21. und 22. April 1945: Die Schlacht um Berlin geht in ihre Endphase
▻https://www.berliner-zeitung.de/mensch-metropole/21-und-22-april-1945-die-schlacht-um-berlin-geht-in-ihre-endphase-l
22.4.2025 von Ingar Solty - Heute vor 80 Jahren wurde bitterlich um die Hauptstadt gekämpft. Eine Rekonstruktion.
Bei dieser historischen Rekonstruktion der letzten Phase des Zweiten Weltkriegs, von Ingar Solty verfasst, handelt es sich um eine vierteilige Reihe. Dies ist der dritte Teil.
Es ist der 21. April 1945 und die Schlacht um Berlin erreicht die Innenstadtbezirke. Der „Völkische Beobachter“ lügt noch am selben Tag, dass „in der Zeit von 9 bis 16 Uhr ein Übungsschießen einer Flakbatterie im Norden Berlins“ stattfinden werde. Als dann um 11.30 Uhr Artilleriefeuer russischer Kanonen bereits den Hermannplatz in Neukölln und damit erstmalig Innenstadtboden erreicht, löst dies eine Massenpanik aus. Am Ende des Tages ist der Ring um Berlin fest geschlossen. „Angenagelt zwischen Müggelsee und Havel, zwischen den sandigen Heideflächen des Barnim im Norden und den Kiefernwäldern des Teltow im Süden“, schreibt später der Kriegsschriftsteller Theodor Plivier, „blieben Million Frauen und Männer und Kinder und warteten auf die Sintflut.“
Am Folgetag, als im Telegrafenamt in der Oranienburger Straße das letzte Telegramm eintrifft (aus Tokio: „Viel Glück für euch alle“), erklärt Goebbels, dass „alle, die weiße Fahnen hissen, erschossen werden“. Am Abend desselben Tages wird im Schauspielhaus am Gendarmenmarkt noch einmal die „Zauberflöte“ aufgeführt, während die Ostfrontlinie durch das Vorrücken der Roten Armee nun mittlerweile bereits entlang der Linie Lichtenberg – Niederschönhausen – Frohnau verläuft. Die Innenstadtbezirke werden nun unter direkten Dauerbeschuss genommen, erwidert mit Dauerfeuer vom Flakturm im Friedrichshain. „Fontänen aus Pflastersteinen, aus Asphaltstücken, aus Dreck stiegen aus den Berliner Straßen auf. Schwere Granaten aus Fernkampfgeschützen rissen Breschen in ganze Häuserfluchten. Die Bevölkerung saß in den Kellern mit Koffern und Betten und ihrer ganzen Habe und konnte die Keller eigentlich nicht verlassen und mußte es doch tun, und wenn schon zu keinem anderen Zweck, als um Wasser zu holen. Man konnte das Leben riskieren, aber ohne Wasser konnte man nicht leben“, schreibt Plivier. Einen Tag später schiebt sich die Front im Osten nach Friedrichshain vor.
Die Rote Armee ist bis dahin auf der östlichen Verlängerung der Frankfurter Allee vorgerückt, die zum 30. Jahrestag des Kriegsendes den Namen „Straße der Befreiung“ erhalten, nach 1990 dann aber wieder in das zuvor kaum gebräuchliche „Alt-Friedrichsfelde“ umbenannt wird. Seit 2015 bemüht sich die Linke um eine Rückumbenennung.
Von Teilen der Bevölkerung kann die Rote Armee Unterstützung erwarten
Jetzt, am 23. April, liegt der Frontverlauf entlang der Linie Tegel – Humboldthain – Wollankstraße – S-Bahnhof Schönhauser Allee – Friedrichshain, entlang des S-Bahn-Ringes vom Bahnhof Landsberger Allee bis Frankfurter Allee – Teltow-Kanal. Während nördlich von Berlin die Rote Armee bei Oranienburg das KZ Sachsenhausen mit etwa 3000 zurückgelassenen Kranken, aber auch Pflegern und Ärzten befreit und in Berlin-Mitte in der Invalidenstraße die SS Widerstandskämpfer erschießt, beginnen nun die Kämpfe der 5. Stoßarmee um den Zentral-Vieh- und Schlachthof an der Storkower Straße und – am S-Bahn-Ring an der Frankfurter Allee liegend – rückte die Rote Armee am selben Tag in Richtung Wilhelmstraße und Berliner Machtzentrum vor, allerdings auf die parallele Scharnweberstraße ausweichend, um dem Beschuss der Frankfurter Allee durch SS-Verbände im Flakbunker auszuweichen.
8. Mai 1945, Berlin, sowjetische Panzer: nach Tagen heftiger Kämpfe kapitulierte die deutsche Armee
8. Mai 1945, Berlin, sowjetische Panzer: nach Tagen heftiger Kämpfe kapitulierte die deutsche ArmeeWorld History Archive/imago
„Sie gingen in voller Breite durch die Häuser und schossen sich die Giebel frei – Haus für Haus“, notiert der kommunistische Widerstandskämpfer Erwin Reisler in sein heimlich geführtes Tagebuch.
Während der sowjetische Frontkorrespondent Boris Polewoi die strategische Orientierung so beschreibt: „Die Gefechte in Berlin, unter den spezifischen Bedingungen der Stadt, erforderten eine neue Taktik unsererseits. Jedes Haus wurde ein Bunker, jede Straße eine Verteidigungslinie. Ob man sie umging, ob man gegen ihren rückwärtigen Raum vorstieß, jedes Objekt mußte einzeln genommen werden, denn es gab keinen Platz, auf den der Gegner hätte zurückgehen können. So bildeten wir an der Front eine neue Art von Einheiten, sogenannte Sturmabteilungen: Truppenteile aus Schützeneinheiten, Panzern, Selbstfahrlafetten, mitunter auch ‚Katjuschas‘, und immer eine Pioniergruppe; die Panzer, sozusagen organisatorisch, verschmolzen mit der Infanterie. Sie wirkten nicht nur zusammen, sondern unterstützten sich aktiv im Gefecht.“
„Der Straßenkampf“, schreibt der Oberbefehlshaber der 8. Gardearmee W.I. Tschuikow, „hat seine eigenen Gesetze, die man immer beachten muß (…). Der Gegner hockt in Kellern und Gebäuden. Kaum zeigt man sich, schon krachen Schüsse, detonieren Handgranaten.“
Von Teilen der Bevölkerung kann die Rote Armee Unterstützung erwarten. Der deutsche Antifaschist Ernst Kehler, der als Soldat der 1. Belorussischen Front und Frontbevollmächtigter des Nationalkomitees „Freies Deutschland“ in seine Heimat zurückkehrt, beschreibt das Kriegsende so: „[Auf dem Weg] zu meinem neuen Einsatzbereich [in] Berlin-Mitte (…) waren neben weißen Fahnen in Riesenbuchstaben noch die faschistischen Losungen ‚Berlin bleibt deutsch‘, ‚Siegen oder Sibirien‘ zu erkennen. Entfernte sich der Gefechtslärm, kamen einzelne Gestalten auf die Straßen. Elend, Kriegsmüdigkeit und Verzweiflung beherrschten die Menschen. Aber ebenso unvergeßlich ist es mir, daß wir in der Uniform der Roten Armee auf unserem langen Weg von Berliner Frauen und Männern wiederholt Hinweise und Warnungen erhielten. … ‚Geht hier nicht weiter, drüben im Eckhaus liegt noch ein Schützennest.‘ Oder: ‚Nehmt den Weg durch die Hauseingänge über die Höfe. Auf der Straße ist noch kein Weiterkommen.‘“
Das Vorrücken der Roten Armee
Mit vielen antifaschistischen Widerstandskämpfern, die aus ihren Keller- und Laubenkolonieverstecken auftauchen, kommt es zu Verbrüderungsszenen. In Arbeiterbezirken, wie dem Wedding, macht die Rote Armee sehr schnelle Vorstöße, weil die Bevölkerung sich sicher genug fühlt, weiß und vielfach rot zu flaggen. Andernorts gelingt es deutschen kommunistischen Widerstandskämpfern in der Verkleidung von Wehrmachts- und SS-Uniformen, ganze Truppenteile zu entwaffnen oder zur Kapitulation zu bringen und außerdem Munitionsdepots zu sprengen, hohe SS-Funktionäre aus dem Reichssicherheitshauptamt in die Falle zu locken und zu erschießen und die Bevölkerung mit Lebensmitteln zu versorgen. Eine von diesen Gruppen ist die „Kampfgruppe Osthafen“, die, wie Heinz Müller in „Kampftage in Berlin“ beschreibt, aus Wohnungen in der Simon-Dach-Straße 32 und der Boxhagener Straße 22 heraus agiert. Manche der Antifaschisten bezahlen diese gefährliche Mission noch in den letzten Kriegstagen mit dem Leben.
Die Nacht vom 23. zum 24. April verläuft ruhig. Aber dann, so schreibt Heinz Rein im Dokumentarroman „Finale Berlin“, „als das Licht des neuen Tages durchdringt, wird die Stille durch eine ungeheure Kanonade zerrissen. Es ist 5 Uhr 15 Minuten: das Trommelfeuer der rings um Berlin in den Vororten aufgefahrenen russischen Artillerie hat begonnen. Das Trommelfeuer dauert 45 Minuten, dann treten die russischen Infanterie- und Panzerverbände zum Angriff an. Vom Süden her überschreiten sie den Teltow-Kanal und dringen in Neukölln, Britz, Lichterfelde, Zehlendorf und Neubabelsberg ein, von Tegel und Reinickendorf stoßen Panzerverbände bis zum Wedding vor und stoppen ihren Vormarsch erst am Nordhafen und an der Ringbahn in unmittelbarer Nähe des Lehrter Bahnhofes, andere Panzerverbände dringen von Norden her durch den Tegeler Forst und über die Jungfernheide an den Spandauer Schiffskanal vor, überschreiten ihn trotz der Sprengung aller Brücken und dringen in Siemensstadt ein, um Fürstenbrunn, zwischen Westend und Spandau, entbrennt ein heftiger Kampf, ebenso um den Damm der Stichbahn nach Gartenfeld.“
30. April 1945: Sowjetische Kanoniere kämpfen auf Berlins Straßen.
30. April 1945: Sowjetische Kanoniere kämpfen auf Berlins Straßen.Ryumkin/imago
Das Angriffsziel wird befehlsgemäß angeflogen und bombardiert
Der Widerstand ist unterschiedlich intensiv. Die SS-Verbände, die die Parole „Pardon wird nicht gegeben!“ ausgeben, sind die einzigen, die gut ausgerüstet sind und erbitterten Widerstand leisten. Die Zivilbevölkerung wird auf dem Altar des Faschismus geopfert. „Als der Friedrichshain Kampfgebiet und die Schultheiss-Patzenhofer-Brauerei in der Landsberger Allee Ecke Tilsiter Straße (heute Richard-Sorge-Straße) verteidigt wird“, schildert Rein eine vielfach bezeugte, besonders scheußliche Episode aus der Schlacht um Berlin, „wird – um das Leben der Zivilbevölkerung zu schonen – von den Russen die Räumung des Viertels zwischen Friedrichshain und Zentralviehhof befohlen. Tausende entsteigen den dunklen Katakomben (…). Durch die Landsberger Allee und Landsberger Chaussee zieht der endlose Zug der Flüchtlinge ostwärts, mit Kinderwagen, kleinen Transportkarren, Leiterwagen, Greise und Greisinnen an Stöcken, Beinamputierte in Selbstfahrern, Kinder auf den Armen und an den Händen der Mütter, abgezehrte, verhärmte, übermüdete Menschen, ausgebrannt von Angst, geschüttelt von Entsetzen, aber bewegt von dem Willen zum Leben. Sie alle begeben sich in den Schutz der russischen Etappe, um sich vor den Granaten der eigenen Landsleute in Sicherheit zu bringen (…). – Die Landsberger Chaussee ist eine breite Straße, sie stößt zwischen Lauben, Gärten, Feldern und Neubausiedlungen aus der Enge der Stadt ins offene Land hinaus. Nicht nur die Flüchtlinge sind auf ihr, auf der nördlichen Straßenseite rollt der Nachschub der russischen Armee stadteinwärts (…). So wälzen sich zwei Ströme durch die Landsberger Chaussee, ostwärts die Frauen, Greise und Kinder des geschlagenen, westwärts die Söhne des siegreichen Volkes. – Da tönt von irgendwo, noch von weit her, ein Brummen, es klingt, als sei ein Schwarm von Bienen unterwegs, aber das Geräusch schwillt unheimlich schnell an, wird zum Dröhnen und Donnern. Die Menschen auf der Straße blicken verwundert auf den anfliegenden Verband, zehn, zwölf, fünfzehn, zwanzig Maschinen scheinen es zu sein, sie halten geraden Kurs auf die Straße … Russische Flugzeuge, die vom Fronteinsatz zurückkehren? Nein, das sind deutsche Maschinen vom Typ Ju 87, sie wachsen riesengroß heran, die schwarzen Kreuze auf den Tragflächen sind schon zu erkennen. Die Flüchtlinge ziehen unbekümmert weiter. Was haben sie von deutschen Flugzeugen zu befürchten? Da geschieht das Unerwartete, Unwahrscheinliche, Unglaubliche – die deutschen Sturzkampfflugzeuge stürzen sich mit aufheulenden Motoren auf den Nachschub der Russen, es kümmert sie nicht, daß auf der gleichen Straße Zehntausende von deutschen Menschen in die Zone des Hinterlandes ziehen. Das Angriffsziel wird befehlsgemäß angeflogen und bombardiert. Immer wieder stürzen sich die Stukas auf die Straße, ziehen die Maschinen singend in die Höhe und stoßen wieder wie gierige Raubvögel herab. Als sie abfliegen, bleiben an den Rändern der Landsberger Chaussee Hunderte von Toten und Verletzten zurück, deutsche Menschen, niedergemetzelt von deutschen Fliegern mit deutschen Bomben und deutschen Bordkanonen (…)“.
Einnahme des Schlesischen Bahnhofs gestaltet sich als äußerst schwierig
Der am Petersburger Platz aufgewachsene, spätere Bauingenieur Werner Lindner erinnert sich an diese Mordaktion: „Dann kamen andere Russen. Es waren Kampftruppen. Die schrien: ‚Alles raus, Germanski-Flieger Bombardement!‘ Alle Leute ergriffen ihr Handgepäck und flüchteten über den Viehhof, und weiter über den Bahnhof Landsberger Allee, durch die Lauben in Richtung Steuerhaus und weiter. Tatsächlich gerieten sie in einen deutschen Bombenangriff auf sowjetische Artilleriestellungen. Unterwegs sahen sie tote Menschen und Pferde liegen.“
In Friedrichshain dringt noch am selben Tag die Rote Armee im Häuserkampf entlang der Frankfurter Allee vor, während zugleich unter schweren Gefechten am Bahnhof Wedding der Innere Verteidigungsring durchbrochen wird und das 7. Korps mit geringerem Widerstand vom Prenzlauer Berg in Richtung Alexanderplatz durchbricht sowie die 301. Schützendivision auf der Höhe Treptower Park die Spree überwindet und das Kraftwerk Rummelsburg unzerstört und betriebsfähig unter ihre Kontrolle bringt. Am frühen Nachmittag erscheint zum vorletzten Mal die Nazi-Zeitung „Der Angriff vereinigt mit Berliner illustrierter Nachtausgabe“ und titelt: „Berlins heroischer Widerstand ist ohne Beispiel“.
Am 25. und 26. April, als sich bei Torgau an der Elbe bereits US-Soldaten und Rotarmisten begegnen, macht die 5. Stoßarmee im Berliner Osten nur geringe Fortschritte. Vor allem die Einnahme des Schlesischen Bahnhofs (heute Ostbahnhof) gestaltet sich als äußerst schwierig. Am 27. April, während Heinrich Himmler gegen den Willen Hitlers noch versucht, mit den Westmächten über eine Teilkapitulation zu verhandeln, ist jedoch auch der Bahnhof vollständig erobert und bis zum Folgetag sind auch die Gebiete um den Alexanderplatz, die Flughäfen Tempelhof und Gatow sowie Spandau, Teile von Schöneberg, Tempelhof und Kreuzberg befreit. Die Schlinge um das Regierungsviertel, Hitlers Machtzentrum, zieht sich zu. Während in Italien am 28. April Hitlers Bündnispartner Benito Mussolini mit seiner Geliebten am Comer See aufgestöbert, erschossen und seine Leiche öffentlich zur Schau gestellt wird, reduziert sich in Berlin bis zum 29. April Hitlers Machtbereich auf 25 Quadratkilometer zwischen Regierungsviertel und Tiergarten. Am selben Tag erscheint die letzte Ausgabe von „Der Panzerbär: Kampfblatt für die Verteidiger Gross-Berlins“. Am Vorabend hatte er noch getitelt: „Wir halten durch! Die Stunde der Freiheit wird kommen“.
Ein deutscher Soldat sitzt in den Ruinen des Reichstags in Berlin, nachdem die russische Armee 1945 in die Stadt einmarschiert war.
Ein deutscher Soldat sitzt in den Ruinen des Reichstags in Berlin, nachdem die russische Armee 1945 in die Stadt einmarschiert war.United Archives/imago
„Alle Räume und Gänge sind belegt und verstopft mit Schwerverwundeten“
Am 30. April bzw. am 1. Mai stehlen sich Hitler und Goebbels aus ihrer Verantwortung und nehmen sich im Führerbunker das Leben, um, so Hitler in seinem Testament vom 29. April, „der Schande des Absetzens oder der Kapitulation zu entgehen“. Hitlers Leiche wird, wie testamentarisch verfügt, „an der Stelle verbrannt“, wo er „den größten Teil meiner täglichen Arbeit im Laufe eines zwölfjährigen Dienstes an meinem Volke geleistet habe (…)“. Die Staatsführung lügt jedoch und vermeldet erst am 2. Mai, dem Tag der Kapitulation Berlins, „der Führer“ sei „beim Kampf um Berlin gefallen“. Am selben Tag hisste der Rotarmist Michail Petrowitsch Minin schon die rote Fahne auf dem Reichstagsgebäude, aufgenommen in einer berühmten Fotografie von Jewgeni Chaldej.
„DEM DEUTSCHEN VOLKE, so leuchtete es in goldenen Lettern über dem Hauptportal des Gebäudes“, schreibt später Theodor Plivier. „Die deutschen Stämme hatten nach der Reichsgründung im Jahre 1871 hier ein gemeinsames Dach gefunden. An dem Rednerpult dieses Hauses hatten ein Bismarck, ein Bethmann Hollweg, ein Prinz Max von Baden gestanden, aber auch ein Liebknecht, senior und junior, ein Bebel und Ledebour und eine Rosa Luxemburg. Hier, aus einem Fenster der Westfassade heraus, hatte Philipp Scheidemann am 9. November 1918 die Republik ausgerufen. Es hat auch einen Reichstagsbrand und einen Reichstagsbrandprozeß gegeben. Im Qualm dieses Brandes, der den großen Sitzungssaal zerstörte und die Glaskuppel durchschlug, hatte das Dritte Reich seinen Anfang genommen, und es sah so aus, als ob es auch hier in Qualm und Feuer sein Ende nehmen sollte (…).“
Der deutsche Schauspieler Günter Lamprecht, bekannt aus Rainer-Werner-Fassbinder-Filmen, dem „Tatort“ und der Fernsehserie „Babylon Berlin“, war als 15-jähriger Hitlerjunge beim Kampf um die Reichsbank am Werderschen Markt, wo heute das Auswärtige Amt untergebracht ist, dabei. An den 27. April erinnert er sich: „Alle Räume und Gänge sind belegt und verstopft mit Schwerverwundeten, mit Sterbenden. Das unaufhörliche Trommelfeuer und die Bombardements der letzten Tage, das widerliche Sausen der Stalinorgeln richtete sich jetzt nur noch auf den Kern, Berlin-Mitte.“ In einem Kasinoraum des Gebäudes stößt Lamprecht, der als Kurier eingesetzt war, auf „eine Theke voller Sektflaschen, auf Schinken, Würste und andere Delikatessen“, und an einem Tisch lagen sieben oder acht Menschen, darunter fünf Waffen-SS-Offiziere, „vornübergebeugt auf der Tischplatte oder hingen aus den stattlichen Sitzmöbeln seitlich heraus, fast alle Köpfe waren zerschmettert. Hier hatte der Krieg schon sein Ende gefunden. So feige Hunde, sich einfach zu verdrücken! Tags zuvor hatten solche noch Fahnenflüchtlinge, einfache Landser, an den Laternen und Bäumen aufgehängt.“
Sowjetische Soldaten zeigen auf einen Trümmerhaufen im Hof <br><br>des Reichskanzleramts in Berlin, wo die sterblichen Überreste von Adolf Hitler (1889–1945) und seiner Frau Eva Braun (1912–1945) nach ihrem Selbstmord begraben sind.
Sowjetische Soldaten zeigen auf einen Trümmerhaufen im Hof
des Reichskanzleramts in Berlin, wo die sterblichen Überreste von Adolf Hitler (1889–1945) und seiner Frau Eva Braun (1912–1945) nach ihrem Selbstmord begraben sind.
World History Archive/imago
Sexualisierte Gewalt
Stalin hat Wert darauf gelegt, Berlin am 1. Mai, zum symbolträchtigen internationalen Kampftag der Arbeiterklasse, zu erobern. Er ist auch getrieben von der Angst, dass sich die Berichte über Verhandlungen zwischen Hitler und den Westalliierten und gar einem gemeinsamen Krieg gegen die Sowjetunion bewahrheiten könnten. Viele Rotarmisten bezahlen dies mit dem Tod. In Teilen Berlins wird jedoch trotzdem noch am 2. Mai gekämpft, u.a. rund um die Flaktürme im Friedrichshain, die erst im Mai 1946 gesprengt werden sollen und seither unter dem Großen und Kleinen Bunkerberg („Mont Klamott“ und „Hoher Schrott“) begraben liegen, als solche 1968 von Wolf Biermann und 1983 von Tamara Danz mit der Band Silly besungen. Viele Flakhelfer sind dabei minderjährig, nicht wenige von ihnen Mädchen. Zuletzt wird auch in der Kulturbrauerei im Prenzlauer Berg noch gekämpft, wo sich die SS-Einheiten in den Kellerräumen verschanzt haben. In der Nacht vom 8. zum 9. Mai unterzeichnen aber schließlich Generalfeldmarschall Keitel für die Wehrmacht, Generaladmiral von Friedeburg für die Kriegsmarine und Generaloberst Stumpff für die Luftwaffe in Karlshorst die Kapitulationserklärung. Daran erinnern wird später das „Deutsch-Russische Museum“, das aber 2022 nach Beginn des Ukrainekriegs in „Museum Berlin-Karlshorst“ umbenannt werden wird.
Die Zivilbevölkerung zahlt für die Schlacht um Berlin einen hohen Preis. Aus Sorge um Racheaktionen seitens der russischen, ukrainischen, belarussischen usw. Soldaten für das durch den deutschen Vernichtungskrieg im Osten erlittene Leid erlässt der sowjetische Marschall Rokossowski den Befehl, dass Plünderungen und Vergewaltigungen mit Kriegsrecht oder unverzüglicher Erschießung zu ahnden seien. Wie Miriam Gebhardt in „Als die Soldaten kamen“ aufgearbeitet hat, kommt es auch zu zahlreichen standrechtlichen Erschießungen und später dann Gerichtsurteilen zu fünfjähriger Lagerhaft. Auch berichten viele, so wie Ursula Spaltowsky in ihrem Tagebuch, von ihrer Überraschung, wie wenig die sowjetischen Soldaten dem Bild der „Menschenfresser“ entsprachen, das man von ihnen gezeichnet hatte. Trotzdem sollen nach der Befreiung von Berlin bis zu 100.000 Frauen vergewaltigt worden sein, wie Helke Sander und Barbara Johr in ihrem Buch „BeFreier und Befreite“ schätzen. „Die Faktoren, die sexuelle Gewalt begünstigen“, schreibt Gebhardt, „waren offensichtlich stärker als die abschreckenden oder disziplinierenden Maßnahmen.“
Gisela Schulz musste als Siebenjährige im Keller der Grünberger Straße 63 im Ortsteil Friedrichshain die Vergewaltigung ihrer Mutter miterleben: „Ich wusste nicht, was das war. Ich schrie und schrie und schrie. Dann hatte sie wieder eine Pistole auf der Brust, es sollte weitergehen. Aber ein Offizier schickte die Soldaten weg. Die durften das ja nicht, aber sie taten es. Die wollten sich rächen, die haben uns Deutschen nie vergessen, was wir mit denen gemacht haben. Meine Mutter war dann schwanger. Ein Arzt nahm ihr das Kind ab.“
#Berlin #Prenzlauer_Berg #Prenzlauer_Allee #Danziger_Straße
#Geschichte #Krieg #Befreiung #Rote_Armee