Warum Deutschland vorsichtig sein sollte, wenn es über Wehrpflicht spricht
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La conscription transforme la société et ouvre la voie vers de nombreuses occasiona pour s’enrichir au dépens des appellés et de l’état. L’exemple ukrainien devrait servir de mise en garde avant l’introduction d’un service obligatoire.
27.10.2024 von Maksim Korsun - Während Kanzler Merz über die Rückkehr der Wehrpflicht spricht, rüsten sich viele EU-Staaten für mögliche Konflikte. Doch was lehren uns die Erfahrungen anderer Länder – besonders die der Ukraine?
In der deutschen Politik wurde in letzter Zeit mehrfach die Frage nach einer Wiedereinführung der Wehrpflicht aufgeworfen. Kanzler Merz erklärte in einem Fernsehinterview, der Wehrdienst werde künftig nicht freiwillig bleiben. Die Dienstzeit solle ein Jahr betragen, und nicht nur Männer, sondern auch Frauen müssten zur Waffe greifen. Die Logik des Kanzlers scheint klar: Russland wird in den Medien täglich als Aggressor dargestellt, und früher oder später, so heißt es, werde es auch Deutschland angreifen. Man kann dieser Meinung sein – oder man kann die NATO als Aggressor betrachten, weil sie sich zunehmend den Grenzen Russlands nähert.
Doch das ist letztlich nebensächlich. Wichtiger ist: Viele Länder der Europäischen Union bereiten sich auf einen möglichen Krieg vor. Sie erhöhen ihre Militärhaushalte, steigern die Waffenproduktion und errichten auf ihrem Territorium Stützpunkte für die Stationierung ausländischer Truppen.
Rekrutieren mittels Drohungen und Schlägen
Weitsichtige Länder hingegen orientieren sich an ihren eigenen, erfolgreichen Erfahrungen – etwa Spanien, das im Zweiten Weltkrieg kaum beteiligt war und heute seinen Militärhaushalt nicht einmal erhöht. Deutschland ist glücklicherweise ein modernes Land und sollte sich weniger an der Vergangenheit als an den Lehren moderner Kriege orientieren.
Russland und die Ukraine verfügen über ein gemischtes Rekrutierungssystem. Die russische Armee besteht aus Wehrpflichtigen – jungen Männern unter 18 Jahren – sowie aus Freiwilligen, die einen Vertrag unterzeichnet haben. Wehrpflichtige werden nicht in die Kampfzone geschickt; dort kämpfen nur jene, die sich freiwillig gemeldet haben. Der Hauptnachteil dieses Systems liegt auf der Hand: Niemand will sterben, also muss der Staat mit hohen Geldsummen locken. Diese steigen von Jahr zu Jahr. Gleichzeitig muss eine solche Armee gut ausgerüstet und versorgt sein, denn wenn die Bedingungen nicht dem Vertrag entsprechen, kann der Soldat diesen einfach kündigen. Desertion ist daher kein großes Problem.
In der ukrainischen Armee sieht es ganz anders aus. Die Streitkräfte der Ukraine (VSU) bestehen aus freiwilligen Vertragssoldaten und aus Männern, die im Rahmen der Mobilisierung eingezogen wurden – oft Menschen, die gar nicht dienen wollen. Viele werden mit Gewalt von der Straße, aus ihren Häusern oder von der Arbeit geholt. Kürzlich wurde in Odessa ein trauriger Rekord aufgestellt: Um einen Mann, der sich wehrte, in die Armee zu bringen, mussten 16 Personen eingesetzt werden. Dabei kommen alle möglichen Formen von Gewalt zum Einsatz – Drohungen, Schläge, das Verdrehen der Arme und mehr.
Eine Moderatorin des ukrainischen Fernsehens erzählte kürzlich, ein Bekannter sei gewaltsam in ein TZK (Territoriales Rekrutierungszentrum) gebracht, dort geschlagen und bewusstlos in fremder Kleidung im Hof der Schwester der Moderatorin abgelegt worden. Man habe sogar versucht, ihn mit einer Krawatte zu erwürgen. Sie betonte zwar, solche Fälle seien Ausnahmen und alle TZKs arbeiteten korrekt – doch der Vorfall spricht für sich.
Kommandanten kassieren Gehälter der Fahnenflüchtigen
Als ich noch in der Ukraine war, musste auch ich mehrmals unfreiwillig in einem TZK erscheinen. Einmal wurde ich dort eine Woche lang festgehalten und trat sogar in den Hungerstreik. Die Unglücklichen, die zusammen mit mir einberufen wurden, erzählten ihre Geschichten: Bei einem brach man ins Haus ein und zog ihn direkt aus dem Bett; ein anderer, ein Elektroingenieur, war an eine Unfallstelle gefahren, um Reparaturen zu planen – am Abend wurde er auf Anweisung eines sehr wichtigen Vorgesetzten freigelassen.
Ein besonders kurioser Vorfall blieb mir in Erinnerung: In den TZKs werden Handys eingezogen und erst an dem Militärstandort zurückgegeben, an den man gebracht wird. Als ich mein Handy zurückbekam, sah ich eine Meldung über das Verschwinden eines jungen Mannes mit der Diagnose Autismus. Genau dieser junge Mann hatte neben mir gesessen. Seine Unterlagen waren gefälscht worden – man hatte ihn für völlig gesund erklärt. Ich fotografierte ihn und schickte das Bild an eine Redaktion. Am Abend wurde er seiner Familie zurückgegeben.
Die Zwangsmobilisierung hat zwei besonders negative Folgen. Erstens kann man an solchen Soldaten sparen – und gleichzeitig bei Ausrüstung und Versorgung stehlen. Die Korruption im Krieg hat inzwischen ein Ausmaß erreicht, dass selbst in den USA die Republikaner den Demokraten immer wieder mit einer umfassenden Überprüfung aller Waffenlieferungen an die Ukraine drohen. Aber das ist ein eigenes Thema – und betrifft Deutschland wohl kaum, denn man kann sich kaum vorstellen, dass etwa die Familie von Ursula von der Leyen oder Friedrich Merz jemals an so etwas denken würde.
Die zweite, noch gravierendere Folge ist die massenhafte Desertion. Dieses Problem verschweigt die ukrainische Regierung inzwischen nicht mehr. Das Ausmaß ist so groß, dass niemand weiß, wie man damit umgehen soll. Offiziell wurden 300.000 Strafverfahren eingeleitet, tatsächlich sind es wohl weit mehr. Viele Geflohene gelten in den Akten weiterhin als Angehörige ihrer Einheiten – ihre Gehälter werden oft von den Kommandanten kassiert.
Der Abgeordnete der Werchowna Rada, Goncharenko, sagte dazu: Der Staat bezahle vierfach – „für ihre Ausbildung, während sie weggelaufen sind, für ihre Suche und schließlich für ihre Inhaftierung“.
Selenskyj entzieht Staatsbürgerschaften
Es gibt noch einen weiteren Aspekt der Wehrpflicht im Krieg, über den kaum jemand spricht: die Verschärfung der Gesetze und die Unterdrückung der Opposition. Die Werchowna Rada und Präsident Selenskyj verbieten Parteien, Strafverfolgungsbehörden verhaften Menschen als „Vaterlandsverräter“ oder mobilisieren sie zwangsweise. Manche werden später gegen russische Gefangene ausgetauscht, andere fliehen ins Ausland. Ein Londoner Gericht befasst sich derzeit mit der Auslieferung des Abgeordneten Dmytruk, der den Präsidenten zu oft kritisiert hatte.
Selenskyj hat eine besonders effektive Methode gefunden, um unliebsame Politiker loszuwerden: Er entzieht ihnen einfach die Staatsbürgerschaft. Kürzlich wurde auf diese Weise der Bürgermeister von Odessa seines Amtes enthoben und durch eine Militärverwaltung ersetzt.
Auch das betrifft Deutschland kaum – denn CDU/CSU und SPD würden wohl niemals so weit gehen, die Opposition zu verbieten. Oder täusche ich mich?
Solche juristischen „Spielchen“ sind in allen kriegführenden Ländern üblich. In Russland können Beamte, die wegen Korruption angeklagt sind, einen Vertrag mit der Armee schließen und sich so „reinwaschen“. In Israel wiederum wurde ein Gesetz verabschiedet, das es ermöglicht, Gerichtsverfahren gegen Beamte während des Krieges aufzuschieben – möglicherweise nutzt Premierminister Netanjahu diese Regelung, um seine eigenen Verfahren hinauszuzögern.
Ich hoffe, der Leser zieht selbst seine Schlüsse, ob Deutschland die Wehrpflicht wirklich braucht oder nicht. Und dass er seine Entscheidung als Wähler bei den nächsten Wahlen zum Ausdruck bringt. Zumindest ist das hier noch möglich – während die Ukrainer dieses Recht bereits verloren haben.
Maksim Korsun
Maksim Korsun ist Ukrainer und wohnt jetzt in Brandenburg. Früher hat er in der Ukraine, Russland und Moldawien gewohnt. Als der Krieg in seiner Heimat begann, meldete er sich freiwillig für die Lebensmittelversorgung. Er kam 2024 nach Deutschland.




























