oligarchen im postsowjetischen Russland zur Monopolkapitalismustheorie ist, dass die Verschmelzung von Industrie- und Finanzkapital nicht Folge eines Akkumulationsprozesses war, sondern ein politisches Instrument zur Erlangung der Kontrolle über Exportindustrien.

    Dies formte alle Teile der russischen Ökonomie. Die Industrieproduktion der Sowjetunion war sehr energieintensiv, da die Rohstoffe leicht verfügbar waren. Mit der Privatisierung der extraktiven Industrie wurde das zirkulierende Kapital in Form der Rohstoffe und Energieträger um ein Vielfaches auf Weltmarktniveau angehoben. Unter Nutzung der bisherigen Produktionsmethoden stiegen daher auch die Preise um ein Vielfaches, die Löhne jedoch nicht. Kapital zur Erneuerung der Produktionsanlagen, um auf dem Weltmarkt konkurrenzfähig zu sein, besaßen die Unternehmen nicht, da sie bis 1991 überhaupt kein Kapital akkumulierten11. Kredite von Banken waren kaum zu bekommen, da diese lieber im renditeträchtigen extraktiven Sektor investierten. Die Folge war eine starke Inflation, die Löhne und Sparguthaben entwertete. Die Inflation wiederum veranlasste viele russische Werktätige dazu, ihre während der Privatisierung erhaltenen Unternehmensanteile (Voucher), mit denen sie selbst sehr wenig anfangen konnten, billig zu verkaufen. Die Gegenmaßnahmen des Staates zur Kontrolle der Inflation, die Begrenzung der Menge des umlaufenden Geldes, bedeutete, dass viele staatliche Betriebe, teilweise sechs Monate lang, und der Staat seine Renten nicht zahlen konnte.

    Das wiederum führte dazu, dass die staatlichen Institutionen wie Polizei, Armee, Betriebsführungen, Politiker oder Justiz so niedrige Löhne hatten, dass sie nicht nur anfällig für Korruption waren, sondern mitunter darauf angewiesen. Eigentum ist jedoch nur dort Eigentum, wo es geschützt werden kann. Mitunter trauten sich selbst die Gewinner der Privatisierung nicht, selbst bei rosigen Aussichten in ihre Betriebe zu investieren, da man jederzeit damit rechnete, das ergaunerte Vermögen schnell wieder zu verlieren. Kapital wurde im Ausland versteckt, statt investiert. Diese Rechtlosigkeit hinderte ausländische Investoren jedoch auch an direkten Übernahmen von Konzernen (vgl. Dzarasov 2011, S.478). Sie konnten zwar Geld investieren, um entsprechend Zinsen, Dividenden oder Firmenanteile an profitablen extraktiven Industrien zu sichern. Sie waren jedoch immer auf eine einheimische fungierende Klasse angewiesen, was klassisches Kompradorentum bedeutet. Diese Widersprüche kulminierten in der Wirtschaftskrise von 1998.

    Als Putin an die Macht kam, waren große Teile der kompradorischen Oligarchie bereits geschwächt. Die Krise von 1998 hatte viele der Bankenkonstrukte und Holdinggesellschaften, auf denen der Reichtum der Oligarchen fußte, vom Markt gefegt. Diese zeitweilige Schwächephase der russischen Großbourgeoisie konnte Putin nutzen, um bedeutende Schaltstellen im Staat mit Vertretern der Geheimdienste, sowie der militärischen und zivilen Bürokratie zu besetzen (vgl. Lebsky 2019, S.94). Das innenpolitische Programm Putins lässt sich mit folgender Charakterisierung am besten zusammenfassen:

    „Je größer die staatliche Autorität, desto größer die persönliche Freiheit. Demokratie ist die Diktatur des Rechts.“ (zit. nach Kotz & Weir 2007, S.274)

    In eine konkrete Politik gegenüber der Großbourgeoisie wurde diese Parole mit dem informellen „Pakt des 28. Juli“ gegossen. Die wichtigsten verbliebenen Oligarchen verpflichteten sich, nicht mehr über den Kauf einzelner Beamter oder extralegale Aktivitäten Einfluss auf die Politik zu nehmen, versprachen, ihre Steuern entsprechend den Gesetzen zu entrichten und schluckten hohe Steuern auf den Rohstoffexport. Im Gegenzug sah Putin von einer progressiven Einkommensteuer oder von einer Strafverfolgung gegenüber der bis dato meist illegalen Geschäftspraktiken ab und akzeptierte so den Status Quo. Der Großteil der Oligarchen stimmte zu, da das fehlende staatliche Gewaltmonopol die Monopolrenten und sogar die Verfügungsmacht über das erworbene Eigentum gefährdete (vgl. Volkov 2002, S.155ff.) und weniger aus Furcht vor den mächtigen Siloviki, der bürokratischen Schicht aus ehemaligen Geheimdienstoffizieren, Veteranen der Yeltsin-Zeit und putinnahen Kreisen, die mit Putin mit der Rückgewinnung der Staatsmacht betraute (vgl. Pirani 2010, S.62ff.). Mit der Rückgewinnung des staatlichen Gewaltmonopols wurde überhaupt erst die Keimzelle für eine monopolistische Entwicklung Russlands gelegt, was im Vergleich zu den imperialistischen Kernländern in historisch sehr kurzer Vergangenheit liegt.

    Putin beförderte dabei bis Mitte 2003 noch die privaten Konzentrationsprozesse, um im Anschluss viele der entstandenen konsolidierten Konzerne zu verstaatlichen oder in direkte Beteiligungen des Staates zu investieren. Die Nähe – sprich auch die Abhängigkeit – der Oligarchen zur Bürokratie wurde hierbei reziprok zur Privatisierung genutzt, was es mit Hilfe einer neu konsolidierten Staatsmacht Putin einfach machte, Druck auf die Oligarchen auszuüben. Exempel wurden an Berezovsky und Gusinsky statuiert, die beide ins Ausland emigrieren mussten. „Gaskönig“ Vyakhirev musste seinen Chefsessel bei Gazprom räumen und Khodorkovsky wurde der Prozess wegen Steuerhinterziehung gemacht. Die Verstaatlichung erfolgte entweder über den direkten Aufkauf von Unternehmensanteilen (in der Regel in profitablen Exportindustrien) oder über die Gründung von Gesellschaften des öffentlichen Rechts (in den Bereichen Forschung und Entwicklung). Damit beschnitt der Staat die relative Autonomie des Großkapitals massiv und subordinierte strategische Zweige unter die direkte Staatsmacht.

    Putin versuchte somit, das Klassenbewusstsein der Bourgeoisie gewaltsam zu einem nationalen zu formieren. Die besitzende Klasse sollte wenigstens mit einem Teil der Renten in die Akkumulation des produktiven Kapitals investieren und den Verkauf strategischer Infrastruktur an das Ausland unterlassen. Im Gegenzug sollte damit ein Klassenkompromiss finanziert werden, in dem Löhne und Renten sicher waren und die Arbeiter*innen und Kleinbürger ein Mindestmaß an sozialen und ökonomische Rechten zugesichert wurde. Dieses Programm stand im Widerspruch zu den individuellen Oligarchen, die auf die Rechtlosigkeit und Korruption angewiesen waren. Diese durch Putin und die günstigen Weltmarktbedingungen forcierte Formierung einer nationalen erzeugte also Gegentendenzen, neue kompradorische Schlupflöcher und ist noch nicht vollständig abgeschlossen. Es ist die wesentliche Stütze des Herrschaftssystems Putins, zwischen den sich widersprechenden Interessen zu vermitteln.
    4. Die russische Bourgeoisie
    4.1. Struktur

    Die absolute Größe der russischen Bourgeoisie lässt sich nur schwer abschätzen, da es keine kontinuierliche statistische Erhebung gibt, die Fluktuationen noch immer sehr stark sind und die Schwarzmarkt-Bourgeoisie mit eingerechnet werden müsste. Khanin gibt 2013 die Zahl der politisch einflussreichen Top-Oligarchen als abzählbar an, die Zahl der Einzelunternehmer (klassische Kleinbürger) mit zwei Millionen und die Zahl der Kapitalisten mit Arbeiter*innen auf 600.000. Der überwiegende Teil dieser 600.000 besitzt jedoch nicht ausreichend Arbeiter*innen, um alleine vom Mehrwert leben zu können (vgl. Khanin 2013, S.22ff.). Khanins Berechnungen zufolge machten allerdings die Unternehmer plus das fungierende Kapital (Manager, Werksleiter, Personalchefs, Einzelhändler, …) inklusive ihrer Angehörigen etwa 30% der russischen Bevölkerung aus, was in Umfragen dem Anteil der Menschen entspricht, die sich für liberale Reformen einsetzen.

    Das Großkapital hielt sich vor der Invasion in der Ukraine zweifelsfrei bevorzugt im extraktiven Sektor, in der anschließenden primären Verarbeitung, im Bankenwesen und in den staatlich kontrollierten strategisch wichtigen Produktionszweigen (Aeroflot, Militärindustrie) auf (vgl. Rakhmanov 2014, S.44). Die Anzahl der Großkonzerne, also jener mit einem Umsatz von mindestens 500 Millionen Dollar, wuchs zwischen 1997 und 2007 von 20 auf 200 an (Pappe und Galukhina, 2009, S. 95ff.). Auffällig ist, dass die Reihenfolge der reichsten Kapitalisten sehr stark schwankt, was auf strukturelle Veränderungsprozesse hindeutet. Zudem konzentrierte sich das Kapital zunehmend in Unternehmensgruppen anstatt in Einzelbetrieben mit angeschlossener Geschäftsbank. Diese Geschäftsbanken sind auch charakteristisch für das Bankkapital, das entweder unter staatlicher Kontrolle steht oder als Hausbank der großen Konzerne und somit nicht als verallgemeinertes Finanzkapital agiert. Die größte private Bank Alfa-Group besitzt zum Beispiel nur 10% des Umsatzes der größten russischen Bank Sberbank (vgl. Corell 2022).12 Die Buchhaltung wurde zunehmend westlichen Standards angeglichen und die Unternehmensstrukturen an neue Managementsysteme angepasst. Allerdings blieben die kompradorisch an ihre Unternehmen gekommenen Kapitalisten im Wesentlichen an der Macht.13 Für das Jahr 2010 berechnete G. Tsagolov, dass unter den 500 reichsten Russen 257 klassische Kapitalisten und 243 durch Aufkauf des Sowjetvermögens reich gewordene Kapitalisten existierten. Je reicher die untersuchten Kapitalisten waren, desto mehr nahm der Anteil der zweiten Gruppe zu. Unter den Top 100 waren es 75%, unter den Top 50 84% und unter den Top 20 100%. (Tsagolov 2012, S.324). Stand 2013 beschrieb Khanin die russische Großbourgeoisie und ihr Verhältnis zu den anderen Fraktionen wie folgt:

    „Die russische Bourgeoisie ist fragmentiert und heterogen, ihre einzelnen Teile vertrauen einander nicht und hassen sich sogar. Für einen erheblichen Teil des kleinen und mittleren Bürgertums sind die Oligarchen Diebe, die dem Staat riesiges Eigentum gestohlen haben. Auch die Oligarchen sind sich alles andere als einig: Sie zeichnen sich durch persönliche Feindseligkeiten, Herkunftsunterschiede, sowie politische und sektorale Widersprüche aus, die es ihnen zusammen mit der Illegitimität der meisten von ihnen erschweren, sich als unabhängige politische und soziale Akteure zu identifizieren. Auch die Versuche der Bourgeoisie, sich im Wahlkampf 2011 und 2012 politisch durchzusetzen, blieben so erfolglos, wie die Proteste im gleichen Zeitraum.“ (Khanin 2013, S.24)

    Sieben der zehn größten russischen Firmen sind in staatlicher Hand (Stand 2021, RBK 2023). Dazu gehören Öl- und Gasunternehmen (Gazprom und Rosneft), sowie kritische Infrastruktur (RZD, Rosatom) und Großbanken (Sberbank, VTB, Rostec). Zu den größten privaten Unternehmen zählen Lukoil und Surguneftegas, die Handelsketten X5, Magnit und das nun kriselnde Norilsk Nickel. Unter den größten 100 Unternehmen haben zwischen 25% und 30% keine private Anteilseignermehrheit. Unter öffentlicher Kontrolle stehen neben den Infrastrukturunternehmen wie der Post, Aeroflot oder Telekommunikationsunternehmen auch die größten Hersteller von Militärtechnik. Zwischen 2000 und 2020 stieg der Anteil des öffentlichen Sektors am Bruttoinlandsprodukt von 31,2% auf 51,1% (Radygin & Abramov 2023, S.122). Zum Vergleich: der Anteil betrug 1992 noch 75%. Es ist hierbei zu beachten, dass der Staat in den deprivatisierten Unternehmen in aller Regel nur strategische Mehrheiten an Aktien zurückgekauft hat. Gleichzeitig werden die staatlichen Unternehmen darauf verpflichtet, Dividenden auszuschütten (zwischen 2006 und 2020 stieg der Anteil staatlicher Unternehmen an allen Dividenden von 9,7% auf 60%), welche direkt in den Staatshaushalt fließen. Mit jeder Dividendenausschüttung werden daher auch die privaten Aktionäre reicher, ohne, dass dieses Kapital im Unternehmen selbst akkumuliert werden könnte. Das Großkapital stimmt seine Interessen im „Russischen Verband der Industriellen und Unternehmer“ ab, die deshalb auch „Gewerkschaft der Oligarchen“ genannt wird.

    Ein Grund, warum die politische Interessenvertretung der liberalen Bourgeoisie so unbedeutend ist, ist das fast vollständige Fehlen der mittleren Bourgeoisie. Denn es ist die mittlere Bourgeoisie, welche von der allgemeinen Freiheit des Marktes, dem flexiblen Zugriff auf Arbeit und geringen Einschränkungen bei der Vermarktung von neuen Waren profitiert, während weder eine kompradorische Bourgeoisie, noch das Monopolkapital eine generell freiheitliche Politik benötigt, sondern um die Wahrung ihrer Monopolstellungen auf Renten und Profite bemüht ist, für die man auch in Zöllen oder Restriktionen zeitweilig adäquate Mittel sehen kann. Die fast vollständige Auslöschung der mittelständischen Unternehmerlandschaft liegt historisch erstens im Einbruch der Binnennachfrage in den 90er Jahren und zweitens in der die anschließenden Marktöffnung für die produktiver arbeitende ausländische Konkurrenz begründet (vgl. Khanin 2013, S.17). Zwar konnte sich nach dem Verfall des Rubels ein Teil der mittelständischen Ökonomie retten, doch die wirtschaftliche Stabilisierung des Großkapitals in den 2000er Jahren ließ die mittlere Bourgeoisie erneut unter Druck geraten. 2006 wurden gerade einmal 7% des gesamten BIP durch mittelständische Unternehmen erwirtschaftet. Jeweils 21% wurden durch private Groß- und Kleinunternehmen beigetragen und 50% durch den „öffentlichen“ Sektor. Während die USA 2013 nur viermal mehr Milliardäre als Russland zählte, waren es über 52 mal mehr Kapitalisten mit einem Vermögen zwischen 30 Millionen und 999 Millionen Dollar (vgl. Rakhmanov 2014, S.53).

    Von 11 Millionen kleinen Unternehmen wird die Hälfte in vollkommener Selbstständigkeit betrieben (vgl. Rosstat 2022, S.12). Den größten Teil machen hier Immobilienhändler (23%), Elektro- und Fahrzeugreparaturen (23%), sowie ein riesiger sonstiger Dienstleistungssektor aus. Diese Gruppe ist durch die Lohnentwicklung im produzierenden Gewerbe seit dem Ukrainekrieg massiv unter Druck geraten und befindet sich im Prozess der Proletarisierung. Im Schnitt kommt auf einen Eigentümer ein Arbeiter (vgl. Rosstat 2022, S.23). Doch selbst die als mittlere Unternehmen geführten Unternehmen kommen mit im Schnitt knapp über hundert Arbeiter*innen lediglich auf insgesamt 1,6 Millionen Beschäftige. Das ist weit weniger als die Hälfte der absoluten Beschäftigtenzahl in Deutschland, welches ein wesentlich kleinere Bevölkerung hat. Das Kleingewerbe tätigte im Vergleich zu den mittleren Unternehmen dreimal so hohe Investitionen, erzielte dreimal soviel Gewinn und zeichnete fast 97% aller Patente. Dass die mittleren Unternehmen ihre Stellung dennoch wahren können, liegt darin begründet, dass es sich bei den mittleren Unternehmen zumeist um Zulieferer mit einem einzigen Großkonzern als Abnehmer handelt.

    Diese Struktur liegt im Wesen des Zerfalls der großen Kombinate begründet (vgl. Dzarasov 2011, S.479). Die Kombinate, die in der Planwirtschaft ihre Berechtigung hatten, konnten mit ihrer breiten Palette an Produkten und groß angelegten Ausstoßmengen auf dem freien Markt nicht bestehen. Zunächst wurden sie von den Oligarchen während der Privatisierungsphase in wilden Portfolien ohne gemeinsamen Bezug gesammelt und im Zuge der Wirtschaftskrise 1998 als Einzelbetriebe wieder ausgestoßen.14 So wurden die Kombinate und Firmenamalgame durch eine neue Generation mittelgroßer Betriebe ersetzt, die entstandene Nischen füllten. Diese brauchten weniger Kapital, um profitabel wirtschaften zu können. Ihre Kapitalisten entstammten der ehemaligen ökonomischen und technischen Intelligentsia der Sowjetunion. Sie kannten die produktivsten Unternehmensbereiche, besaßen Patente und waren mit den Belegschaften vertraut. Anstatt von extraktiven Renten zu leben, erwirtschafteten sie produktiven Profit. Diese Klasse trägt Putin wirklich, denn sie profitiert von der nationalen Entwicklungsstrategie Putins und braucht politische Schutzpatronen gegen Angriffe der finanzstärkeren extraktiven Bourgeoisie.15 Gleichzeitig sind nicht wenige dieser Unternehmen in Integrierte Business-Gruppen eingebunden, die strukturell die alten Kombinats-Beziehungen widerspiegeln und so an die großen Konzerne binden. Daher kann aus dieser Fraktion der Bourgeoisie keine eigenständige politische Kraft erwachsen, wie sie in vielen zentral-kapitalistischen Ländern in Form rechtspopulistischer Bewegungen an der Tagesordnung sind.

    Zusammenfassend zeichnet sich die russische Bourgeoisie durch sehr kleine und sehr reiche Elite, durch das fast vollständige Fehlen einer mittleren und einer großen Masse an kleiner und kleinster Bourgeoisie aus. Diese Struktur ermöglicht die Politik des Auspendelns der Rentiersinteressen des Großkapitals und der nationalistischen Sehnsüchte des kleinen Kapitals, die eines autokratischen Präsidenten als Richter bedarf.. Das liberale mittlere Kapital ist zu schwach, selbst die politische Führung zu übernehmen, auch wenn es Putin zögerlich herausfordert. Das Verhältnis der einzelnen Schichten und Fraktionen der Bourgeoisie untereinander ist dabei relativ komplex. Zum einen bringt der bevorzugte Zugriff auf das Bankkapital, sowie die politische Nähe zur Legislative und Exekutive die kleinen und mittleren Unternehmer gegen das Großkapital auf. Auf der anderen Seite haben beide Fraktionen Interesse an einer ausbalancierten Währungspolitik. Während ein Verfall der Währung zwar den Mittelstand für Importen schützt und Rohstoffexporte profitabler macht, sind die auf den russischen Markt angewiesenen Unternehmen auch von der Zahlungskraft des Proletariats abhängig, die nicht vollkommen von teuren Importen geschluckt werden darf. Daher ist politische Stabilität sowohl für das Großkapital als auch für das mittlere und kleinere Kapital ein wichtiges Pfand, dass keine trotz Differenzen mit der Regierungspolitik leichtfertig aufs Spiel setzen möchte.
    4.2. Analyse ökonomischer Indikatoren

    Investitionen

    Egal nach welchen Maßstäben man das Investitionsverhalten der russischen Bourgeoisie beurteilt; das russische Kapital erweitert sich kaum und erhält sich bestenfalls.16 Die Investitionsquote liegt mit 22,7% zwar nur knapp unter dem Weltdurchschnitt (vgl. Weltbank 2023). Hierzu muss jedoch gesagt werden, dass die in den vergangenen Jahrzehnten ins Ausland transferierten Gelder nicht mit in das Bruttoinlandsprodukt eingerechnet werden, wodurch dieser Wert erheblich gedrückt würde. Die Hälfte aller Investitionen in Russland erfolgen aus Eigenmitteln, 20% aus Mitteln des Staates gegenüber 10% aus Bankkrediten (vgl. ROSSTAT 2022). In drei Bereichen haben die Investitionen in den letzten Jahren massiv zugenommen: Erdgas/Erdöl, Fertigung und Transport/Lagerung. Nun könnte man meinen, dass die hohen Investitionen in den produktiven Bereich auf eine zunehmend eigenständige Kapitalakkumulation hinausliefe. Allerdings sind die Hälfte dieser Investitionen im Ausbau der Verarbeitung extraktiver – insbesondere Gas- und Metallweiterverarbeitung – Produkte angesiedelt. Damit schöpfen russische Unternehmen zwar einen größeren Teil der Wertschöpfungskette ab, sie bleiben dennoch von letztendlichen Export der Produkte abhängig.
    Infobox: zum marxistischen Investitionsbegriff

    Investitionen bedeuten aus marxistischer Sicht die „Rückverwandlung des Profits oder Mehrprodukts in Kapital“ (MEW 26.3, S.267.f.) Die einmal erhaltene Revenue des Kapitalisten darf nicht stillstehen, möchte er nicht den Rest seines Lebens als Schatzbildner von den Früchten der Vergangenheit zehren. Damit würde er die Kontrolle über die Ware Arbeitskraft und einen Teil seiner gesellschaftlichen Macht verlieren. Zu unterscheiden ist hierbei zwischen einfacher und erweiterter Reproduktion des Kapitals. Bei der einfachen Reproduktion wird nur der verbrauchte Anteil des Kapitals ersetzt und der komplette Mehrwert vom Kapitalisten durch Privatkonsum verzehrt. Bei der erweiterten Produktion wird das verbrauchte konstante und variable Kapital nicht nur ersetzt, sondern durch extensive oder intensive Ausweitung der Produktion erweitert. Das Gesetz der Konkurrenz zwingt Kapitalisten zur erweiterten Reproduktion, da die Modernisierung der Produktion durch die Konkurrenz die gesamtgesellschaftlich durchschnittliche Arbeitszeit und somit beständig die Profite des Kapitalisten senkt. Dieser Konkurrenzeffekt kann allerdings ausgehebelt werden, wenn die Revenue nicht aus einem produktiven Unternehmerprofit besteht, sondern aus einer Rente, die von diesem unabhängig ist. Eine dieser Formen ist die Monopolrente, die in der besonderen Beschaffenheit des Bodens begründet liegt, z.B. indem unter ihm Erdöl oder Erdgas gespeichert sind. Da diese Bodenqualität begrenzt ist und die Konkurrenz keine Möglichkeit zum Zugriff hat, kann das Produkt mit Durchschnittsprofitrate verkauft werden, obwohl kaum vergegenständlichte Arbeit in der Ware enthalten ist. Der Wert der Ware bemisst sich unter den Bedingungen einer Monopolrente nicht mehr am Wert der vergegenständlichten Arbeit, sondern am Äquivalent vergegenständlichter Arbeit, um diese Ware durch eine andere zu ersetzen (ein Kampf, den wir in Deutschland unmittelbar durch die Politik einer Ersetzung von russischem Gas durch amerikanisches und andere Energiequellen hautnah erleben). Da die Rente im Besitztitel über den Boden begründet liegt, ist sie politisch häufig vakant. Eine Regierung kann das Recht auf den Bodenbesitz leichter entziehen, als dass ein Konkurrent ein Patent selbst umsetzt. Die Verschmelzung von politischer und ökonomischer Herrschaft liegt damit nicht mehr in der Größe der Monopolkonzerne begründet, sondern in der Herrschaft über den Boden. Die selbe Beobachtung, die Verschmelzung von nationaler Politik und den Interessen führender Fraktionen der Bourgeoisie, kann somit für einen monopolkapitalistischen Ansatz, wie für einen kompradorischen gemacht werden. Selbst die Profitraten sind die gleichen. Doch nur eine durch Produktivitätsvorsprung begründete Monopolstellung begründet eine monopolistische Kapitalkonzentration im Leninschen und Marxschen (MEW 23, S.619) Sinne. Um beide Ansätze voneinander entscheiden zu können, bedarf es daher einer Analyse, ob und welche Investitionen im produktiven Bereich und welche im extraktiven Bereich getätigt werden. Es ist weiterhin zu untersuchen, ob Investitionen nur vorhandene Produktionsmittel ersetzen, als nur der einfachen Reproduktion des Kapitals genügen, oder ob sie das Kapital erweitern. Drittens kann untersucht werden, was mit der Revenue überhaupt passiert.

    Investitionen in die Infrastruktur – der Neubau von Handelswegen, Bürokratieabbau oder Digitalisierung – haben stattgefunden, sind jedoch nicht unproblematisch. Shirov verweist auf folgendes Problem: „Wenn dieser Prozess nicht durch den Prozess der erweiterten Reproduktion und Modernisierung der Basisbereiche von Wirtschaft und Industrie unterstützt wird, werden alle durch die Digitalisierung verursachten positiven Verschiebungen in der Kostenstruktur durch die negativen Auswirkungen des Wachstums importierter Waren und Dienstleistungen zunichte gemacht, da niedrigere Handels- und Transportkosten auch die Kosten für den Kauf importierter Produkte senken werden.“ (Shirov 2019, S.45) Das heißt, dass weder Investitionen in den Rohstoffsektor, noch in die Infrastruktur, die Erweiterung der Produktion in Russland unterstützen.

    Russische Großkonzerne sind in der Regel Aktiengesellschaften. Aktienanteile rentieren sich für ihre Besitzer auf zwei verschiedene Arten. Entweder, indem das akkumulierte Kapital in Form von Assets im Unternehmen bleibt und dadurch der Börsenwert der Aktie gesteigert wird. Ein Anteil von 1% am Unternehmen, dass in der vorangegangenen Produktionsperiode noch über Kapitel von 1 Mrd. Rubel verfügte und sich von einem Profit von 20% neue Produktionsanlagen baut, wird in der folgenden Periode 1,2 Mrd. Rubel wert sein und anteilig auch die Aktie. Durch den Verkauf der Aktie kann dieser Gewinn dann für den Aktionär in Form einer Wertsteigerung der 1% um 2 Mio. Rubel privat nutzbar gemacht werden. Der zweite Weg ist die Ausschüttung von Dividenden. Hier reinvestiert das Unternehmen den Profit von 20% nicht, sondern schüttet die 200 Mio. Rubel anteilig an seine Eigner aus. Das Unternehmen reproduziert sich einfach und der Anleger hat 2 Mio. Rubel gleich in der Tasche. Je höher also die Dividenden, desto weniger Kapital wird produktiv akkumuliert und je mehr eine Firmenpolitik auf Kurssteigerungen setzt, desto mehr.

    Relativer Dividendenweltmeister ist wenig überraschend seit Jahrzehnten unangefochten Russland. Die russische Sberbank war 2019 der drittgrößte und 2021 der viertgrößte absoluter Dividendenzahler der Welt (vgl. Janus Henderson Global Dividend Index 2021, S.14.) und hat erst 2023 eine neue Rekorddividende ausgeschüttet (vgl. Deutsche Wirtschaftsnachrichten 2023). Größter Nutznießer ist hierbei der russische Staat, der über 51% der Anteile verfügt. Doch nicht nur die absoluten Dividenden zeigen das Problem auf. Shirov schreibt: „Das Verhältnis von Dividenden und Investitionen für private russische Aktiengesellschaften unter den Bedingungen des normalen Funktionierens der Fortpflanzungsprozesse liegt immer auf dem Niveau von 20-30%. Nach den Ergebnissen von 2017 und 2018 hat sich diese Zahl in Russland an 65% angenähert.“ (vgl. Shirov 2019, S.43). Die Dividendenzahlungen waren in der Vergangenheit so hoch, dass der Kreml im September 2022 sogar ein Gesetz erlassen musste, das diese auf 50% des Profits begrenzt und Reinvestitionen behördlich vorschreibt. Diese Investitionen dürften nur dann in andere Unternehmen fließen, wenn ein minimaler Anteil russischer nicht unterschritten wird (vgl. Noerr 2023).17 Dieser Erlass 618 ist ein deutliches Indiz dafür, dass der kompradorische Charakter von Teilen der russischen Bourgeoisie noch nicht überwunden ist. Monopolkapitalisten müsste man nicht gesetzlich vorschreiben, ihr Kapital zu akkumulieren. Nach diesem Parameter haben wir es in Russland also noch nicht mit einer gefestigten nationalen oder Monopolbourgeoisie zu tun. Doch selbst, wenn die Dividendenzahlungen beschränkt wurden, verwenden viele Unternehmen ihre Gewinne lieber zum Abbau von Schulden, anstatt für Investitionen.18 Das zeigt sich zum Beispiel im Anteil an Abschreibungen an der Investitionsfinanzierung.
    Quelle: Shirov (2019). S.44

    Wenn ein Unternehmen eine Investition tätigt, z.B. in Form von Maschinen oder Gebäuden, wird der Kaufpreis nicht in einem Jahr als Kostenfaktor verbucht, sondern über die Nutzungsdauer des Wirtschaftsguts verteilt. Die Abschreibung erfolgt dabei in der Regel linear, d.h. der Wertverlust wird gleichmäßig auf die Jahre der Nutzung verteilt. 94% aller Investitionen im verarbeitenden Sektor waren nur solche formale Verrechnungen anstatt real getätigter Investitionen, die statistisch im Mittel 20 Jahre zurück liegen. Das deutet auch an, wie alt das konstante Kapital in Russland eigentlich ist und dass es sich nicht auf dem aktuellen Stand der Technik befindet. Nur in der chemischen Industrie wurde der deutlich mehr real investiert als in den Büchern steht.

    Das Geld, was nicht investiert wird, können die Kapitalisten natürlich nicht einfach verfressen. Es wird schon angelegt, aber nicht in Russland. Das wirft die Frage auf, ob es sich hier um einen Kapitalexport im imperialistischen Sinne oder Kapitalflucht handelt19. Beides lässt sich nur schwer trennen, da im modernen Kapitalismus mit Warenexport immer auch Kapitalexport verbunden ist, nämlich dann, wenn dem Importeur ein Kredit gewährt wird, was de facto immer der Fall ist (vgl. Götz 2011, S.84). Drei Theorien zur näheren Definition der Kapitalflucht haben sich daher herausgebildet: Erstens: das Kapital flieht, wenn es abnormal schnell aus einem Land abgezogen wird, da sich das Investitionsrisiko erhöht hat. Zweitens: Das Kapital nutzt illegale Wege aus einem Land. Drittens: Der Kapitalexport steht im Widerspruch zu einem normativen Anspruch des ideellen Gesamtkapitalisten.

    Ein Blick auf die Entwicklung der russischen Zahlungsbilanz weist zwei solcher Anomalien auf: erstens die längere Phase nach dem Amtsantritt Putins und zweitens ein steiler Anstieg in Folge des Ukrainekriegs.

    Zur genaueren Analyse schauen wir uns zunächst die Ziele russischer Investitionen im Ausland an. Nach den Daten der Bank of Russia (2021) führt Zypern die russischen Auslandsinvestitionen mit zwei Dritteln des Gesamtvolumens an. 47 Milliarden Dollar wanderten 2021 auf die kleine Insel, die nicht gerade für ihre hochproduktiven monopolkapitalistischen Unternehmen oder surplusausbeutbare Bodenschätze bekannt ist. Es folgen die Bermudas, Luxemburg und die Schweiz. Jedes dieser Länder erfuhr alleine mehr Kapitalimport als die gesamte GUS zusammen. 2009 lagen die Britischen Jungfraueninseln noch auf Platz 7 vor den USA (vgl. Dzarasov 2011, S.). Doch diese Statistiken sind nur ein Anhaltspunkt. Selbst die erfahrenen amerikanischen, britischen und EU-Inspekteure wissen nicht, wo ein Großteil der russischen Assets eigentlich liegt. Es ist sehr unwahrscheinlich, dass dieses Kapital ausgerechnet im Kontext der internationalen Verflechtung des Kapitals bei anderen monopolkapitalistischen Unternehmen liegt, also ein transnationales Kapital bildet. Ohne öffentliche Teilhaberschaft kann kein Stimmrecht geltend gemacht werden und wo wäre das Kapital sicherer vor Sanktionen als integriert in strategischen westlichen Unternehmen. Wenn das Geld jedoch weder in Russland produktiv, noch im Ausland produktiv verwendet wurde, dann wurde Kapital auch nicht im Leninschen Sinne exportiert, sondern vor dem Zugriff des Staates (und anderer Staaten) versteckt. Hinzu kommt, dass 2005 überhaupt das erste Jahr des modernen russischen Kapitalismus ist, in welchem netto mehr Kapital importiert wurde als exportiert. Es kann kaum im Sinne eines sinnvollen Leninschen Begriffs des Kapitalexports sein (vgl. Pappe 2009, S.100), den Kapitalabfluss in den 90er Jahren als einen solchen zu begreifen.

    Die Kapitalakkumulation hat weder unter hohen noch unter niedrigen Ölpreisen stattgefunden. Aber vielleicht ist gar nicht der Wille des Kapitals das Problem, sondern der Zugang zu Krediten. Hier lässt sich feststellen, dass sich in der russischen Bourgeoisie hinsichtlich des Zugriffs auf Bankkapital eine Zweiklassengesellschaft aufgetan. „Die gesamte russische Wirtschaft ist in zwei ungleiche Teile geteilt: den ersten (kleineren) Teil, der Geld hat, aber nicht investieren kann, weil bereits investiert wurde und die Kapazitäten nicht ausgelastet sind, und den zweiten (großen) Teil, der investieren könnte, aber nicht kann aus finanziellen Gründen tun.“ (ebd. S.45). Drei Viertel aller Unternehmen hätten keinen Zugang zu einer Bankenfinanzierung. Investitionen werden zusätzlich dadurch blockiert, dass Aktien künstlich niedrig bewertet werden, indem vorher Insiderrenten über die Holding Gesellschaften abgezogen werden. Das behindert einerseits die Kapitalaquisation über Aktienverkäufe und zweitens werden Kredite auf Grund der geringeren Sicherheit teurer. Zusammenfassend muss man feststellen, dass in Russland keine erweiterte Reproduktion des Kapitals stattfindet, der Drang nach Kapitalexport daher keinen Motor besitzt und von einem monopolkapitalistischen Charakter der Bourgeoisie unter diesem Gesichtspunkt nicht gesprochen werden kann.

    Produktivität

    Um es gleich voranzustellen. In der bürgerlichen Forschung und Publizistik besteht kein Zweifel an der geringen Produktivität der russischen Ökonomie.20 Es ist auch nur logisch in Anbetracht des bereits beschriebenen erheblichen Investitionsdefizits in den letzten 30 Jahren. Dennoch lohnt ein Blick in die einzelnen Produktivitätsindikatoren. Ein erster prinzipieller Maßstab wäre die durchschnittliche Arbeitsproduktivität, die sich mit Hilfe des Bruttosozialproduktes durch die Anzahl der erwerbstätigen Personen ergibt. Hier liegt Russland bei einem Fünftel der USA und einem Drittel Deutschlands (vgl. Russland.Capital 2023). Die Zahl ist schon mal eine Marke, wenn auch mit Unzulänglichkeiten behaftet. Die Bedeutung von Importen in den USA kommt hier genauso wenig zum Ausdruck, wie die Tatsache, dass die extraktiven Industrien einen großen Teil des BIP erwirtschaften, aber nur einen geringen Teil der Arbeiter*innen beschäftigen. Das Medianunternehmen wird also einige Größenordnungen unter dem Durchschnittswert liegen. Außerdem hat die geringere Kaufkraft des Rubels natürlich einen Einfluss. Bereinigt ist der Unterschied zwischen Russland und den westlichen Staaten jedoch immer noch erheblich:
    Quelle: Abdulov, Komolov & Dmitrijeva, S.89, Übersetzung der Ländernamen hinzugefüht, Kaufkraftbereinigtes Bruttosozialprodukt/ Arbeitsstunde im Jahr 2017

    Betrachtet man das erwirtschaftete BIP pro Arbeitsstunde liegt Russland mit knapp 25 Dollar auf Platz 39 aller 42 OECD-Länder (ebd.).

    Ein weiterer Aspekt der Entwicklung der modernen Produktivkraft ist die Robotisierung.
    vgl. Atkinson 2018

    Hier lag Russland mit 4 Robotern pro 100.000 Arbeiter*innen mit Indien gemeinsam auf dem letzten Platz von 27 untersuchten Ländern, abgeschlagen hinter Mexiko, Brasilien oder Thailand.
    Infobox: Zum marxistischen Begriff der Produktivität

    Der Begriff der Produktivität taucht zwar im Kapital häufig auf, wird jedoch nie richtig definiert. Dies hängt unter anderem damit zusammen, dass er einmal sowohl in der Sphäre der unmittelbaren Produktion gebraucht wird und im dritten Band auf der Ebene der Reproduktion des Gesamtkapitals. In der Produktion wird sie häufig als Maß der Produktivkraft bezeichnet. Die Produktivkraft wiederum gibt an, in welcher Arbeitszeit ein Gebrauchswert geschaffen werden kann. Nun geht es den Besitzern der Produktionsmittel jedoch nicht um eine Maximierung des Gebrauchswertes, sondern um eine Maximierung des Profits. Und dazu taugt die Erhöhung der Produktivkraft nur unter bestimmten Bedingungen. Wird in einem ganzen Produktionszweig die Produktivkraft erhöht, zum Beispiel mit gleicher Maschinerie zwölf statt sechs paar Schuhe pro Arbeiter*in produziert, dann halbiert sich auch der Wert der Schuhe, da der Wert nur die durchschnittlich notwendige menschliche Arbeitszeit ausdrückt. Sinkt diese um die Hälfte pro Paar Schuhe, halbiert sich auch der Wert der Ware. Nur, wenn es dem Einzelkapitalisten gelingt, eine Ware in weniger Zeit als die Konkurrenz zu produzieren, kann er durch den Verkauf der Ware zum bisherigen Preis einen Extramehrwert erhalten. Ökonometrisch stellt sich hier das Problem, dass Datenbanken selten Angaben über Gütermengen, Qualitäten und Herstellungszeiten erhalten. Da die Produktivität in der Regel durch eine Erneuerung der Maschinerie erzielt wird, müsste die darin vergegenständlichte Arbeit mit berücksichtigt werden.
    Für Planwirtschaft ist diese Problem relevant und lösbar, aber nicht für Marktwirtschaften. Zudem wird die Produktivität im ersten Kapitalband auch in Zusammenhang mit der Arbeitsintensität genannt, wobei diese die Dichte der konkreten Arbeit pro Gebrauchswert angibt und von der Produktivität als Gebrauchswert pro Zeit unterschieden ist. Auf der Ebene der Reproduktion des Gesamtkapitals spielt die Produktivität im Zusammenspiel der beiden Größen zur Berechnung der Profitrate – Mehrwertrate und organische Zusammensetzung eine Rolle:

    Die Profitrate steigt, wenn die Ausbeutung zunimmt und sie sinkt, wenn die tote, vergegenständlichte Arbeit im Vergleich zur lebendigen, wertbildenden Arbeit zunimmt. Da jeder Kapitalist jedoch bestrebt ist, die neueste Technologie zu nutzen, in der in der Regel sehr viel Arbeit vergegenständlicht ist, um sich durch Unterbietung der gesellschaftlich notwendigen Arbeitszeit einen Extramehrwert respektive Extraprofit zur sichern (vgl. MEW 25, S.60), nimmt tendenziell das konstante Kapital zu und die durchschnittliche Profitrate fällt in der Tendenz. Die Bedeutung der organischen Zusammensetzung als Maß der Produktivität hat Marx selbst hervorgehoben: „In der Tat drückt die Wertzusammensetzung des in einem Industriezweig angelegten Kapitals, also ein bestimmtes Verhältnis des variablen zum konstanten Kapital, jedesmal einen bestimmten Grad der Produktivität der Arbeit aus. Sobald also dies Verhältnis anders als durch bloße Wertänderung der stofflichen Bestandteile des konstanten Kapitals, oder durch Änderung des Arbeitslohns, eine Veränderung erfährt, muß auch die Produktivität der Arbeit eine Änderung erlitten haben, und wir werden daher oft genug finden, daß die mit den Faktoren c, v und m vorgehenden Veränderungen ebenfalls Änderungen in der Produktivität der Arbeit einschließen.“ (MEW 25, S.61) Die organische Zusammensetzung hat als Maß auch den Vorteil, dass sie das Transformationsproblem umgeht, da variables und konstantes Kapital beide vor der Realisierung der Warenwerts verausgabt werden.

    Das letztendlich relevante Maß ist jedoch die Profitrate. Diese ist sozusagen die Produktivität des Kapitals. Kein Kapitalist unterlässt und tut etwas, wenn es nicht der Steigerung des Profits dient. Doch die Profitrate als Maß der Produktivität ist tückisch. Erstens berücksichtigen die bürgerlichen Statistiken nur die Preise und nicht die Arbeitswerte, wodurch es Verzerrungen bei großen intersektoralen Unterschieden kommen kann. Werte müssen erst realisiert werden und das Transformationsproblem wird relevant. Noch wichtiger ist das Problem, dass die Monopolrenten im Verkaufspreis verschwinden und somit von den Monopolprofiten im Preis nicht mehr zu trennen sind. Kausal wirken beide zwar anders, produktive Profite – monopolistische wie nichtmonopolistische – definieren die Durchschnittsprofitrate, während Monopolrenten diese sich nur an diesen orientieren oder durch politische Schutzmechanismen von der Marktpreisbildung entkoppelt sind. Und während die Monopolprofite jedoch durch einen tatsächlichen Produktivitätsvorsprung im Summe einer stärkeren Produktivkraft begründet werden, resultieren Monopolrenten aus der Verteilung der Bodenqualitäten und dem politischen Zugriff darauf. Die Profitrate alleine gibt also hier noch wenig Auskunft und muss durch zusätzliche Indikatoren der Produktivität interpretiert werden.

    Die bürgerliche Ökonomie definiert die Produktivität ähnlich wie die Profitratengleichung von Marx als Output pro Input. Die Maßeinheiten können jedoch variieren. Rechnet man Produktivität als Summe aller Preise für Arbeit und Produktionsmittel und teilt diese durch die Summe als Verkaufspreise, erhält man das gleiche Ergebnis wie Marxens Profitrate unter der Bedingung das Preise und Werte übereinstimmen. Werden Stückzahlen, Arbeitsstunden, Kapazitäten oder ähnliches verrechnet, dann führt die wiederum auf Marxens Produktivkraftdefinition zurück. Im Folgenden sollen sowohl die marxistischen, als auch bürgerliche Produktivitätsindikatoren untersucht werden. Die marxistische Betrachtung der Produktivität über die Profitratenrechnung erweist sich als äußerst komplex, insbesondere in einem Land wie Russland. Innerhalb der Monopolrententheorie müsste Russland – abgesehen von den Sanktionen – über den IWF soweit in den Weltmarkt integriert sein, dass die globale Durchschnittsprofitrate auch maßgeblich für das russische Kapital ist. Nun haben wir es mit zwei Befunden zu tun. Die organische Zusammensetzung scheint in Russland eher unterdurchschnittlich zu sein. Eine Studie von Rumjanzew (2020) stellte organische Zusammensetzungen in Höhe von 400% bis 500% für den produktiven Sektor fest. Dieser Wert hinkt der durchschnittlichen organischen Zusammensetzung in den kapitalistischen Zentren um um 100% bis 200% hinterher (vgl. Carchedi & Roberts et al. 2021). Die Mehrwertrate liegt nach Berechnungen der World Labour Value Database mit durchschnittlich 120% wiederum weit über den Werten aus Westeuropa und den USA. Nach Berechnungen der Arbeiterpartei Russlands (ohne Jahr) liegt die Mehrwertrate in vielen extraktiven Unternehmen bei astronomischen 500-700%. Das Kapital selbst müsste also unheimlich produktiv sein. Die Profitrate müsste also weit über der globalen Durchschnittsprofitrate liegen und das internationale Kapital selbst bei hohen Risiken anziehen. Russland hätte schon lange den chinesischen Weg gehen können und mit Hilfe ausländischer Direktinvestitionen die Produktivkräfte steigern können.
    Doch warum ist das nicht so? Weil die Mehrwertraten noch nicht die Monopolrenten berücksichtigen. Die hohen Mehrwerte resultieren eben nicht aus einer hohen industriellen Produktivität, was die geringe organische Zusammensetzung andeutet, sondern weil die Schätze des Bodens nur die hohen Kosten des Auslands zur Ersetzung der russischen Rohstoffe widerspiegeln. Das Mittel der Bereicherung der Bourgeoisie ist die Marktbeschränkung, nicht die Marktöffnung, wie sie das Monopolkapital anstrebt. Man muss berücksichtigen, dass die stark aggregierten Daten nur bedingt aussagekräftig sind. Je nachdem, welche theoretischen Annahmen oder Datensätze zu Grunde gelegt werden, unterscheiden sich die berechneten organischen Zusammensetzungen und Mehrwertraten erheblich. Und selbst wenn sie tendenziell übereinstimmen, dann sind sie noch kein vollständiger Beleg für die angeführte Interpretation. Man muss also in den bürgerlichen Analyse der Produktivität Russland nach Indizien suchen, um die Theorie der Monopolrenten zu stützen oder zu verwerfen.

    Ein weiteres wichtiges Maß für die Produktivität ist die Anzahl an Zweitjobs, die das russische Proletariat annehmen muss, um die Kosten für die Reproduktion ihrer Arbeit zu decken. Würde man diesen Aspekt vernachlässigen, dann würde die organische Zusammensetzung c/v wenig aussagekräftig sein, da v als der volle Wert der Ware Arbeitskraft definiert ist. Die bürgerliche Statistik würde immer so tun, als ob der volle Wert der Ware Arbeitskraft gekauft würde, obwohl dies nicht der Fall sein muss, z.B. wenn ein anderer Teil des Lohns an einer zweiten Arbeitsstelle verdient wird (vgl. MEW 25, S.67). Nach einer aktuellen Umfrage der VZIOM (2023) vom 7. Februar gaben 24% aller Russen an, neben ihrer Haupterwerbsquelle einer Nebentätigkeit nachzugehen, wobei der Wert für Männer sogar bei 31% liegt. 36% dieser Nebentätigkeiten werden auf dem Schwarzmarkt durchgeführt. Zusätzlich bauen 22% aller Russ*innen Lebensmittel im eigenen Garten an (30% der Frauen gegen 15% der Männer). In Deutschland gehen im Vergleich nur 9,6% einer Nebentätigkeit nach und nur 4,9% aller Vollbeschäftigten. Diese Werte verdeutlichen, dass in einem großen Teil der russischen Ökonomie die Ware Arbeitskraft nicht zu ihrem vollen Wert bezahlt wird und die Kosten für die Mittel der Reproduktion anderweitig gedeckt werden müssen. Da das variable Kapital somit nicht voll bezahlt wird, erscheint die organische Zusammensetzung als Maß der Produktivität statistisch höher als sie real ist. Da der Großteil der zusätzlichen Arbeit irregulär durchgeführt wird, taucht er auch nicht anderweitig in den ökonomischen Statistiken auf. Zudem ist anzunehmen, dass die Möglichkeiten der Steigerung der Arbeitsintensität unter diesen Bedingungen sehr begrenzt sind.

    Die geringe Produktivität im Vergleich zu anderen Ländern lässt sich auch über Wertströme innerhalb des Theorierahmens des ungleichen Tauschs empirisch aufzeigen. Die für die Herausbildung des Monopolkapitals wichtigen Extraprofite resultieren aus der Differenz zwischen Wert und Preis im Marxschen Preisbildungsmechanismus. Die Schule des ungleichen Tausches hat dieses Modell auf den Weltmarkt angewandt und argumentiert, dass zwischen imperialistischen und peripheren Ländern ähnliche Wertströme vorhanden wären, wie zwischen nichtmonopolistischem und Monopolkapital. Andrea Ricci (2021) untersuchte diese Wertströme, indem er den Wert der Ware Arbeitskraft über Kaufkraftparitäten bestimmte.
    Eigene Darstellung auf Grundlage der Daten Riccis

    Riccis Studie zufolge gehört Russland zu den Exporteuren solcher Extraprofite auf Grund der niedrigen organischen Zusammensetzung der Ökonomie. Die 30%, die Russland 2019 an erarbeitetem Wert in die kapitalistischen Zentren transferiert hat, fehlen zur Akkumulation des Kapitals. Wenngleich natürlich anderweitig Kapital da wäre und es erstrangig am mangelnden Willen der Bourgeoisie liegt, dieses auch produktiv zu investieren, zeigt Riccis Studie, dass es einen qualitativen Unterschied zwischen Russland und den USA/ Europa auf der Ebene des Welthandels gibt.

    Es ist dabei nicht so, dass die russische Regierung nicht tätig würde, um die Produktivität zu steigern. Es gibt zahlreiche ambitionierte nationale Projekte, wie das Forschungszentrum in Skolkovo, mit denen der industrielle Rückstand aufgeholt werden soll. Der russische Staat stellt billige Kredite und Infrastruktur bereit. Er steht jedoch vor einem gewaltigen Dilemma. Für ausländisches Kapital ist Russland auf Grund der vergleichsweise hohen Lohnkosten zu unattraktiv, um Kapital in einem außen- und innenpolitisch relativ unsicheren Investitionsumfeld anzuziehen. Man müsste dort beginnen, wo China vor 30 Jahren begann, jedoch ohne, dass die Regierung so gefestigt wäre wie die KPCh. Das ist der Grund, warum die einfache liberale Erzählung, man brauche nur Rechtssicherheit für Investoren, weniger Staat und offene Märkte, nicht fruchtet. In China waren die selben „Missstände“ auch kein Problem, solange die Lohnkosten gering genug waren. Eine Deregulierung der Ökonomie wiederum begrenzt die Möglichkeiten einer konzentrierten Entwicklung und verschafft womöglichen Kompradoren wieder die Macht der Yeltsin-Zeit. Und wie dargestellt, ist das russische Kapital chronisch investitionsträge. Es ist bezeichnend, „dass nur 8 Prozent der russischen Unternehmen an Innovationen beteiligt waren, verglichen mit 41 Prozent in China, 51 Prozent in der Türkei und 64 Prozent in Indien.“ (Russland.Capital 2023). Obwohl die Bevölkerung gut ausgebildet ist und der russische Staat für das einheimische Kapital ein fast mustergültiges Investitionsklima für das einheimische Kapital schafft, gibt es für das russische Kapital offensichtlich keine Motivation, ihre Produktivität zu steigern. Der Öl-Analyst Stephen O’Sullivan begründete die Zurückhaltung langfristiger Investitionen, mit dem Unglauben der neuen Besitzer, ihre Unternehmen lange zu halten. (vgl. Wall Street Journal 2001). Jeder der Oligarchen hatte gegen das Gesetz verstoßen und die Angst vor einer entsprechenden Überprüfung der Oligarchen bestimmte die Investitionstätigkeit.

    Auch die Kapitalverflechtung mit ausländischen Monopolisten konnte die Produktivität nicht steigern, da sie größtenteils in der Konsumgüterindustrie stattfand (Tabakindustrie, Lebensmittel wie Nestle und Kraft, Brauereien und Zellstoffe; vgl. Pappe 2019, S.118f.). Hier geht es nicht um die Produktionsmittel- oder High-Tech-Industrie, sondern um recht einfache qualitätssichernde Verfahren und Markeneinfluss. Es trägt daher wenig Wunder, dass die Tabakindustrie bis heute ihre Kontakte nach Russland nicht gekappt hat und die sanktionsbedingt abgewanderten Lebensmittelketten und Markenprodukte leicht durch russische Ersatzprodukte substituiert werden konnte. Zwar haben ausländische Konzerne auch in anderen Sektoren Aktienanteile russischer Firmen erhalten, etwa BP bei TNK oder e.on bei OGK-4, aber hier handelte es sich zumeist um stumme Teilhabe ohne Einfluss auf die Produktion. Russische Investitionen im Ausland wiederum rankten sich um symbolische Ressourcen, um die Rohstoffgeschäfte mit ausländischen Regierungen über bestehende Geschäftskontakte zu erleichtern.

    Daher kommt dem Staat als Motor der Produktivitätsentwicklung eine entscheidende Rolle zu. Das wiederum bringt eine Reihe anderer Probleme mit sich. Die Investitionsmöglichkeiten des Staates sind letztendlich doch begrenzt. Es geht nicht um Milliarden, sondern um Billionen, die wahrscheinlich über die Jahre für eine globale Wettbewerbsfähigkeit benötigt würden. Um die nationalen Programme umzusetzen, ist man allerdings auf die Expertise der führenden Wirtschaftskreise angewiesen. Und genau die haben ja offensichtlich kein Interesse an Investitionen. Staatliche Gelder werden durch diese dann zwar abgegriffen, ohne aber tatsächlich eine Perspektive für globale Wettbewerbsfähigkeit anzustreben (vgl. Epstein 2019, S.114). Dieser Widerspruch zwischen der Unfähigkeit zur inneren und Unwilligkeit zur äußeren Entwicklung der Produktivkräfte kennzeichnet die Bourgeoisie unter der zweiten Amtsperiode Putins. Dieser Widerspruch wird sich auflösen müssen. Die Richtung ist jedoch noch unbestimmt.

    Produktivität und Investitionen sind die beiden wichtigsten Indikatoren zur Klärung des nichtmopolistischen Charakters der dominanten russischen Bourgeoisie. Sie sprechen eine so eindeutige Sprache, das weitere Indikatoren wie die Einbindung in die globalen Wertschöpfungsketten später als Ergänzung hinzugefügt werden können, ohne dass sie am Resultat etwas änderten.21
    5. Fallbeispiele

    Allgemeine und historische Voraussetzungen, Tendenzen, Triebkräfte, Prozesse und Abhängigkeiten, wie bisher dargestellt, sind natürlich vordergründig wichtig. Das Salz in der Suppe ist jedoch der Nachvollzug der Genese all dieser Aspekte in den Biographien der russischen Großbourgeoisie. Die folgenden Fallbeispiele dienen daher der Plausibilisierung des bisher dargestellten. Auch wenn die Zahl der russischen Bourgeoisie abzählbar ist und eine Gesamtdarstellung aller relevanten Figuren durchaus leistbar wäre, überstiege eine solche den Umfang und die Leseerwartung des hier vorliegenden Textes. Jedoch wurden hier zwei Skizzen herausgesucht, die als prototypisch für die einzelnen Unternehmertypen angesehen werden können und deren Wesen als pars per toto nach dem Lesen der systematischen Darstellung ins Auge springen sollte.
    5.1. Vladimir Potanin

    Vladimir Potanin, Eigentümer von Norilsk Nickel, ist heute der reichste Russe der Welt. Obwohl er als putinnah gilt und demnach den Krieg in der Ukraine unterstützte, wurde er von Sanktionsmaßnahmen bis Dezember 2022 ausgenommen. Erst ab 2024 hatte das Norilsk mit geschäftlichen Problemen zu kämpfen. Potanin gehört hier zu der Fraktion der Oligarchen, die aus der Parteinomenklatura der KPdSU entstammt (vgl. Hoffman 2011, S.298ff.). In der Sowjetunion arbeitete er wie schon sein Vater im Außenhandelsministerium und genoss Privilegien, wie ein gehobenes Wohnviertel mit reichem Warenangebot im Wohnviertel und Auslandsreisen. In Schule und Studium wurde er mit dem kapitalistischen Wirtschaftssystem früh vertraut gemacht, um auf seine Laufbahn vorbereitet zu werden. Während seiner Tätigkeit als Handelsmann für Phosphatdünger verschlug es ihn unter anderem auf die Halbinsel Kola, auf der das Norilsk-Bergbaukombinat angesiedelt war, dass 98% des sowjetischen Platins und 90% des Nickels förderte. Dieses Unternehmen sollte das Fundament des Aufstiegs Potanins als Oligarch werden. Im März 1990 gründete er mit dem Kapital von 20 Kleinanlegern das private Handelsunternehmen INTERROS. Zu etwa gleicher Zeit geriet die staatliche Handelsbank der Sowjetunion INTERNATIONALE BANK FÜR WIRTSCHAFTLICHE ZUSAMMENARBEIT in finanzielle Schwierigkeiten, da der Rat für gegenseitige Wirtschaftshilfe, zu deren Unterstützung die IBWZ eigentlich gegründet worden war, wegbrach und sich Vertragspartner nicht mehr an ihre Zahlungsverpflichtungen gebunden fühlten. In einem Brief, dessen genaue Herkunft bis heute ungeklärt ist, wurde Kund*innen geraten, ihr Geld lieber bei Potanins neu gegründeter UNEXIM-Bank anzulegen. Potanins neue Bank wurde in unerwarteter Geschwindigkeit von den Behörden genehmigt und gemeinsam mit Mikhail Prokhorov, der ein ehemaliges Führungsmitglied der IBWZ war, baute er eine der führenden Finanzinstitutionen der frühen russischen Föderation auf. Ihnen gelang es, 40 führende Exporteure – unter anderem von Erdöl und chemischen Produkten – als Kunden zu gewinnen. UNEXIM wurde professionell geführt und verband angemessene Korruptionstechniken mit moderner Logistik, wie dem Einsatz von Computern. Anders als andere Banken, die sich von Beginn an einfach nur bereicherten, berücksichtige UNEXIM die staatlichen Interessen Russlands und gewann so das Vertrauen der Kreise um Yeltsin.

    Als der russische Staat Ende 1994 in finanzielle Schwierigkeiten geriet, Löhne und Renten nicht mehr gezahlt werden konnten und Boris Yeltsins Zustimmungswerte im niedrigen einstelligen Prozentbereich lagen, interessierte sich dieser für einen Plan Potanins: das Loan-for-Shares-Programm. Der Plan entstammte eigentlich den beiden amerikanischen Investoren Boris Jordan und Steven Jennings, die in der ersten Hälfte der 90er Jahren zur Vermittlung für den Ausverkauf des fixen Kapitals von Betrieb zu Betrieb zogen. Diese schlugen vor, dem Staat Geld gegen die staatlichen Unternehmensanteile als Sicherheit zu verleihen und bei Nichtbegleichung diese einzubehalten. Die beiden witterten fette Beute, aber hatten die Rechnung ohne den Wirt gemacht. Potanin übernahm die Idee, kolportierte sie in den angesehenen Finanzkreisen Moskaus und präsentierte sie Ende März 1995 Yeltsin. Ein russisches Bankenkonsortium bot der Regierung 1,8 Milliarden Dollar an, fast genau die Summe, die auch die Regierung sich durch Privatisierungen erhoffte, um das Programm umzusetzen. Unterstützt wurde Potanin von Khodorkovsky und Smolensky. Unter den 40 zu privatisierenden Firmen waren daher auch NORILSK und YUKOS. Allerdings sollten ausländische Investoren anders als im ursprünglichen Plan ausgeschlossen werden. Geleitet wurden die Auktionen unter anderem von Potanins UNEXIM-Bank. Yeltsin wurde die Idee damit schmackhaft gemacht, dass er den Kredit bereits vor der Wahl bekam, die Versteigerungen aber erst nach der Wahl stattfinden sollten. So sicherte sich Yeltsin die Unterstützung des Finanzkapitals gegen seinen Kontrahenten Zyuganov von der KPRF, der sich gegen den Ausverkauf des Staates wandte.

    Für nur 170 Millionen Dollar und damit nur 100.000 Dollar über dem Startpreis der Auktion sicherte er sich 38% des Nickelproduzenten NORILSK. Ein Angebot von Rossiisky Kredit über 355 Millionen US-Dollar wurde auf Grund technischer Einwände von Potanins Bank nicht zugelassen. Dieser Konzern sollte Potanins wichtigstes Standbein werden. Für 130 Millionen Dollar kaufte sich Potanin auch 51% des fünftgrößten russischen Ölkonzerns SIDANCO (wenn die Rede davon ist, dass Potanin es gekauft habe, dann bedeutet das genauer, dass seine Holding-Company INTERROS dies gekauft hat), wovon er 10% unmittelbar nach Ablauf des staatlichen Rückkaufrechts (und nach dem Erwerb weiterer 34% für 20 Millionen Dollar) für 484 Millionen US-Dollar an BP verkaufte. Ein solches Geschäft hat kein Kapital akkumuliert, sondern sich ungleicher Zugänge zum Unternehmen genutzt, um es unter dem tatsächlichen Wert des fixen Kapitals zu kaufen und dieses dann zu seinem regulären Marktpreis wieder zu verkaufen. Dies ist damit keinesfalls ein typisch monopolkapitalistischer Vorgang, sondern ein kompradorischer. SIDANCO ist auch ein hervorragendes Beispiel dafür, warum eine monopolkapitalistische Expansion im Russland der 90er Jahre scheiterte. Der Konzern versuchte unter der Führung von INTERROSS tatsächlich zu expanideren und kaufte zahlreiche petrochemische Betriebe, Pipelines und Raffinerien auf. Dazu verschuldete sich das Unternehmen massiv, wollte aber das hohe Zinsvolumen aus den hohen Grundrenten des Ölverkaufs bezahlen. Gleichzeitig hielt Potanin sich nicht an die Abmachung mit dem russischen Staat, 220 Millionen Dollar in in die Erneuerung des fixen Kapitals zu investieren (vgl. The Wall Street Journal 2001). Als der Ölpreis Ende der 90er Jahre drastisch einbrach, war SIDANCO nicht mehr in der Lage, seine Schulden zu begleichen und ging in Insolvenz. Während die großen ausländischen Investoren staatlich geschützt wurden, sanierte sich das Unternehmen auf Kosten der kleineren Gläubiger und des Verkaufs der Ölfelder, bevor SIDANCO 2001 komplett für 1,1 Milliarden Dollar an das russisch-britische Joint-Venture TNK-BP des Multimilliardärs Viktor Wekselberg verkauft wurde. Innerhalb von sechs Jahren konnte Potanin also alleine mit dem SIDANCO-Deal seine ursprünglich investierten 150 Millionen Dollar fast verzehnfachen. Potanin hat mit SIDANCO nichts weiter getan, als sich durch die Monopolstellung seiner UNEXIM-Bank die Anteile billig vom Staat zu kaufen und so teuer wie möglich zu verkaufen.

    Völlig anders gelagert ist der Fall des eigentlichen Kerninvestments NORILSK. Das Unternehmen ist heute der größte Buntmetallproduzent Russlands und eines der zehn größten Privatunternehmen Russlands. Bereits wenige Jahre nach der Einführung der Marktwirtschaft machte das Unternehmen Profite und expandierte zum Beispiel durch die Übernahme des Goldproduzenten POLYUS. Nach dem Machtantritt Putins war NORILSK zusammen mit LUKOIL eines der ersten Ziele der Steuerfahndung und der Überprüfung der Rechtmäßigkeit der Privatisierung. Potanin drohte als erster die Inhaftierung. Die genauen Hintergründe, warum Potanin dieser entging, sind unklar, aber womöglich konnte er mit Putin einen Deal aushandeln, welcher den Konzern als wesentliches Element einer nationalen Industriestrategie betrachtete. NORILSK war verantwortlich für mehrere Umweltkatastrophen und tödliche Industrieunfälle. Putin drängte Potanin daher zu massiven Investitionen, was den Konzern mittlerweile zu einem besten Industriearbeitgeber und zu einem WWF-ausgezeichneten Unternehmen macht. Anders als andere Oligarchen finanzierte Potanin mit seinen Geldern wohltätige Stiftungen und leistete einen erheblichen Beitrag zur Winterolympiade in Sochi.

    Möchte man Potanins Biografie zusammenfassen, zeigt sich, dass Potanin zeitlich und kontextabhängig mal als Komprador, mal als Monopolist auftritt. Während die Vorgänge, die zur Übernahme von NORILSK und SIDANCO führten, eindeutig kompradorischen Charakter tragen, verkörpert Potanin nach 2000 einen Prototypen des nationalen Monopolisten bis hin zur Imagepflege über wohltätige Institutionen.
    5.2. Mikhail Khodorkovsky

    Mikhail Khodorkovsky kann als das Gegenstück zur Biographie Potanins angesehen werden. Anders als Potanin ordnete sich Khodorkovsky nicht der nationalen Strategie unter und wurde als Oligarch von Putin abgesägt.

    Khodorkovskys Karriere begann im Komsomol, den er an seiner Universität leitete. In dieser Funktion knüpfte er Kontakte mit mächtigen Reformern der KPdSU, die ihn in den ersten kapitalistischen Jahren Russlands protegieren sollten. Der Komsomol war auch eine der ersten Einrichtungen, die ausgiebigen Gebrauch von den Reformen Gorbachevs machten und den einzelnen Basisgruppen das Wirtschaften auf eigene Rechnung gestatteten. Es entstanden kommerzielle Diskotheken, Bars, Klubs, Cafes, Reisebüros und Verlagshäuser. Durch die Arbeitseinsätze hatte der Komsomol Kontakte in die Fabriken und übernahm die Spielzeugindustrie. Der Komsomol war auch die erste Organisation, die Aktien austeilte und Dividenden zahlte.

    Aus diesem Kreis stammte Khodorkovsky und die ersten Projekte, in denen er die „Selbstfinanzierung“ wissenschaftlicher Projekte, die ersten marktwirtschaftlichen Keimzellen in der untergehenden Sowjetunion, managte. Hierbei lernte er, wie man über solche Geschäfte nicht-konvertible Rubel in die wesentlich wertvolleren konvertiblen Rubel „waschen“ konnte, um somit hohe Profite zu erzielen. Andere Komsomolzen machten es Khodorkovsky gleich, wodurch viele spätere Kapitalisten diesen Kreisen entstammten. Manche der Jungkommunisten bedienten sich hierfür an den Dollarvermögen der Partei, als diese zusammenbrach und später verboten wurde. In dieser Zeit war die Art, mit der Khodorkovsky seine Gewinne erzielte, mit keinerlei wertbildender Arbeit verbunden, sondern nur mit der unterschiedlichen Bewertung der beiden Währungen der Sowjetunion. Auf diese Weise verdienten junge Wissenschaftler für die gleiche Arbeit ein Vielfaches ihres regulären Gehalts, was zur Basis für seine späteren Kontakte wurde. Und er sammelte einen riesigen Bestand an nicht-konvertiblen Rubeln, die er auf dem Schwarzmarkt streute. Er nutzte verschiedenste Marktimbalancen für Produkte, die im Ausland billig zu erwerben und in der späten Sowjetunion teuer zu verkaufen waren, darunter auch viele Fälschungen. Mit seinem bisher ertauschtem Geld gründete er eine Bank, die nach mehreren Umbenennungen die MENATEP-Bank werden sollte. Das Geschäftsmodell war zunächst, sich billiges Geld vom Staat zu leihen, dieses gegen höhere Zinsen an (in der Regel staatliche) Firmen weiterzuverleihen. Mit diesem Geld und den staatlichen Genehmigungen wiederum wurde sie attraktiv für ausländische Investoren. Nach der ersten Privatisierungswelle des Staatseigentums über das Voucher-System wurde MENATEP zu einem der wichtigsten Käufer für die Unternehmensanteile. Anteile von über hundert Firmen aus allen Sektoren wanderten so in Khodorkovskys Besitz. Erst im Nachhinein ließ er sich von Beratern erklären, wie man unter solchen Bedingungen überhaupt Industrieunternehmen leiten könne. Khodorkovsky war der Ansicht, dass dies in Russland nicht funktionieren könne und fokussierte sich auf Öl. Kodorkovsky gewann Einfluss auf die Kreise um Yeltsin und seine MENATEP-Bank wurde hinter der UNEXIM-Bank Potanins zweitgrößter Auktionsbetreiber des Loans-for-Shares-Programms. Khodorkovsky hatte es wie viele andere auf den Ölkonzern YUKOS abgesehen und seine Bank hinderte die Konkurrenten daran, zu bieten. Khodorkovsky erwarb zunächst 45% für 159 Millionen Dollar und später 33% für Investitionszusicherungen in Höhe von 150 Millionen Dollar. Das Geld dabei kam von YUKOS selbst, zu dessen Präsidenten Murawlenko der neue Oligarch gute Kontakte besaß.

    YUKOS war ein ganz klassisches kompradorisches Unternehmen, an dem nicht nur Khodorkovsky reich wurde. Die Produktionsfirmen des Konsortiums verkauften die Produktion zu niedrigen russischen Preisen an Vertriebsfirmen, die diese zu hohen Preisen auf dem Weltmarkt absetzten. Die Gewinne wanderten direkt auf ausländische Konten. Die ausländischen Banken und Unternehmen, die an diesem Geflecht beteiligt waren, halfen MENATEP mit günstigen Krediten und Insiderverkäufen durch die russische Finanzkrise 1998. Da ein Großteil dieser Aktivitäten ungesetzlich war, musste sich Khodorkovsky zudem auf einen Netzwerk an korrupten Beamten und Politikern stützen.

    Nach dem Machtantritt Putins verweigerte sich Khodorkovsky der neuen Industriestrategie Putins. Er torpedierte 2002 eine abgestimmte Ölpreispolitik mit der OPEC durch eine Erhöhung der Produktion. Er sprach sich gegen westliche Investitionsbeschränkungen und für den Irak-Krieg aus. Und er fädelte einen Deal ein, mit dem 40% von YUKOS an EXXON übergegangen wären. Dies hätte den größten Devisenbringer Russlands unter direkte Kontrolle eines amerikanischen Unternehmens geführt. Den Deal, den Putin den Oligarchen vorgeschlagen hatte, Absehung von Strafverfolgung für politische Loyalität, wurde von Khodorkovsky ausgeschlagen und die russische Staatsanwaltschaft ermittelte gegen zahlreiche Firmen Khodorkovskys. Der Prozess an sich war fair. Die Vorwürfe waren berechtigt. Politisch brisant war lediglich die Nichtverfolgung anderer Oligarchen. YUKOS wurde mit Steuernachforderungen in den Ruin getrieben und als Treppenwitz der ganzen Geschichte von einer Strohfirma einer Strohfirma von Gazprom geschluckt. Khodorkovsky wurde zu acht Jahren Haft verurteilt. Die Verbindung zu zahlreichen Morden im direkten geschäftlichen Umfeld des Oligarchen wurden ihm dabei nicht nachgewiesen und zur Last gelegt. Erst 2015 ermittelte die russische Staatsanwaltschaft wegen eines Mordes an einem Bürgermeister gegen seinen Sohn. Im Dezember 2013 wurde er überraschend vorzeitig aus dem Gefängnis entlassen und lebt von ca. 1,7 Milliarden Dollar, die er im Ausland gesichert hatte. Khodorkovsky geht in Fragen des Ukraine-Kriegs über die Forderungen der ukrainischen Regierungen zur Beendigung des Krieges hinaus und fordert neben einem Regime Change, und einer Sanktionierung der kompletten russischen Ökonomie auch hohe Reparationen von russischer Seite.

    Khodorkovsky ist der Prototyp des russischen Kompradoren, der sich selbst als Teil einer transnationalen Bourgeoisie ohne Bindung an staatliche Industriepolitik sieht. Er kann bereits auf Grund dieser mangelnden Verschmelzung mit der Staatsmacht in Fragen der Industriepolitik nicht als Monopolkapitalist angesehen werden. Der gesamte Reichtum Khdorkovskys entstammt – abgesehen von der minimalen im Ölförderprozess vergegenständlichten Arbeit – nicht äquivalentem Tausch. Er hat sich real vollkommen unter das ausländische Kapital subsummiert, worauf der versuchte Verkauf von Exxon hinweist.
    5.3. Die Oligarchen und der Krieg

    Wenn die russische Invasion in der Ukraine als ein imperialistischer Krieg anzusehen wäre, dann müsste man annehmen, dass auch die dominanten Teile der Bourgeoisie hinter diesem Krieg stehen. Um einen Eindruck von der Stimmung des oligarchischen Teils der Bourgeoisie zu bekommen, kann man die Äußerungen der Kapitalisten betrachten, welche in der Notation der Moskauer Minchenko Consulting als Mitglieder des „Zentralkomitees 2.0“ geführt werden (vgl. Minchenko 2019, S.17). Unter dieser polemischen Bezeichnung werden Oligarchen verstanden, die eng mit Putin vernetzt sind und auf die das Consulting-Büro Putins Macht gestützt sieht. Insgesamt führt sie 17 Unternehmer aus dem extraktiven, produktiven und IT-Sektor auf. Man mag über die Gewichtung streiten, aber offensichtlich werden sie vom liberalen Bürgertum als besonders putintreu wahrgenommen.

    Stahlmilliardär Vladimir Lisin, dessen Holding-Gesellschaft in Zypern sitzt, nannte die Invasion eine „unmöglich zu rechtfertigende große Tragödie“ (Business Insider 2023). Lisin war gerade erst dabei, neben der Primärgüterproduktion weitere Verarbeitungsschritte wie den Rohrhersteller John Maneely Company in sein Portfolio zu integrieren, war aber noch vom Ausland abhängig. Der als besonders putinnah geltende Oligarch (Gründer der USM-Holdung) Alisher Usmanov sagte, der Krieg werde niemandem nützen, er sei aber kein Politiker (KUN 2023). Oleg Deripaska rief über Telegram regelmäßig zum Frieden auf (Moscow Times 2022). Alexey Mordashov sagte: „Es ist schrecklich, dass Ukrainer und Russen sterben, Menschen Not leiden und die Wirtschaft zusammenbricht.“ (ebd.) Mikhail Fridman positionierte sich aus dem Ausland in einem Brief an seine Mitarbeiter gegen den Krieg und scheute sich in der Folge vor einer Rückkehr nach Russland. Der Eigentümer des größten russischen privaten Gasunternehmens Novatek Leonid Mikhelson forderte, „alle diplomatischen Maßnahmen zur Wiederherstellung des Friedens zu unterstützen“ (ebd.). Aus Russland floh auch der größte LUKOIL-Aktionär Alekperov, um per Brief eine schnelle diplomatische Lösung zu fordern (Lenta 2022). Bereits 2014 sagte er, dass eine stabile Ukraine wichtiger sei als die Krim. Roman Abramovich wird gar eine aktive Rolle im Gefangeneaustausch zugeschrieben, da er das Vertrauen beider Seiten genieße (Strana 2022). Iskandar Makhmudov und Andrey Bokarev gelang es, ihre Geschäftskontakte nach Lettland aufrechtzuerhalten, was kaum mit einer kriegsstützenden Haltung zu vereinbaren wäre (Meduza 2022). Yandex-Gründer Arkady Vorozh war einer der Hauptleidtragenden von der Emigration russischer Programmierer. Über die Sanierungspläne auf Grund des Fachkräftemangels und der Sanktionen geriet er in Konflikt mit dem Kreml, der die größte russische Suchmaschine mit angeschlossenem sozialen Netzwerk in russischen Händen behalten wollte (The Bell 2022). Ebenfalls problematisch ist der Fall Vladimir Yevtushenkovs. Der russische Staatsbürger war eng mit der ukrainischen Führung unter Yanukovich vernetzt und wurde für seine anhaltenden Kontakte mit der Maidan-Regierung in Moskau sogar unter Hausarrest gestellt. Die EU setzte ihn lange nicht auf die Sanktionsliste, obwohl er eine Firma zum Bau russischer Militärdrohnen besaß. Nur die Ukraine beschlagnahmte sein Vermögen im Land, von dem er behauptete, keines mehr zu besitzen. Eine Befürwortung des Krieges ist von ihm nicht bekannt.

    Vladimir Bogdanov (Surgutneftegas) und Suleiman Karimov (vielfältiger Investor und Senator in Dagestan) äußerten sich überhaupt nicht. Selbst der ideologisch als Musterpatriot und von Putin persönlich ausgezeichnet Stahlmagnat Viktor Rashnikov konnte sich nicht zu einer öffentlichen Stellungnahme zur Unterstützung der Militärintervention hinreißen lassen. Maximal Vladimir Potanins mantraartige Wiederholung, dass getan werden muss, was getan werden müsse, kann mit gutem Willen als Unterstützung gewertet werden (RBK 2023a). Potanin profitierte von einem Kauf von 35% der Tinkov-Gruppe, kurz nachdem dessen Besitzer Oleg Tinkov sehr scharf gegen den Krieg geäußert hatte und dennoch auf der EU-Sanktionsliste verblieb. Der gebürtige Ukrainer Viktor Vekselberg wies immerhin Beschuldigungen zurück, dass Russland im Krieg eskaliere und stellte den Krieg in den Kontext der hitlerfaschistischen Diktatur, unter der seine Vorfahren gelitten hätten. (News.ru 2022).

    Von 17 besonders systemtragenden Oligarchen haben sich also sieben dezidiert gegen die Militäroperation ausgesprochen; bei drei weiteren verrät die politische Rolle die Ablehnung. Fünf äußerten sich gar nicht in den Medien zum Konflikt und nur zwei Oligarchen gaben öffentlich zu Protokoll, dass sie nicht gegen Putins Vorgehen sind. Wenn der Imperialismus zu einer gewissen Interessenkonvergenz zwischen Staat und Großkapital führen sollte, ist diese in Russland nicht zu finden. Nun mag man die Angst vor Sanktionen als Beweggrund der Oligarchen anführen. Aber erstens würde dies nichts anderes bedeuten, dass der bedeutendste Teil der russischen Bourgeoisie politisch und ökonomisch – und damit auch ideologisch – unter das ausländische Kapital subordiniert wäre. Und zweitens hat das Sanktionsregime Kriegskritik nicht durch Verschonung belohnt. 16 der 17 genannten Oligarchen wurden unabhängig von ihrer öffentlichen Haltung sanktioniert, solange sie an Assets, die mit dem Krieg in Verbindung standen, profitierten. Die Motivation für verlogene Kritik sollte also eher gering sein.

    Welche Kapitalisten haben sich denn in der Umkehrprobe wirklich für den Krieg ausgesprochen bzw. Putins Narrative gestützt. Am blumigsten hat wohl der Leiter von Rosatom die Invasion begrüßt. Er stellte die Spezialoperation in eine Reihe mit den polnischen Invasionen des 17. Jahrhunderts, dem Napoleonischen Feldzug und dem Großen Vaterländischen Krieg (Strana Rosatom 2022). Rosatom ist hierbei ein Konzern, der tatsächlich fast die vollständige Wertschöpfungskette kontrolliert und Kapital ins Ausland exportiert, in dem beispielsweise in Ägypten, Bangladesch oder Indien mit Hilfe billiger Arbeitskraft moderne Anlagen gebaut werden.22 Dass dieser Konzern immer vollständig in Staatshand geblieben ist, zeigt erneut, dass die Bürokratie und nicht das private Kapital Treiber der Monopolisierung sind. Ansonsten kommen die Befürworter der Spezialoperation aus den Reihen des Teils der Staatsbürokratie, die – obgleich manche Anteilspakete besitzen – nicht als Kapitalisten fungieren.
    6. Die Entwicklung der russischen Bourgeoisie seit 2022

    Man wird bei einer Analyse der russischen Bourgeoisie auf der Höhe der Zeit nicht um die Frage herumkommen, welchen Einfluss die Spezialoperation und der anschließende Krieg in der Ukraine auf die Formierung der russischen Bourgeoisie bisher gespielt hat. Dieses Kapitel unterscheidet sich dabei ganz grundlegend von den vorangegangenen. Der Grund hierfür ist, dass alles bisher dargestellte geronnene Vergangenheit ist. Die Fakten stehen im Wesentlichen fest und die Entwicklung der russischen Ökonomie bis vor drei-vier Jahren ist weitestgehend evident. Es mögen Unterschiede in der Bewertung oder in der Einbettung in verschiedene Modelle vorliegen, aber über die heuristische Substanz herrscht weitestgehend Einigkeit. Das ist bei der Betrachtung der aktuellen Entwicklungen der russischen Bourgeoisie anders. Hier können wir die Entwicklung nur in Tendenzen und Gegentendenzen nachzeichnen, da es sich um unabgeschlossene Prozesse handelt. Um das klarzustellen. Es geht hier nicht nur um den Mangel und die Unsicherheit an Fakten oder Deutungen, auch wenn es hier bereits ausreichend Hürden gäbe. Die Wissenschaftskommunikation mit dem Westen ist weitestgehend abgeschnitten, sodass die Rosstat-Daten nicht extern evaluiert werden können. Marxistische Theoretiker sitzen in Russland in Haft oder sind von Haft bedroht, wenn sie kritisch zu den mit dem Krieg verbundenen ökonomischen Fragen Stellung nehmen. Westliche Darstellungen wiederum sind stark vom Vorurteil geprägt, die russische Ökonomie als weniger resilient zu schätzen, als sie sich bisher immer gezeigt hat. Und durch die notwendigen Schwarzmarktgeschäfte, sowie der Geheimhaltung der konkreten Ausgestaltung des russisch-chinesischen Technologietransfers und der militärischen Entwicklung fehlen entscheidende Einflussgrößen zur Bewertung der industriellen Entwicklung Russlands.

    All das wäre schon genug, um den tendenziellen Charakter der folgenden Darstellungen zu begründen. Aber die russische Ökonomie wird dialektisch durch die Entwicklungen in den USA, China, Europa und Indien ganz maßgeblich bestimmt. Dominante Tendenzen können im Sande verlaufen, wenn die EU plötzlich wieder Gas importieren sollte oder die USA einen Technologietransfer nach Russland zulassen sollten. Eine Tatsache kommt uns bei der Betrachtung jedoch zur Hilfe. Die Prozesse haben noch keine revolutionäre Geschwindigkeit angenommen. Die meisten prägenden Entwicklungen haben bereits zwischen 2014 und 2017 begonnen und allenfalls an Geschwindigkeit zugelegt. Zum Beispiel war digitale Souveränität spätestens seit März 2017 ein Thema, um die digitale Bewegungsfreiheit der Opposition von Regierungswegen her einzuschränken (vgl. Ustyuzhantseva & Popova 2025). Russland hatte hier weniger Probleme mit dem Aufbau einer resilienten Struktur als mit der Abwanderung von IT-Spezialisten.

    In der bürgerlichen Erzählung über den jüngsten russischen Kapitalismus gibt es drei wesentliche Stränge. Der erste ist der Einfluss der Sanktionen und die Debatte um den Erfolg oder Misserfolg eines russischen Militärkeynesianismus. Der zweite ist die globale Umorientierung Russlands vom Westen hin zu China, die unter anderem in der Belieferung mit kritischen Gütern deutlich wird:
    Quelle: Astrov, Feodora; Scheckenhofer & Semelet. S.17.

    Der dritte ist das Dilemma zwischen der rigorosen Zinspolitik und der Inflation, das sich in der Person der Zentralbankchefin Elwira Nabiullina personalisiert, die auf der einen Seite als erfolgreiche Managerin der russischen Ökonomie und Mutter der Resilienz gilt, deren straffe Zinspolitik jedoch zunehmend als Entwicklungshemmnis angesehen wird (Nievelstein 2025). Alle diese Motive werden intensiv diskutiert, wobei die Meinungen stark divergieren. Es ist hingegen übergreifender Konsens, dass sich die russische Ökonomie gegenüber den Sanktionen als robuster herausgestellt hat als noch 2022 erwartet, wobei die Nachhaltigkeit dieser Robustheit sehr unterschiedlich bewertet wird.

    Wenn man man vom Konzept einer nationalen Bourgeoisie sprechen möchte, dann ist der Krieg mit geringen Zweifeln bisher ein Katalysator des Wandels der alten auf private Schatzbildung fokussierten Oligarchenfraktion zu einer nationalen geworden. Eine Trennung zwischen privaten Oligarchen, die von Putin nach seinem Machtantritt eingehegt wurden und Staatsoligarchen, die unter Putin die Kommandogewalt über die größten staatlichen Unternehmen übertragen bekamen, existiert so heute nicht mehr (Petrov 2024). Durch die Sanktionen ist insbesondere jener Teil der Bourgeoisie unter Druck geraten, der zuvor als Komprador tätig war und die Geschäftskontakte nach Russland kanalisiert hat. Durch das Einfrieren der Vermögen und dem Wegfall der Gasexporte in den Westen wurden diese nicht nur auf Druck aus Moskau, sondern aus Eigennutz an die Regierung geschmiedet (Yakovlev 2025). Die vom Westen mit den individuellen Sanktionen adressierten alten Oligarchen, die man gegen Putin wegen der Nichtverfügbarkeit von Ferrari und Gucci in Stellung bringen wollte, haben das Land mittlerweile verlassen. Assests der gegangenen ausländischen Kapitalisten wurden an Staats- oder Privatoligarchen aus dem näheren informellen Zirkel um Putin vergeben. Das Yandex-Imperium etwa wurde 2024 vom nach Israel ausgewanderten Arkady Volozh an ein Konsortium verkauft, das unter anderem LUKOIL besitzt und dem Potanin angehört. Der Aufbau einer mit den Staatsinteressen verschmolzenen Monopolbourgeoisie wurde durch den Krieg nochmals beschleunigt. Hier unterscheiden sich Fälle wie Kuchuksulfat oder FESCO (Mingazov 2022), wo auf Grund der nachträglichen Feststellung des unrechtmäßigen Erwerbs des Konzerns die Anteile nationalisiert wurden und Fälle, wie Roskhim als Holdinggigant in der chemischen Industrie, bei dem die putinnahen Brüder Rotenberg als Erstbieter bei Auktionen große Unternehmen konzentrieren konnten, die von ausländischen oder geflohenen Kapitalisten enteignet wurden (Business Vektor 2024). Letztes Jahr erklärte Putin vor dem Industriellen Verband, dass Verstaatlichungen nach individueller Prüfung erfolgen sollten, was so verstanden wird, dass niemand etwas zu befürchten hat, der Steuern zahlt und sich der nationalen Entwicklungsstrategie unterordnet. (Republic.ru 2024). Damit wird letztendlich der Großbesitz nicht mehr juristisch gesichert, sondern politisch.23 Vielleicht ist hier noch interessant, dass die Konglomerate, zu denen die meisten Großkapitale zusammengefasst sind, großenteils quasi-staatliche Aufgaben übernommen haben, wie den Aufbau von Forschungszentren (Zvezda), die Ausfüllung einer Nationalkultur (Gazprom), ökologische Dienstleistungen (Rosatom) oder gar Lobbyismus im Ausland (Rosneft). Damit setzt sich die oligarchische Kultur Potanins durch, die nicht mehr der individuellen Bereicherung allein dient, sondern der Verschmelzung ökonomischer und politischer Macht. Der Begriff der Siluviki als oligarchische Fraktion wird angesichts dieser Entwicklung zunehmend gegenstandslos, da sich diese fast ausschließlich auf Staatsposten zurückgezogen haben, während das Großkapital auf Grund ökonomischer, politischer und persönlicher Durchmischung langsam den Charakter eines entstehenden Monopolkapitals gewinnt. Die wesentliche Vermittlungsinstanz zwischen den Interessen des Großkapitals und der nationalen Strategie ist eine technokratische Elite geworden, deren Besetzung sich nach Maßgaben der Effizienz und nicht mehr nach persönlichen Beziehungen bestimmt. Die offene Frage ist, ob wir hier eher eine Umschichtung innerhalb der oligarchischen Fraktion der Bourgeoisie sehen oder tatsächlich eine nachhaltige Entwicklung hin zu einer Monopolbourgeoisie.

    Wenn es tatsächlich bereits eine wesentliche Veränderung des Kräfteverhältnisses der Bourgeoisie gibt, dann ist diese unterhalb der Oligarchen im mittleren Kapital zu suchen. Durch die Sanktionen, die zwischen 2014 und 2024 in zunehmendem Umfang und zunehmender Konsequenz verhängt wurden, wurde Russland vom westlichen Hightech-Sektor abgeschnitten, was insbesondere den Leichtbau und die Softwareentwicklung und -betreuung schwer getroffen hat. Dass sich Russland angesichts dieser harten Einschnitte als resilient erwiesen hat, kann entweder durch eine verstärkte nachgeholte importsubstituierende Industrialisierung erklärt werden oder durch neue Abhängigkeiten von China, vom Schwarzmarkt und dem Verschleiß der industriellen Grundsubstanz. Einige Indizien legen Tendenzen nahe.

    So ist insbesondere die urbane Kleinkapitalistenklasse, die schmale Arbeiteraristokratie und die Intelligentsia – bisher die der Kern der Opposition – in den letzten beiden Jahren erstaunlich ruhig gegenüber der russischen Kriegspolitik geworden. Dies lässt sich nicht allein durch die Repression erklären, da diese auch 2022 schon massiv ausgeprägt war. Vielmehr deutet sich an, dass ausgerechnet sie auf der Seite der Gewinner der Kriegsökonomie stehen (vgl. Zvonovsky 2025), da es genau diese Teile der Gesellschaft sind, die westliche Handelsketten ersetzen, mit ihrer Expertise die vom Staat hofierten Start-Ups gründen und am stärksten an der Nachfrage nach Programmierern und hochgebildeten Industriearbeiter*innen verdienen.

    Das kleine und mittlere Kapital profitiert dabei von den Krediten des Industriellen Entwicklungsfonds, der Kredite auf Grundlage von Experteneinschätzungen und der Kompatibilität mit nationalen Entwicklungszielen vergibt, anstatt personalisierter Patronagebeziehungen. Sektoriell gesehen sind die Metallverarbeitung und die Elektronik/Elektrik die großen Gewinner der Spezialoperation, während die Produktion von Haushaltsgeräten und der Automobil(teile)sektor zusammengebrochen sind (Simola 2023). Auffallend hoch sind die öffentlichen Investitionen im Bereich geistiges Eigentum, da insbesondere Software und Patente, die auf Grund der Sanktionen nicht mehr verfügbar waren, durch eigene Entwicklung ersetzt werden mussten (Simola 2024).
    Quelle: Simola (2024). S.5.

    Die so geförderten Kleinkapitalisten schneiden durchschnittlich auch wesentlich besser ab als andere Start Ups (vgl. Yakovlev, Freinkman, Ershova & Ahalian 2025). Das deutet auf eine Modernisierung der Förderungsstrukturen hin, während sich die Nachfrage nach dem Industriellen Entwicklungsfonds seit 2022 verdoppelt hat. Für die Dominanz technokratischer, statt personeller Lösungen spricht, dass der russische Staat verstärkt dazu übergegangen ist, nur das Risiko für Kredite zu übernehmen, während die eigentliche Finanzierung durch private Banken erfolgt (RBK 2025c). Viele Neugründungen, insbesondere bei Überschreiten einer gewissen Größe, stehen aber auch in finanzieller Kooperation mit den extraktiven oligarchischen Unternehmen, was erstmals zu Interessenkonvergenzen innerhalb breiterer Schichten der russischen Bourgeoisie führt. Dies kann durchaus als Tendenz verstanden werden, dass Russland in einen bürgerlich-liberalen Staat hinüberwächst, wie er in den USA und Westeuropa vorherrscht.

    Gestützt wird diese These dadurch, dass die Forderung nach Abschaffung der Sanktionen mittlerweile selbst zu einem Interessenkonflikt innerhalb der russischen Bourgeoisie geworden ist. Es sind neben den extraktiven oligarchischen Unternehmen ausgerechnet die etablierten modernen Konzerne, die weltmarktfähig konkurrieren könnten, die unter den Sanktionen leiden. So schreibt Norilsk Nickel, einst Primus der russischen Ökonomie und einer der wenigen konkurrenzfähigen Unternehmen, seit dem Krieg rote Zahlen (Sorokina 2025). Chef Vladimir Potanin erbittet staatliche Hilfen, droht mit Abwanderung nach China und versuchte das Bild des russischen Unternehmers als Drehbuchautor eines Spielfilmes „Minute of Silence“ zu verbessern (Men Today 2025). Allerdings sehen nicht alle die allseitige Rückkehr Russlands auf den Weltmarkt unkritisch. Sanktionen wirken schließlich erst einmal nicht anders als unfreiwilliger Protektionismus (Libman 2025). Putin jedenfalls möchte den Marktzugang für ausländische Unternehmen selbst im Falle einer Aufhebung der Sanktionen nicht verschenken und kündigte strenge Regeln an. Der Verband der russischen Elektronikentwickler, die einen sich neu konstituierenden Mittelstand vertreten, schickte sogar ein Memorandum an den Regierungsvorsitzenden Mischustin, um das durch Sanktionen günstige Klima auch nach einer Lockerung zu erhalten (Pravo 2025) und die Abwerbung von Facharbeiter*innen für auf den russischen Markt zurückkehrende Unternehmen zu unterbinden. Angenommen, dass unter dem Druck der Sanktionen, die Importsubstitution tatsächlich kostspielig, nonlinear, aber doch erfolgreicher als alle Versuche seit Beginn der Putin-Ära ist, könnte eine frühzeitige Lockerung der Sanktionen sich allein als Rettungsanker für das alte Extraktionsregime als Basis der Herrschaft des Einigen Russlands erweisen. Doch vielleicht zwingt die Not. Kritische Stimmen verweisen darauf, dass in den letzten Jahren die importsubstituierende Substitution im Wesentlichen mit dem Staatsschatz finanziert wurde, der allmählich aufgebraucht sei. Aus dem laufenden Haushalt ließe sich in Zukunft nur Rüstung oder zivile Entwicklung finanzieren, nicht beides, wie bisher (Yakovlev 2025). Und dass die fehlenden Importe noch lange nicht voll substituiert werden können, deutet die Tatsache an, dass trotz einer strengen Geldpolitik (Ende Februar betrug der Leitzins 21%) die Inflation kaum eingedämmt wird. Den gestiegenen Löhnen steht nicht eine gleichsam gewachsene Menge an Waren und Dienstleistungen gegenüber. Die hohen Zinsen wirken sich wiederum negativ auf die Produktionskosten aus und dämpfen Investitionen in die sich entwickelnden neuen Industrien. Es ist hier eine offene Frage, ob die Tendenz zur Entwicklung einer loyalen breiteren Kapitalistenklasse oder das Absterben des kurzfristig entstandenen Unterbaus der Oligarchie dominierend ist (RBK 2025a).

    Zu einer besseren Einordnung müssen wir uns aber auch den dialektisch mit der Bourgeoisie im Verhältnis stehenden Klassenantagonisten anschauen: das Proletariat. Hier könnte sich auf Grund des Arbeitskräftemangels der Trend hin zu einer besser organisierten Arbeiterschaft durchsetzen. Die Drohung, im Falle des Arbeitskampfes entlassen zu werden, ist nicht mehr so wirksam wie zu Zeiten hoher Arbeitslosigkeit. Insbesondere mit der Jugend wächst das erste Mal in der postsowjetischen Geschichte eine gesellschaftliche Gruppe heran, die von Armee, Rüstungsproduktion, aber auch den vielen Start Ups heiß umworben ist. Anders als die älteren Generationen haben sie keine lebendige Erinnerung an die Staatskrise der 90er mehr, was auf der einen Seite zu einer gewissen Anspruchshaltung führt, die sich liberal-sozialdemokratisch artikulieren lässt, bei denen die Überwindung der Krise unter Putin der Staatspartei aber auch keinen Kredit mehr bringt.

    Auch die Einflüsse der Migration auf die Klassenformation des Proletariats sind äußerst eigentümlich. Migrant*innen sind vergleichsweise gut in den russischen Arbeitsmarkt integriert sind und weisen teils höhere Beschäftigungsquoten und Löhne auf als russische Arbeiter*innen (vgl. Privalko 2025). Der Großteil der migrierten Arbeiter*innen kommt dabei aus den ehemaligen Staaten der Sowjetunion und hat demnach nur geringe Integrationsprobleme. Dazu bietet Russland attraktive Stellen in Sektoren an, wo Russland diese nicht selbst füllen kann und wo es in den GUS-Staaten kaum Angebote gibt. Damit entfallen Reibungspunkte. Mehr oder weniger verschmilzt die Arbeiter*innenklasse der ehemaligen Sowjetunion wieder etwas miteinander. Hinzu kommen migrantische Arbeiter*innen, etwa aus Indien, die unmittelbare Klassenkampfformen in den Alltag der Arbeiter*innen zurückbringen, während viele russische Arbeiter*innen sich bisher von den Gewerkschaften eher haben verwalten lassen haben. Eine offene Frage ist hier die nach der Binnenmigration in Russland. Zvonovsky (2025) etwa zeigte, dass es entgegen der westlichen Darstellungen keinen nachweisbaren Zusammenhang zwischen Verschuldung und Kriegsdienst gibt. Vielmehr sei in Regionen, aus denen viele Soldat*innen kommen, signifikant viele neue Konten eröffnet worden. Das deutet an, dass prekäre Lumpenproletarier aus dem informellen Sektor durch das Geld der Armee die Voraussetzungen geschaffen haben, in den formellen Arbeitsmarkt einzutreten, aber auch Bildung und Ausbildung nachzuholen.

    Zwei weitere Trends verdienen näherer Beachtung. Zum einen motiviert die Nachfrage nach Arbeiter*innen zunehmend auch Frauen zum Eintritt in die Fabriken. Das bedeutet aber auch, dass sie der nationale Konservatismus, die ideologische Grundlage des seit 25 Jahren regierenden Einigen Russlands, kein Zukunftsmodell mehr ist. Wenn die Frauen in den Schichtbetrieb gehen, braucht es Seniorenheime und Kindergärten. Woher das Geld für die Umstrukturierung kommen soll, ist fraglich. Der zweite Trend zeigt auf, dass das Wachstum an Industriearbeitsplätzen auf die Nachfrage nach Arbeitskraft im Handel drückt. Trotz finanzieller Anreize zur Selbstständigkeit, die 2017 geschaffen wurden, um Alternativen zur Arbeitslosigkeit zu bieten – ein Instrument, das mittlerweile kontraproduktiv geworden ist – sank die Zahl der formellen Kleinbürger in den letzten beiden Jahren, da die Durchschnittslöhne weit über den durchschnittlichen Erträgen aus der Selbstständigkeit liegen (RBK 2025b). Sollte die Tendenz auch hier länger anhalten, stehen die Zeichen ganz auf moderner Industriegesellschaft, in der Millionen von Klein- und Zwischenhändlern, deren prekarisierte Lebensweise immer wieder die populäre Basis autokratischer Regime wie im Iran bildet, absterben. Insgesamt zeichnet sich zwar keine revolutionäre Entwicklung ab, aber zumindest könnte sich hier eine starke Sozialdemokratie neu etablieren, die neben dem liberalen Bürgertum die zweite Säule eines institutionalisierten Parlamentarismus bildet.

    Die Formation des Proletariats als Klasse für sich wird aber keinesfalls einfach sein. Ein den Klassenkampf prägender Aspekt ist, dass Russland einen enorm geringen Grad an Automatisierung besitzt. Sollte sich die Robotertechnik durch Lockerung der Sanktionen, Importe aus China und eigenen Forschungsergebnissen mittelfristig verbessern, kann zunehmende Automatisierung den Arbeitsmarkt auch wieder entlasten, sprich Lohndruck auf die Arbeiter*innenklasse ausüben (vgl. Foster 2024). Zur Wahrheit gehört weiterhin: selbst wenn die These von der Herausbildung einer nationalen Bourgeoisie stimmt; sie entsteht im Wesentlichen auf dem Rücken des Proletariats. Die Importbeschränkungen und der Rückgang der Produktion von Haushaltsgeräten, sowie einheimischen zivilen Kraftfahrzeugen, hat dazu geführt, dass immer mehr Menschen Konsumkredite aufnehmen. Die Quote verschuldeter Russ*innen hat im letzten Jahr um 45% zugenommen, die Summe der Schulden nur um 20%, was darauf schließen lässt, dass es eher die kleinen Ausgaben sind, die trotz enorm hoher Zinsen nicht mehr aus den Ersparnissen oder von den laufenden Löhnen bezahlt werden können (vgl. Dialectic 2025). Hinzu kommt, dass die Renten nicht annähernd Schritt mit der Preisentwicklung halten, sodass immer mehr Familien aus der eigenen Tasche ihre Großeltern unterstützen müssen.

    Unter der in Zeiten beschleunigter globaler Umbrüche natürlich gewagten Prämisse, dass die beobachtenden Tendenzen stabil sind, können also folgende Entwicklungen der russischen Klassengesellschaft seit der Invasion in der Ukraine beobachtet werden. Die Oligarchenfraktion entwickelt sich immer stärker zu einer mit den Staatsinteressen verschmolzenen nationalen Bourgeoisie, die auch staatliche Aufgaben wahrnimmt. Es entwickelt sich langsam ein industrieller Mittelstand, der technokratisch verwaltet wird anstatt auf Patronagebeziehungen angewiesen zu sein. Die Schicht des unproduktiven Kleinbürgertums schmilzt durch den Arbeitskräftemangel in der Industrie zusehends. Die Gestalt des Proletariats in Russland wird zwar heterogener, die ökonomischen Interessen aber immer homogener, wodurch die materielle Basis für eine Renaissance eines wenigstens ökonomischen Klassenbewusstseins gelegt ist.
    7. Diskussion in der Internationalen Kommunistischen Bewegung

    Der kompradorische Charakter der russischen Bourgeoisie und ihre Verlaufsform seit dem Machtantritt Putins ist in der internationalen kommunistischen Bewegung kontrovers diskutiert worden. Im Programm der Kommunistischen Partei der Russischen Föderation heißt es etwa:

    „Das eine Extrem bildete die sogenannte Klasse der strategischen Eigentümer, deren Basis zunächst Bank-, Spekulations- und Rohstoffexportkapital bildete. Wirtschaftlich ist es eng mit dem Westen verbunden und weist einen ausgeprägten Kompradorencharakter auf. Obwohl das nationale Kapital auf die Entwicklung der heimischen Wirtschaft ausgerichtet ist, verliert es seinen Klassencharakter nicht.“ (KPRF 2023)

    In dieser Analyse erscheinen zwei Aspekte als bedeutsam. Zum einen betont die KPRF, dass es sich um einen kompradorischen Charakter der „strategischen Eigentümer“ handele, diese Klasse also nicht im Begriff der Kompradoren vollständig aufgehe. Zum anderen wird die kontrastierte nationale Bourgeoisie nicht als Bündnispartner, sondern als Bestandteil der feindlichen Klasse angesehen. In einem 2023 in der jungen Welt bzw. im Rotfuchs erschienen Text zum Standpunkt der Partei zum Ukraine-Krieg wird die Kompradoren-Bürokratie von den Oligarchen unterschieden. In einer Erklärung von 2006 wiederum wird die Kompradorenbourgeoisie ganz direkt für den Diebstahl von hunderten Milliarden an Volksvermögen verantwortlich gemacht, dass die Zerstörung der Armee, der Bildung und des Gesundheitswesens zur Folge gehabt habe. (vgl. KPRF 2006). Wesentlich radikaler in ihrem Urteil ist die Russische Kommunistische Arbeiterpartei (2010):

    „Heute ist Russland ein bereits gebildetes bürgerliches Land halbkolonialen Typs, in dem die Kompradoren-Bourgeoisie dominiert und zur Aufrechterhaltung der Macht ein Regime nutzt, das den Weg der Faschisierung beschreitet. Ein charakteristisches Merkmal der neugeborenen Eigentümerschicht in Russland ist ihr krimineller Charakter und die deutlich erkennbaren Verbindungen zur alten Partei- und Staatswirtschaftsnomenklatura. Dies wird durch die Hauptmethode der Eigentums- und Kapitalbildung erklärt – die erzwungene Ausplünderung eines einzigen landesweiten Wirtschaftskomplexes unter dem Deckmantel der Privatisierung unter Verwendung von Positionen, Verbindungen, rechtlichen Formalitäten, Tricks und direkten Verstößen gegen bestehende Gesetze.“

    Die Kompradorenbourgeoisie wird als die dominierende Fraktion der russischen Bourgeoisie dargestellt. Der kompradorische Charakter wird mit der Verbindung zur Verwaltung, der Bedeutung persönlicher Verbindungen und kriminellen Komponenten bei der Aneignung von Eigentum begründet. Den Übergangscharakter hin zu einer Monopolbourgeoisie bzw. zu einem imperialistischen Staat wird von der RKAP (ebd.) ebenso herausgestellt:

    „Heute ist Russland zwar vom Westen abhängig, aber bereits weitgehend etabliert und befindet sich in der Phase der Weiterentwicklung zu einem imperialistischen Staat (zweiten Ranges) mit einem deutlich wachsenden Kapitalexport, obwohl der Import sehr groß ist. Die Bourgeoisie Russlands ist in vielerlei Hinsicht immer noch Komprador, aber das Wachstum des nationalen Kapitals (hauptsächlich Rohstoffe) und die Entstehung eigener (anders als die des Westens) Interessen führen zu einer widersprüchlichen Kombination von Komprador- und nationalen Merkmalen durch die russische Bourgeoisie , die es erlauben, in bestimmten Bereichen mit westlichen Ländern zu konkurrieren und gleichzeitig in partnerschaftlichen Beziehungen mit ihnen verbunden zu sein.“

    Insbesondere linke Autoren zur russischen Bourgeoisie referenzieren häufig Ruslan Dzarasov und sein Konzept der Insiderrente. Dieser Begriff versucht das Phänomen zu beschreiben, dass der Zugriff auf die extraktiven Bodenrenten über enge Kontakte zur Bürokratie zustande kam und mit diesen fortbesteht oder fällt. Dass Dzarasovs Insiderrente stark mit der kompradorischen Monopolrente korrespondiert, bzw. nur eine Spezifizierung auf die russischen Verhältnisse darstellt, wurde von Dzarasov selbst expliziert.

    „Es wurde gezeigt, dass die Businesselite Russland nur als Quelle ihres Reichtums betrachtet, während sie es vorzieht, im Westen zu leben. Dies korrespondiert mit Andre Gunder Franks Begriff der Lumpenbourgeoisie in Lateinamerika, die unfähig ist Entwicklung ihrer Länder in Gang zu setzen. Der Begriff der Insiderrente reflektiert die Stellung gegenwärtigen Russlands in der Peripherie des kapitalistischen Weltsystems […] Die kompradorische Natur unseres Großkapitals, welches typisch für Länder der kapitalistischen Peripherie ist, manifestiert sich im systematischen Export von Kapital in Form von festverzinsten Anlagen.“ (Dzarasov 2013, S.156)

    Eine der lautesten Stimmen, welche das Kompradorentum als Charakteristikum der dominanten russischen Bourgeoisie sowie als analytische Kategorie ablehnt, ist die KKE. Dabei wendet sie weniger inhaltliche Kritik am Begriff an, sondern befürchtet, dass aus der Unterscheidung zwischen nationaler und Kompradorenbourgeoisie ein Bündnis zwischen Kommunist*innen und nationaler Bourgeoisie im Kampf um die nationale Souveränität begründbar sei (KKE 2023).24 Die KKE hat hier etwa die Theorien der noch bewaffneten FARC im Blick, die genau eine solche anti-imperialistische Strategie explizit verfolgten (vgl. Villar 2012). Schaut man sich jedoch die programmatischen Aussagen der KPRF und der RKAP zur Kompradorenbourgeoisie an, so versuchen sie lediglich die Besonderheit der russischen Klassenzusammensetzung mit allgemeineren Begriffen erklären zu wollen und heben den Klassencharakter der nationalen Bourgeoisien Russlands hervor.
    8. Zusammenfassung

    Die russische Bourgeoisie ist nicht nur besonders in dem Sinne, wie jede nationale Bourgeoisie durch ganz konkrete nationale Entwicklungsbedingungen gekennzeichnet ist. Sie ist einzigartig in ihrer Genese, die auf der unproduktiven Aneignung, Konzentration und Monopolisierung des produktiven Volksvermögens der Sowjetunion beruhte. Anders als andere Kapitalistenklassen der postsozialistischen Staaten wurde sie jedoch nicht durch einen Pol (wie die EU oder Russland) angezogen, der ihre Entwicklung formte, sondern sie stellte selbst diesen Pol dar. Innerhalb dieses besonderen Weges konnte sich erneut eine dominante Kapitalfraktion bilden, die den Charakteristika der Kompradoren sehr weitgehend entspricht, auch wenn Russland weder Kolonie noch Halbkolonie ist.

    Die russische Bourgeoisie ist zwar durch Kapitalkonzentrationsprozesse gekennzeichnet und das Banken- ist mit dem Industriekapital stark verschmolzen. Diese Konzentration beruht aber auf der rein rechtlichen Aneignung bereits in staatlicher Hand akkumulierten Vermögens und nicht auf Produktivitätsvorsprüngen, wie sie eine Monopolbourgeoisie kennzeichnet. Diese Aneignungsprozesse beruhten auf der Verschmelzung von Handelskapital und Staatsbürokratie, wie sie für Kompradoren geradezu idealtypisch sind. Diese investierten kaum in Produktivkraftsteigerungen oder akkumulierten Kapital in Unternehmen, sondern wirtschafteten anders als moderne Monopolkapitalisten vorrangig in die Privattasche. Wenn wirklich nach monopolkapitalistischen Unternehmen suchen möchte, dann würde man wahrscheinlich nur bei LUKOIL, Rosatom und Norilsk Nickel fündig.

    Wie die Kompradoren Chinas sind die Kompradoren Russlands jedoch nur eine Übergangsklasse. Der prägnanteste Ausdruck dieses Übergangscharakters ist unbestreitbar die Herrschaft Putins. Denn als Übergangsklasse ist die dominante Fraktion der russischen Bourgeoisie nicht in der Lage, ihre Werte ideologisch zu universalisieren und das eigene mit dem nationalen Interesse zu verschmelzen, sondern musste sich in Aushandlungsprozesse mit einer bürokratisch geprägten Staatsmacht begeben (vgl. Buzgalin et al. 2012, S.12). Putin versprach, den zumeist illegal erworbenen Reichtum der Oligarchen zu legalisieren, wenn diese ihn in einer nationalen Entwicklungsstrategie unterstützten. Diese bestand zunächst aus der Wiederherstellung des staatlichen Gewaltmonopols, der Steuersouveränität des Staates und der Konsolidierung der Sozialsysteme. In einem zweiten Schritt wurde der Staatsanteil in den Unternehmen – nicht zuletzt befördert durch die Finanzkrise 2008 – ausgebaut, jedoch in erster Linie, um durch hohe Dividenden zusätzlich den Staatshaushalt zu subventionieren und nicht Akkumulationsprozesse zu subventionieren. In der Folge ist der produktive Sektor der russischen Ökonomie international kaum wettbewerbsfähig und in der Lage, um Märkte zu kämpfen. Im Gegenteil hat sich eine ungeheure Importabhängigkeit für Produktionsmittel und technischen Konsumgütern ausgebildet, die erst mit den verschärften Sanktionen langsam rückläufig ist. Die nationale Strategie Putins hat sich somit ganz ohne Krieg ebenfalls als Hinderungsgrund für die ökonomische Entwicklung dargestellt.

    In der Summe aller Indizien lässt sich daher feststellen, dass der kompradorische Charakter der Bourgeoisie Russlands sehr weitgehend erhalten geblieben ist und im Zuge des Krieges wirklich eine Tendenz zur langsamen Ausbildung einer Monopolbourgeoisie erkennbar werden. Nun wäre es aber, und darauf wollen die Vertreter der monopolkapitalistischen Entwicklung Russlands meist hinaus, ein Fehlschluss, dies in Analogie zum China der 20er Jahre des letzten Jahrhunderts als Grund für ein nationales Bündnis aus Proletariat und innerer Bourgeoisie anzuführen. Diese Strategie wäre für Kommunist*innen obsolet, da sie bereits durch Einiges Russland bzw. ihren politischen Satelliten Gerechtes Russland vertreten wird. Dass Russland im marxistisch-leninistischen Sinne nicht imperialistisch ist, ist auch noch kein Urteil darüber, ob es sich bei dem Krieg in der Ukraine um einen anti-imperialistischen Verteidigungskrieg im engeren Sinne handelt oder ob der Krieg der Formierung einer angehenden imperialistischen Kapitalistenklasse dient. Dies wäre in den internationalen Beziehungen zwischen den direkten und indirekten Kriegsparteien zu bestimmen.

    Nun ist alle Theorie grau und die Praxis ein grüner Garten. Können sich aus der Darstellung Ableitungen auf eine konkrete Politik zum Ukraine-Krieg oder zur Haltung gegenüber Russland anstellen? Eine solche Ableitung, die nur auf der hier vorgetragenen Darstellung fußt, muss zwangsläufig schief sein, da sie nur den Charakter der russischen Bourgeoisie nachgezeichnet hat, während Kleinbürger und das Proletariat nur angerissen wurden. Nur ein vollständiges Bild der Klassenverhältnisse in Russland könnte auch zu programmatischen Aussagen führen, die das Prädikat „wissenschaftlich“ auch verdienen. Die Darstellung hier leistet nicht nichts, aber ist doch nur einen Teil. Es sei aber daran erinnert: Die allererste Aufgabe aller Kommunist*innen, insbesondere in den imperialistischen Zentren, ist es, mit der eigenen Bourgeoisie fertigzuwerden. Die Kriegsbemühungen des deutschen Imperialismus müssen genauso aufgedeckt werden, wie dessen vorbereitetende Interventionen in der Ukraine spätestens seit der Orangenen Revolution. Die Beziehungen mit Verteter*innen des russischen Proletariats sind solidarisch zu führen und die Beweggründe der KPRF zur Unterstützung der Invasion in der Ukraine sollten zumindest bewusst gemacht werden, sowohl was die konkrete Situation im Donbass angeht als auch die Besonderheiten, denen eine kommunistische Partei unter den Bedingungen des Übergangsgesellschaft ausgesetzt ist.
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    Anmerkungen

    1Dieses Dossier ist im Wesentlichen 2022/23 im Rahmen der Arbeit einer Dissenzgruppe in der Kommunistischen Organisation zum Charakter der russischen Bourgeoisie entstanden, wobei es im Wesentlichen von einem Autor verfasst wurde. Nach einem Peer Review wurde das Dokument 2025 überarbeitet und um die Einschätzung der Entwicklung der russischen Bourgeoisie seit 2022 erweitert, allerdings nicht mehr im Rahmen der Gruppenarbeit.

    2Man kann sich natürlich die Frage stellen, ob es überhaupt sinnvoll ist, Modelle wie Kompradoren oder Monopolbourgeoisie zu entwickeln, anstatt sich die russische Bourgeoisie, „wie sie ist“, anzuschauen. Dem ist aus drei Gründen zu widersprechen. Erstens besagt der historische Materialismus, dass sich grundsetzlich gesellschaftliche Gesetzlichkeiten feststellen lassen. Gesetzlichkeit kann ein gesellschaftliches Phänomen jedoch nur durch Wiederholbarkeit erlangen. Dabei ist es offensichtlich, dass eine jede konkrete Gesellschaft ihre historischen Besonderheiten aufweist, die zu Unterschieden zwischen konkreter Klasse und Modell führen. Das geht den Naturwissenschaften nicht anders. Daher sind Kategorien, Begriffe und Modelle, von denen auf Differenzen und Gemeinsamkeiten mit einer vorliegenden Realität geschlossen werden kann wichtige heuristische Werkzeuge, um Aussagen über Gesellschaften zu erlauben und auch Prognosen zu tätigen. Zweitens bieten Modelle einen Anker, nach was man überhaupt bei der Analyse einer Klasse suchen muss, um wesentliche Aussagen über sie zu treffen. Ein Darstellung aller Eigenschaften einer Klasse würde Wesentliches vom Unwesentlichen nicht trennen können. Und drittens wäre die Behauptung der Nichtanwendbarkeit eines Begriffs oder eines Modells ohne konkrete Untersuchung auch nur ein unbewiesenes Postulat. Der Anspruch dieser Untersuchung ist ein bescheidener. Durch Vergleich des konkreten Gegenstandes des Kapitalismus mit bereits in der Praxis relevanten Begriffen, können qualitative Aussagen über Potentiale der politischen Ökonomie Russlands getroffen werden. Ob der Begriff der Kompradorenbourgeoisie oder der Monopolbourgeoisie auf die russische Bourgeoisie oder Teile davon anwendbar ist und in welchem Ausprägungsgrad, soll erst festgestellt werden. Erst wenn die Analyse zeigt, dass die Begriffe, entweder die Begriffe an sich oder ein Verhältnis der Begriffe, nicht anwendbar sind, entsteht die Notwendigkeit eines neuen Begriffs.

    3Während der Begriff der Kompradoren in den „Leitsätzen über die Nationalitäten- und Kolonialfrage“ und den „Ergänzungsthesen über die Nationalitäten- und Kolonialfrage“ von M.N. Roy auf dem II. Weltkongress 1920 noch nicht auftaucht, so wird hier doch bereits zwischen einer vom Ausland abhängigen und einer in nationale Befreiungskämpfen integrierten Bourgeoisie unterschieden. 1924 und 1926 bezeichnet der Begriff in den Resolutionen des EKKI noch eine ganz konkrete merkantile Fraktion der Bourgeoisie. 1928 wurde er dann das erste Mal in den Thesen zur revolutionären Bewegung in den kolonialen und semikolonialen Ländern dazu gebraucht, um eine historische Klassenformation zu beschreiben, allerdings als Teil der nationalen Bourgeoisie. Begrifflich wurde ihr eine „beheimatete Bourgeoisie“ gegenübergestellt (Degras 1971, S.538). In den 30er Jahren wurde die Unterscheidung aus taktischen Gründen verworfen, da man alle Teile der nationalen Bourgeoisien im Rahmen antifaschistischer oder antiinterventionistischer Bündnisse zu gewinnen suchte.

    4 Sowohl die FARC in Kolumbien als auch die kubanischen Revolutionäre beschrieben Teile der Bourgeoisie als Kompradoren. In den politischen Einschätzungen über den Charakter Algeriens, der Türkei, der Philippinen, vieler arabischer Länder, Kenyas oder Mozambiques. Die Spaltung der Kommunistischen Partei Indiens und die Bewertung des Naxalitenaufstands verlief größtenteils entlang der Bewertung der indischen Bourgeoisie als Kompradoren (vgl. Basu 2021, S.1997).

    5 „Was traditionell unter Kompradorenbourgeoisie verstanden wird, ist auf der einen Seite der Teil der Bourgeoisie, der keine eigene Grundlage für die Kapitalakkumulation besitzt, sodass er auf dem einen oder dem anderen Wege als einfacher Vermittler für das ausländische imperialistische Kapital fungiert (weshalb er auch häufig mit der „bürokratischen Bourgeoisie“ in Verbindung gebracht wird und welcher dreifach – ökonomisch, politisch und ideologisch – dem ausländischem Kapital untergeordnet ist.“ (Poulantzas 1975, S.71)

    6„Die Kompradorenbourgeoisie produziert nicht, sondern konsumiert, was sie importiert und unterminiert damit ernsthaft die Kraft der öffentlichen Daseinsfürsorge wie Gesundheit oder Bildung, welche sich Jahr für Jahr verschlechtern. Die mafiös organisierte Oligarchie ist religiös neoliberal und hat keine Ambitionen in der Zukunft des Landes und seiner Bevölkerung. Sie ist räuberisch und parasitär, indem seine Ökonomie auf endemischer Korruption beruht (viele verursachte Korruptionsskandale betreffen wichtige strategische Sektoren der Wirtschaft, einschließlich des wichtigsten: dem Energiesektor). Sie ist vollständig dem internationalen System ökonomischer, politischer und militärischer Beherrschung untergeordnet, und präsentiert sich daher als wahrer Vermittler und nützlicher Türöffner des Imperialismus.“ (Hamouchene 2021, S.103).

    7Während Marx den Grundherren noch sehr wesentlich vom Finanzkapitalisten unterschied, hat sich in der moderneren marxistischen Diskussion, insbesondere in der englischsprachigen, eine Gleichbehandlung von Zins und Rente eingebürgert. Dies ist auf der Ebene der Erscheinungen immerhin soweit berechtigt, als dass Marx die Grundrente in der Höhe des Zinsfußes erwartete. Da im Folgenden auf einige Werke der modernen marxistischen Literatur stark Bezug genommen wird, wurde trotz des bekannten Problems die Zins-Renten-Äquivalenz übernommen.

    8Ob die Verschmelzung des globalen Kapitals zum transnationalen oder die Konkurrenz der nationalen Kapitalfraktionen untereinander die dominierende Tendenz ist, ist Inhalt der momentan geführten Diskussion in der kommunistischen Weltbewegung. Davon unterscheiden sich Auffassungen, nach welcher der Monopolbourgeoisie eine nichtmonopolistische Bourgeoisie entgegen, die in einer antimonopolistischen Strategie als Bündnispartner betrachtet wird, während die Strömungen, welche die transnationale Verflechtung der Kapitale hervorheben, die Herausbildung einer Weltbourgeoisie als Voraussetzung der Entstehung ihres revolutionären Counterparts, dem revolutionären Weltproletariat betrachten.

    9Die organische Zusammensetzung kann durch den Anteil des konstanten Kapitals (Maschinen, Fabrikgebäude, Rohstoffe, etc.) am gesamten vorgeschossenen Kapital bestimmt werden, wobei darauf zu achten ist, dass die technische Zusammensetzung des Kapitals, der technische Entwicklungsstand des konstanten Kapitals, zwischen verglichenen Kapitalen ähnlich ist. Es macht natürlich wenig Sinn aus besonders niedrigen Löhnen oder einem verschwenderischen Umgang mit dem konstanten Kapital auf eine Monopolstellung zu schließen.

    10Ebenso beruhte die weitestgehend unproblematische Zusammenlegung der russischen Atomindustrie, welche im heute 13. größten Konzern Russlands Rosatom mündete, auf der Kooperation und der Fachwissen der führenden Kader (vgl. Pappe 2009, S.173). Auch Surgutneftegas-Öl, Rosneft-Öl, sowie der Awtowas-Autokonzern und der Gaz-Autokonzern gehören zu diesen Unternehmen.

    11 Vom fixen Kapital abgesehen und das wurde deutlich unter dem Markt bewertet. Während der Privatisierung wurden 29 russische Großkonzerne Schätzungen zu Folge zu 3% bis 5% ihres realen Marktpreises verkauft (vgl. Dzarasov 2011, S.475).

    12Von einer unabhängigen Finanzoligarchie im Leninschen Sinne kann also nicht gesprochen werden.

    13 Zu der Generation an Oligarchen, welche erst unter Putin in die Top-Führungskreise aufstieg, gehören z.B. Lisin (im Forbes-Rating 2012 belegte er den ersten Platz), Deripaska, Usmanov, Mordashev. R. Abramovich (vgl. Khanin 2013, S.23)).

    14 So stieß Norilsk Nickel die Fluggesellschaft „Taymir“ ab.

    15Da Russland durch seine Industrie nicht durch scharfe Zolle schützen kann, die gegenseitig mit Zöllen auf den ökonomisch wichtigen Export von Rohstoffen beantwortet würden, musste Putin auf eine innere Entwicklung der Industrie in Konkurrenz mit den westlichen High-Tech-Produkten setzen. Hierzu wurde ein Förderungsinfrastruktur, mit Risikoübernahmen für Start Ups, Banken für den KMU-Sektor, Forschungszentren wie in Skolkovo und Sonderwirtschaftszonen geschaffen. Insbesondere die Senkung der Einkommenssteuer auf progressionsfreie 13% im Jahr 2001, welche durch die Exportgewinne gegenfinanziert wurde und damit die extraktive Oligarchie belastete, sollte strukturell den Wirtschaftsstandort Russland stärken. Seit 2014 ist die nationale Entwicklungsstrategie auf Grund der Sanktionen, welche die Funktion der Schutzzölle übernahm, durch eine Politik der Importsubstitution ersetzt wurden, die aktuell in der Lage ist, auf einem mittleren Produktionsniveau das Land selbst zu versorgen, welches jedoch im High-Tech-Sektor immer noch nicht anschlussfähig an den Weltstandard ist.

    16Eine ausführlichere Diskussion des Investitionsbegriffs bei Marx, siehe Anhang 3

    17Man hätte auch die mit 15% niedrigen Steuern auf Dividenden (vgl. Deutschland 25-30%, Frankreich 30%, Ukraine 9% ;-)) anheben können, aber offensichtlich hielt man dieses Mittel für nicht hart genug, um die Bourgeoisie zu Investitionen zu bewegen.

    18Ohne den Zinsdruck von Schulden fehlt der Bourgeoisie ein weiterer Anreiz, ihre Produktion auszudehnen. Auch den Banken hilft das größere verfügbare Barguthaben nichts, da sie den Schuldtitel genauso handeln könnten, wie den Bargeldbestand.

    19Häufig werden bei der Definition des Kapitalexports im Sinne von Lenins Imperialismus-Theorie einige wichtige Faktoren vergessen. So sagt Lenin ganz, dass der „Kapitalexport […] in den Ländern, in die er sich ergießt, die kapitalistische Entwicklung [beeinflusst], die er außerordentlich beschleunigt.“ (LW 22, S.247). Lenin führt weiterhin aus, dass sich für das exportierende Land Vorteile aus diesem Export haben müsse. Zudem sei der Kapitalexport ein „Mittel, den Warenexport zu fördern.“ (LW 22, S.248)

    20Zur Diskussion des marxistischen Begriffs der Produktivität, siehe Anhang 4

    21Bereits der Fakt, dass Russland 2009 ein Verhältnis von 6:1 zwischen Vorwärts- und Rückwärtspartizipation hatte, lässt darauf schließen, dass eine GVC-Analyse nicht viel neues zu Tage fördert (vgl. OECD 2009, S.1)

    22Dass Rosatom zu einem Global Player der Branche werden konnte liegt darin begründet, dass auf Grund der sicherheitspolitischen Relevanz nie für eine Privatisierung oder Entflechtung in Frage kam. Dass ausgerechnet der Konzern vom Tiefpunkt der Tschernobylkrise sehr schnell zu einem global führenden Unternehmen entwickelte, deutet das Potential der sowjetischen Konzernstrukturen an, kapitalistische Transformationen überstehen zu können und widerlegt die Notwendigkeit der Privatisierungen.

    23Als die wichtigsten Oligarchen gelten nunmehr Lisin, Deripaska, Rotenberg, Timchenko, Kantor, Prokhorov, Usmanov, Vekselberg, Deripaska, Yevtushenkov, Mikhelson, Mordashov, Pumpyansky, Melnichenko, Potanin und Khan.

    24Während die USA fälschlicherweise als immer noch koloniale Macht fehlinterpretiert würden, verkenne z.B. die World Anti-Imperialist Platform den monopolkapitalistischen Charakter Russlands und Chinas, die bei den damaligen G20 noch am Tisch gesessen hätten.

    #Russie #classes_sociales #politique #guerre

  • #Alma_Dufour, #Vincent_Jarousseau : le #RN, #Marine_Le_Pen et les #classes_populaires
    https://lvsl.fr/alma-dufour-vincent-jarousseau-le-rn-marine-le-pen-et-les-classes-populaires

    Percée de RN dans les classes populaires, sentiment d’abandon par les représentants politiques et besoin de protection étatique : l’analyse des affects politiques conduisant de nombreux Français à voter pour le #Rassemblement_national (et à s’en remettre à la figure de Marine Le Pen) paraît plus que jamais importante. Pour analyser cette dynamique électorale sans verser […]

    #Politique #Jean-Marie_Le_Pen #Stratégie_électoral

  • Questions de classe en milieu militant
    https://blog.ecologie-politique.eu/post/Questions-de-classe-en-milieu-militant

    Aude quelque peu agacée, entre autre, de la recension de son dernier livre par La Décroissance, qui la traite de bourgeoise pour ses voyages alors que au moment de ceux-ci, elle avait 200 par mois de revenus… et que c’est seulement maintenant, des années plus tard, qu’elle vit plus décemment.

    Si on arrête de se mentir, on observera que, dans les milieux militants qui ne s’attachent pas explicitement à faire bouger les quartiers populaires, tout le monde ou presque a du capital, économique ou culturel, que les classes populaires y sont rares et que la bourgeoisie et la petite bourgeoisie y sont surreprésentées. Cette appartenance sociale est peut-être indispensable pour avoir la motivation, le temps, la vision critique du monde nécessaires pour militer (et surtout l’illusion très bourgeoise que sa parole et ses actes ont de l’importance et vont changer la société). Ces formes de capital sont souvent transmises par la famille et les personnes qui ont dû les acquérir sont rares. Les quelques fil·les d’ouvriers ou de femmes de ménage de ces milieux sont de plus invisibilisé·es par les tentatives des autres de faire croire qu’ils et elles viennent de la plèbe. Cela ne les empêche pas de vite se reconnaître entre elles et eux, comme dit un camarade, et de facilement renifler l’imposture des autres.

    […]

    C’est important de parler des privilèges de classe des personnes qui constituent le milieu militant ou ont une parole publique politisée, j’ai déjà fait plusieurs allusions ici à l’auto-détermination de la classe sociale et je suis contente d’enfin faire le point sur cette question. Mais il faudrait faire attention à ne pas tomber dans quelques écueils. Le premier, c’est la démagogie. Une ex-députée me racontait qu’un député de gauche avait réclamé pour les parlementaires une rémunération au Smic alors que nous répétons partout que cette somme ne permet pas de vivre décemment et qui lui-même était propriétaire de son logement (surprise, il avait fait le fameux lycée catho amiénois avec Macron et J’aurais). Elle, divorcée avec trois gosses à charge, qui payait un loyer, trouvait la mesure un brin démago.

    L’autre écueil, c’est d’en faire une question de vertu individuelle. C’est bien de faire son « check ton privilège » comme nous y invite ce journal par ailleurs anti-« woke », mais qu’en fait-on après ? Puisque l’impact écologique est assez lié au revenu, on invite chacun·e à léguer la part au-dessus du Smic de sa rémunération et à imposer à ses gosses des conditions de vie que par ailleurs on dénonce ?

    […]

    Je pense aussi qu’un préalable pour cette discussion est de cultiver la franchise sur notre position sociale et économique. À la sortie d’Égologie, j’ai souvent fait passer ma critique de la petite bourgeoisie écolo-alternative en disant que moi aussi, je me sentais visée, et je pratique la même franchise en présentant Dévorer le monde. J’invite en conséquence à ne pas projeter ses fantasmes sur moi ni produire d’erreurs factuelles. Et j’exige la même franchise de ceux qui dénoncent la bourgeoisie des autres, surtout si (je n’en sais rien) ils sont familiers des cousinades en Cyrillus dans le parc familial chez bonne maman. Un peu de lucidité pourrait nous aider à faire des espaces militants plus accueillants et inclusifs.

    #Aude_Vidal #classes_sociales #privilèges #bourgeoisie #honnêteté #militantisme

  • Avec « Cassandre », anatomie d’un inceste
    https://www.lemonde.fr/m-le-mag/article/2025/03/30/avec-cassandre-anatomie-d-un-inceste_6588488_4500055.html


    Hélène Merlin, à Paris, le 19 mars. LOUISA BEN POUR M LE MAGAZINE DU MONDE

    L’histoire est celle d’une adolescente prise dans les mailles d’une famille dysfonctionnelle, abusée par son frère, et qui trouve refuge auprès des chevaux et d’un moniteur d’équitation tendre et compréhensif. « Mon “expertise” me rend légitime pour parler de l’inceste adelphique [entre frère et sœur] comme je le veux, d’une façon qui ne répond pas forcément aux idées toutes faites sur la personnalité d’un violeur ou sur ce qu’est une victime. Je voulais montrer la complexité des mécanismes. » Pour arriver à raconter cela avec précision, décence et grâce, le chemin a été long.

    Alors qu’il est terminé en 2018, il faudra cinq ans au scénario de Cassandre pour parvenir à réunir les financements. Cinq années au cours desquelles les paroles de Camille Kouchner (La Familia grande, Seuil, 2021) et de Judith Godrèche (qui témoigne contre Benoît Jacquot), et la vague de MeTooInceste libèrent progressivement l’écoute sur certaines violences longtemps restées inaudibles. En 2023, quand elle a recommencé, avec une nouvelle productrice, à chercher de l’argent pour mener à bien son projet, « l’accueil a été très différent », note Hélène Merlin.

    https://archive.ph/GdJEE

    intéressé, je met la bande-annonce, sa piscine privée de grosse maison où on se baigne nu en toile de fond. énième "critique" du "relâchement des moeurs" dû à 68 que c’est une bourgeoisie qui manque de decency ? pas sûr puisqu’on a notre touche de diversitay post-mod où la personnage principale a une amie colorée - la "Persanne" du récit ? - et même un vulgaire moniteur d’équitation, autant dire un domestique, qui ne compte pas pour des prunes. je me fourvoie sans doute mais ce qui m’apparaît être la grammaire du film érode ma curiosité. c’est difficile, la consommation culturelle.

    #réalisatrice #inceste #inceste_adelphique #cinéma_français #ficelles #sexe #race #classes

  • RN et ruralité : une relation pas si évidente
    https://metropolitiques.eu/RN-et-ruralite-une-relation-pas-si-evidente.html

    Travaillant sur les rapports ordinaires à la #politique, Maeva Durand et Raphaël Challier reviennent sur la présence du #Rassemblement_national en milieu rural et populaire. Bien que ce parti y obtienne de bons scores électoraux, en capitalisant sur le sentiment de délaissement par l’État, sa présence n’y apparaît ni naturelle, ni évidente. Entretien réalisé par Myrtille Picaud. Pouvez-vous vous présenter et décrire vos approches ? Raphaël Challier – J’ai d’abord réalisé une thèse sur les simples #Entretiens

    / #extrême_droite, Rassemblement national, ruralité, #classes_populaires, politique

    #ruralité
    https://metropolitiques.eu/IMG/pdf/met-entretien-durand-challier.pdf

  • La #bourgeoisie à la barre
    https://metropolitiques.eu/La-bourgeoisie-a-la-barre.html

    Qui navigue sur les bateaux de plaisance ? Dans Sailing and Social Class, Alan O’Connor montre comment le goût bourgeois de la mer et des grands espaces n’est pas sans rapport avec l’exercice de la domination sociale. Dans un texte de juin 2022, John Leonida, juriste dans le secteur de la plaisance de luxe, s’étonnait du manque de travaux universitaires sur le sujet. Soucieux de reconstituer l’histoire de cette activité depuis le milieu du XIXe siècle, il avançait que la pratique de la plaisance #Commentaires

    / bourgeoisie, #classes_sociales, masculinité, #Royaume-Uni, #sport, #histoire

    #masculinité
    https://metropolitiques.eu/IMG/pdf/met-salle4.pdf

  • L’écologie, une lutte des classes
    https://laviedesidees.fr/L-ecologie-une-lutte-des-classes

    L’écologie #Politique peine à enrayer le désastre environnemental. Pour s’affirmer comme force transformatrice, Jean-Baptiste Comby démontre qu’elle doit devenir à la fois le levier stratégique et la boussole d’une véritable lutte des classes.

    #écologie #classes_sociales
    https://laviedesidees.fr/IMG/pdf/20241128_ecolos.pdf

  • Vivons-nous encore dans une société de classes ?
    Trois remarques sur la société française contemporaine, Olivier SCHWARTZ, 2009
    https://laviedesidees.fr/IMG/pdf/20090922_schwartz.pdf

    Je ferai brièvement référence à une enquête que je mène depuis longtemps, pour m’arrêter sur l’un des constats auxquels elle m’a conduit. Je travaille depuis plusieurs années sur les conducteurs des bus de la RATP en région parisienne, ceux qu’on appelle les machinistes, c’est-à-dire des gens dont on peut dire qu’ils sont à la frontière des catégories populaires et des classes moyennes salariées. Dans la division sociale du travail au sein de leur entreprise, les conducteurs des bus de la RATP occupent une position subordonnée. Ils sont en bas de la hiérarchie : même s’ils disposent d’une large autonomie dans la conduite de leur travail, ce sont des exécutants, qui mettent en œuvre des consignes et des tâches qui leur sont données par leur hiérarchie. Avec comme conséquence que, comme beaucoup d’#ouvriers et d’employés, beaucoup d’entre eux adhèrent spontanément à une représentation binaire de la société, fondée sur une opposition entre le haut d’une part – les dirigeants, les puissants, ceux qui possèdent l’instruction, la puissance, l’argent – et d’autre part ceux qui sont en dessous, les simples exécutants, les ouvriers, les employés, ceux dont ils estiment de manière générale faire partie. De sorte que pendant assez longtemps, j’ai pensé retrouver chez eux tous un type de représentation sociale dont Richard Hoggar avait montré, dans des textes très connus, l’importance dans le monde des ouvriers et des #classes_populaires anglaises des années 1950 : une opposition entre « eux », ceux du haut, et « nous », ceux du bas, les exécutants.

    Mais je me suis finalement rendu compte que pour une partie d’entre eux, les choses étaient plus compliquées, même si c’est pour une partie d’entre eux seulement. Leur représentation, leur conscience du monde social était non pas bipolaire, mais triangulaire : ils avaient le sentiment d’être non pas seulement soumis à une pression venant du haut, mais aussi à une pression venant du bas, venant de plus bas qu’eux. Cette pression venant du bas, (c’est moi qui dis les choses ainsi bien sûr, mais les propos qui m’ont été tenus à plusieurs reprises par des conducteurs vont clairement dans ce sens), c’est par exemple l’idée qu’il y a trop de #chômeurs qui non seulement n’ont pas d’emploi mais qui n’en cherchent pas, qui vivent du RMI ou des aides sociales, qui se dispensent par conséquent de chercher du travail, et qui peuvent s’en dispenser parce que d’autres paient des impôts pour eux : d’autres qui, eux, travaillent, parmi lesquels, bien sûr, les conducteurs de bus. Ou encore, ce peut être l’idée que dans certaines familles immigrées, on vit sans travailler, grâce aux #allocations, c’est-à-dire grâce à des #aides_sociales qui, là encore, sont financées par ceux qui travaillent et grâce à leurs impôts. À plusieurs reprises, j’ai rencontré, chez mes enquêtés, ce sentiment d’être lésés à la fois par des décisions qui viennent du haut mais aussi par des comportements qui viennent de ceux du bas, d’être lésés à la fois par les plus puissants et par les plus pauvres.

    L’un d’entre eux me disait par exemple un jour : « C’est nous qui payons pour tout le monde », et il est clair qu’il avait alors en tête à la fois le haut et le bas.

    #Conscience_sociale_triangulaire

  • Donald #Trump et le désalignement électoral
    https://lvsl.fr/donald-trump-et-le-desalignement-electoral

    Le verdict des urnes signe la faillite de la stratégie « anti-Trump » des démocrates. Il met à mal le grand récit des succès économiques de l’administration Biden. Frappée de stupeur, la gauche est incapable de proposer une analyse rationnelle du phénomène Trump. Loin d’être un OVNI, celui-ci est pourtant l’émanation d’une frange du Parti républicain, relativement […]

    #International #Les_États-Unis,une_puissance_menacée ? #classes_populaires #classes_sociales #Kamala_Harris

  • Tous américains ! [LettrInfo 24-XXV] - Éditions Agone
    https://agone.org/tous-americains-lettrinfo-24-xxv

    Dans le dernier volet de son triptyque, Thomas Frank analyse l’histoire du populisme. Non pas l’insulte qu’on dégaine à tort et à travers pour éviter de comprendre mais un retour historique sur une tradition qui a longtemps nourri le refus du peuple de « rester à sa place », celle que lui attribue une élite qui ne conçoit la démocratie que comme l’expression de ses seuls intérêts.
    L’« autopsie du désastre » – comme les médias qualifient l’élection de Trump – s’accompagne de micro-trottoirs, autant de pleurs dans les chaumières et d’appels à une « douloureuse introspection des démocrates ». N’est-ce pas aussi à l’introspection de la gauche française que ce résultat appelle avec plus d’urgence ?

    #USA #États-Unis #élection #Donald_Trump #politique #droite #gauche #classes_populaires #Thomas_Frank

  • The Purpose and Organisation of the Alimenta
    https://www.cambridge.org/core/journals/papers-of-the-british-school-at-rome/article/abs/purpose-and-organisation-of-the-alimenta/AD1C299A16A6D5FD4810BBEA7DEB20DC#

    Le début de l’aide étatique aux enfants dans le besoin

    1.11.1964 by Richard Duncan-Jones

    Published online by Cambridge University Press: 09 August 2013

    Extract
    The opening of Trajan’s reign saw the propagation in Italy of a system of government alimenta or subsistence payments, which had perhaps been begun by his predecessor, Nerva. Their immediate purpose was clearly the support of children in the small inland towns of Italy at which units of the scheme were mainly concentrated. Male recipients of the alimentary dole were given a cash payment of HS16 per month; girls received HS12 per month, the amounts given to illegitimate children being somewhat lower for both sexes. Hadrian laid down that boys who benefited were to be given support until the age of 18, and girls until 14; under Trajan, the ages at which support ceased had presumably been lower. The scheme was financed by grants from the fiscus which were placed with landowners in the districts in which children were to be supported. In general, each landowner who took part in the loans received a sum amounting to about 8% of the stated value of his land, and had to pay to the city interest of 5% per year, which formed the income from which the children were supported.

    Papers of the British School at Rome , Volume 32 , Issue 1 , November 1964 , pp. 123 - 146
    DOI: https://doi.org/10.1017/S0068246200007261

    https://www.perseus.tufts.edu/hopper/text?doc=Perseus%3Atext%3A1999.04.0063%3Aalphabetic+letter%3DP%3Aentr

    #praefectus_alimentorum #Rome #antiquité #aide_sociale #enfance #classes_sociales

  • Les revers de la modernité au #Maroc
    https://metropolitiques.eu/Les-revers-de-la-modernite-au-Maroc.html

    À travers une enquête ethnographique au sein des quartiers marginalisés de la capitale économique marocaine, Cristiana Strava montre les évolutions des politiques qui visent à les moderniser, mais aussi les continuités qui caractérisent le rejet et le contrôle des #classes_populaires de l’ère coloniale à nos jours. Dans Precarious Modernities, Cristiana Strava aborde la modernité depuis les marges de la ville de #Casablanca. Par son analyse des évolutions urbanistiques, économiques et politiques du #Commentaires

    / Casablanca, Maroc, #quartiers_populaires, #périphérie, #rénovation_urbaine, #ségrégation, #capitalisme, classes populaires, (...)

    #résistance
    https://metropolitiques.eu/IMG/pdf/met_amarouche.pdf

  • Mathieu Fulla, historien : « Reconquérir un électorat hostile à la gauche implique un travail de terrain ardu »
    https://www.lemonde.fr/idees/article/2024/09/25/mathieu-fulla-historien-reconquerir-un-electorat-hostile-a-la-gauche-impliqu

    A la tête du Parti de #gauche puis de #LFI, Mélenchon s’efforce, jusqu’en 2019, de séduire les « fâchés pas fachos » des milieux populaires, réfugiés dans l’#abstention ou ayant opéré un glissement vers la #droite et, de plus en plus souvent, vers l’#extrême_droite. L’entreprise fait long feu. Elle contribue à expliquer la réorientation stratégique opérée depuis par la direction de LFI vers la « stratégie des tours » et de la jeunesse.

    Ce glissement progressif, dont les effets sont déjà très visibles en 2022, ne peut se comprendre sans garder à l’esprit l’obsession, toute mitterrandienne, de Jean-Luc Mélenchon pour la conquête de la magistrature suprême. Le choix de s’adresser prioritairement à des électorats et à des territoires déjà largement acquis lui semble la voie la plus sûre pour accéder au second tour en 2027 et y affronter le candidat du Rassemblement national (#RN).

    Redynamisation des milieux syndicaux et associatifs

    Les « insoumis » ne sont cependant pas les premiers, à gauche, à envisager de « laisser tomber » une grande partie des #classes_populaires, notamment celles concentrées dans les territoires périurbains, aujourd’hui solides bastions du RN. En 2011, au nom de l’efficacité électorale, une note rédigée par un think tank proche du PS, Terra Nova, recommandait déjà au futur candidat socialiste à l’élection présidentielle non pas d’abandonner les classes populaires, comme cela est trop souvent affirmé, mais plutôt de cibler l’effort militant sur « la France de la diversité », présentée comme la composante la plus dynamique de la gauche. La direction de LFI s’est réapproprié cette grille d’analyse qui suscitait jusqu’à présent un fort embarras dans les milieux de gauche.

    https://justpaste.it/au2h2

    • « La gauche a intérêt à reconnaître la production d’idées, la stratégie électorale et le modèle d’organisation comme indissociables », Pierre-Nicolas Baudot
      https://www.lemonde.fr/idees/article/2024/09/25/la-gauche-a-interet-a-reconnaitre-la-production-d-idees-la-strategie-elector

      .... en politique les questions sont souvent plus importantes que les réponses. Or, les travaux de science politique s’accordent pour donner une image guère reluisante des partis, à laquelle la gauche n’échappe pas. Ils inspirent une forte défiance dans l’opinion et sont décrits comme des entre-soi professionnalisés et repliés sur eux-mêmes, où se côtoient élus, collaborateurs d’élus et aspirants à l’élection, selon des normes qui leur sont propres.

      [...]

      C’est un fait que les transformations socio-économiques du XXe siècle, et leurs effets sur le développement de nouvelles formes d’organisation du travail, n’ont pas été porteuses pour la permanence d’une conscience collective favorable à l’ancrage social d’une pensée de gauche. De plus, si ces évolutions ont donné naissance à de nouveaux groupes sociaux dominés, elles ont également suscité des réactions libérales, réactionnaires ou les deux à la fois. Ces constats rendent d’autant plus indissociables les appels au travail doctrinal et le souci d’une refonte organisationnelle destinée à penser les partis depuis la société, et non au-dessus d’elle.

      L’histoire de la gauche démontre que, même au meilleur de sa forme, les mouvements de contestation ou d’émancipation n’ont pas procédé des partis, mais y ont abouti – lui permettant de se placer auprès de groupes sociaux en expansion numérique. La méfiance que suscitent les partis est moins liée à une forme partisane générique, qu’à son état actuel. Si, du fait de leur professionnalisation, le lien entre les partis et l’Etat s’est renforcé, celui avec la société est abîmé. Ce constat impose de repenser la capacité à assurer un lien à double sens entre la société et l’Etat.

      Pour cela, la gauche devra admettre de se poser un certain nombre de questions, parmi lesquelles celle de son rapport à la démocratie sociale, de la place à conférer à un militantisme qui a changé mais qui demeure, d’une organisation qui considère le pluralisme et la délibération collective sans hypothéquer l’unité, de la sociologie de ses représentants ou encore de son inscription dans le monde du #travail. Ce travail suppose de déconstruire la distinction entre idées et structures, pour mieux mesurer leur imbrication et l’indissociabilité du projet politique et de l’organisation collective.

      Pierre-Nicolas Baudot est docteur en science politique. Il est l’auteur d’une thèse sur le Parti socialiste et la politisation de la question des immigrés (1971-2017).

      https://justpaste.it/g0bk9

    • Pour changer le monde, la gauche doit changer de monde, Nicolas Truong (mars 2022)

      https://www.lemonde.fr/idees/article/2022/03/04/pour-changer-le-monde-la-gauche-doit-changer-de-monde_6116102_3232.html

      Des électeurs désespérés. Une gauche désespérante. Non pas une défaite, mais une débâcle annoncée. Tel est le sentiment largement partagé au sein du camp progressiste à la veille de l’élection présidentielle. Loin de la Norvège, de l’Allemagne, de l’Espagne ou du Portugal, la #social-démocratie française ne parvient pas à coaliser des forces et à nouer des compromis afin d’exercer durablement le pouvoir. Après de notables percées, notamment lors des « mouvements des places » des années 2010 (d’Occupy Wall Street à Nuit debout), le #populisme de gauche semble s’essouffler. Une forme de socialisme paraît achever un cycle historique avec le déclin du parti issu du congrès d’Epinay (1971).

      Le communisme institutionnel séduit davantage par sa défense de l’industrie nucléaire et de la francité que par ses mesures pour l’égalité. L’écologisme, qui pourrait porter le grand récit émancipateur à l’heure du réchauffement climatique, n’a pas encore de base sociale constituée et peine à intégrer les révolutions de la nouvelle pensée du vivant. Le trotskisme est réduit à une culture minoritaire et presque patrimoniale, ponctuée par quelques apparitions électorales. Sans parler de la mouvance insurrectionnelle, certes indifférente aux élections « pièges à cons », qui se déchire sur le conspirationnisme ou les procès en véritable #anticapitalisme.

      [...]

      « La gauche est un monde défait », estime le politiste Rémi Lefebvre, dans Faut-il désespérer de la gauche ? (Textuel, 160 pages, 15,90 euros). « La gauche est en état de décomposition avancé et doit se détacher de ses atavismes et de ses identités partisanes arrimés au XXe siècle », constate le sociologue Laurent Jeanpierre, coauteur, avec Haud Guéguen, de La Perspective du possible (La Découverte, 336 pages, 22 euros). « Nous vivons sans doute un bouleversement aussi grand que celui de la révolution industrielle, qui a débuté à la fin du XVIIIe siècle », explique l’historienne Marion Fontaine, professeure à Sciences Po. Une modification des façons de travailler et de vivre « qui touche la gauche de plein fouet », poursuit la directrice des Cahiers Jaurès. Ainsi la gauche oscille-t-elle entre abandon et victimisation, glorification et nostalgie, remarque la revue Germinal, dans son numéro consacré à « La politique des classes populaires », que Marion Fontaine a coordonné avec le sociologue Cyril Lemieux (n° 3, novembre 2021).

      https://justpaste.it/3idt9

  • Tupperware : Kultfirma stellt US-Insolvenzantrag
    https://www.berliner-zeitung.de/news/tupperware-us-kultfirma-stellt-insolvenzantrag-li.2254985

    Est-ce la fin du monde plastifié ? Je crains que ces pollueurs aussi trouvent une solution de survie au dépens des hommes et du monde, voire l’image plus bas ...

    Image cc-by-sa : Athenamama sur flickr

    ... 60 ans après, le résultat.

    18.9.2024 - Frischhaltedosen von Tupperware sind seit Jahrzehnten in vielen Haushalten im Einsatz. Der US-Traditionsfirma ging jedoch zuletzt das Geld aus.

    Der Frischhaltedosen-Spezialist Tupperware hat nach jahrelangen Problemen einen Insolvenzantrag in den USA gestellt. Die Firma strebt zugleich einen Verkauf an und will weiterarbeiten. Ein Verfahren nach Kapitel elf des US-Insolvenzrechts schützt das Unternehmen vor Forderungen seiner Gläubiger.

    Tupperware, ein Pionier bei Haushalts-Gefäßen für Lebensmittel, kämpfte bereits seit einiger Zeit mit wirtschaftlichen Schwierigkeiten. In den vergangenen Monaten liefen Verhandlungen mit den Geldgebern, denen Tupperware mehrere hundert Millionen Dollar schuldet. Durch einen Verkauf solle nun die Marke geschützt werden, hieß es in einer Mitteilung. Zugleich solle damit der Wandel in ein vorrangig technologiebasiertes Unternehmen vorangetrieben werden.

    „Das Unternehmen tut alles in seiner Macht Stehende“, versprach Chef Miguel Fernandez. Neben hohen Schulden, roten Zahlen und schwindenden Erlösen kämpft Tupperware auch noch mit anderen hausgemachten Problemen. So verpasste es die Firma, den Jahresbericht pünktlich vorzulegen. Im Schlussquartal 2022 brach der Umsatz im Jahresvergleich um 20 Prozent auf 313,7 Millionen Dollar ein. Unterm Strich machte Tupperware einen Verlust von 35,7 Millionen Dollar.

    Liquiditätsengpässe bringen Ungewissheit

    Nachdem Tupperware am Freitag vor akuten Geldnöten gewarnt hatte, stürzte die Aktie am Montag um 49 Prozent auf nur noch 1,24 Dollar ab. Der Kurs fiel auf den niedrigsten Stand seit dem Rekordtief zu Beginn der Corona-Krise vor rund drei Jahren. Am Dienstag ging es vorbörslich zunächst wieder etwas nach oben, doch die Lage blieb angespannt. Bereits zum zweiten Mal innerhalb von sechs Monaten warnte Tupperware, dass die Fortsetzung des Geschäftsbetriebs angesichts von Liquiditätsengpässen ungewiss sei. Die „Going concern“-Warnung müssen US-Firmen absetzen, wenn in den kommenden zwölf Monaten nach eigener Einschätzung ein größeres Risiko der Zahlungsunfähigkeit besteht.

    Wie konnte es so weit kommen? Das bald 80 Jahre alte Unternehmen, dessen Gründer Earl Tupper 1946 die Küchenwelt mit seinen bunten „Wunderschüsseln“ aufmischte, steht schon länger mit dem Rücken zur Wand. Die bunten Schüsseln und Boxen von Tupperware haben Haushalte fast rund um den Globus geprägt und es sogar als Design-Klassiker in Museen und Kunstausstellungen geschafft. Auch in Deutschland verbreiteten sich die luftdicht verschließbaren Behältnisse, deren Kunststoffdeckel beim Schließen den charakteristischen Laut von sich geben, seit den frühen 1960er Jahren rasant. Als Erfolgskonzept erwiesen sich Gründer Tuppers Haushaltsprodukte vor allem in Kombination mit Marketing-Genie Brownie Wises Idee der Tupperparty.

    Athena, Oregon, USA

    Monorails

    Grandfather

    Hope ?

    End ?

    #pollution #famille #plastique #culture #classes_moyennes

  • Néoruraux : comment les classes dominantes transforment les campagnes
    https://www.frustrationmagazine.fr/neoruraux

    Depuis l’épidémie de Covid, l’arrivée de sous-bourgeois et bourgeois Parisiens dans des petites et moyennes villes rurales enthousiasme autant qu’elle inquiète. Ces municipalités attirent, contribuant au développement de nouveaux services, mais éloignent et excluent encore un peu plus la classe laborieuse locale de son centre et de ses onéreux commerces. Ces néoruraux, pour l’essentiel issus […]

  • France : Un Disneyland sociologique, et une la farce morbide.

    L’Histoire se rit des castors qui chérissent les barrages dont ils pleurent les effets. Sans véritable surprise, yaël braun-pivet aura été réélue le jeudi 18 juillet dernier à la présidence de l’Assemblée nationale, poste surnommé dans le milieu « le perchoir ». Non pas en raison bien sûr de ses compétences politiques exceptionnelles, de ses qualités d’analyses des situations, de son charisme particulier, ou de sa probité à juger les déboires de l’Assemblée : non, encore et toujours, par la stupidité et la cécité coupable de la gauche « NFP », comme il faut désormais la labelliser, telle une marque infamante, toujours prompte à falsifier l’Histoire et les symboles.

    Un Disneyland sociologique
    Car enfin, après avoir appelé de toute la force dont est capable ses petits poumons bien malingres à voter pour des macronistes contre le RN, et avoir fait passer la projection de seulement 60 députés Ensemble ! au soir du premier tour aux 166 actuels, de quel droit osent-ils faire les étonnés, et hurler au « déni de démocratie », au « vol de l’élection », et au « mépris des électeurs » ? Il n’y a là que la conséquence parfaitement logique de leurs actions : quelle lâcheté de ne pas les assumer ! Faut-il avoir perdu tout contact avec la réalité pour oser affirmer comme a. chassaigne que l’alliance entre les macronistes et LR est une « alliance contre-nature » ? Quelle « contre-nature » ? Il s’agit de la même classe sociale, avec le même programme économique et géopolitique, et la même vision du monde. On aimerait pouvoir invoquer à la décharge du NFP un état psychiatrique dément, qui au moins aurait le mérite de susciter de la compassion chez le lecteur bienveillant envers les aliénés, qui depuis le juriste romain Ulpien sait pourquoi ils ne sont pas responsables juridiquement de leurs actes.

    Mais non : las, il faut bien reconnaître que ce non-contact avec la réalité est le produit de leur classe sociale – la petite-bourgeoisie intellectuelle, et les couches moyennes qui se sont trouvées un moyen de se créer un Disneyland sociologique. Dans ce pays de cocagne, nulle trace d’ouvriers, de pauvres sales et mal-élevés : on y vit bien dans l’entre-soi de la bien-pensance. On peut penser avoir gagné une élection en ayant rassemblé 25 % des suffrages en réunissant plus de 6 organisations politiques, et gouverner légitimement le pays avec 30 % des sièges au parlement. On peut même penser demander aux marchés financiers et à la BCE de financer le SMIC à 1600€ et payer davantage les fonctionnaires dans un pays désindustrialisé, et qui ne produit plus ce qu’il consomme.

    Ce n’est plus de la politique à ce niveau-là : c’est le Journal de Mickey mis en scène – mais avec caroline de haas en rédactrice en chef, des fois que Dingo veuille faire preuve de « masculinité toxique » à l’égard de Minnie. Leur délire est donc totalement politique, et en rien psychiatrique : la classe sociale qu’ils représentent a perdu tout pouvoir et capacité d’action réelle, et en est donc réduite à s’agiter vainement, en poussant toujours plus loin le délire de séparation avec la réalité.

    Et que dire du spectacle puéril qu’ont offert les insoumis, en érigeant comme sommet de la résistance anti-fasciste le fait de refuser de serrer la main aux députés RN ? Ils trahissent bien d’ailleurs là leur conception des choses : ils ne font même plus semblant d’essayer d’aller chercher l’électorat ouvrier du RN pour le faire changer de vote – ils lui crachent à la figure, en se drapant dans de la morale , au sens le plus abstrait et méprisable du mot. Il faudra un jour que les communistes sincères et les hommes de gauche honnêtes l’admettent : cette gauche « NFP » n’est pas simplement stupide, ni mal orientée – elle défend férocement ses intérêts de classe , qui exigent que rien dans le fond ne change. Elle veut l’UE, elle veut l’OTAN, elle veut le système économique actuel, elle veut même macron dans le fond, même si elle ne l’admet pas : elle veut tout cela, mais avec plus de dépenses publiques, pour que son Disneyland soit un peu plus fun . C’est vrai qu’on s’ennuie un peu au pays de l’OTAN, quand on a moins de moyens (c’est-à-dire pour eux, le travail des autres) pour s’amuser.

    Les suites de cette farce sont donc prévisibles à l’avance : macron macronera, yaël braun-pivet braunpivera, et peut-être même que attal attallera. Et la gauche, toujours la gauche, fera son manège bouffon, in seculum seculorum si on la laisse faire. Cette gauche aime à répéter que macron a perdu le 7 juillet : peut-être est-il temps de se rendre compte que probablement non, si tout peut continuer comme avant ?

    Il y a aussi la farce morbide.
    Mais derrière la farce grotesque, il y a aussi la farce morbide. On se souviendra longtemps que cette même journée, l’infâme ursula von der leyen a été réélue à la tête de la commission européenne pour 5 ans de plus. Vu le caractère réactionnaire de ce qu’est l’UE, cela n’est pas surprenant, mais après le désastre de son mandat précédent, et les horizons de guerre et de désolation où cette femme veut emmener les peuples européens, l’événement devrait terroriser tout honnête citoyen. La guerre et la misère sont ses seules ambitions pour les masses.

    Et de cette farce morbide, une image restera néanmoins : celle de manon aubry, tout sourire, embrassant avec un plaisir visiblement non-feint usurla von der leyen, pour la féliciter de sa réélection. Et là, les masques de la comédie sont éventés, et la vérité, la dure, la froide et cruelle vérité, vient percer à jour le théâtre, et en montrer l’abjection politique et morale – la vraie cette fois – sous son jour le plus cru : on peut embrasser avec plaisir la sanguinaire von der leyen, qui a mené tant d’ukrainiens et de russes à la mort, qui a soutenu tant de massacres immondes à Gaza et en Cisjordanie, mais on ne peut pas, au grand jamais, serrer la main d’un député RN. Mais l’électeur moyen du RN ou le député du RN ont-t-ils jamais contribué, même indirectement, à tuer un seul ukrainien, ni même un seul gazaoui ?

    Un jour, cette gauche sera réveillée par les masses laborieuses, et ce jour-là, elle se rendra compte que le sang que von der leyen a sur les mains a déteint sur les siennes, qu’elle croyait immaculées.

    Et il sera trop tard pour dire qu’elle ne la lui a jamais serrée. Il n’est pas sûr que d’avoir refusé de serrer celles du RN lui serve d’excuse ce jour-là.

    Victor Sarkis Sur le blog de Régis de Castelnau

    Source : Vu du droit https://www.vududroit.com/2024/07/maitre-castor-perche-sur-son-assemble

    #France #Farce #NFP #bourgeoisie #petite_bourgeoisie_intellectuelle #petite_bourgeoisie #rn #gôche #gauche #manon_aubry #caroline_de_haas #insoumis en peu de lapin #ue #otan #guerre #misère #ursula_von_der_leyen #classes_sociales #politique #castors #barrages #bien-pensance

  • Hégémonie sur le terrain, normalisation, racisme : les ressorts du vote RN |
    https://www.mediapart.fr/journal/politique/270624/hegemonie-sur-le-terrain-normalisation-racisme-les-ressorts-du-vote-rn


    Benoît Coquard et Félicien Faury. © Photomontage Mediapart

    L’un a travaillé sur les zones rurales du Grand Est, l’autre sur l’électorat RN dans la région Sud-Paca. #Benoît_Coquard et #Félicien_Faury échangent sur le ressort du #vote pour l’#extrême_droite, à l’heure où l’hégémonie qu’ils ont observée sur leurs terrains se décline à grande échelle.
    Fabien Escalona
    27 juin 2024

    Après les européennes et à quelques jours du premier tour des élections législatives anticipées, les médias et les responsables politiques les ont sollicités plus que d’ordinaire, saisis par les nouveaux seuils franchis par le vote en faveur du Rassemblement national (#RN). Benoît Coquard, sociologue à l’Institut national de recherche pour l’agriculture, l’alimentation et l’environnement (Inrae), est l’auteur de Ceux qui restent (La Découverte, 2019). Félicien Faury, chercheur postdoctoral au Centre de recherches sociologiques sur le droit et les institutions pénales (Cesdip), vient de publier Des électeurs ordinaires (Seuil, 2024).

    Tous deux travaillent sur des zones de force du RN, qui n’ont pas les mêmes caractéristiques. D’un côté, Benoît Coquard écrit sur les campagnes désindustrialisées du Grand Est ; de l’autre, Félicien Faury a installé son dispositif d’enquête dans la région attractive du Sud-Paca (Provence-Alpes-Côtes d’Azur). S’ils ont tous deux déjà accordé des entretiens à Mediapart (ici ou là), ils n’avaient encore jamais échangé. Le croisement de leurs perspectives nous intéressait, et aussi leur sentiment de chercheurs à l’heure où le scénario d’une majorité absolue pour le parti lepéniste n’a jamais été aussi crédible. 

    Mediapart : Vous travaillez depuis des années sur l’électorat RN. Comment lisez-vous la période actuelle ?

    Félicien Faury : Sur le strict plan des rapports de force électoraux, elle n’est pas surprenante. Le RN continue de prolonger des courbes électorales qui étaient déjà ascendantes. Depuis plusieurs années, on repérait que, y compris dans un contexte très abstentionniste, le RN continuait à mobiliser ses électeurs. On disait son électorat volatil, notamment aux élections intermédiaires, mais une fidélisation croissante était à l’œuvre, qu’on a retrouvée aux élections européennes du 9 juin. Un noyau électoral puissant a été solidifié.

    Benoît Coquard : Désormais, l’hégémonie de l’extrême droite que l’on observe sur nos terrains se décline avec de plus en plus de force au niveau national, que ce soit dans les urnes ou à travers la manière dont Emmanuel Macron l’a posée en adversaire centrale.
    Chez beaucoup de gens aujourd’hui règne l’impression d’être du côté des vainqueurs, ce qui est conforté par les effets d’entourage et des médias consommés. Quand on se souvient des vieilles affiches du Front national, représentant Jean-Marie Le Pen avec un bâillon, incarnant un vote de gens marginalisés qu’on ne laissait pas parler, c’était vraiment un monde différent. 

    Félicien Faury : Je suis tout à fait d’accord. Dans beaucoup de territoires, le RN ne peut absolument plus être considéré comme un parti « stigmatisé », c’est même tout l’inverse.

    Dans vos travaux respectifs, vous insistez sur le fait que le vote RN n’est pas un vote de personnes isolées ou atomisées, comme on l’entend parfois. Est-ce qu’on ne peut pas admettre, comme le chercheur Matthijs Rooduijn, qu’elles sont prises dans des liens sociaux qui n’ont pas la force de ceux des syndicats ou des Églises ?

    Benoît Coquard : Le vote RN n’est pas mon objet de recherche et je l’attrape justement par cette question des liens sociaux. J’ai travaillé sur la reconstitution des appartenances dans des bourgs désindustrialisés, et j’y ai observé des formes de repli, mais pas d’individualisme. En fait, les classes populaires n’en ont pas le luxe.
    Il ne s’agit pas tant de liens faibles que d’un resserrement de la conscience collective sur un petit nombre de personnes homogènes dans leur vision du monde et qui pensent aussi pouvoir s’entraider. Cette observation ethnographique corrobore de grandes enquêtes sociologiques menées à l’échelle européenne. Celles-ci établissent une corrélation ente le fait de ne faire confiance qu’à un petit nombre de personnes et le vote pour l’extrême droite. 

    Félicien Faury : Nos travaux diffèrent par leur objet. Benoît travaille sur les sociabilités rurales, les modes de vie, en explorant les différentes scènes d’une existence. De mon côté, la focale est plus restreinte autour de l’acte de vote, en se demandant ce qui est politisé ou « électoralisé » dans la vie des personnes. Mais je crois, en effet, que même dans l’isoloir et à bulletin secret, on continue à voter en groupe, comme les gens de qui on se sent proches socialement.
    La « normalisation » du RN, c’est aussi ça : quand ce vote devient légitime auprès de ceux qui comptent et qui font autorité près de soi. Cela vaut également pour le racisme. On pourrait avoir tendance à penser que c’est le défaut d’institutions et de « social » qui amène les gens à se replier et à devenir racistes. Or, c’est triste à dire, mais le #racisme, c’est aussi du #lien_social. Il existe des sociabilités qui entretiennent et autorisent l’expression de la parole raciste.

    De façon générale, je trouve que l’argument de l’atomisation ou des liens sociaux faibles revient parfois à « battre en retraite » sociologiquement. Le lien social est toujours présent, reste à savoir avec qui et quoi. Il faut donc plutôt se demander quels type de liens sociaux créent quels types de vote.
    Sur la question du « repli sur soi », j’aimerais souligner à quel point la question du diplôme est fondamentale. C’est un capital immatériel, sanctifié par l’État, qui vous donne de grandes possibilités de « voyager socialement ». Il y a comme une sécurité symbolique qui voyage avec vous lors de votre confrontation avec d’autres groupes sociaux. Lorsque vous n’en bénéficiez pas, comme c’est souvent le cas des électeurs du RN, l’ancrage local et le patrimoine matériel deviennent particulièrement importants – d’où le grand impact affectif des cambriolages, par exemple.
    Benoît Coquard : Effectivement, plus on est diplômé, plus on part facilement de sa campagne, moins on est tenu par les enjeux réputationnels qui y prévalent, moins on y souffre d’un éventuel déclassement territorial. Quand toutes vos ressources sont locales, en revanche, c’est très différent. On est alors beaucoup plus exposé à l’idée de l’extrême droite selon laquelle il faut faire passer les gens exactement comme soi avant, sinon on ne s’en sortira pas. C’est l’une des choses qui me font dire que les populations acquises à cette idée sont engagées dans le vote RN pour longtemps.

    Vous venez d’employer la notion de « #déclassement », de plus en plus mobilisée pour éclairer le vote RN. Est-ce qu’elle vous parle, ou est-ce qu’elle vous semble trop réductrice, quand ce parti est aussi capable de percer dans des milieux plutôt favorisés ?

    Félicien Faury : Il faut préciser de quoi on parle. Dans le Sud-Est où j’ai travaillé, c’est l’incertitude économique et le pessimisme résidentiel qui dominaient. Mes enquêtés, peu fragiles sur le marché du travail, ne vivent pas le déclassement sur un mode individuel mais plutôt collectif, avec l’idée que « tout se dégrade ». Ça se vit à l’échelle du quartier, du lotissement, de la commune, et ça peut s’extrapoler à la région et au pays. 

    Benoît Coquard : J’ai pour ma part écrit contre les théories de la France périphérique et de l’insécurité culturelle. Les milieux populaires ruraux que je côtoie ne peuvent pas être décrits comme des « petits Blancs » vivant dans un sentiment d’abandon, même s’ils peuvent exprimer ce discours face à des journalistes qui les rencontrent en quelques minutes. Ils développent en fait des contre-modèles de style de vie, affirment volontiers une mentalité insulaire, du type « on est maîtres chez nous ».

    Félicien Faury : Pour le coup, j’ai moins rencontré cette mentalité insulaire en Paca. Contrairement aux campagnes en déclin étudiées par Benoît, le Sud-Est est un territoire attractif, si bien que l’arrivée régulière de nouveaux résidents remet régulièrement en cause le capital local des résidents les plus anciens. Si ces évolutions peuvent être regardées avec colère ou amertume, j’observe néanmoins une résignation face à « l’invasion du haut » par les classes supérieures, quand les migrations du « bas » sont beaucoup plus facilement politisées. 

    Benoît Coquard, vous avez exprimé récemment l’idée que les propositions sociales du Nouveau Front populaire (NFP) pourraient parler aux fractions populaires de l’électorat RN. Cela peut sembler en contradiction avec les arguments de Félicien Faury qui met en avant la « matrice raciale » de ces comportements électoraux. Est-ce que vous avez une divergence ou des nuances sur le sujet ?

    Benoît Coquard : Je disais surtout que ces propositions seraient invisibles pour cet électorat, par manque de mixité politique dans son entourage et en raison de ses sources d’information. Le fait même d’être exposé à ces propositions n’est pas évident. Plutôt que de convertir des électeurs, l’enjeu me semble de s’adresser aux classes populaires entourées de gens qui votent RN, et qui n’osent pas dire autour d’elles qu’elles ne votent pas RN, car sinon elles se font traiter d’« #assistées ». 
    De fait, les stigmates associés à la #gauche sur mon territoire, c’est surtout ceux des « branleurs », des « cas sociaux ». Ce n’est que dans un second temps que le qualificatif d’« #Arabes » finit par arriver. On racialise le social, et les divisions sociales entre les précaires et les stables marchent d’autant plus qu’elles sont raciales.
    Cette dimension est clairement plus forte dans ce qu’écrit Félicien. Cela peut être lié à l’enquêteur, notamment avec qui on va parler, quelle place on prend dans les sociabilités. Moi, par exemple, j’étais au milieu des commérages. Du coup, je voyais beaucoup de dénigrement latéral entre habitants non racisés.

    Félicien Faury : J’ai aussi rencontré un sentiment « anti-assistés » très fort. Et effectivement, quand on laisse dérouler les discours, on se rend compte que ce sentiment se retrouve particulièrement exacerbé quand les personnes visées sont en plus identifiées comme « immigrées », c’est-à-dire jugées « moins françaises » que d’autres. Dans mon enquête, je constate que c’est lors de ce redoublement que la critique de l’#assistanat devient particulièrement politisée, et vient nourrir plus spécifiquement le vote RN.
    J’essaie de poser la question du racisme autrement qu’en termes de « présence » ou d’« absence », et d’observer plutôt les formes qu’il prend, et comment ça s’articule à des expériences sociales concrètes. Par ailleurs, il y a des enjeux de parole publique : à quel point faut-il insister sur cette dimension raciste ? C’est une question que je me suis beaucoup posée durant l’écriture, et encore davantage maintenant lors des présentations de mon travail en public et dans les médias. 

    Le fait d’avoir travaillé surtout sur les petites classes moyennes, et non sur le vote RN ouvrier, a pu contribuer à ce que je m’autorise à utiliser le terme de « racisme » et à le mettre au cœur de mes études. Comme le sens courant (et non sociologique) en donne une définition associée à la bêtise et à l’archaïsme, son usage peut contribuer à stigmatiser des groupes subalternes.

    Mais le risque inverse serait de ne pas en parler du tout. Il faut bien que cette dimension centrale soit rappelée, dans un contexte où son omission serait tout de même étrange, avec une extrême droite aux portes du pouvoir. J’essaie aussi d’insister dès que je le peux sur le caractère transversal du racisme, qui existe dans tous les milieux sociaux – y compris la bourgeoisie culturelle de gauche. Je vois bien que cette partie-là de mon propos est plus rarement reprise…

    Benoît Coquard : Je trouve que Félicien s’explique très clairement à ce sujet dans son livre. Si le racisme était absent de son explication causale des conduites électorales, ce serait effectivement l’éléphant dans la pièce.
    Il y aurait d’ailleurs quelque chose de méprisant à ne pas écouter les arguments des gens qu’on interviewe. Je ne vois pas pourquoi, parce qu’un enquêté est ouvrier ou moins diplômé, il faudrait retraduire ses propos au point qu’ils ne lui ressemblent plus. Là où il faut être prudent, c’est qu’il est important de relier les affects aux transformations macrosociales qui leur donnent du sens.

    La question raciale, en particulier, ne peut pas être envisagée sans les exclusions économiques qu’elle permet. Il y a comme un « #salaire_psychologique minimum », un capital minimal procuré par le fait de savoir que tu as toujours quelqu’un en dessous de toi. Le RN arrive à mettre ça en place localement.
    Cela me rappelle des groupes d’amis très unis sur lesquels j’ai travaillé, incluant des binationaux franco-algériens. Quand il y avait des accrochages, entre Blancs on s’insultait de « cas soc’ », mais quand cela les concernait, ils étaient traités de « sales Arabes ». L’exclusion était redoublée par un racisme resurgissant sur ces gens-là. Leur place ne tenait qu’à un fil car ce registre-là, exercé contre « plus tricard que soi », permettait de les exclure à n’importe quel moment.

    Félicien Faury : Je suis tout à fait d’accord, et j’ai d’ailleurs toujours cherché à relier les propos, parfois très explicites, que je pouvais entendre à des processus collectifs en termes de classe ou de ségrégation, dont les électeurs du RN sont au fond très peu responsables. Le racisme de ces électeurs n’émerge qu’en s’adossant à des processus de racialisation collectifs qui dépassent très largement la seule extrême droite.
    Encore une fois, je vois bien comment certains groupes sociaux pourraient s’autorassurer en se disant que le racisme, c’est au RN, que les racistes, « ce sont eux », et s’innocenter ainsi à bon compte. Cette mise à distance est évidemment trop facile.

    À court et plus long terme, quelles sont les pistes que peuvent suivre les gauches, ou du moins les adversaires du RN, pour reconquérir des milieux conquis par ce parti ?

    Félicien Faury : Je ne sais pas s’il faut poser la question de cette manière. Est-ce que le seul but doit être de « faire baisser le RN » ? Si oui, en Paca, si vous voulez prendre des électeurs au RN, le plus efficace est sans doute de mener une politique de droite dure ! La vocation de la gauche reste de lutter contre les inégalités de classe, la domination masculine, le racisme… Bien sûr, la stratégie électorale est très importante, mais la conquête des électeurs du RN ne doit pas être le seul horizon. 
    Une fois dit cela, il faut bien sûr ajouter que les #classes_populaires ne sont en aucun cas condamnées à voter pour le RN. Il y a un ensemble de points, sur les services publics, le pouvoir d’achat, les inégalités, à propos desquels la gauche peut activer des affects dans son sens. C’est un travail de long terme qui doit être mené. 
    Ce qui m’a frappé dans les espaces sociaux sur lesquels j’ai enquêté, c’est que les discours qui circulent, cadrés en faveur du RN, ne sont jamais contredits. Il n’y a jamais aucune sanction sociale face aux propos négatifs sur, par exemple, les « assistés » ou les « immigrés ». Il faudrait parvenir à diffuser des contre-discours, pour éviter ces effets de consensus autour de thématiques favorables à l’extrême droite.

    Par ailleurs, il faut aussi poser la question de l’incarnation et du recrutement politique au sein des partis de gauche. Trop souvent, les corps et manières d’être de la gauche, à la télé comme sur le terrain, témoignent de l’éloignement des mondes sociaux.

    Benoît Coquard : On se rejoint car je rappelle toujours que des modèles de respectabilité sociale sont essentiels pour offrir un autre son de cloche. Il n’y a pas de slogan magique.
    On parle des scores réalisés par La France insoumise dans les quartiers populaires racisés de Paris ou d’autres grandes villes, mais je ne suis pas sûr qu’ils soient aussi impressionnants dans ceux des bourgs et petites villes du Grand Est où je travaille. Je mets aussi en garde contre l’idée que les abstentionnistes seraient un réservoir évident pour la gauche. Là où le RN est hégémonique, en tout cas, les abstentionnistes, dans l’état actuel des choses, se sentent proches de Marine Le Pen.
    Et même si la gauche reprend des voix parmi les milieux populaires, ceux-ci auront été imprégnés des discours du RN. Il y a donc un travail de fond à faire en reprenant pied en milieu populaire au quotidien.

    Félicien Faury : On peut aussi ajouter que la politisation du racisme, dont les succès du RN sont un des symptômes, vient après une période où le racisme existait tout autant sinon plus, mais était naturalisé. Il y a eu des contestations et des victoires du côté des mouvements antiracistes et des minorités ethnoraciales, qui ont entraîné une forme de réaction, de réflexe défensif. On peut faire un parallèle avec le backlash [le « retour de bâton » – ndlr ]suscité par la révolution féministe.

    Si la montée de l’extrême droite se greffe à un appareil d’État, les cartes pourraient être rebattues de manière inquiétante, évidemment. Mais on peut aussi lire la situation comme un potentiel chant du cygne de certaines formes de domination raciale.

    "Je préfère une société de travail à l’assistance", un premier ministre de gauche, 1998.

  • « La question décisive est de savoir dans quelle proportion l’électorat de gauche se mobilisera »
    https://www.lemonde.fr/idees/article/2024/06/21/legislatives-la-question-decisive-est-de-savoir-dans-quelle-proportion-l-ele

    Les commentateurs ont dit et répété que la Nouvelle Union populaire écologique et sociale (Nupes), forgée dans l’urgence afin d’éviter la débâcle aux législatives de 2022, avait été définitivement enterrée durant la campagne des européennes. Le 9 juin au soir, la #gauche paraissait à ce point divisée que le président fit – selon toute vraisemblance – le calcul qu’elle ne s’en relèverait pas, offrant à Renaissance un boulevard pour un troisième duel (après 2017 et 2022) avec le Rassemblement national.

    Une semaine plus tard, ce scénario semble pourtant pouvoir être déjoué. Sous la menace de l’#extrême_droite et grâce à la pression de la société civile, mais aussi des organisations de jeunesse des partis politiques, les dirigeants de ces derniers sont parvenus à trouver un accord. La donne s’en trouve bouleversée : au second tour, le Rassemblement national (#RN) pourrait devoir ferrailler avec le Nouveau Front populaire (#NFP), et non avec la majorité présidentielle. Le NFP sera-t-il en mesure de transformer l’essai ?
    ​Si l’on projette le résultat des élections européennes du 9 juin sur les législatives du 30 juin, c’est-à-dire si les résultats du 30 juin étaient strictement équivalents à ceux du 9 juin, on obtient le résultat suivant : au second tour, 461 des 577 circonscriptions donneront lieu à un duel Rassemblement national-Nouveau Front populaire.

    L’unité paye

    Si la gauche était restée divisée, le scénario aurait été radicalement différent : il y aurait seulement 236 duels entre le RN et une force de gauche au second tour, et 275 duels RN-Renaissance au second tour. Autrement dit : l’unité paye, elle permet à la gauche d’être deux fois mieux représentée au second tour et de disputer la victoire finale à l’extrême droite.
    Bien sûr, cet exercice de politique-fiction doit être manié avec précaution : les enjeux du 30 juin ne sont pas les mêmes que ceux du 9 juin, les règles de scrutin diffèrent et la temporalité de la campagne législative n’a rien à voir avec celle des européennes. Par ailleurs, nous sommes dans une situation électorale inédite : pour la première fois depuis la réforme du quinquennat et l’inversion du calendrier électoral (en l’an 2000), les #législatives ne seront pas une ratification du résultat de la présidentielle, une simple formalité pour l’exécutif.

    ​Malgré ces inconnues, il faut affronter la question : l’électorat de gauche suivra-t-il les partis dans leur aspiration à l’unité ? L’accord par le haut entre appareils politiques se prolongera-t-il par un plébiscite par le bas de la part des citoyens et citoyennes ? Il convient ici de rappeler trois faits.

    Premièrement, au cours des deux dernières décennies, les électeurs de gauche se sont montrés plus unitaires que les candidats et les partis pour lesquels ils votaient. La Nupes en 2022, le Nouveau Front populaire, aujourd’hui, sont d’abord des réponses à des demandes, formulées depuis longtemps, par le peuple de gauche, et renouvelées dès le 9 juin au soir à travers une série de rassemblements spontanés.

    La lutte contre le terrorisme

    Une deuxième donnée à avoir en tête est qu’il existe désormais, au sein de l’électorat de gauche, une importante volatilité. D’un scrutin à l’autre, des fractions significatives du peuple de gauche changent de bulletin. La logique du _vote utile s’est généralisée.

    Pour donner quelques exemples de cette fluidité : 35 % des électeurs de Mélenchon au premier tour de 2022 qui sont allés voter le 9 juin 2024 ont glissé un bulletin Europe Ecologie-Les Verts (EELV) ou PS-Place publique. Réciproquement, 31 % de ceux qui avaient voté pour François Hollande en 2012 ont choisi Mélenchon en 2022. Cette porosité électorale, qui concerne ici le couple PS-LFI, est encore plus prononcée entre LFI et le PC, et entre EELV et le PS.

    Une troisième et dernière donnée importante est que, selon de nombreuses enquêtes d’opinion (Baromètre de la confiance politique, European Value Survey), les différents électorats de gauche partagent un large socle de valeurs. Ce qui les rassemble (la lutte contre les inégalités, les droits des minorités, l’attachement à la démocratie, les services publics) est plus fort que ce qui les divise (l’Europe, la laïcité, le nucléaire), même si des nuances existent.
    Selon l’enquête effectuée par l’IFOP le soir du 9 juin, la lutte contre le terrorisme préoccupe autant les électeurs de Manon Aubry (43 %) que ceux de Raphaël Glucksmann (46 %) et de Marie Toussaint (42 %) [respectivement LFI, Place publique et EELV].

    En revanche, concernant la lutte contre le #racisme et les discriminations, il s’agit d’un enjeu jugé déterminant par 69 % des électeurs « insoumis », contre 49 % des électeurs socialistes et 41 % des écologistes.

    ​Vieillissement et embourgeoisement

    La vraie question n’est donc pas de savoir si les électeurs de gauche plébisciteront dans les urnes, le 30 juin, les candidats de l’unité. On peut annoncer sans risque que ceux qui iront voter le feront en faveur de ce Nouveau Front populaire. Il y aura certainement des candidatures dissidentes, comme l’ont déjà laissé entendre d’anciens ministres socialistes, des dirigeants de Place publique et des déçus ou exclus de LFI et des Verts, mais les sondages indiquent que ces échappées solitaires semblent vouées à l’échec.

    La question décisive est de savoir dans quelle proportion l’électorat de gauche se mobilisera. L’électorat de gauche (toutes tendances confondues) est globalement plus jeune et plus populaire que celui de Renaissance et du Rassemblement national – le 9 juin 2024, la vraie nouveauté de l’électorat lepéniste est son vieillissement et son embourgeoisement.

    Les jeunes votent majoritairement pour la gauche, mais ils votent moins que leurs aînés. Par ailleurs, en 2017 comme en 2022 et en 2024, on constate que la gauche (à nouveau toutes tendances confondues) a son centre de gravité électoral plus proche des #classes_populaires que Renaissance et le RN. Or les jeunes et les classes populaires sont les catégories de la population les plus enclines à s’abstenir.

    ​Les candidats du NFP parviendront-ils à contrer cette #abstention différentielle, à remobiliser leur base en moins de trois semaines ? Cela à la veille des vacances d’été ? Alors que l’extrême droite est galvanisée par son résultat des élections européennes et la promesse d’une arrivée à Matignon, que ses adversaires oscillent entre la stupeur et la sidération ? Et que le dimanche 30 juin pourrait correspondre avec le huitième de finale de l’équipe de France de football ?

    Manuel Cervera-Marzal est enseignant-chercheur en science politique à l’université de Liège/Fonds de la recherche scientifique (FNRS), auteur des « Nouveaux Désobéissants : citoyens ou hors-la-loi ? » (Le Bord de l’eau, 2016).

    #électorat_volatile

  • « L’abstention ne constitue plus un obstacle à la victoire électorale du Rassemblement national »
    https://www.lemonde.fr/idees/article/2024/06/12/l-abstention-ne-constitue-plus-un-obstacle-a-la-victoire-electorale-du-rasse

    À peine plus d’un inscrit sur deux s’est déplacé le 9 juin pour prendre part à l’élection des députés français au Parlement européen (51,4 %). Si la participation a gagné un point et demi par rapport à 2019, ce qui frappe reste la stabilité de l’#abstention à un niveau très élevé dans ce scrutin traditionnellement peu mobilisateur. Il en résulte qu’aucune liste n’a massivement séduit les citoyens : la liste gouvernementale conduite par Valérie Hayer n’a rassemblé que 7,3 % des inscrits, la liste Parti socialiste-Place publique de Raphaël Glucksmann 6,9 %, et même celle du Rassemblement national (#RN), grand vainqueur du scrutin, ne représente que 15,7 % des inscrits.

    Dans un contexte où la France qui vote est minoritaire, les facteurs sociodémographiques de la participation ont joué à plein. Le 9 juin, les catégories âgées, les catégories les plus diplômées et les plus aisées ont davantage voté que les plus jeunes, les plus fragiles et les moins diplômées. Comme le montrent les sondages, le différentiel de participation a été d’environ 30 points entre la tranche d’âge la moins votante, les 18-34 ans, et la plus votante, les 60-75 ans. Les enquêtes confirment également la mobilisation plus massive des cadres, par comparaison avec celle des ouvriers et des employés.
    Le revenu est également hautement prédictif de la participation au vote de dimanche : là aussi, l’écart entre les plus bas revenus – inférieur ou égal à 1 000 euros – et les plus hauts revenus – plus de 5 000 euros – est d’environ 30 points de participation. D’un scrutin à l’autre, les logiques sociales de l’abstention sont d’une régularité impressionnante, et, dans cette perspective, rien n’est plus facilement prévisible que la sociologie de l’abstention et, par conséquent, puisqu’elle est en quelque sorte son image inversée, de la participation.

    Le 9 juin à 20 heures, comme lors de chaque scrutin, c’est dans les périphéries jeunes et populaires des grandes agglomérations métropolitaines que l’on a le moins voté : 10 points de moins qu’en moyenne nationale à Roubaix (Nord) ou Vaulx-en-Velin (Grand Lyon). A l’intérieur de ces territoires, les bureaux de vote des quartiers de grands ensembles ont enregistré une abstention encore plus élevée : un quart de votants seulement dans le bureau de la cité des Cosmonautes [à La Courneuve, en Seine-Saint-Denis], que nous étudions depuis 2002.

    Forte abstention structurelle

    Symétriquement, les bureaux de vote des centres-villes ou des périphéries bourgeoises, à la fois plus âgés et plus aisés, ont enregistré un taux de participation de 10 points supérieurs à la moyenne, comme à Versailles, Arcachon [Gironde] ou Paris centre. Les mondes ruraux plus âgés et mieux inscrits sur les listes électorales, parce que plus stables géographiquement, ont également confirmé leur plus forte disposition à voter.

    Dans ce contexte marqué par une forte abstention structurelle, le score impressionnant du RN est d’autant plus remarquable. Pendant longtemps, les scrutins de second ordre ont été défavorables au Front national devenu Rassemblement national. Jean-Marie Le Pen faisait ses meilleurs scores à la présidentielle et sous-performait lors d’un scrutin tel que les européennes. La sociologie de l’électorat frontiste expliquait une bonne part du phénomène : plus populaire, plus ouvrier, moins diplômé, plus urbain aussi, cet électorat était plus difficile à mobiliser lors d’élections de faible intensité, a fortiori pour un parti sans grande implantation locale.

    La perspective d’une alternance à venir a consolidé son socle électoral. En atteste le très bon report des voix obtenues par le RN en 2022 au profit de la liste conduite par Jordan Bardella, de l’ordre de 85 %. En attestent également la certitude de choix et la détermination à se rendre aux urnes de cet électorat, plus élevée que la moyenne. Le RN a, de toute évidence, été porté par une dynamique politique. Mais, dans le contexte abstentionniste de dimanche, ce score historique s’explique surtout par les mutations sociologiques de son électorat. On peut même considérer que ce score constitue, par lui-même, la preuve empirique de cette grande transformation.

    Séquence électorale inédite

    Ces dernières années, l’expansion électorale du RN s’est réalisée en grande partie sur les segments de l’ancien électorat de la droite. En schématisant, le RN « normalisé » de Marine Le Pen a très largement prospéré au sein de la coalition électorale qui avait porté Nicolas Sarkozy au pouvoir, dans les classes moyennes, chez les retraités, dans les mondes ruraux. Parmi les électeurs qui avaient soutenu Nicolas Sarkozy en 2007 et ont voté le 9 juin, quatre sur dix l’ont ainsi fait en faveur de la liste conduite par Jordan Bardella.
    Cette évolution se vérifie dans toutes les enquêtes. Ce ne sont plus seulement les artisans, les commerçants, les ouvriers les moins qualifiés et les employées sans diplôme qui placent le RN en première position quand ils votent. Ce sont également les classes moyennes propriétaires de leur résidence principale en périphérie urbaine, les agriculteurs, les entrepreneurs et les retraités résidant dans les villes moyennes et à la campagne.

    Tout cela entraîne des conséquences sur le profil sociologique des électeurs : dimanche, le RN a obtenu plus de 30 % des voix parmi les 65-74 ans et 24 % des voix parmi les individus dont les revenus sont supérieurs à 3 000 euros mensuels. A la manière de ce qu’on observe aux Etats-Unis au sein de l’électorat républicain ou en Italie au sein de l’électorat de Giorgia Meloni, le RN est devenu, de fait, un parti interclassiste et intergénérationnel, surreprésenté, et ce n’est pas un détail en matière de participation, dans les mondes ruraux. Compte tenu de cette profonde transformation, l’abstention alimentée par les facteurs sociodémographiques ne constitue plus un obstacle à la victoire électorale du RN.

    La séquence électorale inédite des 30 juin et 7 juillet s’annonce donc particulièrement risquée pour la majorité présidentielle qui a, en quelques années, perdu sur ce plan une bonne part de l’avantage concurrentiel dont elle disposait face au RN. Le résultat de ces législatives 2024 pourrait donc se jouer sur des facteurs beaucoup plus strictement politiques qu’à l’accoutumée et donner paradoxalement à la campagne improvisée qui se prépare une importance primordiale.

    Céline Braconnier est professeure des universités en science politique, directrice de Sciences Po Saint-Germain-en-Laye, chercheuse au Cesdip-CY Université.

    Jean-Yves Dormagen est professeur de science politique à l’université de Montpellier, président de Cluster 17.

    #sociologie électorale

    • Oups, mon collègue est devenu RN… ou la « ciottisation » de la vie professionnelle, Nicolas Santolaria
      https://www.lemonde.fr/m-perso/article/2024/06/20/oups-mon-collegue-est-devenu-rn-ou-la-ciottisation-de-la-vie-professionnelle

      « Work in progress ». Hier encore, ils sifflotaient « Le Chant des partisans » à la cantine. Aujourd’hui, les mêmes n’hésitent plus à clamer « Vivement Bardella ! ». La submersion idéologique touche désormais tous les milieux.

      Nous vivons un moment troublant de « ciottisation » de nos vies professionnelles. Président des Républicains – ayant proposé une alliance au Rassemblement national pour les élections législatives anticipées rejetée par les autres responsables du parti –, Eric Ciotti est emblématique de ces collègues que vous pensiez il y a peu encore indéfectiblement allergiques à l’extrême droite, et qui s’affichent désormais tout feu, tout flamme, pour le RN.

      Bien entendu, chacun est libre de ses opinions mais, dans les faits, beaucoup d’entreprises ou d’institutions fonctionnaient jusqu’alors comme des cocons idéologiques, représentant des communautés de valeurs plus ou moins implicites. Cet entre-soi – questionnable, bien entendu – opérait également à une échelle catégorielle plus large : la sociologie du vote d’extrême droite, traditionnellement ancrée chez les employés et les ouvriers, a longtemps pu laisser penser aux membres de groupes sociaux plus favorisés que le RN, c’était ailleurs, que le RN, c’étaient les autres.

      Depuis les résultats des élections européennes, le 9 juin, où la liste emmenée par Jordan Bardella a recueilli 31,6 % des suffrages, ce sentiment rassurant s’est dissipé : d’après une enquête Ipsos réalisée les 6 et 7 juin 2024, le RN a progressé, entre 2019 et aujourd’hui, de 13 % à 20 % chez les cadres, tout en renforçant son socle traditionnel. Le RN est ainsi devenu le premier parti des salariés (36 % des voix), dans le public (34 %) comme dans le privé (37 %). Croiser à la cafèt un type qui porte un tee-shirt « Jordan je t’aime » sous sa chemise n’est donc plus une hypothèse farfelue, et la suspicion est désormais de mise. « Là, j’ai la haine. Je me rappelle de mon collègue, ce fumier qui tenait des propos tendancieux, je suis sûr à 99 % qu’il a voté RN », s’énervait un utilisateur de X au lendemain des européennes.

      Mue traumatisante

      Cette mue traumatisante du collègue lambda en électeur d’extrême droite constitue la scène inaugurale de l’enquête prophétique Les Grands-Remplacés (Arkhê, 2020), de Paul Conge. Le journaliste y évoque notamment Joël, informaticien toulousain un peu gris, fils de socialistes, qui finit par se persuader que son monde est gangrené par l’immigration et le renoncement. Il se met alors à la muscu : « Happé progressivement par la propagande radicale de la “dissidence” sur Internet, il déroule désormais son “prêt-à-penser” sur ses collègues, ces “bobos” aux “corps de lâches”. »

      Le plus déstabilisant en la matière est la progression de cet agglomérat d’idées rances dans des univers qui y étaient jusqu’alors totalement étanches. Dispensant des formations dans les univers professionnels pour dénoncer l’« imposture sociale » du Rassemblement national, l’association intersyndicale Visa (pour Vigilance et Initiatives syndicales antifascistes) tente d’enrayer la séduction que ce parti opère, depuis son ravalement de façade, sur des publics historiquement ancrés à gauche. Car, manifestement, les « cordons », les « barrières », les « barrages » et autres vocables incantatoires d’endiguement ne suffisent plus à empêcher la submersion idéologique du « populisme Ultrabrite ». Y compris dans l’esprit de ceux qui, l’an dernier encore à la cantine, sifflotaient Le Chant des partisans.

      Nicolas Santolaria

    • « La question décisive est de savoir dans quelle proportion l’électorat de gauche se mobilisera »
      https://www.lemonde.fr/idees/article/2024/06/21/legislatives-la-question-decisive-est-de-savoir-dans-quelle-proportion-l-ele

      Les commentateurs ont dit et répété que la Nouvelle Union populaire écologique et sociale (Nupes), forgée dans l’urgence afin d’éviter la débâcle aux législatives de 2022, avait été définitivement enterrée durant la campagne des européennes. Le 9 juin au soir, la #gauche paraissait à ce point divisée que le président fit – selon toute vraisemblance – le calcul qu’elle ne s’en relèverait pas, offrant à Renaissance un boulevard pour un troisième duel (après 2017 et 2022) avec le Rassemblement national.

      Une semaine plus tard, ce scénario semble pourtant pouvoir être déjoué. Sous la menace de l’#extrême_droite et grâce à la pression de la société civile, mais aussi des organisations de jeunesse des partis politiques, les dirigeants de ces derniers sont parvenus à trouver un accord. La donne s’en trouve bouleversée : au second tour, le Rassemblement national (#RN) pourrait devoir ferrailler avec le Nouveau Front populaire (#NFP), et non avec la majorité présidentielle. Le NFP sera-t-il en mesure de transformer l’essai ?
      ​Si l’on projette le résultat des élections européennes du 9 juin sur les législatives du 30 juin, c’est-à-dire si les résultats du 30 juin étaient strictement équivalents à ceux du 9 juin, on obtient le résultat suivant : au second tour, 461 des 577 circonscriptions donneront lieu à un duel Rassemblement national-Nouveau Front populaire.

      L’unité paye

      Si la gauche était restée divisée, le scénario aurait été radicalement différent : il y aurait seulement 236 duels entre le RN et une force de gauche au second tour, et 275 duels RN-Renaissance au second tour. Autrement dit : l’unité paye, elle permet à la gauche d’être deux fois mieux représentée au second tour et de disputer la victoire finale à l’extrême droite.
      Bien sûr, cet exercice de politique-fiction doit être manié avec précaution : les enjeux du 30 juin ne sont pas les mêmes que ceux du 9 juin, les règles de scrutin diffèrent et la temporalité de la campagne législative n’a rien à voir avec celle des européennes. Par ailleurs, nous sommes dans une situation électorale inédite : pour la première fois depuis la réforme du quinquennat et l’inversion du calendrier électoral (en l’an 2000), les #législatives ne seront pas une ratification du résultat de la présidentielle, une simple formalité pour l’exécutif.

      ​Malgré ces inconnues, il faut affronter la question : l’électorat de gauche suivra-t-il les partis dans leur aspiration à l’unité ? L’accord par le haut entre appareils politiques se prolongera-t-il par un plébiscite par le bas de la part des citoyens et citoyennes ? Il convient ici de rappeler trois faits.

      Premièrement, au cours des deux dernières décennies, les électeurs de gauche se sont montrés plus unitaires que les candidats et les partis pour lesquels ils votaient. La Nupes en 2022, le Nouveau Front populaire, aujourd’hui, sont d’abord des réponses à des demandes, formulées depuis longtemps, par le peuple de gauche, et renouvelées dès le 9 juin au soir à travers une série de rassemblements spontanés.

      La lutte contre le terrorisme

      Une deuxième donnée à avoir en tête est qu’il existe désormais, au sein de l’électorat de gauche, une importante volatilité. D’un scrutin à l’autre, des fractions significatives du peuple de gauche changent de bulletin. La logique du _vote utile s’est généralisée.

      Pour donner quelques exemples de cette fluidité : 35 % des électeurs de Mélenchon au premier tour de 2022 qui sont allés voter le 9 juin 2024 ont glissé un bulletin Europe Ecologie-Les Verts (EELV) ou PS-Place publique. Réciproquement, 31 % de ceux qui avaient voté pour François Hollande en 2012 ont choisi Mélenchon en 2022. Cette porosité électorale, qui concerne ici le couple PS-LFI, est encore plus prononcée entre LFI et le PC, et entre EELV et le PS.

      Une troisième et dernière donnée importante est que, selon de nombreuses enquêtes d’opinion (Baromètre de la confiance politique, European Value Survey), les différents électorats de gauche partagent un large socle de valeurs. Ce qui les rassemble (la lutte contre les inégalités, les droits des minorités, l’attachement à la démocratie, les services publics) est plus fort que ce qui les divise (l’Europe, la laïcité, le nucléaire), même si des nuances existent.
      Selon l’enquête effectuée par l’IFOP le soir du 9 juin, la lutte contre le terrorisme préoccupe autant les électeurs de Manon Aubry (43 %) que ceux de Raphaël Glucksmann (46 %) et de Marie Toussaint (42 %) [respectivement LFI, Place publique et EELV].

      En revanche, concernant la lutte contre le #racisme et les discriminations, il s’agit d’un enjeu jugé déterminant par 69 % des électeurs « insoumis », contre 49 % des électeurs socialistes et 41 % des écologistes.

      ​Vieillissement et embourgeoisement

      La vraie question n’est donc pas de savoir si les électeurs de gauche plébisciteront dans les urnes, le 30 juin, les candidats de l’unité. On peut annoncer sans risque que ceux qui iront voter le feront en faveur de ce Nouveau Front populaire. Il y aura certainement des candidatures dissidentes, comme l’ont déjà laissé entendre d’anciens ministres socialistes, des dirigeants de Place publique et des déçus ou exclus de LFI et des Verts, mais les sondages indiquent que ces échappées solitaires semblent vouées à l’échec.

      La question décisive est de savoir dans quelle proportion l’électorat de gauche se mobilisera. L’électorat de gauche (toutes tendances confondues) est globalement plus jeune et plus populaire que celui de Renaissance et du Rassemblement national – le 9 juin 2024, la vraie nouveauté de l’électorat lepéniste est son vieillissement et son embourgeoisement.

      Les jeunes votent majoritairement pour la gauche, mais ils votent moins que leurs aînés. Par ailleurs, en 2017 comme en 2022 et en 2024, on constate que la gauche (à nouveau toutes tendances confondues) a son centre de gravité électoral plus proche des #classes_populaires que Renaissance et le RN. Or les jeunes et les classes populaires sont les catégories de la population les plus enclines à s’abstenir.

      ​Les candidats du NFP parviendront-ils à contrer cette #abstention différentielle, à remobiliser leur base en moins de trois semaines ? Cela à la veille des vacances d’été ? Alors que l’extrême droite est galvanisée par son résultat des élections européennes et la promesse d’une arrivée à Matignon, que ses adversaires oscillent entre la stupeur et la sidération ? Et que le dimanche 30 juin pourrait correspondre avec le huitième de finale de l’équipe de France de football ?

      Manuel Cervera-Marzal est enseignant-chercheur en science politique à l’université de Liège/Fonds de la recherche scientifique (FNRS), auteur des « Nouveaux Désobéissants : citoyens ou hors-la-loi ? » (Le Bord de l’eau, 2016).

      #électorat_volatile

  • Ecolos, mais pas trop…

    Le #capitalisme menace la vie sur terre. Aucune issue technique à ce constat. Les usages destructeurs des ressources naturelles sont inscrits au plus profond des structures sociales : école, travail, propriété, marché, etc. Ils forgent des conditions de classe écologiquement inégales et antagoniques.
    Ce livre montre qu’une #écologie_politique véritablement transformatrice doit avoir pour horizon la refonte des cadres fondamentaux de la vie sociale qu’exige l’invention d’une société respectueuse des #limites_planétaires.

    https://www.raisonsdagir-editions.org/catalogue/ecolos-mais-pas-trop

    https://www.youtube.com/watch?v=cpAY24KcGqw&embeds_referring_euri=https%3A%2F%2Fwww.raisonsdagir-ed


    #livre #écologie #classes_sociales

  • « Des électeurs ordinaires » : à la découverte de la vision racialisée du monde des partisans du RN

    Le sociologue Félicien Faury décortique la mécanique du vote Rassemblement national, après un travail de terrain réalisé entre 2016 et 2022 dans le sud-est de la France.

    [...]

    Ses conversations avec les électeurs donnent à voir des « logiques communes », un rapport au monde qui oriente vers le vote Le Pen. « Les scènes fiscales, scolaires et résidentielles deviennent les théâtres de compétitions sociales racialisées, dans lesquels les groupes minoritaires, construits et essentialisés en tant que tels, sont perçus et jugés comme des concurrents illégitimes », décrit l’auteur. La prégnance de cette vision du monde dans le quartier ou au travail conduit à légitimer le vote Le Pen, à le priver de son stigmate de l’extrémisme et, in fine, à le renforcer.

    A l’automne 2023, un débat avait opposé deux interprétations du vote populaire pour le RN, que l’on peut ainsi schématiser : d’un côté, les économistes Julia Cagé et Thomas Piketty, auteurs d’une somme de géographie électorale (Une histoire du conflit politique, Seuil, 2023), pour qui les inégalités socio-économiques sont le principal déterminant du vote RN ; de l’autre, le sondeur de l’Institut français d’opinion publique, Jérôme Fourquet, qui, dans La France d’après. Tableau politique (Seuil, 2023), soulignait le primat de la question identitaire.

    Le travail de terrain de Félicien Faury invite à pencher fortement en faveur de la seconde analyse. Il dissèque la manière dont les expériences de classe de l’#électorat RN rejoignent toutes la question raciale. Le chercheur prend toujours soin de situer cette vision raciste dans le contexte d’une société où se perpétuent les processus de racialisation. De la part d’électeurs en risque de déclassement social, écrit-il, « le vote RN doit aussi se concevoir comme un vote produit depuis une position dominante sur le plan racial, dans l’objectif de sa conservation ou de sa fortification ».
    https://www.lemonde.fr/idees/article/2024/05/24/des-electeurs-ordinaires-a-la-decouverte-de-la-vision-racialisee-du-monde-de

    https://justpaste.it/a4997

    #extrême_droite #RN #racisme #livre

    • Dans l’électorat du RN, « le racisme s’articule à des expériences de classes » | entretien avec Félicien Faury
      https://www.mediapart.fr/journal/politique/010524/dans-l-electorat-du-rn-le-racisme-s-articule-des-experiences-de-classes

      Ce que j’essaie de démontrer dans mon livre, c’est que le vote RN est une modalité parmi d’autres de participation aux processus de #racialisation. Il est le fruit d’une vision raciste qui s’articule à une expérience de classe particulière, de sorte qu’elle est politisée de manière spécifique en direction de ce parti.

      https://justpaste.it/51uy6
      #islamophobie

    • Félicien Faury, politiste : « Pour les électeurs du RN, l’immigration n’est pas uniquement un sujet identitaire, c’est aussi une question socio-économique »
      https://www.lemonde.fr/idees/article/2024/06/14/felicien-faury-politiste-pour-les-electeurs-du-rn-l-immigration-n-est-pas-un

      Le vote #RN, à la fois protestataire et conservateur, exprime un attachement inquiet à un ordre que ses électeurs estiment menacé, explique le chercheur, spécialiste de l’extrême droite.
      Propos recueillis par Anne Chemin

      Rattaché au Centre de recherches sociologiques sur le droit et les institutions pénales, rattaché au CNRS, le sociologue et politiste Félicien Faury travaille sur l’extrême droite. Il est l’auteur de Des électeurs ordinaires. Enquête sur la normalisation de l’extrême droite (Seuil, 240 pages, 21,50 euros), un ouvrage adossé à une enquête de terrain de six ans (2016-2022), qui analyse l’implantation électorale et partisane du Front national, puis du Rassemblement national (RN), dans un territoire du sud-est de la France.

      Comment analysez-vous le geste politique d’Emmanuel Macron qui provoque des élections législatives ?

      Comme beaucoup l’ont souligné avant moi, ce choix repose sur la volonté d’imposer un clivage opposant un parti « central », incarné par Renaissance, et l’extrême droite – avec le présupposé que la gauche sera faible ou divisée. Dans un contexte où le président de la République suscite toujours davantage de défiance, ce clivage a pour effet de faire du RN l’alternative principale au macronisme. Cette situation explique sans doute pourquoi la #dissolution était une demande explicite de Jordan Bardella et de Marine Le Pen – et pourquoi cette annonce a été accueillie par des cris de joie, lors des soirées électorales du RN.

      On dit souvent que les électeurs du RN sont très sensibles aux questions sociales – en particulier au pouvoir d’achat –, mais votre ouvrage montre la place centrale qu’occupe le racisme dans leurs choix électoraux. Comment cette « aversion envers les minorités ethnoraciales », selon votre expression, se manifeste-t-elle ?

      Il faut en fait articuler les deux phénomènes. Les questions sociales comme le pouvoir d’achat sont toujours entremêlées avec des thématiques comme l’immigration et la place des #minorités_ethnoraciales dans la société française. Pour les électeurs du RN, l’immigration n’est pas uniquement un sujet « identitaire » : c’est aussi, et peut-être surtout, une question pleinement socio-économique. Lorsque les immigrés sont spontanément associés au #chômage et aux #aides_sociales, l’immigration se trouve liée, par le biais des impôts et des charges à payer, à la question du pouvoir d’achat. Ce qu’il faut chercher à comprendre, ce n’est donc pas ce qui « compte le plus » – préoccupations de classe ou racisme –, mais selon quels raisonnements ces enjeux sont reliés.

      S’agit-il d’un racisme ouvertement exprimé ou du racisme « subtil » dont on parle parfois pour qualifier, par exemple, le racisme « systémique » ?

      Tout dépend, bien sûr, des profils des personnes interrogées et du contexte de l’interaction, mais il s’agit souvent de propos assez clairs et explicites dans leur hostilité aux minorités ethnoraciales. C’était un enjeu important dans l’écriture de mon livre : il me paraissait nécessaire de rendre compte du racisme qui s’exprime dans beaucoup de discours, mais il fallait aussi prendre garde à ne pas redoubler, dans l’écriture, la violence des propos dans une sorte de voyeurisme malsain. J’ai donc cherché à me limiter à ce qui était nécessaire à l’analyse sociologique.

      Par ailleurs, il existe effectivement des formes plus « subtiles » d’expression du racisme. Le racisme est un fait social multiforme et transversal : on le trouve dans tous les milieux sociaux, mais selon des formes différentes – certaines sont claires, d’autres sont plus policées ou plus discrètes. L’extrême droite et ses électorats n’ont en rien le monopole du racisme : il y a du racisme dans le vote RN, mais ce vote n’est qu’une forme parmi d’autres de participation aux inégalités ethnoraciales qui continuent à exister dans notre pays.

      Vous évoquez, pour expliquer le sentiment d’injustice et de fragilité ressenti par les électeurs du RN, la notion de « conscience sociale triangulaire » forgée par le chercheur Olivier Schwartz. Comment décririez-vous cette représentation du monde social ?

      La #conscience_sociale_triangulaire désigne le sentiment d’être pris en tenaille entre une pression sociale « par le haut » et une autre « par le bas ». Sur mon terrain, cette double pression est particulièrement ressentie dans sa dimension résidentielle. Les électeurs du RN ont l’impression de se faire « rattraper » par les « quartiers », où logent des #classes_populaires_précarisées souvent issues de l’immigration, mais ils regardent aussi avec inquiétude l’appropriation de certains territoires par des groupes très dotés économiquement. Dans le Sud-Est, beaucoup de familles prospères viennent, en effet, s’installer ou acheter des résidences secondaires, ce qui a pour effet d’engendrer une forte pression immobilière.

      Le « haut » et le « bas » ne sont pas politisés de la même façon chez ces électeurs du RN. La pression par le haut suscite de l’amertume, mais aussi beaucoup de fatalisme. Par contraste, la pression par le bas est considérée comme scandaleuse et évitable, notamment lorsqu’elle est racialisée : les électeurs du RN estiment qu’on aurait pu et dû limiter, voire stopper, une immigration qui est jugée responsable de la dégradation des #quartiers environnants. C’est sans doute un effet du racisme que de faire regarder vers le bas de l’espace social lorsqu’il s’agit de politiser ses aversions.

      L’inquiétude vis-à-vis de l’avenir des électeurs du RN concerne finalement moins l’emploi que des domaines que l’on évoque plus rarement dans le débat public, comme le logement ou l’école. Comment ces thèmes se sont-ils imposés ?

      C’est une spécificité des électeurs du Sud-Est que j’ai interrogés : bénéficiant d’un statut socioprofessionnel relativement stable, leurs craintes ne portent pas spécifiquement sur la question de l’emploi et du chômage. Ils ont des préoccupations socio-économiques bien réelles, mais elles concernent la valeur de leur logement, les impôts et les charges, les aides sociales perçues ou non, ou l’accès à des services publics de qualité.

      La question résidentielle est centrale, surtout dans cette région Provence-Alpes-Côte d’Azur caractérisée par une concurrence exacerbée entre les territoires. La question scolaire, elle aussi, revient souvent dans les entretiens : les électeurs du RN ont le sentiment que l’#école publique « se dégrade », ce qui engendre des inquiétudes d’autant plus vives qu’ils sont souvent peu diplômés : ils ont moins de ressources que d’autres pour compenser les défaillances de l’école. Beaucoup se résignent d’ailleurs à scolariser leurs enfants dans le privé.

      Les électeurs du RN qui estiment que leur situation sociale est fragile comptent-ils sur l’aide de l’Etat ?

      Oui. On est, en France, dans une situation assez différente des Etats-Unis, où l’extrême droite est imprégnée par une idéologie libertarienne. Les électeurs RN croient en l’#Etat et ses missions de protection sociale, mais ils sont très critiques vis-à-vis de ses performances et de ses principes de redistribution. S’agissant des enjeux de redistribution, cette déception s’accompagne d’un sentiment d’injustice qui est souvent racialisé : la croyance selon laquelle la puissance publique privilégierait les « immigrés » et les « étrangers » dans l’octroi des aides sociales est particulièrement répandue.

      Diriez-vous que l’attachement des électeurs du RN au monde stable, familier et rassurant qu’ils disent avoir connu dans le passé fait d’eux des conservateurs ?

      Effectivement, le vote RN est à la fois #protestataire et #conservateur. C’est un vote qui s’exprime depuis la norme : les électeurs ont l’impression qu’elle est fragilisée et qu’il faut la défendre. « C’est pas normal » est l’expression que j’ai le plus souvent entendue. Les électeurs ont le sentiment que « leur » normalité est en train de vaciller peu à peu. Le vote RN exprime un attachement inquiet à un ordre encore existant mais menacé.

      Si le vote en faveur du RN est massif, c’est aussi parce que, dans les territoires que vous avez étudiés, il est « banalisé », dicible, voire légitime. Comment fonctionne cette normalisation progressive du vote RN ?

      La normalisation du RN passe beaucoup par son acceptation progressive au sein du champ politique et de l’espace médiatique, mais aussi par les discussions du quotidien et les interactions ordinaires entre amis, voisins, collègues, en famille. Ce vote est validé par les proches, par les gens qui comptent ou, plus simplement, par les gens qui se ressemblent socialement. Cette normalisation est cependant très loin d’être achevée : pour une part encore très importante de la population, le RN reste un vote illégitime, voire un vote repoussoir. Il n’y a donc rien d’irréversible.

      Beaucoup voient dans le succès du RN un vote de colère, protestataire, voire « dégagiste ». Ce n’est pas votre analyse. Pourquoi ?

      Ce n’est pas faux, bien sûr, mais cette explication m’a toujours semblé incomplète. D’une part, _[et Ruffin devrait accepter d’y penser, ce qui le conduirait peut-être à mettre en cause sa propre aversion pour les étrangers...] la colère exprimée n’est pas une colère « aveugle » qui se distribue au hasard : elle vise prioritairement certains groupes sociaux – je pense notamment aux minorités ethnoraciales, aux « assistés » et à certaines fractions des élites culturelles, médiatiques et politiques. D’autre part, les électeurs n’ont pas toujours un comportement « dégagiste » : la majorité des mairies conquises par le FN en 2014 ont été reconduites lors des élections suivantes, souvent dès le premier tour, avec des scores très impressionnants. C’est peut-être une leçon pour les législatives à venir : lorsque l’extrême droite parvient au pouvoir, souvent, elle s’y maintient. Ses victoires lui permettent de solidifier ses soutiens électoraux et de « transformer l’essai » lors des élections suivantes. Beaucoup d’exemples étrangers abondent dans ce sens.

      Pensez-vous que le RN peut remporter une majorité relative, voire absolue, aux élections des 30 et 7 juillet ?

      Il est très important, pour les chercheurs en science politique, de savoir reconnaître leur ignorance faute d’éléments suffisants. Aujourd’hui, on ne dispose pas de suffisamment d’indices sur la manière dont vont se structurer l’opinion publique et l’offre politique au niveau local pour pouvoir en tirer des conclusions sérieuses.

    • Chez les classes moyennes, un vote marqué par la #peur du #déclassement
      https://www.lemonde.fr/economie/article/2024/06/23/mais-maman-on-est-pauvres-les-classes-moyennes-a-l-heure-du-declassement_624

      Frappées de plein fouet par l’inflation, exclues des dispositifs d’aide destinés aux plus modestes et sans perspectives d’ascension sociale, les classes moyennes se tournent vers le Rassemblement national, traditionnellement plutôt ancré dans les milieux populaires.
      Par Béatrice Madeline

      « Pour nous, la victoire du Rassemblement national [RN], c’est tout sauf une surprise », confie Yvon Le Flohic, médecin généraliste dans un cabinet médical de Ploufragan, dans l’agglomération de Saint-Brieuc. Un morceau de France ordinaire, où le #revenu annuel moyen était de 23 010 euros en 2021, presque identique à la moyenne nationale (23 160 euros). En 2020, on y comptait un quart de retraités. Parmi les personnes en activité, 20 % d’ouvriers, 30 % d’employés, 30 % de professions intermédiaires et 13 % de cadres ou professions supérieures. Le tout, au cœur d’une Bretagne historiquement imperméable aux extrêmes, affectée ni par la désindustrialisation, ni par le chômage ou l’insécurité.

      Pourtant, le 9 juin au soir, la liste de Jordan Bardella est arrivée en tête aux élections européennes dans les Côtes-d’Armor, avec 28,21 % des suffrages (27,11 % à Ploufragan). En 2019, Renaissance était en tête, et Marine Le Pen obtenait 19 % des voix. « Dans notre cabinet, on voit défiler tout le monde, poursuit le médecin. Nous étions sûrs du résultat. Ici, les gens ont la sensation de ne plus être pris en compte, de ne pas être représentés, ils ne croient plus aux institutions. Et cela ne date pas d’hier. »
      A l’échelle du pays, ces classes moyennes ont exprimé ce ressentiment le 9 juin, lors des élections européennes, certains par l’abstention, et beaucoup d’autres en votant en faveur du RN, traditionnellement plutôt ancré dans les milieux populaires. Selon l’analyse réalisée par OpinionWay, 41 % des ménages gagnant entre 1 000 et 2 000 euros par mois ont voté pour Jordan Bardella, et 33 % de ceux aux revenus compris entre 2 000 et 3 500 euros. Une percée sociologique : parmi les employés, le RN a gagné dix points entre 2019 et 2024, et quinze points parmi les professions intermédiaires.

      De plein fouet

      A ce malaise s’est ajouté un ouragan appelé #inflation, qui a fait vaciller les modes de vie et les certitudes. « On n’avait pas vu une telle hausse des prix depuis quarante ans, et à l’époque, tous les salaires étaient indexés sur les prix, rappelle Mathieu Plane, directeur adjoint du département analyses et prévisions à l’Observatoire français des conjonctures économiques (OFCE). C’est la première fois qu’on vit une telle crise inflationniste sans cette protection. »

      Prises de plein fouet par la flambée des produits de base – l’alimentaire a connu une hausse de 20 % en deux ans, l’électricité de 70 % en cinq ans –, exclues des dispositifs d’aide destinés aux plus modestes, les classes moyennes ont vu leurs habitudes et leurs modes de consommation bouleversés, comme le raconte Elisabeth (elle a préféré garder l’anonymat), 56 ans, installée sur la côte varoise : « Depuis plusieurs années, j’ai pris l’habitude de compter chaque euro lors de mes courses, et je me suis rendu compte que je n’étais pas la seule. Je vois aussi des hommes parcourir les rayons la calculette en main. Et ce n’est pas tout. Chaque dépense est planifiée, je ne peux plus partir en vacances, ni épargner. »

      Les « périurbains » et les ruraux ont été plus pénalisés que les autres. On comptait, au plus fort de la crise, trois points d’écart dans la hausse moyenne du coût de la vie entre eux et ceux vivant dans les centres-villes, selon l’OFCE. Certes, les loyers sont plus élevés dans les métropoles, mais les périurbains ou les ruraux sont bien plus tributaires de leur voiture au quotidien et dépensent davantage en chauffage pour leur logement, souvent une maison individuelle.

      Sous pression, les ménages ont du mal à boucler leurs fins de mois, une fois payées les charges fixes, l’électricité, le carburant, les assurances, et l’alimentation, et encore, en supprimant souvent les produits les plus coûteux. « Aujourd’hui, je ne vais plus au restaurant, à peine au cinéma, encore moins à l’opéra. Je voyage en rêve, je suis à découvert le 15 du mois, je paie mon garagiste en trois fois, et j’achète mes vêtements en seconde main », résume Anne, 50 ans, professeure certifiée à temps partiel et un enfant à charge.

      Des dettes impossibles à apurer

      Pour certains, la crise inflationniste s’est traduite par des dettes impossibles à apurer. « On voit arriver des gens qui n’auraient jamais passé notre porte avant, confirme Laetitia Vigneron, conseillère financière à l’Union des associations familiales (UDAF) du Cher. Des personnes qui travaillent, qui ont des crédits immobiliers ou des crédits voiture. » Entre janvier et mai, le nombre de dossiers de surendettement déposés auprès de la Banque de France a augmenté de 6 % par rapport à 2023. « Le prix des courses a explosé. Les gens n’arrivent plus à s’en sortir. On voit des dossiers de surendettement constitués uniquement de dettes de charges courantes : loyers, assurances, électricité », renchérit Céline Rascagnères, également conseillère financière pour l’UDAF, dans l’Aude.
      Pour ces personnes ni riches ni pauvres, la dégringolade ne se fait pas ressentir uniquement dans le train de vie. Elle est aussi symbolique. « Dans ma tête, un prof faisait partie des classes moyennes supérieures, il pouvait s’offrir deux-trois restos mensuels, des voyages pour le plaisir, des loisirs pour se cultiver, une petite maison pour la retraite et de l’argent pour les enfants, explique Anne, la professeure. Je suis déclassée. » Un sentiment partagé par bon nombre de ses semblables.

      Audrey, une Parisienne de 44 ans, éducatrice spécialisée, gagne 2 100 euros par mois (salaire, prime et pension alimentaire), pour la faire vivre avec son fils : « Le déclassement social, je le vis de la façon suivante : un salaire insuffisant au regard de mes études et de mes responsabilités professionnelles ; le fait de ne pas avoir les moyens de scolariser mon fils dans le privé ; deux semaines de vacances seulement pour moi et une colonie de vacances, en partie financée par la ville, pour mon fils ; la perte de la valeur travail et l’absence d’ascenseur social. »

      Michel, un retraité de 69 ans, est en colère : déposé en février 2024, le dossier de retraite de son épouse, atteinte d’une maladie neurologique, est toujours à l’étude. « En attendant, nous sommes confrontés à des problèmes financiers et à des problèmes de santé, mais nous n’avons aucune aide, car l’on considère que l’on gagne trop ! A ce jour, nous ne faisons qu’un repas sur deux, en mangeant des pâtes et des œufs, et encore, pas toujours. Quel plaisir d’avoir cotisé cinquante-deux ans pour en arriver là ! »

      Précarité nouvelle

      Le sentiment de déclassement s’exprime aussi au travers du regard d’autrui. Installée à Nantes, Catherine, bac + 5, est chargée de communication indépendante, avec des revenus autour de 2 500 euros par mois, « sans aucune perspective de progression ». Elle travaille chez elle, réfléchit depuis deux ans à changer sa voiture sans pouvoir franchir le pas, et ses dernières vacances se résument à une semaine à l’été 2023 dans un village éloigné du Limousin. Mais c’est face à sa fille que la conscience de sa précarité nouvelle la taraude le plus. « L’autre jour, elle a voulu que je lui achète un pull à 90 euros, à la mode chez ses copines. J’ai dit non. Elle s’est exclamée : “Mais, maman, on est pauvres ?” »

      Anne, Audrey et Catherine incarnent la fragilisation financière des familles monoparentales, essentiellement des mères célibataires. Un tiers des pensions alimentaires reste impayé, et le taux de pauvreté dans leurs rangs atteint 32,3 %, contre 14,5 % pour l’ensemble de la population, selon des données de la Caisse d’allocations familiales ou de l’Institut national de la statistique et des études économiques. Faut-il y voir un lien ? Parallèlement, le vote RN a progressé de manière spectaculaire chez les femmes : dix points entre 2019 et 2024, contre trois seulement chez les hommes, indique Ipsos. « Tenant à distance l’héritage viriliste et sexiste de son père, Marine Le Pen se présente comme une femme moderne, mère de famille, divorcée, travaillant, affichant sa “sensibilité à la cause féminine” », rappelait la philosophe Camille Froidevaux-Metterie dans une tribune du Monde du 13 juin.

      Le sentiment de déclassement se voit parfois dans le regard des enfants, mais se mesure toujours par rapport à la génération précédente. « Moins bien que mes parents », déplore Tim, ingénieur dans la fonction publique, quand il parle de l’appartement de 68 mètres carrés qu’il a « difficilement » pu acquérir à Grenoble avec le fruit de son travail. Et il craint que sa propre descendance ne vive la même mésaventure. « Malgré une vie peu dépensière, je peine à épargner et à financer pour mes enfants des études équivalentes à celles que j’ai pu suivre, enchaîne-t-il. En somme, je vis moins bien que mes parents, et la dynamique est à la dégradation. »

      « L’absence de perspectives, la difficulté de dessiner une trajectoire ascendante » font partie des désillusions des classes moyennes, souligne Nicolas Duvoux, sociologue à l’université Paris-VII, qui évoque l’érosion des « possibilités de vie ». Une érosion qui va en s’accentuant, s’inquiète le chercheur. « La précarité sur le marché du travail est devenue la norme, explique-t-il, particulièrement pour les jeunes. Or, la précarité dans l’emploi se traduit par l’impossibilité de construire sa vie de manière durable. Cela ronge le corps social. »

      En vain

      Confrontés à cette précarisation, les jeunes se sentent en outre comme rejetés des villes où ils ont parfois grandi, et souhaiteraient vivre. A 35 ans, Antoine, Bordelais, salarié dans l’associatif, voudrait acheter un 40 mètres carrés dans sa ville : « Impensable avec un smic seul. » Parisiens, Patrick et son épouse, deux enfants, cherchent à s’agrandir. En vain. « Impossible pour nous, couple d’ingénieurs, d’avoir plus de trois pièces. Même les logements sociaux auxquels nous avons droit sont au-dessus de notre budget. Nous voilà moins bien lotis qu’un ouvrier des années 1960 », tranche l’homme de 35 ans. Le problème est encore aggravé dans les régions très touristiques, où les résidences secondaires et autres meublés assèchent le marché pour les locaux, contraints d’aller habiter loin de leur travail – et d’avoir une voiture, qui plombe définitivement le budget.

      Au fond, les classes moyennes « ont une vision ternaire de la société, décrypte le politologue Jérôme Fourquet : « Pour eux, il y a en bas les plus pauvres, les assistés, et au-dessus les riches qui se gavent. Ils ont le sentiment d’être trop riches pour être aidés, trop pauvres pour s’en sortir, et d’être taxés pour financer un modèle social auquel ils n’ont plus accès. Le pacte social implicite, qui est de payer ses impôts mais, en retour, d’en avoir pour son argent, est rompu. »

      Or la gauche, elle, oppose aujourd’hui une vision « binaire », estime M. Fourquet, qui repose sur l’idée du peuple contre les élites – un schéma dans lequel les catégories intermédiaires ne se retrouvent pas : « Le RN, en faisant par exemple de la #voiture un thème politique, a réussi à créer une proximité avec les classes moyennes, qui se sentent enfin prises en compte. »

  • Conflit de classes inversé, l’épine dans le pied des #Luttes_sociales
    https://ricochets.cc/Conflit-de-classes-inverse-l-epine-dans-le-pied-des-luttes-sociales-7493.h

    Hiver 2023, mouvement social contre la réforme des retraites. Fonctionnaires, salarié·e·s d’entreprises publiques, étudiant·e·s sont en grève et dans la rue. Caissier·ères, ouvrier·ères du bâtiment, femmes de ménage, livreurs deliveroo et autres salarié·e·s de la « deuxième ligne » sont au taf. Les classes moyennes peuvent-elles faire seules la révolution ? #Les_Articles

    / Luttes sociales

    https://rebellyon.info/Conflit-de-classes-inverse-l-epine-dans-25893

    • De toute évidence, l’ensemble de la « gauche » a fait fausse route ces 40 ou 50 dernières années en s’éloignant de sa base historique, les milieux ouvriers, et en les laissant basculer à la droite de la droite. Au point qu’aujourd’hui, le conflit de classes s’est en quelque sorte inversé : tandis qu’une majorité de celles et ceux qui se trouvent au bas de l’échelle sociale adhèrent aux idées de droite favorables aux classes supérieures, ce sont des personnes plutôt bien placées dans la hiérarchie sociale qui constituent les forces vives de la gauche égalitariste. Avec pour corollaire le fait que, comble des combles pour les secondes, elles sont souvent assimilées par les premiers au camp macroniste, c’est-à-dire à des « bobos » éduqués, aisés financièrement, cultivés, qui ne connaissent ni leurs modes de vie ni leurs problèmes, et les méprisent.

      […]

      Ce qui suppose de questionner nos modes d’organisation relevant d’habitus ou de codes sociaux excluants (omniprésence de l’écrit, réunionnite, etc.) ainsi que notre idéalisme et notre dogmatisme, qui sont des postures intellectuelles marquées socialement, pour renouer avec le pragmatisme dans les luttes (les plus précaires ont besoin de manger et de se loger, très concrètement)

      #classes_sociales #vote #politique #extrême_droite #gauche